Zum Inhalt der Seite

Anime Evolution: Nami

Vierte Staffel
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Zweiter Traum: Finale

Prolog:

„Guten Morgen, Akira.“

„Morgen, Dai-chan“, murmelte ich und wälzte mich aus dem Bett. Ich ersparte mir die üblichen Fragen wie: Wo kommst du denn her oder wie kommst du hier rein. Wenn man lange genug Seite an Seite gekämpft hatte, nahm man manche Dinge als gegeben an und konzentrierte sich auf das Wesentliche. In unserem Fall war es der Kontinent Mu. „Ärger drüben?“

Der schwarz gekleidete Krieger schüttelte leicht den Kopf. Im Gegensatz zu mir und den anderen war er fast immer auf Mu und verrichtete dort seinen Dienst als Offizier auf der AO. Es kam selten genug vor, dass er einmal in seine Heimat zurückkam. Soweit ich wusste, hatte er schon vor langer Zeit mit seiner Familie gebrochen, ein Umstand, den ich persönlich sehr traurig fand.

„Kein Ärger, Akira. Aber Otomo-sama hat mir aufgetragen, mal nach dir und dem Jungen zu sehen.“ Er senkte leicht den Blick. „Entschuldige, dass ich dir kaum eine Hilfe bin, und dass ich dir heute auch noch auf die Nerven gehe.“

„Keine Hilfe, wie meinst du das?“

„Du weißt was ich meine“, erwiderte Daisuke.

Dai-chan war unsere Nachhut, unser Torwächter. Während wir, die Offensiven, den Feind direkt angriffen, räumte er hinter uns auf und verhinderte, dass die verseuchten Daina die AO stürmen konnten. Sicher, für einen unbekümmerten Beobachter konnte das durchaus wirken, als wäre Daisuke weniger stark oder weniger fähig als die anderen. Teufel, letzte Nacht hatte ich nicht mal daran gedacht, dass er auf unserer Seite kämpfte. Aber auf ihn verzichten? Niemals!

„Jeder hat seine Last zu tragen, und jeder nach seinem Talent. Du bist flink und stark, aber nicht besonders ausdauernd. Das macht dich zur idealen Nachhut. Das ist doch kein Fehler.“ Misstrauisch wölbte ich die Augenbrauen. „Und nimm mich nicht als Beispiel, hörst du, Dai-chan? Gegen mich verliert selbst Kitsune, also ist das eine schlechte Idee.“

Daisuke schloss seinen Mund. Hatte er etwa wirklich mich als Maßstab nehmen wollen? Konnte man noch unfairer gegen sich selbst sein?

Ich seufzte und stand auf. „Okay, Kumpel, was ist los mit dir? Willst du vorne mitspielen? Sollen wir dir mehr Gegner übrig lassen? Oder ist es etwas völlig anderes?“

„I-ich weiß nicht. Vielleicht brauche ich einfach mal Urlaub, etwas Abstand vom ewigen töten. Ich meine, wenn Emi zurück ist, kann sie mich am Tor ersetzen, oder? Sie ist auch stark, ziemlich flink, hat aber nur eine geringe Reichweite.“

„Treffend formuliert, Dai-chan. Du willst Urlaub? Meinetwegen. Nimm dir Zeit, wenn du dir selbst nicht mehr sicher bist. Und wenn du schon mal da bist, kannst du gleich hier bleiben. Da steht noch ein Zimmer leer, das du haben kannst.“

„Weißt du, Akira, ich will dir keine Umstände machen.“

„Umstände machen? Kumpel, ich verlasse mich beinahe jeden Tag auf dich. Es ist dein gutes Recht, dass du dich auch mal auf mich verlassen kannst, okay? Also zögere nicht lange und nimm das Zimmer. Außerdem bleibst du so in meiner Nähe, falls wir alle Krieger brauchen.“

„Was? Du würdest mich aus meinem wohlverdienten Urlaub reißen?“, argwöhnte Daisuke.

„Ohne zu zögern.“ Ich lachte rau. „Ich verzichte nicht gerne auf dich, damit das klar ist.“

Die Miene des Freundes hellte sich auf. Nun, diesen Felsen im Fluss seiner selbst zerstörerischen Argumente hatte ich umschifft.

„Außerdem, mein alter Freund, kommst du gerade zur rechten Zeit. Kannst du mir einen Gefallen tun?“

„Akira, deine Augen gefallen mir gerade überhaupt nicht. Was planst du schon wieder?“

„Nichts Besonderes. Nur eine kleine Tragödie aufzuführen.“

Daisuke zog die rechte Augenbraue hoch. „Und welche Rolle soll ich dabei spielen?“

Ich musterte den Freund für einige Zeit. „Hast du eigentlich ein Handy?“

***

Merkwürdig. Beim Frühstück wunderte sich niemand darüber, dass Daisuke mit am Tisch saß. Sicher, Megumi hatte ihn drüben gesehen, auf der AO. Aber das erklärte nicht, warum er jetzt in diesem Haus war.

„Also, ich gehe mit Laysan heute einkaufen. Ich habe noch ein paar Urlaubstage, die ich ohnehin nehmen wollte“, sagte Sakura bestimmt. „Aber das kann kein Dauerzustand sein. Akira, wir müssen uns eine bessere Lösung überlegen.“

„Ich weiß, ich weiß. Aber im Moment habe ich keine bessere Idee, als ihn in den Kindergarten zu schicken.“

„Hm. Das wäre zumindest ein Anfang.“

Zufrieden nickte Sakura.

„Ob es den Kindergarten noch gibt, den wir zusammen besucht haben, Akira?“, fragte Megumi nachdenklich. „Der war doch gut, oder? Vielleicht sollten wir uns den mal ansehen.“

„Was denn, was denn, Mama, bist du schon in deiner Rolle aufgegangen?“, neckte ich sie.

Ich wartete ihre Antwort nicht ab und winkte in die Runde. „Bevor ich es vergesse, ich nehme mir heute einen Tag Auszeit. Bitte erfindet eine Ausrede für mich.“

„Kein Problem. Ich erledige das schon, Akira“, sagte Yohko. „Willst du vielleicht einkaufen helfen?“

„Nein, ich muss mich um ein paar Sachen erledigen, um die ich mich seit gestern kümmern muss. Ich habe so das unbestätigte Gefühl, dass nicht nur die Zahl meiner Bewunderer, sondern auch die Zahl meiner Feinde sprunghaft in die Höhe geschnellt ist.“

„Hä? Wieso das denn?“

„Megumi, hast du in letzter Zeit mal in den Spiegel gesehen?“

„Oh. Oh! Oh, tut mir Leid, daran habe ich überhaupt nicht gedacht. Ich wollte einfach nur nicht, dass diese Amerikanerin mir… Ich glaube, ich kann es jetzt nicht mehr ändern, oder?“

„Nicht wirklich. Damit wären wir schon beim nächsten Thema. Ich will sehen, wie weit Miss Reilley gehen wird, wenn ich nicht in der Schule bin. Bevor ich mich… Bevor WIR uns endgültig um dieses Problem kümmern werden.“ Ich grinste auf eine Art, wie ich sie immer bei Dai-Okame-sama sah, wenn er Menschengestalt angenommen hatte und sich auf einen Kampf freute. Normale Menschen und Dämonen nahmen nach diesem Grinsen immer einen Sicherheitsabstand zu ihm ein.

Mein Grinsen wurde erwidert, zuerst von Yoshi, dann von Daisuke.

„Jungs“, fragte Sakura mit mühsam beherrschter Neugier, „was habt Ihr vor?“

„Oh, nur ein kleines Laienspiel. Eine simple Tragödie, um… Etwas abzuschließen.“

„Ich bin sicher, ich will keine Details hören“, erwiderte sie. „Oder besser gesagt, ich sollte wohl besser keine wissen.“

„Große Jungs“, tadelte Yohko. „Immer müssen sie ihren Spieltrieb ausleben.“

Das hätte mich beinahe zum lachen gebracht. In gewisser Weise trafen die Worte meiner Schwester auf den Kopf.

Ich erhob mich, strich Laysan über die Haare und winkte in die Runde. „Viel Spaß in der Schule heute. Übrigens wäre es nett, wenn mich jemand auf meinem Handy anruft, sobald Miss Reilley die Schule verlässt.“

„Moment, hast du nicht was vergessen? Ist da nicht noch was für dich zu tun, bevor du deinen obercoolen Abgang zelebrierst, O-nii-chan?“

„Richtig. Richtig. Willst du das übernehmen, Yohko-chan?“

„Natürlich, Megumi-chan.“ Sie lächelte und kniff dabei die Augen zu. „Ich habe meinen Bruder bisher noch immer in den Griff gekriegt.“

Sie erhob sich mit dem Lächeln eines Engels – und der Energie eines sprungbereiten Panthers. „So, O-nii-chan, ab ins Badezimmer. Es gibt da ein paar Poren zu retten.“

Ich wollte etwas erwidern, ablehnen, mich in mein Zimmer retten, aber ihre Rechte schloss sich mit der Endgültigkeit eines Grabdeckels um meinen Kragen. In einer sehr unbequemen Pose musste ich ihr folgen. Wenigstens lachten meine Freunde nicht. Aber ich wette, sie grinsten sich gegenseitig an.
 

1.

Den Vormittag verbrachte ich damit, lässig in eine schwarze Lederjacke gehüllt – immerhin war noch frühester Frühling – und mit genügend Tarnfarbe im Gesicht, um einen Marine begeistert pfeifen zu lassen, einige der Ecken auszukundschaften, die ich als Kuroi Akuma besucht hatte, wann immer mir mein anderer Job im Krieg mit den Daina Zeit dazu gelassen hatte.

Es war erstaunlich, wie oft ich wirklich auf ein Verbrechen gestoßen war. Etwas zu oft. War dieser Stadtteil so gefährlich, oder hatte ich einfach nur eine Nase für Gewalttaten?

Relativ früh hatte ich einen Schatten, der mich aufmerksam observierte. Wie weit würde der junge Mann in der legeren Baseball-Jacke wohl gehen, um mich zu verfolgen?

Hm, das versprach, spaßig zu werden. Ich nahm einen Zug in die Innenstadt, mein Schatten folgte mir. Nun war ich von meinem eigentlichen Aktionsradius entfernt, aber es entsprach dem neuen Muster, das ich in mein Verhalten einbauen wollte, damit Joan Reilley und ihre Vorgesetzte – Sarah war ihr Name, mehr wusste ich nicht – ordentlich ins Schwitzen kamen, wenn sie meinen nächsten Schritt vorhersagen wollten.

Shibuya oder Roppongi? Beides war relativ leicht zu erreichen, und der Shopping-Distrikt Shibuya würde es mir selbst so früh am Morgen erlauben einfach zu verschwinden, während in der Partyzone Roppongi um diese Zeit bestenfalls ein paar hundert Touristen unterwegs waren.

Hm, ich konnte auch den Shinkansen nehmen und Tokio verlassen. Runter nach Kyoto, obwohl das weit länger dauerte als ich für meine kleine Tragödie vorgesehen hatte. Aber es gab da ein paar Spezialitäten, die ich schon lange mal probieren wollte, und um mein Mittagessen musste ich mich heute ja selbst kümmern. Nudelsuppe mit gesüßtem Räucherhering sollte wirklich gut schmecken, hatte ich mir sagen lassen. Und mit gutem Essen war es wie mit gutem Wein. Je besser, desto weniger sollte er reisen.

Guten Wein trank man da, wo er gekeltert wurde, anstatt ihn zu sich zu holen. Auch ein gutes Essen genoss man am besten dort, wo es gekocht wurde.

Ich wäre niemals auf die Idee gekommen, die berühmte Cancer Soup in Bread Bowl, Krebssuppe im Korbbrot, eine Spezialität in San Franzisko, hier in Japan zu probieren. Es wäre nur ein Abklatsch gewesen, wenngleich es mich sehnsüchtig an meinen einzigen Besuch in dieser Stadt erinnern würde.

War mein Schatten noch da? Oh ja.

Ich hatte auch noch nie das berühmte Essen in Hong Kong probiert. Es wäre nur ein kurzer Flug, und zum Abendessen wäre ich wieder daheim gewesen und… Nun, vielleicht sollte ich das Budget für Joans Ermittlungen nicht mit Gewalt überstrapazieren.

Letztendlich entschied ich mich für Shibuya. Niemand verlangte ja von mir, zu ernst zu bleiben und das nützliche nicht mit dem angenehmen zu verbinden. Es gab da ein paar Mangas, die ich mir endlich kaufen wollte. Außerdem standen noch ein paar Manhwas auf der Liste, Mangas von koreanischen Künstlern, die ich endlich mal ausprobieren wollte und…

Nun, mein Schatten war jedenfalls noch immer da und ließ sich nicht irritieren.
 

Als mein Handy klingelte, ließ ich mich auf der nächsten freien Bank nieder. „Ist sie auf dem Weg?“

„Du hast richtig geraten. Sie ist zwischen den Stunden einfach nicht wiedergekommen. Ich habe ihr zwanzig Minuten Vorsprung gegeben, um auf Nummer sicher zu gehen.“

„Danke, Yoshi. Das war gute Arbeit.“

„Nicht der Rede wert. Nur, um mit dir telefonieren zu können, musste ich mich aus der Klasse werfen lassen. Der Part war nicht so nett.“

„Nichts, was du mit deinem hinreißenden Lächeln nicht wieder hinkriegen würdest, alter Freund.“

„Ja, ja, spotte du nur. Ach, noch etwas, Akira. Megumi-chan wurde heute auf dem Schulweg mächtig umschwärmt. Sei froh, dass du heute nicht mitgekommen bist. Die Emotionen haben ganz schön hoch gebrodelt. Während die Mädchen versucht haben, Megumi-chan davon zu überzeugen, dass du ein brutaler, Mädchenverschlingender Dämon aus der Hölle bist, der sie mit seiner Anwesenheit nicht verunreinigen darf, haben die Jungs einfach nur tödliche und endgültige Rache geschworen, um Megumi-chan von dem Bann zu befreien, den du über sie geworfen hast.“

Ich lachte leise. Na, das waren wenigstens normale Zustände. Mit so etwas konnte ich umgehen, das war ich gewohnt. „Scheint so als würde ich morgen eine Menge Spaß haben. War noch irgendwas los? Ist Hatake-sempai auch bei Megumi gewesen?“

„Ja, und er war wirklich sauer. Er meinte, du würdest dein Training vernachlässigen.“

„Mein Training? Was ist denn ist denn mit Oberarschlochhalbgott Mamoru los?“ Unwillkürlich sah ich auf um mich zu vergewissern, dass er nicht gerade vor mir stand und mir aufmerksam zuhörte.

„Keine Ahnung. Aber ich soll dir sagen, dass du gefälligst morgen zum Training kommen sollst. Immerhin geht es um die Meisterschaften.“

„Ich überlege es mir. Immerhin gibt es wichtigere Dinge als Kendo im Leben.“

Ich seufzte leise. „So, das sollte eigentlich reichen, um mich zu orten. Du kannst wieder auflegen, Yoshi.“

„Was denn, was denn, hast du keinen Beobachter?“, spottete der Freund.

„Der muss nicht unbedingt zwingend von der Polizei sein, oder?“

„Apropos Polizei. Was, wenn sie dich hier als Schulschwänzer anschleppen, Akira?“

„Dann haben wir alle einen guten Grund, um mal richtig zu lachen. Bis bald.“

Ich legte auf, verstaute das Handy. Die Karten waren gemischt.

***

Eine Stunde später fand mich Joan Reilley auf einer Parkbank. Ich hatte mich weit nach hinten gelehnt und ließ mir die Sonne auf den Pelz scheinen, während sie sich von einem der Cops einen vorläufigen Bericht geben ließ. Ich sah sie aus den Augenwinkeln seufzen.

„Hier treibst du dich also rum, Kuroi Akuma“, sagte sie und nahm neben mir Platz.

Vorwurfsvoll sah sie mich an. „Du kannst es einfach nicht lassen, oder? Du kannst es nicht lassen, egal ob mit oder ohne Maske. Was hat dich dazu getrieben? Ich meine, sie waren zu dritt.“

„Komm wieder runter. Sie waren untrainiert und haben außerdem nacheinander angegriffen. Außerdem, was hätte ich deiner Meinung nach tun sollen? Daneben stehen und zusehen?“

„Es war ein Raubüberfall“, betonte sie.

„Ja, ein Raubüberfall. Mit Messern. Du weißt selbst, wie schnell das bei diesen Halbstarken ausarten kann. Welche Schlagzeile ist dir lieber? Jugendliche töten Ausländer bei Raubüberfall oder Oberstufenschüler zeigt Courage?“

„Wie wäre es mit: Akira Otomo schwänzt nicht die Schule?“, erwiderte sie. „Akira, das hätte furchtbar ins Auge gehen können! DU hättest… Hättest…“

„Was denn, was denn, du hast doch gesagt, ich bin Kuroi Akuma. Und dieser Knabe kann nicht verletzt werden, oder?“

„Du hast deine Maske nicht getragen. Ich weiß nicht, wie es zusammenhängt, aber deine enorme Kraft und die Maske sind eins.“

Es juckte mir in den Fingern, sie diesbezüglich zu korrigieren, aber dieser Erkenntnis von ihr spielte mir viel zu gut direkt in die Hände. Grandios. Phantastisch. Genial. Was für ein Klischee.

„Also, bin ich jetzt verhaftet? Wegen wiederholtem Vigilantentums?“

„Du hast ihnen doch nicht zu sehr wehgetan?“, argwöhnte sie.

„Nicht so sehr wie sie es mit ihren Messern gekonnt hätten“, erwiderte ich. „Ich war gnädig. Ein Schulterwurf, ein verstauchtes Handgelenk, und einer hat auch gekotzt, als sich herausgestellt hat, dass meine Faust härter als sein Magen ist. Wirklich, vollkommen untertrainierte Flaschen ohne Rückgrat. Stell dir vor, sie haben gebrüllt, bevor sie angegriffen haben. Gebrüllt! Genauso gut hätten sie ihre Angriffe ansagen können.“ Ich schüttelte fassungslos den Kopf. Erstens, weil diese unkoordinierten Attacken so furchtbar lächerlich gewesen waren, zweitens, weil ich mein Glück, in diese Möchtgernverbrecherbande gerauscht zu sein, immer noch nicht fassen konnte.

„Diesmal ging es noch gut, Akira, aber das nächste Mal endest du vielleicht mit einem Messer zwischen den Rippen!“

„Pah. Habe ich was nicht mitgekriegt? Sind Polizisten seit neuestem gepanzert? Ein Messer ist ein Messer, und es ist ihm egal, durch welches Fleisch es schneidet, oder?“

„Das mag sein. Aber wir sind dafür ausgebildet. Und wir werden auch dafür bezahlt, zerschnitten, erschossen und Tot geprügelt zu werden. Du nicht. Verdammt, Akira, kannst du uns nicht einfach unsere Arbeit machen lassen? Warum musst du den Vigilanten spielen? Warum begibst du dich unnötig in Gefahr?“

Ich seufzte. Sollte ich ihr verraten, warum ich nach meinen Einsätzen auf der AO ab und an durch Tokio streifte? Sollte ich ihr von meinen Gewissensnöten erzählen, weil ich auf der Dämonenwelt kämpfte, mein Leben riskierte, aber hier, in diesen Straßen Menschen starben, weil ich es nicht verhinderte? Sollte ich ihr sagen, dass ich mich als Krieger verstand, und als dieser Krieger die Pflicht sah, meine Mitmenschen zu beschützen – notfalls voreinander?

„Zur Entspannung. Das wäre meine Antwort, wenn ich der schwarze Teufel wäre.“

„Verdammt! AKIRA!“

Für einen Augenblick sah ich Sternchen. Also, mit der Kelle hätte sie einem Pferd die Hufeisen mit bloßen Händen aufschlagen können. Und hätte ich eine Sonnenbrille getragen, hätte ich sie wahrscheinlich auf Okinawa wiedergefunden.

„Wofür war die?“, fragte ich ärgerlich und hielt mir die schmerzende Wange.

„Die war dafür, dass du so ein Riesenidiot bist!“, fauchte sie. Wütend stand sie auf, stapfte davon. „Und geh in die Schule, oder ich lass dich bringen und… Akira?“

Die paar Sekunden, die sie mir den Rücken zugewandt hatte, hatten mir gereicht, um zum nächsten größeren Baum zu springen. Dort stand ich nun hinter dem Stamm und beobachtete, wie Joan nach mir zu suchen begann. Richtig, ein normales menschliches Wesen konnte einhundert und mehr Meter nicht binnen von drei Sekunden bewältigen. Aber vermutete sie nicht ohnehin, dass ich kein normaler Mensch war?

Eigentlich war ihre Sorge rührend, auch wenn es nur beruflich war. Irgendwie.

Als mein Handy klingelte, nahm ich ohne zu zögern ab. „Otomo!“

„GEH ZUR SCHULE!“, blaffte Joan und legte wieder auf.

Ich grinste dünn. Meine Wange tat immer noch weh.

Als es erneut klingelte, hielt ich es nicht so nahe an mein Ohr. „Otomo.“

„Black Knight.“

„Treffpunkt?“

„Ja.“

Ich legte wieder auf und schaltete mein Handy ganz ab. Die Gefahr, durch das Stand by-Signal geortet zu werden war gering, aber ein vermeidbares Risiko.

Langsam wandte ich mich um und verließ den Park.
 

In einem modernen Fresstempel erwartete mich Black Knight bereits, oder genauer gesagt, Daisuke Honda. Sein Tablett war für das, was er sich ausgesucht hatte, gerade groß genug.

„Nanu? So verfressen?“

Missmutig starrte er mich an. „Dein toller Auftrag hat mich ne Menge Kraft gekostet. Weißt du wie schwierig es war, diese Sarah zu finden und zu beschatten? Das Mädel ist taff.“

„Hat sie dich bemerkt?“

„Bemerkt, festgenagelt, aber nicht festnehmen können. Wenn das der Boss von deinem Schwarm Joan ist, dann legt die aber noch ein paar Briketts aufs Feuer. Hey, das sind meine Burger! Hol dir selbst welche.“

„Sei nicht so ichbezogen. Die schaffst du doch sowieso nie alle.“

„Du holst die zweite Rutsche, klar?“

„Abgemacht. Also, wie ist sie?“

„Sarah Anderson. Amerikanerin wie Miss Reilley. Beide seit zwei Jahren im Land. Irgend so ein internationales Austauschprogramm. Sie sind auf Ausländerkriminalität und Jugendkriminalität spezialisiert. Aufgrund ihres erfrischend jungen Aussehens – was übrigens kein Fake ist, ich habe ihre Geburtsdaten in ihren Akten verifiziert, zusammen mit enorm guten und enorm schnellen Abschlüssen an ihrer Polizeiakademie – werden sie oft Undercover eingesetzt. Die beiden wechseln sich dabei als Lockvogel ab, wobei Sarah Anderson aber eher das Gehirn und Joan Reilley der Muskel ist.“

„Muskel. Kaum zu glauben bei diesem zarten Geschöpf“, brummte ich.

„Zweiter Dan in Karate, brauner Gürtel in Karate. Und Aikhido macht sie auch, soweit ich weiß.“

„Was? Kein Sumo?“, scherzte ich.

„Hat sie mal gemacht, aber ihre enorme Brutalität, mit der sie ihre Gegner aus dem Ring geworfen hat, führte zu ihrer lebenslangen Sperre.“

Mir fiel der Burger aus der Hand. „Du verarschst mich.“

„Natürlich verarsche ich dich.“

„Du verdammter…!“

Daisuke stopfte mir einen weiteren Burger zwischen die Zähne. „Klappe zu und Ohren auf. Also, soweit ich es ermitteln konnte, haben sie ein Team von elf erfahrenen Inspekteuren, die auf den Vigilantenfall Kuroi Akuma angesetzt sind. Außerdem haben sie Zugriff auf ein bis drei Einsatzkommandos, falls es hart auf hart geht.“

Daisuke grinste mich an. „Und weißt du, warum sie so einen Aufwand draus machen? Du erinnerst dich an die Fahrerflucht vor drei Monaten?“

„Hm. Sag mir nicht, das war Daddys Lieblingssohn, und Daddy ist zufällig in der Politik.“

„Fast. Daddy ist bei der Polizei und stinksauer, dass sein Sohn jetzt vorbestraft ist. Der Bengel muss mächtig leiden, aber auf dich hat er richtig Wut. Frag mich nicht, warum sie nicht einfach mit einem maskierten Kommando vorbei kommen, um dich durchzuprügeln, und dich stattdessen von zwei Schönheiten observieren lassen.“

Ich runzelte die Stirn. „Die Maskentypen waren Polizisten? Das erklärt ihren Kampfstil.“

Nun war Daisuke überrascht genug, um seinen Burger fallen zu lassen. „Du verarschst mich.“

„Natürlich verarsche ich dich. Erzähl weiter. Wie sind sie auf mich gekommen?“

„Es gibt ein paar Aufnahmen von Kuroi Akuma. Dazu Schätzungen zu deinem Gewicht, deiner Größe und eine Bestimmung deiner Haarfarbe. Danach haben sie alle Aufnahmen verglichen, die sie haben und Berechnungen angestellt. Das brachte sie zum Schluss, dass du noch im Wachstum bist. Und da begann die eigentliche Ermittlung mit den jüngsten Fotos. Braune Haare sind jetzt nicht so selten, aber deine Körpergröße ist es. Du bist zu groß für den durchschnittlichen Oberstufenschüler. So sind sie dir auf die Schliche gekommen. Es gab noch ein paar andere Kandidaten, aber anscheinend ist die Otomo-Pest gefrustet genug gewesen, um sich mal eben als Held der Nacht abzureagieren. Nun, die Wetten stehen neun zu eins gegen dich, aber die Ermittlungen wurden noch nicht abgeschlossen. Das ist der einzige Grund, warum du noch nicht verhaftet wurdest.

Oder um es mal anders auszudrücken, die beiden hübschen Käfer meinen es gut mit dir. Wenn du den Vigilantenkram sein lässt, dann werden sie den Fall als ungelöst zu den Akten legen.“

„Stand das in meinem Dossier? Vielleicht ein kleiner Hinweis, den ich finden sollte?“

Für einen Moment war Daisuke sprachlos. „Es würde passen. Mist, werde ich alt?“

„Schon in Ordnung, schon in Ordnung. Der Gedanke ist mir auch gerade erst gekommen. So, ich kaufe jetzt eine neue Rutsche Burger. Wir werden eine Menge Kraft brauchen, nachher.“

„Einverstanden.“

Operation Hydra konnte beginnen.

***

Der Vorteil daran, ein absoluter Egomane zu sein war, dass man tun und lassen konnte, was immer man wollte. Ich begann, Gefallen an dieser Einstellung zu finden, während ich auf der oberen Plattform des Tokio Towers stand – um präzise zu sein, auf dem Dach – unter mir das nächtliche Tokio sah und den Wind durch meinen nagelneuen Umhang rauschen spürte.

Es war etwas kühl, genauer gesagt saukalt. Aber ich widerstand der Versuchung, mir eine dicke Jacke zu besorgen oder den Umhang eng um meine Schultern zu ziehen.

Immerhin wollte ich meine coole Pose nicht ruinieren.

Nachdenklich ließ ich meinen Blick über die nächtliche Stadt schweifen, über das Lichtermeer, die Autokolonnen, das Menschentreiben. So musste sich einer dieser Comic-Superhelden fühlen, wie sie in diesen schrecklich pathetischen Vielfarbigen Heften dargestellt wurden, ging es mir durch den Kopf. Nun, da ich dieses Gefühl selbst erlebt hatte, konnte ich es ihnen nicht mehr übel nehmen. Hm, wenn die Stadt nur etwas toleranter gegenüber Vigilanten gewesen wäre, dann hätte es vielleicht irgendwann auf dem Dach des Polizeihauptquartiers einen Gigantscheinwerfer gegeben, der das Kuroi Akuma-Zeichen an den Nachthimmel geworfen hätte, um mich bei besonders kniffligen Fällen zu Hilfe zu rufen.

Ich hätte mir einen Sidekick auswählen können, vielleicht sogar ein ganzes Team, und gemeinsam hätten wir die Menschen beschützt und… Himmel, das machte ja richtig besoffen. Ich beschloss, coole Posen von meinem Tagesplan zu streichen. Das verführte nur zu Unsinn.
 

„So. Hier bist du also.“

Ich wandte mich um und rückte die Maske zurecht. Mit der anderen raffte ich den Umhang um mich. „Guten Abend, schöne Dame“, empfing ich Joan Reilley. Zum ersten Mal wusste ich es zu schätzen, dass meine Stimme unter Akaris Maske dumpf klang.

„Du hast dir meine Worte also nicht zu Herzen genommen, Akira“, stellte sie fest und setzte sich neben mich. „Was bist du? Ein dämlicher Adrenalin-Junkie? Dann spring doch mit einem Gummi-Seil von Brücken, lerne Fallschirmspringen, aber lass das!“

Ich lachte amüsiert. „Ich denke, Sie verwechseln mich, junge Dame. Weder bin ich ein Adrenalin-Junkie, noch dieser Akira.“

Sie sah zu mir herüber und konnte ein Schmunzeln kaum unterdrücken. Natürlich hatte sie mich so genau und endgültig erkannt wie ein durchschnittlicher Fernsehzuschauer den aktuellen Sender am Symbol in der Ecke des Bildschirms. Es war unvermeidlich. Und das war auch Teil meines Plans.

„Was muss ich tun, damit du mit diesem Unsinn aufhörst? Denk dran, du kannst deine Jagd nach Ganoven legal machen. Alles was du tun musst, ist nach der Schule auf die Akademie kommen. Du hättest eine große Zukunft bei uns.“

„Abgelehnt. Ich habe keine Zeit für Kindereien.“

„Das sind keine Kindereien. Das sind alles Gelegenheiten, bei denen ein Kind wie du schwer verletzt oder sogar getötet werden kann. Kapierst du das nicht? Geht das nicht in deinen dämlichen Schädel rein? Ich mache mir Sorgen um dich! Ich habe Angst um dich! Kannst du es nicht einfach lassen, vielleicht mir zuliebe?“

Ich hörte es und ich spürte es, Joan meinte jedes einzelne Wort ernst, bitter ernst.

„Was… Kann ich irgendetwas tun? Bist du bestechlich, Akira? Willst du ein Praktikum bei uns machen? Gibt es nichts, was dich überzeugen kann?“

Ihre Hand langte nach mir, und ich hatte nicht die Kraft, sie abzuwehren.

Ihre Rechte war trocken, und sehr warm. Und ihre Augen waren verzweifelt und feucht von den Tränen, die ihre Wangen herab liefen. Oh ja, sie war eine wunderschöne Frau. Jetzt noch mehr denn je, wo sie vor meinen Augen vor Sorge fast verging.

Hätte sie die Wahrheit akzeptiert? Ein Ausflug auf die AO hätte ihr vielleicht gezeigt, wie unsinnig ihre Angst um mich hier in Tokio war. Und sie hätte gelernt, dass sie eher Angst um mich haben sollte, wenn ich auf Mu auf Leben und Tod kämpfte.

„Willst… willst du mit mir schlafen? Gibst du dieses Leben dann auf?“

Erschrocken zuckte ich zusammen. Meine Knie wurden weich, und nur mit Gewalt konnte ich mich auf den Beinen halten. Und ich sehnte mich sehr an mein Leben von vorgestern zurück, als mir die Frauen weder die Liebe erklärt, noch mir die Küsse gestohlen, noch mich plötzlich mit Sex konfrontiert hatten. In meinen Ohren rauschte es, als mein Gehirn Gemeinerweise entschieden hatte, einen besonders starken Cocktail an Pheromonen auf meinen Körper los zu lassen.

Meine Rechte krallte sich schmerzhaft in meinen Oberschenkel. Der Schmerz brachte mich ein wenig zur Besinnung. „Ist es das? Deine ultimative Waffe? Wie weit würdest du gehen, damit dein Vorgesetzter zu seiner kleinlichen Rache kommt?“

Ich spürte ihr Entsetzen. Und ich spürte, wie ihre Hand in meiner zu zittern begann. „Akira, ich…“

„Wie ich schon sagte. Ich kenne Akira nicht. Nein, das ist falsch. Ich kenne zehn oder elf Akiras. Aber ich bezweifle das dein Akira unter ihnen zu finden ist.“ Langsam zog ich meine Linke aus ihrem Griff. „Ja, ich weiß von dem Polizei-Offizier. Ich weiß von seinem Sohn und seiner Verurteilung nach der Fahrerflucht. Schäm dich, junge Dame.“

„I-ich…“ Sie schluckte hart. Ihre Stimme versagte und die Tränen begannen stärker zu fließen.

Oh, sie brauchte es nicht zu sagen, damit ich es wusste. Natürlich tat sie das alles nicht auf Anweisung ihres Vorgesetzten, der einen persönlichen Hass auf Kuroi Akuma entwickelt hatte. Alles, ihre Sorge, ihre Blicke und letztendlich auch ihr Angebot, mit ihr zu schlafen, waren ihr voller Ernst und ihre persönliche Entscheidung gewesen. Sie machte sich wirklich Sorgen um mich. Aber das konnte ich ihr nicht sagen. Das passte nicht in meinen Plan.

„Akira“, hauchte sie.

„Ist jetzt nicht der Zeitpunkt für das große Finale gekommen?“, erwiderte ich ernst. „Musst du jetzt nicht das Greifkommando rufen? Zwei bis drei Dutzend schwer bewaffneter Einsatzpolizisten mit scharfen Waffen?“

Ich deutete auf verschiedene Wartungsluken. „Hier, hier und hier.“

Die Klappen flogen auf, und die erwähnten Polizisten kletterten hervor, zielten mit ihren halbautomatischen Waffen auf mich und brüllten so lustige Sachen wie: Halt, Polizei! Oder: Auf den Boden!

„Hm. Das ist alles so unvollständig. Ich hätte noch einen Hubschrauber erwartet. Genau dort.“

Ich streckte meine Hand aus, und vor mir stieg ein Polizeihubschrauber auf. Er erfasste mich mit zwei grellen Scheinwerfern.

Unter der Maske grinste ich. Noch ein, zwei Fernsehsender dazu, und die Sache war perfekt.

„Akira! Lass dir helfen! Bitte!“, rief Joan herüber.

„Ich glaube, ich sollte lieber auf die Typen mit den Waffen hören! Weißt du, was sie sagen? Auf den Boden!“

Langsam trat ich an den Rand der Plattform heran.

„AKIRA!“

Dutzende Zielpunkte von Laservisieren vereinigten sich auf meinem Körper. Auf zu einem grandiosen kleinen Finale. Ich trat mit meinem rechten Fuß ins Leere.

Joan schrie entsetzt auf.

Dann zog ich den zweiten nach. Langsam begann ich zu Boden zu sinken. Mein Umhang wurde vom Wind aufgeweht. „Wir sehen uns auf dem Boden, junge Dame!“, rief ich über den Lärm des Hubschraubers hinweg, während ich langsam in die Tiefe sank.

KI war doch eine wundervolle Sache.

Eröffneten sie das Feuer auf mich, einen Verdächtigen auf der Flucht? Oder waren sie einfach zu ergriffen vom Anblick eines Menschen, der fliegen konnte?

Nun, ich musste den Einsatz erhöhen, so oder so.

Also sprang ich auf die untere Plattform herab, federte mit den Knien nach und stützte mich zusätzlich mit einer Hand ab. Der Hubschrauber folgte sofort, nahm mich in den Lichtkreis seiner Scheinwerfer auf, während auf der oberen Plattform die Polizisten an den Rand traten. Wieder tasteten die Laserzielpunkte ihrer Visiere nach mir.

Ich sprang erneut, diesmal bis auf den Platz hinab. Diesmal brauchte die Hubschraubermannschaft ein paar Momente, um mich wieder in den Spot ihrer Scheinwerfer zu kriegen. Allerdings waren sie hier nicht ganz allein, weitere Polizeieinheiten warteten hier.

Hm, da war wohl jemand besonders schlau gewesen.

Ich sah direkt in eine niedliche Walter und in ein noch niedlicheres Paar Augen, das mich entschlossen fixierte.

„Akira Otomo, Sie sind hiermit vorläufig festgenommen!“

Hm, das musste Sarah Anderson sein. In einem anderen Leben, in einer anderen Zeit hätten wir wunderbare Freunde werden können, ging es mir durch den Kopf.

„Sie irren in zwei Punkten“, erwiderte ich ruhig. „Der erste Punkt ist, ich bin nicht Akira Otomo, obwohl mir dieser Name irgendwie gefällt. Der zweite Punkt ist, ich bin nicht festgenommen!“

Ich wirbelte herum, mein Umhang flatterte auf, und ich sprang. Mit einem Satz war ich fünfhundert Meter vom Tower entfernt.
 

Dem Hubschrauber fiel es nun sehr viel schwerer, Kuroi Akuma wieder in den Fokus seiner Scheinwerfer zu bekommen, aber langsam bekam die Crew Übung darin. Der flatternde Umhang war natürlich ein deutlicher Hinweis. Dies war der Beginn eines Katz und Maus-Spiels, bei dem Kuroi Akuma mehr und mehr aus Roppongi raus getrieben wurde. Es war eine Hatz, die sich stundenlang hinzog. Noch hatte kein Polizist das Feuer eröffnet, und das passte auch ganz gut in meine Pläne.

Der einzige Fluchtweg war Osten, und das bedeutete die Bucht von Tokio.

Die Polizisten waren motiviert und angepisst, eine schlechte Kombination für ihre Beute, die sich immer wieder durch gigantisch weite Sätze zu entziehen versuchte. Aber sie schlossen den Ring immer enger um ihn, trieben ihn mehr und mehr vor sich her, während sich zum Polizeihubschrauber weitere gesellten – darunter die von einigen Fernsehsendern, die da eigentlich absolut nichts zu suchen hatten.

Und dann… Dann hatte Kuroi Akuma nur noch den Hafen im Rücken. Von Norden, Westen und Osten rückte die Polizei ein, Spezialeinheiten, Verkehrspolizei, Schaulustige, es hätte nicht viel gefehlt, und die Armee wäre ebenfalls aufgetaucht. Zumindest aber die Wasserschutzpolizei war eingeschaltet worden. Während sich Kuroi Akuma wie ein verängstigtes Raubtier auf den höchsten Punkt zurückzog, in diesem Fall die Spitze eines großen Verladekrans, kamen sie nun auch von der Seeseite mit ihren Schnellbooten heran.

Wieder wurde Kuroi Akuma vom Licht der Scheinwerfer gebadet. Und ich war mir sicher, ein paar Sender würden nun eine Live-Übertragung bringen. Letztendlich hatte ich in dieser Rolle nie das Image eines Robin Hoods, sondern war selbst irgendwie das böse gewesen.

Gut. Genau das brauchte ich für den finalen Akt.

„Akira Otomo! Sie sind vorläufig festgenommen! Kommen Sie herab und heben Sie die Hände!“

Ich schmunzelte. Danke, Sarah Anderson, das war das I-Tüpfelchen gewesen, das auf dem Kuchen noch gefehlt hatte.

Gigantisch, wie sich Menschen manipulieren ließen, wenn sie sich dessen nicht bewusst waren.

Kuroi Akuma bereitete nun das Finale Furioso vor. Er zog eine Waffe aus seinem Anzug. Es war eine Glock 17L, eigentlich eine Sportwaffe. Aber diese hatte ebenfalls ein Laservisier.

„ER HAT EINE WAFFE!“, rief jemand.

„NIEMAND SCHIEßT!“, blaffte Sarah Anderson.

„Otomo-kun, dies ist die letzte Aufforderung! Kommen Sie da runter!“

Der Laserpunkt erschien auf dem Beton der Kai-Anlage und wanderte mit quälender Langsamkeit zu einem der Scharfschützen herüber.

Nun, der Mann hätte es eigentlich besser wissen müssen als zu glauben, dass eine Sportpistole nur wegen eines Laserpointers auf zweihundert Meter genau schießen konnte.

Der Mann reagierte so, wie seine Natur es ihm vorschrieb. Er biss zuerst.

Deutlich konnte man sehen, wie Kuroi Akuma in der Brust getroffen wurde. Bei ihrem Austritt wehte sie seinen Umhang auf. Er breitete die Arme aus und fiel nach hinten, hinein in das Hafenbecken. Als kurz darauf eines der Schnellboote der Hafenpolizei über diese Stelle fuhr, färbte sich das Wasser im Licht der Scheinwerfer blutrot.
 

Ich lächelte dünn. Nun war es Zeit für meinen Auftritt. Die Menschen schrieen durcheinander, Polizisten eilten an die Kai-Anlage, eine ziemlich frustrierte Einsatzleiterin stauchte den Scharfschützen zusammen… Und Akira Otomo ging wütend auf genau diese Einsatzleiterin zu. „Na Klasse!“, fuhr ich sie an.

„Wie sind Sie durch die Absperrungen gekommen? Gehen Sie sofo… Otomo?“

„Richtig. Akira Otomo! Der Mann, den Sie verdächtigen, Kuroi Akuma zu sein! Sehen Sie mich an! Ich wurde nicht erschossen! Ich bin nicht klatschnass, weil ich ins Hafenbecken gefallen bin! Und ich kann auch keine dreihundert Meter weit springen! Dafür haben Sie jetzt aber einen Toten im Hafenbecken. Oder vielmehr viele kleine Reste, denn wie es aussieht, hat ihn eine Schiffsschraube zerfetzt!“

„AKIRA!“ Etwas Schweres fiel gegen mich, und es schien da nur zu gerne bleiben zu wollen. „Akira, ich dachte ich sehe dich sterben!“

Ich wand mich in dem unbequemen, aber recht angenehmen Griff. „Glaubst du mir jetzt, dass ich nicht Kuroi Akuma bin, Miss Reilley?“

Ich war mir sehr bewusst, dass diverse Fernsehkameras die Szene auffingen. Und Sarah Anderson war sich wohl sehr bewusst, dass sie gerade ihre Karriere gefährdete. Was wog schwerer? Ihre Liebe zur Polizeiarbeit, oder ihre Eitelkeit.

Mich traf eine Ohrfeige. Das zweite Mal schon an diesem Tag. Joan ließ mich los und sah mich anklagend an. „DU warst das auf dem Tower! Wie hast du das gemacht? Wie konntest du… Wie…? Wer ist da für dich gestorben? Akira!“

„Lass gut sein, Joan. Wir haben Kuroi Akuma erwischt. Daran besteht kein Zweifel. Er hat uns diese unglaublichen körperlichen Fähigkeiten präsentiert, oder? Dein Akira Otomo nicht.“

Sie sah mir in die Augen. Und ich sah alles darin. Sie glaubte mir nicht. Sie hatte mich nach wie vor im Verdacht, Kuroi Akuma zu sein. Und sie erkannte das, was da gerade passiert war, als Komödie. Aber es hatte einen Toten gegeben, und nun würde sie die Ermittlungen abschließen müssen, bis Kuroi Akuma erneut auftauchte. Oder die Obduktion der Leiche Zweifel erbrachte. Ich lächelte dünn. Es würde keine Leiche geben. Es würde keine Obduktion geben. Nur ein wenig Blut im Meerwasser, dessen Blutgruppe nicht mit meiner übereinstimmte.

„Heißt das, die Ermittlungen gegen mich sind eingestellt?“

„Es sieht so aus, als müssten wir den Fall abschließen“, erwiderte sie. Hm, sogar der rachsüchtige Vater würde sich mit diesem Ergebnis zufrieden geben müssen.

Ich nickte in ihre Richtung und wandte mich um. „Danke, dass du dir Sorgen um mich gemacht hast, Joan. Hm, irgendwas sagt mir, dass wir uns morgen in der Schule sehen werden, oder? Gute Nacht, die Damen.“

Der Fluch, der bis zu mir trug, disqualifizierte eine von ihnen vom Begriff Damen, aber merkwürdigerweise gefiel mir das.

***

Eine weitere Stunde später saß ich mit zwei anderen Männern auf dem Dach eines Lagerhauses und starrte auf die noch immer laufenden Ermittlungen der Polizei. „Gute Arbeit, Jungs.“

Links von mir saß Yoshi. Seine Haare waren noch immer nass, aber er hatte seine KI-Rüstung angelegt. Und die war trocken. Rechts hockte Daisuke, und er trug immer noch die Uniform eines Mitglieds der Wasserschutzpolizei.

„Danke. Aber nach all dem rumhüpfen habe ich das dringende Bedürfnis nach einer ordentlichen Mahlzeit.“

„Ich übrigens auch. Euch beiden zu folgen, die Polizei zu dirigieren und dann noch das Schnellboot zu übernehmen, und dazu dauernd die KI-Rüstung zu erzeugen, kostet eine Menge Kraft.“

„Ich habe verstanden. Sushi? Ich bezahle.“

„Und was wird aus Kuroi Akuma? Akira, gibst du ihn wirklich auf?“

„Es gibt auch noch andere Masken, oder, Yoshi?“, erwiderte ich schmunzelnd.

Wir sahen uns verschwörerisch an. Anschließend sprangen wir und verließen den Tatort so schnell wie es uns möglich war. Und das war sehr schnell.
 

2.

Endlich! Es herrschte Normalität. Freundliche, die Sinne schmeichelnde Normalität.

Ich ging zur Schule und wurde gehasst, geschnitten und verabscheut… Zumindest vom Gros.

Der Rest ignorierte mich entweder, oder warf mir versteckte Blicke zu.

Aber der Hass überwog! Ich meine, das war ich gewohnt, das war meine Welt! Nach dem Trubel der letzten Tage war es wenigstens eine Konstante in meinem Leben.

Auch meinen Sicherheitsabstand hatte ich wieder, drei Meter in jede Richtung. Das lag aber leider nicht mehr an meiner Aura als Otomo-Pest… Es lag an der erheblich gewachsenen Anzahl meiner Begleiter. Doitsu, Kei, Yoshi, Megumi, Yohko-chan, und seit heute auch noch Ami-chan. Sie bildeten alleine eine Barrikade mit ihren Leibern, und Megumis Charme hielt sie zusätzlich noch ein wenig ab.

Oh, vorher war es soviel einfacher gewesen.

Natürlich hörte ich sie tuscheln, und diesmal war ihr Thema keine ansteckenden Krankheiten, die von mir auf andere übergingen. Sie redeten über die Geschehnisse der letzten Nacht.

Kuroi Akuma war natürlich nie ein Guter gewesen, weder in den Medien noch im Internet war er so behandelt worden. Deshalb verwunderte es mich, dass ich bei einem Teil der Konversationen zum Bösen gestempelt wurde, der Kuroi Akuma bis zu seinem Tod benutzt hatte – und in den anderen zum unschuldigen Opfer, das Kuroi Akuma missbraucht hatte, um von sich abzulenken.

Wütend ballte ich die Hände. Letztendlich hatte ich es gut gemeint, immer nur gut gemeint. Ein altes Sprichwort sagte, dass die Menschen ihre Heiligen selbst töteten, und das entsprach im Moment genau meiner Stimmung. Ich war gut gewesen, so gut wie ich es vermocht hatte. Und die Menschen hatten mich getötet. Zumindest mein Alter Ego als Kuroi Akuma.

„Guten Morgen, Aki-chan!“

Ich hatte diese Worte erwartet, ich hatte diese Stimme erwartet, aber ehrlich gesagt bekam ich eine Gänsehaut, die sich wohlig rieselnd über meinen Körper ausbreitete.

„Guten Morgen, Miss Reilley“, erwiderte ich und ignorierte Megumis drohenden Wutausbruch so gut es ging. „Es scheint, als würdest du noch einige Zeit in unsere Klasse gehen.“

„Wie ich schon sagte“, erwiderte sie mit einem Lächeln, „Schule macht mir einfach Spaß. Und ich habe nicht gelogen, als ich gesagt habe, dass ich dich mag.“

Lächelnd, die Schultasche mit beiden Händen hinter dem Rücken gehalten, beugte sie sich ein Stück vor. „Und wer weiß, wenn du brav bist und dein Alter Ego in der Kiste lässt, dann darfst du vielleicht die Prämie einfordern, die ich dir auf dem Tokio Tower versprochen habe.

Oh, wie süß, du wirst ja rot. Wir sehen uns in der Klasse, nicht?“

Sie winkte und eilte weiter.

„Prämie? Tokio Tower?“, fragte Yoshi argwöhnisch.

Ich hatte es fast vergessen, oder vielmehr mit aller Macht verdrängt. Bei dem Hormoncocktail, der jedes Mal durch meinen Körper tobte, wenn ich daran dachte, war das nicht einfach. Was sollte ich jetzt machen? Lügen, und die anderen mit der Nase drauf stoßen, direkt bei Joan zu fragen? So offen und freundlich, wie sie sich gab, würde sie ohne zu zögern Auskunft geben. Dazu auch noch wahrheitsgemäß. Ja, das würde dem Biest wirklich passen.

Zum Glück zog mich ein Ereignis vom Regen in die Traufe, dieses Mal aber in eine Traufe, die mir lieber war als eine Diskussion über Sex mit Joan Reilley und die Gefahren für meine Gesundheit durch Megumi.

„Akira!“ Mamoru Hatake, Halb-Arschloch und Ganz-Gott, winkte zu mir herüber. „Spektakulärer TV-Auftritt gestern. Aber vergiss nicht, dass du neben deinen Pflichten als Superstar immer noch Kendo-Training hast, ja?“

„Ja, ja, Sempai. Ich vergesse es schon nicht.“ Ich winkte ihm im vorbeigehen zu. Und erschrak zu Tode, als ich das Mädchen erkannte, das neben ihm stand und meinen Blick vermied. Akane-sempai. Dies war das erste Mal, seit ich die Oberstufe besuchte, dass ich sie sah. Und ehrlich gesagt, mir rutschte das Herz mächtig in die Hose.
 

Bei den Schuhboxen lehnte ich mich schwer atmend gegen die nächste feste Wand. Mir stand Schweiß auf der Stirn, und böse, alte Erinnerungen drohten mich zu übermannen. In der Geschäftswelt hätte man sagen können, dass ich mich an die Zeiten erinnerte, in denen ich gemobbt worden war. Und das kam der Wahrheit sehr nahe.

„Was hast du, alter Freund? Soll ich dir einen guten Rat geben? Oder lieber ein, zwei rechte Haken?“

„Ich nehme die rechten Haken, Yoshi“, erwiderte ich matt. „Im Moment fühle ich mich, als würde ich sie gebrauchen können.“

„Okay, was ist los? Ich kenne ja schon ein paar deiner Stimmungen, Akira, aber ich habe dich noch nie so erlebt. Was hat dich an Mamoru erschrocken? Oder war es die Kleine neben ihm?“ Keis Blick ging einmal durch meine Augen hindurch, runter bis zur Seele und wieder zurück. „Aha. Es ist also die Kleine, oder?“

„Akane Kurosawa“, half Yoshi aus. „Wir reden nicht über sie.“

„Du warst nicht dabei, Kei. Belassen wir es dabei“, stimmte Doitsu zu.

„Was? Wieso? Was ist passiert?“

„Man kann sagen“, sagte ich, stieß mich ab und ging zu meiner Schuhbox, „mit ihr fing mein Leben als Aussätziger an.“

„Vorsicht! Nicht aufmachen, bevor du nicht…!“

Yoshis Warnung kam zu spät. Ich hatte die Schuhbox bereits geöffnet – und wurde von einem Schwall Briefe begraben. Na toll, war wieder mal Zeit für die Drohbriefrunde? Allerdings, wurden Drohbriefe wirklich mit roten Herzen zugeklebt und parfümiert?

Die meisten rochen so wie sie es sollten, aber ein erheblicher Anteil hatte das Aroma von Erdbeeren, Kirschen und Vanille. „Auch das noch“, stöhnte ich. „Liebesbriefe. Ich glaube, ich gehe wieder nach Hause. Sakura kann sicher Hilfe mit Laysan gebrauchen.“

„Nix da. Du bleibst hier. Und in der Mittagspause verrätst du mir, was es mit Akane und dir auf sich hat“, bestimmte Kei. „Und wenn du nicht gehorchst, gehe ich bei Megumi petzen.“

„Kleiner, fieser Giftzwerg“, knurrte ich.

„Der gerade die besseren Karten hat, oder?“, erwiderte er selbstgefällig.

„Stimmt.“ Zum Glück war dieser kleine, fiese Giftzwerg auf meiner Seite. Hoffte ich.

***

In der großen Pause, und nach dem Studium der meisten Liebesbriefe, Mist, die schöne Freistunde, fanden wir uns geschlossen auf dem Dach ein. Sogar Makoto war hinzugekommen. Dankenswerterweise trug er keine Mädchenuniform.

Auch Daisuke hatte sich bei uns niedergelassen, obwohl er gar nicht als Schüler eingeschrieben war. Er hatte von mir den Auftrag bekommen, ein Auge auf Sarah Anderson zu halten, und wenn er hier auf dem Dach war, hieß das nur, sie war in der Nähe.

„Also, erklär es mir, Akira. Wieso fing mit Akane dein Untergang an?“

Ich seufzte. „Will nicht drüber sprechen.“

„Dann frage ich Megumi.“

„Ich will da auch nicht drüber sprechen. Das ist was, was ein Mädchen anfangs sehr tief erschüttert. Ich habe lange gebraucht, um damit klar zu kommen.“

„Dann Yohko.“

„Diesem Umstand verdanke ich ein Jahr in der Hölle, als Schwester vom großen Perversen. Mit ein Grund, warum ich alles dafür getan habe, um ein Jahr überspringen zu können, raus aus der Gerüchteküche.“

„Das macht mich alles noch neugieriger. Na, notfalls kann ich ja immer noch Akane Kurosawa selbst fragen, oder?“

„Okay, du hast gewonnen. Ich erzähl es dir. Bist du dann zufrieden?“

„Voll und ganz. Wollen wir uns dann alle im Halbkreis um Onkel Akira setzen, damit er uns seine Geschichte erzählen kann?“

„Vorsicht, übertreib es nicht, sonst überlege ich mir, dich zu einer interessanten, aber kurzen Karriere als fliegender Mensch zu verhelfen.“

„Ist ja gut, ist ja gut. Ich halte mich mit schlechten Witzen zurück. Ist es denn so schlimm, Akira?“

Ich lachte gehässig auf. „Schlimmer.“

Die anderen nickten.

„Weißt du, Kei, es war in meinem zweiten Jahr auf der Mittelstufe. Akane war damals im letzten Jahr und stand kurz davor, hier auf die Fushida zu wechseln. Alle Jungs waren verrückt nach ihr, na, zumindest die meisten. Ich glaube, ich brauche nicht zu erwähnen, dass ich nicht verrückt nach ihr war.“

„Gut umschifft, Akira“, säuselte Megumi neben mir.

„Danke, Megu-chan. Jedenfalls begann meine persönliche Hölle durch eine Verkettung unglücklicher Umstände.“

***

Es war ein launischer Regentag. Aprilwetter halt. Mal stürmisch, mal Schnee verweht, dann wieder kurz und knapp sonnig. Also eigentlich nichts Besonderes. Ich war noch nicht zu den Kämpfen auf der AO gerufen worden, aber ich befand mich bereits im Training, zusammen mit den anderen. Dementsprechend knapp war meine Geduld.

Zudem hatte ich seit einiger Zeit einen Ruf als Schläger, dabei war alles was ich getan hatte, mich gegen die führende Schlägertruppe zu wehren und die Frechheit zu haben, auch noch zu gewinnen. Schlechte Neuigkeiten verbreiteten sich eben immer schneller als gute, und so war ich relativ schnell abgestempelt. Soweit war das aber in Ordnung. Bis zu diesem einen Moment.

Ich ging nach Hause, und die Gedanken an mein KI-Training gingen mir durch den Kopf. Vor ein paar Sekunden hatte ich noch die eisige Umarmung eines frischen Aprilwindes genossen, schon wechselte das Wetter und ließ einen Spalt Sonnenlicht auf das Pflaster vor mir fallen. Die Szene hatte etwas Unwirkliches, denn dieser Strahl Sonnenlicht fiel genau auf eine Pfütze vor mir. Und in der Pfütze trieb ein Buch.

Ich wollte es liegen lassen, aber… Jemand hatte es verloren. Es gehörte ihm, und irgendwie sah ich es als meine idiotische Pflicht an, es zurückzugeben.

Also nahm ich es aus der Pfütze und mit nach Hause.

Dort sah ich es mir genauer an. Und schalt mich einen Idioten. Ich hätte es beherzt in den Papierkorb werfen können, aber ich tat es nicht, obwohl ich sehr genau erkannte, dass es sich um ein Tagebuch handeln musste, das mit einem kleinen Schloss gesichert war. Leider stand kein Name dran.

Ich haderte einige Zeit mit mir. Entweder das Schloss aufbrechen, um drinnen nachzusehen, wem es gehörte, oder ab in die nächste Mülltonne.

Letztendlich siegte die Neugier, und ich besiegelte meinen eigenen Untergang.

Wie es sich herausstellte, hatte ich tatsächlich das Tagebuch eines Mädchens erwischt. Gleich auf Seite drei stand ihre volle Adresse. Und natürlich hatte ich ausgerechnet das Tagebuch von Akane-sempai gefunden. In diesem Moment machte ich meinen letzten Fehler. Anstatt zu ihr rüber zu laufen und es ihr noch am gleichen Abend zu geben, egal wie gewagt das auch erschien, nahm ich mir vor, es ihr in der Schule zu übergeben.

Mein Weg führte mich in der ersten Pause direkt zu den Klassenräumen des Abschlussjahrgangs, und von dort Ziel gerichtet in ihre Klasse. JEDER Junge der Mittelstufe kannte ihre Klasse und ihren Sitzplatz.
 

„Hier, das ist doch deins, oder?“, hatte ich gesagt und das Tagebuch auf ihren Tisch gelegt.

„Danke, das ist meins, aber wo…?“, hatte sie gefragt und es in die Hand genommen. „Du hast es aufgebrochen?“

„Keine Sorge, ich habe nur die Adresse auf der Innenseite gelesen. Draußen stand ja leider nichts dran. Ich habe es übrigens vor der Schule in einer Pfütze gefunden. Du solltest sorgfältiger mit deinen Sachen umgehen.“ Mit diesen Worten und einer coolen Drehung inszenierte ich meinen Abgang. Von meinem Standpunkt aus gesehen war die Welt nun wieder gerade gerückt.

Was ich nicht ahnen konnte war, dass es die Mädchen und auch einige der Jungs nicht so sahen.

„Hast du schon gehört? Otomo hat Kurosawas Tagebuch gefunden. Dann hat er es aufgebrochen und in der Badewanne gelesen.“

„Wirklich. So was wie der ist wirklich das Allerletzte.“

Das waren zwei der harmloseren Sprüche, die mir zu Ohren kamen. Die meisten waren nicht sehr nett und noch wilder.

Das führte dazu, dass ich mich öfters gezwungen sah, mich in Hinterhöfen gegen eine Handvoll oder mehr Jungs des Abschlussjahrgangs durchzusetzen, mich den Vorwürfen einer Horde Mädchen ausgesetzt sah, die wie Racheengel auf mich herabkamen und kein Wort von mir als Rechtfertigung zuließen und sogar von den Lehrern schlechter behandelt wurde.

Ich kam mir in dieser Zeit als Aggressionsventil für die ganze Schule vor. Und das Ergebnis war, dass ich auch aggressiver wurde. Ich bin nicht stolz drauf, aber ich wurde jähzornig, unbeherrscht und rauflustig. Zum Schluss wagte es wenigstens niemand mehr, mir direkt Vorwürfe zu machen.

Dazu kam dann das Training für die Kämpfe auf der AO, und ich schaffte es, mich langsam wieder in den Griff zu kriegen. Mich und mein Leben. Aber das Stigma haftete an mir, und aus dem Musterschüler wurde die Otomo-Pest.

***

„Das ist ergreifend“, schluchzte Kei. „So ungerecht und so gemein, und du hast das alles mit stoischer Ruhe ertragen. Akira, du bist mein Held.“

„Jedenfalls“, beendete ich meinen Bericht, „gelang es mir nie, diesen Schatten abzuschütteln. Und das werde ich wohl auch nie. Aber jetzt und hier ist es mir egal. Wirklich egal.“

Ich ergriff Megumis Hand, und sie schenkte mir dafür ein hinreißendes Lächeln. Ja, so war die Welt annehmbar.

***

„ZU LANGSAM!“, rief Mamoru, und riss mir mit seinem Shinai die Beine unter dem Körper fort.

Ich grinste matt. Auch ohne dass ich mein KI einsetzte, hätte ich nicht nur seinem Schlag ausweichen können, ich wäre auch noch in der Lage gewesen, in seinen Rücken zu gelangen. Aber ich konnte Sempai ja nicht völlig verprellen. Nicht, nachdem er die letzten Tage so nett zu mir gewesen war. Er reichte mir eine Hand und ich ergriff sie.

Mit erstaunlicher Leichtigkeit zog er mich hoch. „Läuft alles mit Megu-chan?“

„Wieso fragst du, Sempai?“

„Weißt du, Megu-chan liegt mir wirklich am Herzen. Ich würde es nicht gut aufnehmen, wenn sie jemand schlecht behandelt.“

„Du hast mir schon Prügel angedroht, oder?“

„Das war noch viel zu harmlos. Jedenfalls, sei nett zu ihr, und ich bin es auch zu dir, verstanden?“

„Das brauchst du mir nicht erst zu sagen, Sempai“, erwiderte ich entrüstet.

„Ach, bevor ich es vergesse. Ich bin seit Jahresbeginn mit Kurosawa-kun zusammen, also brauchst du meine Konkurrenz nicht zu fürchten.“

„Ich gratuliere“, sagte ich frostig. Das wühlte ein paar der nicht so netten Erinnerungen auf.

„Ich habe übrigens eine Nachricht von ihr für dich.“

„Will ich sie hören?“, entgegnete ich wütend und wandte mich zum gehen. Keine schnellen Schritte kamen mir nach, keine Hand ergriff mich an der Schulter und riss mich zurück.

Aber Mamorus Stimme kam hart und unbarmherzig zu mir herüber. „Sie hat gesagt, dass sie es schön finden würde, wenn du ihr endlich erlauben würdest, sich für den ganzen Ärger mit dem Tagebuch zu entschuldigen. Anstatt sie aus dem Raum zu brüllen, oder selbst zu gehen, ohne ihr zu zu hören.“

Ich erstarrte. Das waren definitiv Szenen aus der Mittelstufe gewesen. Sie flackerten wie stakkatoartige Blitzlichteffekte vor meinem Inneren Auge. Damals hatte ich doppelt unter Stress gestanden, mit der Schule und der Rettung der Welt. Und ich hatte sie rausgebrüllt. Oder sie ignoriert und war gegangen. Ich hatte mir nicht noch mehr Ärger aufhalsen wollen.

„Es… Es waren schlimme Zeiten für mich.“

„Sie weiß das. Deshalb fragt sie ja, ob es jetzt in Ordnung ist.“

„Sag ihr… Sag ihr, ich kaufe ihr ein neues Schloss für ihr Tagebuch.“

„Eine gute Antwort“, sagte mein Sempai und lachte laut.

Ja, das Leben war definitiv wieder das, was es sein sollte. Endlich.
 

3.

„Akari!“

„Ja, Meister.“ Mein Oni gab mir seine Maske, danach reichte er mir das Schwert. Der Dämonenschlächter wog schwer in meiner Hand, und er wurde noch schwerer, als Akari sich mit ihm verband.

Die Maske verwandelte sich auf meinem Gesicht. Die lange weiße Mähne verschwand, die Fratze mit den kleinen Hörnern veränderte sich und nahm das altbekannte Theatergesicht an. Aber nur für einem Moment. Dann veränderte sich die Maske erneut und war nun vollkommen konturlos. Lediglich die Schlitze für die Augen waren vorhanden.

Unter der Maske grinste ich grimmig. Ich hatte eine Entscheidung zu treffen, und es sah ganz so aus, als würde mir keine Wahl bleiben.

„Bist du auf meiner Seite, Akari?“, fragte ich ernst.

„Meister?“ Ihre Stimme klang irritiert, überrascht. „Natürlich bin ich auf deiner Seite!“

Ich zögerte einen Moment, dann nahm ich die Maske wieder ab. Anschließend legte ich das Schwert an die Seite.

Der Oni entstand neben mir erneut. „Meister? Willst du heute nicht kämpfen?“

„Das ist es nicht, Akari. Ich… Möchte nur etwas ausprobieren.“

Ich spürte die Blicke meiner Kampfgefährten. Bisher hatte ich immer im Verbund mit dem Oni gekämpft, meine Stärke potenziert. Ohne Akaris KI zu kämpfen musste sie alle irritieren.

Ich hielt die Rechte horizontal vor der Brust und schloss die Augen. Diese Geste war nicht Teil meines Trainings gewesen, zumindest nicht in dieser Welt. Aber sie half mir, mich zu fokussieren und mein Ziel zu erreichen.

Als meine Augen wieder auffuhren, taten sie es mit einer Energie, die meine Freunde zurückweichen ließ. „Entsiegeln!“

Von einem Moment zum anderen umgab mich eine Wand aus Licht. KI peitschte auf, blendete meine Umgebung. Ich fühlte meine Kraft ansteigen, weit über das Maß hinaus, das ich in den Kämpfen mit den Daina gewohnt war.

Als das Licht abebbte, trug ich eine hellblaue KI-Rüstung mit einem weiten, weißen Umhang.

Die Rüstung war grob, geradezu klobig. Aber sie wog nichts, absolut nichts. Sie belastete mich nicht, sie behinderte mich nicht. Das war gut.

„Schwarmzeit“, kam Makotos Stimme über die Kom-Verbindung. „Akira, bist du dir sicher?“

Ich runzelte die Stirn. Ahnte er etwas? „Ja.“

„Gut. An alle! Wir führen in dieser Schwarmzeit einen Angriff auf die Festung aus. Akira bildet unsere Sturmspitze. Alle anderen unterstützen ihn so gut, wie es ihnen möglich ist. Die AO muss nicht beschützt werden, ich wiederhole, die AO muss nicht beschützt werden.

Ziel ist es, in die Festung einzudringen und die Kryo-Tanks zu vernichten. Haben das alle verstanden?“

Nun war es an meinen Freunden und Kampfgefährten, irritiert zu sein. Ein Großangriff auf das Herz der Daina? Das war nicht geplant gewesen.

Ich lächelte matt. „Danke, Mako.“

„Was man nicht alles tut für seinen kleinen Bruder. Sieh wenigstens zu, dass du erfolgreich bist, ja?“

„Versprochen.“
 

„Da kommen sie. Ich schlage vor, wir… AKIRA!“

Ich sprang. Der Umhang entfaltete sich und wehte hinter mir auf. Als ich fünfhundert Meter tiefer auf dem Boden landete, tat ich dies auf einem Knie und der linken Hand.

Die Front der Daina war keine fünfzig Meter von mir entfernt, und sie kam schnell näher.

Dann sah ich auf. „Überraschung.“

Ich entließ eine KI-Entladung, die eine dreihundert Meter weite Schneise in die Phalanx der infizierten Daina trieb. Sie hatte eine Breite von vierzig Metern und ging über acht Meter in den Boden hinein.

„Das ist, Wow, Akira, wo hast du das denn gelernt?“

„Keine Zeit, das zu erklären, Yoshi. Gib mir Deckung!“

Pfeile zischten heran, explodierten spektakulär, und säuberten die Ränder der Bresche von den Daina.

Links und rechts von mir eilten nun Doitsu und Ami herbei und hielten die Flanken auf.

Gut. Sehr gut. Mein Vorhaben wäre etwas schwierig geworden, wenn ich es hätte alleine ausführen müssen. So aber hatte ich eine solide Chance.

Ich richtete mich auf und setzte mich langsam in Bewegung. Ich trat in die Schneise, und mit jedem Schritt, den ich tat, wichen die Daina einen zurück. Vielleicht ahnten sie, welch große Macht mich genau jetzt erfüllte.

Am Ende der Schneise fiel ich in einen leichten Trab, und dies war für die Daina das Signal, zu fliehen.

Wieder setzte ich den KI-Angriff ein, schlug eine neue Bresche in die fliehenden Infizierten. Dann sprang ich.

„Akira! Lauf nicht zu weit vor! Wir können deine Flanke nicht decken, wenn du zu schnell bist! Akira!“

Ich landete in einem fliehenden Pulk Daina. Einige flohen, die anderen attackierten mich mit dem Mut der Verzweiflung. Ich lächelte dünn.

An den Spitzen meiner Finger erschienen dünne blaue Lichtstrahlen. Ich zog sie über die Angreifer und ging weiter. Ich musste nicht nachsehen um zu wissen, dass die blauen Lichtstrahlen ihre Körper zerschnitten hatten wie ein heißes Messer Butter.

Dies erhöhte das Entsetzen der anderen Daina. Wenngleich die meisten Emotionen vom Liberty-Virus zerfressen waren, Furcht konnten sie empfinden. Also brandeten sie zurück, zurück zur kryogenen Anlage.

„Ist… Ist das noch Akira?“, hauchte eine entsetzte Stimme.

Nein, ging es mir durch den Kopf. Dies war nicht der Akira, den meine Freunde kannten. Dieser Akira war sehr viel mächtiger.

Wieder sprang ich, wieder landete ich in einem Pulk Daina. Wieder fuhr ich mit den blauen KI-Klingen an meinen Fingern zwischen sie. Wie viele hatte ich jetzt schon erwischt? Zweihundert? Mehr? An einem Tag löschte ich mehr Daina aus als in drei Jahren zuvor. Und auch wenn es für die Infizierten eine Erlösung sein musste, ich spürte langsam die Belastung, mich mit dem Tode so vieler intelligenter Wesen zu versündigen.

Aber es gab keinen Weg zurück mehr. Ich konnte nur noch voran schreiten, solange wie mir noch die Zeit blieb. Ohne einen Blick zurück zu werfen. Kurz hielt ich inne, um mir ein paar Tränen aus den Augenwinkeln zu wischen. Megumi. Yohko. Yoshi. Dai-chan. Doitsu. Ami. Kei. Eikichi. Kitsune. Laysan. Verdammt.
 

„Hör auf zu träumen und tu endlich, wofür du hergekommen bist!“, rief eine zornige Frauenstimme neben mir.

Kitsune war da, und sie fuhr in ihrer Fuchsgestalt - der XXXXL-Version – durch die Infizierten beinahe schlimmer als ich.

„Du bist auf meiner Seite?“, fragte ich freudig und erstaunt.

„Bin ich das nicht immer?“, erwiderte sie und schenkte mir ein kurzes Lächeln. „Genau so wie die anderen. Daran solltest du nie zweifeln, Akira.“

Meine Freunde holten mich ein, vergrößerten die Bresche in den Reihen der fliehenden Daina.

„Nun beeil dich endlich!“, rief Yoshi. „Und mach dir keine Sorgen um die Königs-Daina! Überlass sie uns, ja?“

„Danke!“

Ich eilte weiter so schnell ich konnte, überholte die Welle der Fliehenden und erreichte vor ihnen die kryogene Anlage.

„So hast du dir das gedacht, Akira Otomo!“ Eine höhnische Stimme erklang über mir.

Ich sah auf. Über mir schwebte ein Daina. Nun, schweben war eine Eigenschaft, die nur beste KI-Beherrschung vermitteln konnte. Etwas, was die Daina nicht konnten. Sie schafften es lediglich, ihre Körper zu verformen und Flügel auszubilden, was ihnen das schweben erlaubte. Aber nicht das fliegen. Ein Königs-Daina.

„Ich habe eine Überraschung für dich und deine Freunde. Ihr denkt, wir haben erst siebentausend Daina erweckt, oder?“ Er lächelte mich wölfisch an. „Es sind fünfzehntausend. Und die Stärksten sind noch in der Festung. Ihr habt immer nur mit den Schwächsten gekämpft.“

Der Mann schnippte mit den Fingern. Auf dieses Signal hin traten hunderte, tausende Daina aus den vielen Schlupfwinkeln der Festung hervor. Ich konnte es sehen, spüren, riechen. Diese da waren von einem anderen Level als jene Infizierten, die ich Tag für Tag bekämpft hatte.

„Freu dich auf dein Ende, Akira Otomo!“, rief der Königs-Daina und lachte rau.

„Ihr lernt wohl nie dazu, oder?“, erwiderte ich trocken und begann mein KI zu fokussieren, wie ich es neulich bei Laysans Rettung getan hatte.

„Willst du wirklich dein bisschen Kraft verschwenden? Mir soll es Recht sein. Mit der Energie werden wir problemlos fertig. Wir… Moment. Das ist mehr als vor zwei Tagen! Du Bastard hast noch Reserven! Doppelt so viel? Es geht noch weiter? Wo nimmst du diese Kraft her? Akira Otomo, wieso bist du so stark?“

„Weil ich es so will“, hauchte ich und entließ die angestaute Kraft auf einen Schlag.

Eine Welle an weißem Licht, identisch mit dem von mir entlassenen KI, brandete auf, flutete in alle Richtungen davon. Es erfasste den Königs-Daina, die Daina hinter mir, und jene die gerade aus der Festung kamen. Mein KI hüllte einen Radius von über fünfhundert Metern ein, bevor ein alles blendender Blitz das Sonnenlicht auslöschte.
 

Als ich wieder sehen konnte, schwebte ich über einem Krater. Er maß einen Kilometer im Radius und hatte eine Tiefe von fünfhundert Metern. Ich hatte mit meiner KI-Explosion Teile der Festung abgetragen, einen Großteil des zurückflutenden Heeres erwischt und den Königs-Daina mit seinen stärkeren Daina-Truppen. Und wie ich gehofft hatte, bot sich mir jetzt ein Eingang direkt in die Festung an.

„Akira… Bist das wirklich du?“, hauchte Makoto erschrocken über Funk.

„Nein, Mako. Ich bin nur ein Traum. Allerdings ein sehr mächtiger Traum.“

Ich ließ mich herab sinken, berührte den Kraterboden und ging langsam voran. Nun würde sich alles entscheiden. Wirklich alles entscheiden.

***

Die Struktur der Festung war die eines verschachtelten Bunkers. Viele kleine, isolierte Zellen, die lediglich durch Korridore miteinander verbunden waren. Größere Cluster der Zellen waren autark, die einzelne auf einen Generatorraum angewiesen. Aber dieser Aufbau in einem riesigen Volumen garantierte selbst bei Beschuss mit Kernwaffen, dass ein Teil der Bunkeranlagen überlebte.

Die Autonomie gestattete es sogar, eine Situation zu überleben, in denen der ganze Berg runterkam. Normale Menschen hätten die Zeit und die Mittel gehabt, sich selbst wieder auszugraben. Ich konnte nicht umhin, die Voraussicht der Daina zu bewundern.

Aber genau das machte mir nun das Leben schwer. Was war so falsch daran, einen riesigen Hohlraum zu verwenden, an dessen Innenwänden die Kryokammern aufgehängt waren? Warum sie auf Dutzende Bunkerzellen verteilen?

Und warum ein dezentralisiertes Computersystem mit regionalen Kernrechnern?

Was war aus dem guten alten Hauptrechner im Zentrum geworden? Kannten die Daina keine Klischees?

Mir blieb nichts anderes übrig, als mich durch zu kämpfen. Die verseuchten Daina leisteten Widerstand, bekämpften mich in den engen Verbindungskorridoren oder versuchten mit in den Zellen zu stellen, aber sie schafften nicht mehr als mich zu verlangsamen.

Allerdings raubte mir die Situation meine größte Kraft. Ich konnte meine Fähigkeiten nicht vollständig einsetzen, wenn das was ich suchte, erhalten bleiben sollte.

Meine bisherigen Fundstücke, rudimentäre Computerkerne, hatten nicht enthalten was ich suchte. Untereinander standen sie nur auf einem Sublevel in Verbindung, um Strom, Wasserversorgung und Atemluft zu koordinieren. Mit meinen beschränkten Fähigkeiten, Daina-Computer betreffend, war es mir nicht möglich, mich ins System zu hacken und auf diese Weise an das Wissen zu kommen, dass ich haben wollte. Mir blieb nichts anderes übrig, als die einzelnen Kerne abzuklappern. Wenigstens war der Aufbau der Bunkeranlage streng geometrisch, sodass ich keinen Raum zweimal absuchte. Aber auch so war es eine Belastung. Ich musste kämpfen, ich musste suchen, und bereits zweimal hatten die Daina versucht, mir die Decke auf den Kopf zu werfen. Dabei nahmen sie auf nichts Rücksicht, nicht einmal auf die Kryotanks mit ihren nicht infizierten Artgenossen.

Der Funkkontakt zu meinen Freunden und den anderen Kämpfern war abgebrochen, seit ich in der Festung war. Aber sie würden ohnehin draußen die Hände voll zu tun haben und konnten mir schwerlich zu Hilfe eilen. Immerhin stand eine ganze Festung gegen sie, und ich war nicht da draußen, um ihnen zu helfen.

Mist, sie hätten mir vielleicht suchen helfen können, solange ich ihnen nicht erzählte, was ich eigentlich suchte.

„Was suchen wir eigentlich?“, klang hinter mir eine vertraute Stimme auf.

Ich wandte mich überrascht um. Ein Fuchs sprang auf mich zu und landete auf meiner Schulter. Bevor ich es versah, leckte er mir die Wange ab.

„L-lass das Kitsune, das kitzelt.“

„Ist dir das bei einem Fuchs unangenehm? Ich kann mich auch wieder in einen Menschen verwandeln, wenn dir das lieber ist.“

„Es wäre einen Versuch wert“, erwiderte ich schmunzelnd. „Aber nicht unbedingt jetzt. Ich muss…“

„Ich kann es mir denken. Du suchst die Aufzeichnungen der kryogenen Anlage, oder? Heißt das, du hast auch diese Traumwelt überwunden? Ich war dir diesmal keine große Hilfe, aber meine Fähigkeiten waren auch stark eingeschränkt.“

„Das macht nichts, ich bin alleine dahinter gekommen.“ Ich runzelte die Stirn. „Es war nicht sehr schwer.“

„Dafür hast du aber reichlich lange mitgespielt, Akira.“ Sie sprang von meiner Schulter herab und verwandelte sich in einen Menschen.

„Der Preis ist es wert.“

„Die Aufzeichnungen? Sind sie so wertvoll für dich?“

„Information ist Munition. Hat ein kluger Soldat mal gesagt, und auf kluge Soldaten sollte man hören, denn die sorgen dafür, dass sie nicht zu oft und zu viel kämpfen müssen.“

Kitsune blies sich eine Strähne ihres roten Ponys aus dem Gesicht. „Tadel ist angekommen. Also suchen wir die Zentrale. Aber verrate mir eines, Akira: Warum bewegst du dich wie ein besoffener Regenwurm durch einen Misthaufen?“

„Was?“, fragte ich bestürzt.

„Na ja, ich weiß nicht ob da ein System hinter steckt, aber von meiner Warte sieht es so aus, als würdest du willkürlich Ebenen wechseln, die Richtung ändern und ganze Sektionen auslassen. Korrigiere mich, wenn ich mich irre, aber hast du dich verlaufen?“

Für einen Moment hatte ich das Gefühl, als würde ein wirklich schwerer Felsbrocken mit der Aufschrift „Idiot“ auf meinen Kopf knallen. „Irre ich wirklich so ziellos umher?“

„Total ohne jede Orientierung“, tadelte Kitsune. „Folge mir einfach, wenn du ins Zentrum der Anlage willst.“

Ich seufzte zum Steinerweichen. Und ich hatte wirklich gedacht, die Daina hätten so verschachtelt gebaut. Andererseits, wenn Kitsune sich nicht zurecht fand, wer dann?

„Musst du eigentlich einen Mini tragen, wenn du vor mir herläufst?“, tadelte ich.

„Wieso? Steht er mir nicht?“

„Das ist es nicht. Aber wer kann sich denn da noch konzentrieren? Mach mich nicht dafür verantwortlich, wenn ich deine Unterwäsche sehe.“

„Oh“, meinte sie und lächelte mir zu. „Damit habe ich kein Problem.“

Ich verdrehte die Augen. Da war sie wieder, die unerschütterliche, grundehrliche und hundsgemeine Kitsune-chan.

„Ich trage nämlich gar keine, Aki-chan.“ Sie zwinkerte mir zu und begann zu rennen.

„D-dann lauf doch nicht so, Dummkopf!“ Kam es nur mir so vor, oder musste ich wirklich dicht hinter ihr bleiben? Damit wir nicht getrennt wurden, selbstverständlich.
 

„Es ist zu ruhig, Aki-chan“, hauchte sie plötzlich. Sie blieb stehen, und beinahe wäre ich in sie hinein gerannt. Das war gut so, denn ich hätte es in dieser Situation schwerlich zu schätzen gewusst.

Kitsune hatte Recht. Seit wir beide zusammengefunden hatten, waren wir noch nicht angegriffen worden. Das konnte nur bedeuten, dass uns weitere Hinterhalte erwarteten. Na Klasse.

„Okay, Kitsune-chan. Sag mir die Richtung, in der du den Zentralrechner vermutest.“

„Willst du etwa irgendeinen Unsinn anstellen, geboren aus Übereifer, zuviel Wagemut und deiner üblichen Waghalsigkeit?“

Ich grinste. „Selbstverständlich.“

Die Fuchsdämonin grinste nicht weniger breit als ich. „DAS ist mein Akira. Hier, diese Wand, leicht abwärts, gut zwei Ebenen und neun Zellen entfernt.“

„Danke, Kitsune-chan.“ Ich trat an die Wand heran, versuchte mir das Zentrum vorzustellen. Dann legte ich meine Rechte, zur Faust geballt, auf die Wand des Bunkers und konzentrierte mein KI in der Faust. „Falls die Decke auf uns herabkommt, geh rechtzeitig in Deckung, hast du verstanden, Kitsune?“

„Du brauchst nicht gleich so ernst zu werden“, erwiderte sie ärgerlich. „Ich habe lange genug gelebt um zu wissen, was ich tue.“

„Dein Wort in Dai-Kuzo-samas Ohr“, erwiderte ich, konzentrierte all meine Sinne, und drückte meine Faust ein wenig fester auf die Wand.

Es geschah nichts. Lediglich etwas Betonstaub rieselte von der Decke. Dann drang ein fernes Donnern an unsere Ohren, es kam näher, wurde lauter, wuchs an, der Staub von der Decke wurde dichter. Und schließlich zerriss es die Wand vor mir, sie zerstob in Abermillionen Fragmente. Ich ließ einen KI-Blast folgen – hauptsächlich deshalb, weil ich keinen Staub fressen wollte. Das klärte die Luft genug, um zu betrachten, was ich angerichtet hatte.

Ein unebener, mit Trümmern übersäter Tunnel war entstanden. „Zwei Etagen tiefer, neun Zellen entfernt, bitteschön, gnädige Frau.“

„Endlich mal Präzisionsarbeit“, flötete Kitsune und ging voran. „Man merkt, dass du deutsche Vorfahren hast, Akira.“

Ich lachte leise. Als wenn es daran gelegen hätte.
 

Während wir uns den Gang hinunter arbeiteten, tauchten an den Seiten immer wieder Aufrisse zu anderen Zellen auf. Die Daina hatten tatsächlich Hinterhalte gelegt. Aber diese waren teilweise von eingestürzten Decken begraben worden. Nicht, dass ich mich bei der Erkenntnis, in einem labilen künstlichen Höhlensystem herumzugeistern merklich besser fühlte. Um ehrlich zu sein bemerkte ich leichte klaustrophobische Tendenzen an mir, jedes Mal wenn mich wieder mal ein Stück Decke um ein paar Zentimeter verfehlte.

Aber immerhin, wir hatten unseren Weg.

Und er führte uns direkt ans Ziel.

„Da hast du ja was schönes angerichtet, Akira“, brummte Kitsune belustigt, und deutete auf die anderen Seite des gigantischen Doms, in dem wir uns befanden. Also doch! Es gab einen zentralen Hohlraum! Und an seiner Innenseite waren tausende, Zehntausende Kryokammern aufgehängt… Bis auf die eine Stelle, aus der wir gerade hervor kletterten und die andere, in die mein KI eingeschlagen war, nachdem es diesen Tunnel geschaffen hatte, aber nicht aufgezehrt gewesen war. Außerdem hatte der Angriff ein paar Dutzend Daina von den Beinen gerissen.

Kitsune deutete nach oben. „Da ist dein Zentralrechner. Die Bedienung ist nicht weiter schwer, die kennst du von der AO. Ein Passwort gibt es normalerweise nicht, da es kein Eindringling bis hierher schaffen sollte. Eigentlich.“

„Danke, Kitsune-chan. Es wird nicht lange dauern.“

„Ist in Ordnung, ist in Ordnung. Ich decke dir solange den Rücken, Aki-chan.“ Sie lächelte, aber es war ein fieses Lächeln. Mit langsamen und völlig uneleganten Schritten – sie ging wie ein Drill Sergeant und nicht wie das hübsche Mädchen, das sie eigentlich war – stapfte sie auf die ersten Daina zu. „Jetzt geht es rund!“

Nun, damit wurde es auch Zeit für mich. Ich stieß mich ab und schwebte zum Computer hoch. Er hatte fünf Terminals. Eines reichte mir.

Ein Daina sprang mich an, aber bevor er mich erreichen konnte, wischte ihn ein KI-Schlag aus der Luft und warf ihn gegen die nächste Wand, wo er zwei Tanks zerstörte und liegen blieb.

„Akira! Konzentriere dich auf die Daten! Ich mach den Rest, okay?“, rief Kitsune mir zu.

Dankbar nickte ich. Einen Augenblick später stand ich auf der kleinen Plattform mit dem Terminal. Dann war ich drin.
 

4.

Als ich die Augen auf den Monitor richtete, verschwand alles um mich herum in blendender Helligkeit. Einen weiteren Augenblick später stand ich wieder in dem weißen Raum.

Direkt neben mir stand Laysan und hielt meine Rechte umklammert.

Ich tätschelte ihm mit der Linken den Kopf. „Das hat Spaß gemacht, was, mein Kleiner?“

„Ja, war lustig. Aber ich hatte ganz schön Angst am Anfang. Sakura war nett. Sind das deine Freunde, Akira?“

„Das sind Abbilder meiner Freunde, entstanden aus meiner Erinnerung. Ich denke, du würdest dich bei mir Zuhause sehr wohl fühlen. Wollen wir eines Tages mal hin und die anderen besuchen?“

Die Augen den Jungen strahlten. „Oh ja, das würde ich gerne. Ich würde die alle so gerne richtig kennen lernen! Sakura und Yohko und Kitsune und Yoshi und Daisuke und…“ Erhielt inne um Luft zu holen.

Ich lachte. „Wir kriegen unsere Gelegenheit, mein Kleiner.“

„So, so“, erklang eine spöttische Frauenstimme vor mir, „du hast also auch diese Konstruktwelt erkannt. Wann?“

„Ich glaube, es war als… Irgendwann zwischen dem Turnier und Joans Anti-Pickel-Aktion. Weißt du, ich habe nicht genug Frust und Hass in mir, um die Rolle, die ich spielen sollte, wirklich auszufüllen.“

„Und dann hast du so lange damit gewartet, die Konfliktwelt aufzulösen? Warum?“

Ich lächelte und legte die Linke an meinen Hinterkopf. „Das hat doch Spaß gemacht. Ich meine, Hey, du wirst mich noch in ne Menge Konstruktwelten stecken, darum freue ich mich über jede, in der ich mich amüsieren kann. Und ja, das war witzig. Ich als Superheld, der die Straßen meiner Heimatstadt durchstreift, das hat doch was. Nur die Maske fand ich kitschig. Warum kein diffuser Nebel? Oder eine Samurai-Rüstung? Das hätte doch Stil gehabt.“

„Ich gebe zu, da ist es mit mir durchgegangen. Es war ein Hinweis an dich. Ein Hinweis, dass du in dieser Welt ein Schauspieler bist.“ Aris, Beherrscherin der Welt, senkte den Blick. „Du hast meinen Hinweis übersehen und auf ganz andere Indizien geachtet.“

Sie sah wieder auf und blickte mir direkt in die Augen. „Und? Hast du herausgefunden, was du wissen wolltest?“

Ich kniff meine Augen zusammen. „Du weißt, dass ich Informationen zusammengetragen habe?“

„Dein letzter Angriff. Er war zu wagemutig. Du hast alles auf eine Karte gesetzt, nicht?“

Ich nickte. „Ja. Ich merkte, dass die Konstruktwelt nicht mehr lange existieren würde. Alles ist ins Lot gekommen. Mein schlechter Ruf, mein Verhältnis zu meinen Freunden, die Existenz als Kuroi Akuma, der Streit mit Akane. Die Geschichte war kurz davor, zu Ende erzählt zu werden. Ich musste handeln.“

„Aber die Informationen, die du haben wolltest, hast du nicht erhalten, oder?“

„Nein. Du hast die Konstruktwelt zu früh aufgelöst. Ich konnte den wichtigsten Geheimnissen nicht auf die Spur kommen.“

Aris lächelte freundlich. „Erzähl es mir. Was hast du erfahren?“

„Dankenswerterweise hast du diese Welt mit Anspielungen nur so überhäuft. Mu, der verlorene Kontinent, die Dämonenwelt, die Dai, die Daina und der Exodus der Daima, dazu der Liberty-Virus. Ich hätte gerne mehr darüber erfahren. Zum Beispiel hätte es mich brennend interessiert, ob es diese kryogene Anlage auch in der Wirklichkeit gibt.“

„Interessant. Ich hätte den Liberty-Virus nicht in der Konstruktwelt einbauen sollen, in der du dich fünfundzwanzig Jahre zurückgezogen hattest. Aber du hast etwas gebraucht, um den Hinweis aufzunehmen.“

„Wie, etwas gebraucht? In der ersten Welt gab es den ersten Hinweis, in der zweiten ging ich der Sache auf den Grund.“

„Denkst du wirklich, du hast erst zwei Welten erlebt? Denkst du wirklich, ich lasse dir die Erinnerungen an alle Konstruktwelten? Weißt du überhaupt, wie lange du schon hier lebst, Akira?“

Ich lachte gehässig auf. „Ein guter Versuch, Aris. Ich wusste nicht, dass du so boshaft sein kannst. Aber du scheinst eines nicht zu wissen. Wenn ich nicht verrückt werden will, dann darf ich dir einfach nicht glauben. Selbst die Informationen, die ich aus deinen Konstruktwelten ziehe, muss ich in Zweifel ziehen, bis ich wieder in meinem Körper stecke und sie selbst prüfen kann.“

„Du denkst wirklich, du wirst jemals in deinen eigenen Körper zurückkehren, Akira?“ Besorgt sah sie mich an. „Aber warum? Du bist im Paradies! Warum sollte jemals ein Daina dieses Paradies verlassen wollen? Hier kannst du alles sein, alles erleben! Du bist am Puls des Kosmos, und… Oder ist das die Herausforderung für dich? Diese Welt zu verlassen, reizt es dich, weil du es erreichen willst?“

„Du hast mich ohne meinen Körper hier reinstecken lassen“, erwiderte ich. „Das ist ein Zustand, den ich nicht hinnehmen kann. Natürlich werde ich versuchen, wieder in meinen Körper zu gelangen. Und ich werde das auch. Daran habe ich nicht die geringste Zweifel.“

„Du willst mich verlassen? Du bist doch gerade erst gekommen.“ Enttäuscht sah sie mich an. „Gibt es denn nichts, was dich hier halten kann? Was ist, wenn ich dir mehr Wissen verspreche? Wissen über die Dai? Wissen über die Zivilisation, die vor fünfundzwanzigtausend Jahren diesen Sektor der Galaxis besiedelte? Wissen über den Core?“

„Mich würde interessieren, worauf die Cores gestoßen sind, seit sie von Iotan geflohen sind. Die Relikte der alten Hochkultur, sind sie identisch mit den Daina, den Daima oder den Dai?“

Aris lächelte mich an. Sie verschränkte beide Hände hinter dem Rücken und beugte sich leicht vor. „Nein, nein und nein.“

„Herrin!“ Neben Aris entstand Kiali, die Frau in dem schwarzen Kapuzenkleid. „Er ist noch immer ein Feind! Gebt ihm nicht zu viele Informationen.“

„Du befürchtest, dass er sie gegen uns verwenden kann, richtig?“, fragte sie traurig.

Die große Frau nickte langsam.

Aris seufzte. „Gut, gut, du hast die große Erfahrung, wenn es darum geht, gegen die Daina Krieg zu führen. Also muss ich dir da wohl vertrauen.“

Ihre Augen blitzten spöttisch auf. „Aber heißt das nicht, dass du Akira bereits zu schätzen gelernt hast? Respektierst du ihn so sehr, dass du ihm zutraust, aus dieser Situation einen Vorteil zu ziehen?“

Die steife Frau in schwarz räusperte sich vernehmlich. „Nun, meine langjährige Erfahrung sagt mir einfach, dass der Arogad sehr fähig ist. Ihn zu unterschätzen wäre ein sträflicher Leichtsinn. Und ich verbiete es dir, Herrin, ihn mit Wissen zu päppeln, das sich gegen uns wenden kann.“

„Och, aber das gehört doch zu meinem Plan“, erwiderte Aris mit zu einem Schmollmund verzogenen Lippen. Mit leichten Schritten kam sie auf mich zu und tippte mir mit der Rechten auf die Brust. „Wie sieht es aus, Akira, wollen wir nicht Verbündete werden?“

„Wo sind denn unsere gemeinsamen Berührungspunkte?“, erwiderte ich. „Auf der Erde habe ich hart gekämpft, damit ich stets tun konnte, was ich für richtig hielt. Ich hasse Kompromisse und dumme Befehle.“

„Das hasse ich auch. Aber das wird kein Problem sein, denn du wirst ja die Befehle geben. Was denkst du? Willst du mein oberster General sein? Willst du draußen im Universum einen Körper führen?“

„Einen Körper führen?“

„Mach dir keine Hoffnung. Du wirst ihn steuern, aber dein AO verbleibt im Paradies. Dennoch… Es wäre Bewegungsfreiheit.“

„Wem muss ich dafür meine Seele verkaufen?“

„Aber, aber“, tadelte sie mich. „Die gehört doch schon mir, und alles andere dazu. Hm, ich kann deine Hintergedanken sehen. Ich kann sie fühlen. Und ich schmecke sie.“

„Du schmeckst sie?“

Aris stellte sich auf die Zehenspitzen und drückte mir einen Kuss auf. „Ich schmecke sie“, wiederholte sie amüsiert.

„Hey, Moment. Du wirst mir doch nicht etwa mit Haut und Haaren verfallen? Ich meine, es gibt eine Warteliste, und die ist beträchtlich lang“, wandte ich ein und hielt sie mit der Linken etwas auf Distanz.

„Oh, das ist kein Problem. Ich verfalle dir schon nicht. Und was die Warteliste betrifft, ein paar Jahrtausende, und die hat sich erledigt. Auf dich wartet die Ewigkeit im Paradies, Akira. Der Ort, der am besten zu dir passt.“

„Danke, aber ich hätte gerne die Realität. Ich muss Laysan zeigen, wie man mit Stäbchen umgeht.“

„Nicht das du eine Wahl hast“, fügte sie hinzu.

„Ich habe es befürchtet.“

Laysan zog an meiner Kleidung. „Akira, was ist wenn wir sie mitnehmen? Vielleicht will sie dein Haus auch mal sehen und deine Freunde kennen lernen. Vielleicht will sie ja einfach nur Spaß haben?“

„Spaß? Ich habe jeden Spaß, den ich haben will. Ich regiere das Paradies“, erwiderte sie irritiert.

„Spaß ist mehr als das. Spaß ist ein Gefühl der Leichtigkeit. In etwa so.“

Ich beugte mich vor und küsste die junge Frau meinerseits. Ich war mir sicher, einen Zungenkuss kannte sie noch nicht. Und auch wenn ich Zweifel hatte, dass diese Konstruktebene Körperlichkeit bei einem Wesen wie mir, das gerade nur als KI existierte, richtig umsetzen konnte, so spürte ich doch, wie Aris wegsackte.

Ich wollte zugreifen, sie vor dem Sturz bewahren, aber sie wehrte ab und kam mit wackligen Beinen wieder hoch. „Na warte“, sagte sie wütend. „Das sage ich alles Megumi!“

„Soviel zum Versuch herauszufinden, ob sie ein Mensch ist.“

„Ich glaube, du musst noch ein paar Manieren lernen! Niemand küsst die Herrin des Paradies ungefragt! NIEMAND!“ Betreten sah sie zur Seite. „Anders wäre es ja, wenn du mich vorher gefragt hättest.“

„Sie ist sehr menschlich“, murmelte ich mehr zu mir selbst.

„Dennoch, Strafe muss sein! Verschwinde vor meinen Augen, Akira Otomo!“

„Warte, warte, nun reagiere doch nicht gleich so böse! Wir können doch über alles reden! Und die Sache mit dem Körper klang wirklich interessant und…“

Gleißende Helligkeit löschte meine Umgebung aus. Und ich verlor den Griff um Laysans Hand.

„Eine neue Welt, geschaffen von einer wütenden Herrin des Paradieses der Daina und Daima“, murmelte ich. Hm, sie hatte nie erwähnt, dass sich auch Dai im Paradies aufhielten.
 

Epilog:

Nach etlichen Stunden, in denen ich mich auf dem harten Feldbett hin und her gewälzt hatte, war ich endlich in der Lage gewesen, ein wenig Schlaf zu finden.

Der Wecker hatte das letzte Mal drei Uhr morgens angezeigt, bevor ich eingenickt war. Als ich an der Schulter gerüttelt wurde und mein benommener Blick als erstes auf die Uhr fiel, zeigte sie halb fünf an. Mist, nicht mal zwei lächerliche Stunden Schlaf hatte ich bekommen.

„Mylord, Sie wollten geweckt werden.“

Ich wehrte Harris mit einer Hand ab und wischte mir mit der anderen über die Augen. „Hab schlecht geschlafen, Junge.“

Seine Stimme tat weh, so sehr troff sie vor Mitgefühl. „Ich kann das Stabsmeeting auf den Mittag verschieben. Eine wichtige Nachricht der Kaiserin, und alles…“

„Nein“, entschied ich. „Das heben wir uns für einen richtigen Notfall auf, okay?“

„Ja, Mylord.“

Ich setzte mich auf und rieb mir die Augen. Total verkrustet. Hatte ich im Schlaf wieder geweint? Eigentlich musste gerade ich es besser wissen. Ich war lange genug dabei, um längst keine Tränen mehr zu haben.

Harris legte einen Packen Kleidung auf mein Feldbett. Dazu stellte er frisch geputzte Armeestiefel. Besorgt sah er mich an. „Mylord?“

„Es geht mir gut. Sag den Offizieren, ich komme gleich. Was macht das Turnier?“

„Es wird morgen wie geplant stattfinden. Die Franzosen haben vor zwei Stunden bestätigt.“

„Das sieht ihnen ähnlich. Seit fünf Tagen liegt ihnen die Herausforderung vor, und mitten in der Nacht sagen sie zu. Geh jetzt, Harris.“

„Ja, Mylord.“

Als der junge Offizier im Range eines Sho-sho das Zelt verlassen hatte, ging ich zum einzigen Spiegel im Raum. Dankenswerterweise hatte der Junge eine Schüssel heißes Wasser gebracht. Ich hatte mich dran gewöhnt, aber das waren Zustände wie im Mittelalter. Während die Soldaten und niederen Offiziere ihre Waschstuben hatten, musste ich mir so behelfen. Außer, ich wollte jeden Morgen einen der Duschwagen absperren lassen. Abends war das eher möglich. Deshalb hatte ich meine Gewohnheiten umgestellt.

Ein übernächtigter Akira Otomo mit Augen, die tief in den Höhlen saßen, blickte mich aus dem Spiegel an. „Guck nicht so, ich wasch dich trotzdem“, murmelte ich in einem Anflug von Humor. Dank der gründlichen Dusche am Vorabend beließ ich es dabei, mein Gesicht abzuwischen und über meinen Nacken zu gehen.

Danach zog ich die bereitliegende Uniform an. Sie saß wie eine eins. Bei maßgeschneiderten Uniformen durfte man das auch erwarten. Allerdings bewies es mir, dass ich weder dramatisch zu- noch abgenommen hatte. Was mich, ehrlich gesagt, sehr beruhigte.

„Mylord, der Stab ist zusammengetreten.“

„Danke, Harris. Ich komme.“ Gründlich und langsam schloss ich meine Uniformjacke. Ich strich ein paar Falten glatt, griff nach der Dienstmütze und betrachtete mich kurz im Spiegel. Auf den Schultern prangte das Abzeichen eines Tai-sa, und am Kragen hingen die Symbole eines Knights. Das diskrete Schildchen, das mich dem Adel zugehörig ausgewiesen hatte, hatte ich bereits an meinem ersten Tag in der Armee unauffällig entfernt. Respekt verdiente man sich nie durch die Leistungen anderer, immer nur durch die eigenen Taten.

Harris hielt die Plane für mich auf und ich trat in die frische Morgenluft des englischen Kanals hinaus. Es hatte geregnet. Das bewies, wir waren quasi halb in England. Ich hätte schief gelächelt, aber das erlaubte ich mir nur in einem engen Kreis Vertrauter. Stattdessen ließ ich den Jubel meiner Krieger über mich ergehen. Eine ganze Division mit Panzereinheiten, Infanterie, Luftkavallerie und Knights, fast viertausend Männer und Frauen des Kaiserreichs, jubelten mir zu. Eine beachtliche Leistung für die frühe Morgenstunde. Für mich, den ausgestoßenen Herzog, sowieso. Wütend über mich selbst ging ich in schnellem Schritt zum Stabszelt hinüber. Diesen Teil meiner Vergangenheit hatte ich ruhen lassen wollen. Was blieb war die Zukunft im Dienst der Kaiserin.



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (2)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von: abgemeldet
2007-05-30T12:48:07+00:00 30.05.2007 14:48
*looooooooooooooooooooooooooooooooooooooool*
Jetzt also schon ausgestoßener Herzog? *gggg* Bin gespannt, wies weitergeht. ^^/
Von:  Subtra
2007-02-25T22:02:20+00:00 25.02.2007 23:02
Sehr gut, Sehr Lustig, Sehr interressant. Die Sache ist die warum schickste keine mai lwen nwas fertig ist?


Zurück