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Anime Evolution: Nami

Vierte Staffel
von

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Zweiter Traum, zweiter Akt

Prolog:

„AKIRA!“

„SCHON GESEHEN!“ Ich beschleunigte hart, nahm meine ganze Kraft zusammen, konzentrierte sie auf einen Moment und raste auf den Gegner zu. Ich zog mein Katana blank, ließ es von Akaris KI aufleuchten, verstärkte es noch mit meiner eigenen Energie und spürte, wie die Pranke des Riesen mich davon wischte wie ein lästiges Insekt. Aber das war kein Problem für mich. Anstatt hart auf dem Erdboden aufzuschlagen benutzte ich ihn als Plattform, stieß mich ab und raste erneut auf den Giganten zu. Diesmal hatte ich die Überraschung auf meiner Seite und zog die mit KI verstärkte Klinge über den Leib meines Gegners. Ich spaltete ihn quer, passierte ihn und fing mich in der Luft ab.

„AKIRA!“

„Was denn? Ich habe ihn doch erwischt!“, blaffte ich und ruckte hoch. Mir wurde sofort schwindlig und ich sackte wieder zurück. Verdammt. Das war nicht die Dämonenwelt. Das war die Realität. Genauer gesagt, die Krankenstation unserer Schule.

Langsam fielen die einzelnen Erinnerungsfragmente an ihren Platz. Ach ja. Der Kampf in der letzten Nacht gegen die befallenen Dämonen. Meine Verletzung. Dann der Gang zur Schule mit Megumi an meiner Seite und… Ich hustete erschrocken. Hatte sie mir wirklich mehr oder weniger ihre Liebe gestanden? Mir, der Otomo-Pest? Und hatte Joan das gleiche versucht?“

„Hör auf dich zu bewegen“, tadelte Ino-sensei. „Ist ja gleich vorbei.“

Ich öffnete blinzelnd ein Auge. Tatsächlich. Meine Cousine Sakura. Sie hielt beide Hände gut eine Handbreit über meiner Wunde und versorgte sie mit KI-Energie. Ich konnte dabei zusehen wie sich die klaffende Verletzung nach und nach schloss.

„Was ist…?“

„Ich werde mal ein ernstes Wort mit Mako-chan reden. Die Wunde hätte sofort geschlossen werden müssen. Du hast wahnsinniges Glück, dass das Einhorn nicht deine Lunge perforiert hat.“

„Einhorn? Hä?“

„Denk einfach nicht drüber nach, Kei, okay?“

„Aber Doitsu, Ino-sensei schließt die Wunde gerade mit was? Nur ihren leuchtenden Händen?“

Tadelnd sah Sakura zur Seite. „Warum ist er noch hier?“

„Weil er ohne Akira nicht gehen wird.“

„Nimm ihm sein Gedächtnis, Doitsu.“

„Habe ich schon versucht. Klappt nicht.“

„Oh. Ist er so stark? Danach sieht er gar nicht aus“, stellte sie amüsiert fest. Sie deutete zu Joan Reilley, die auf einem anderen Bett saß und blicklos in den Raum starrte. „Bei ihr hat es funktioniert?“

„Mehr oder weniger. Sie ist in Trance, bis ich sie wecke. Ich dachte mir, es fällt weniger auf, wenn sie mit reinkommt. Ich werde ihr nachher eine passende Erinnerung geben. Hm, so schlimm hat die Wunde gestern aber nicht ausgesehen. Hast du nichts draufgemacht, Akira?“

„Ich habe heute Morgen eine Heiltinktur drauf gegossen“, erwiderte ich matt.

„Heute Morgen erst? Das war sträflich leichtsinnig.“

„Wir haben nicht mehr so viele, oder?“

„Das heißt aber nicht, dass wir sie nicht benutzen sollen. Wir müssen kampfbereit bleiben, Akira, um jeden Preis“, tadelte Sakura ernst.

Fasziniert sah ich dabei zu, wie sich das Fleisch schloss und die Haut über die Verletzung zu wachsen begann.

„Das war es schon. Willst du eine Narbe behalten oder soll ich sie ganz schließen? Weißt du, manche Frauen stehen auf Narben.“

„Ich hoffe, ich falle so einer nie in die Hände. Keine Narbe, bitte.“

„Soll ich mich danach noch um dein Auge kümmern?“

„Nein, das ist in Ordnung. Das geht bis morgen von allein weg. Danke, Sakura-chan.“

„Du brauchst dich nicht für eine Selbstverständlichkeit zu bedanken, Akira. Stattdessen hättest du mich gestern rüber rufen sollen, damit ich die Wunde sofort heile.“

„Um zwei Uhr Morgens? Ich bitte dich. Ich kann dich doch nicht…“

„Du sorgst dich um meinen Schlaf, während du versuchst die Welt zu retten. Das ist so dumm, Akira. So entsetzlich dumm.“

Ihre Augen füllten sich mit Tränen. „Versprich mir, dass du diesen Unsinn lässt, ja? Ich bin für dich da. Ich bin für die anderen da. Egal zu welcher Uhrzeit. Versprich mir, dass du dein Leben nicht auf so dumme Art riskierst.“

Gut, wenn ich mal ganz ruhig und unvoreingenommen drüber nachdachte, dann war ich leichtsinnig gewesen. Und ich hätte mir eine Menge Schmerzen ersparen können. „Okay, ich sehe es ein.“

„Das ist mein Lieblingscousin“, sagte Sakura erfreut und tätschelte mir den Kopf.

Als sie Kei direkt ansah, wich der junge Mann hastig einen Schritt zurück. „Und was dich angeht, kleiner Mann, du willst doch sicher nicht sterben.“

„Kommt drauf an. Wenn Ino-sensei mich umbringt, wäre es das beinahe schon wert.“

„Kei“, tadelte ich.

„Habe ja schon verstanden. Ja, Ino-sensei, von mir erfährt niemand ein Wort. Versprochen.“

„Ich denke, dann können wir weitermachen.“ Mit einer eleganten Handbewegung, die den Krieger in Doitsu verriet, schnippte er vor Joans Augen.

Der Blick wurde wieder klar. Sie zwinkerte ein paar Mal.

„Sorry. Ich muss weggenickt sein. Hm? Du ziehst dein Hemd schon wieder an? Und ich dachte, ich würde einen Ausgleich für gestern kriegen, Aki-chan.“

„Ausgleich für gestern?“, argwöhnte meine Cousine.

„Ist ne lange Geschichte, Sakura. Kann ich dann in meine Klasse gehen?“

„Hm!“ Ihr Blick war eindeutig. Das war der berüchtigte „Aufgeschoben ist nicht aufgehoben“-Blick. „Wir reden später weiter.“

Ich erhob mich, zog die Uniformjacke wieder an und hakte den Mandarinkragen ein.

„Hey, dein Make-up hält immer noch. Beeindruckende Sorte. Ich sollte mir von deiner Schwester die Marke verraten lassen“, scherzte Doitsu.

„Ha, ha. Sehr witzig.“

„Soll ich dich stützen, Aki-chan?“

„Ich denke, es geht so. Ich…“

„Doitsu. Kei. Ihr geht mit ihm, verstanden?“

„Jawohl, Ino-Sensei.“

„Darf ich dann wenigstens deine Tasche tragen, Aki-chan? Ich kann mich doch nicht diesem blassen kleinen Ding geschlagen geben.“ Sie zwinkerte mir zu.

Oh nein, das hatte ich nicht verdient. Warum stürzte ich von einer Welt der Isolation in eine Welt der Überbeanspruchung? Was hatte ich dem Universum getan?
 

1.

Mein Leben hatte sich verändert. Meine Welt hatte sich verändert. Ach was. Das ganze Universum hatte sich verändert. Ich war es gewohnt, angestarrt zu werden, ich war hasserfüllte Blicke gewohnt, auch gleichgültige. Aber gierige waren mir neu.

Ich hatte niemals, nie, nie ahnen können, wie schnell Menschen ihre Meinung von einem Moment zum anderen ändern konnten, wenn ein wenig Make-up im Spiel war.

Noch waren es nur Blicke, aber was, wenn sie sich sammelten, auf mich stürzten und in Fetzen rissen? Oder noch schlimmer, nur meine Schuluniform? Reichte es nicht, dass manche Mädchen mich mit einem Blick ansahen als wollten sie mich ausziehen? Was war los? War ich das neueste Spielzeug der Schule?

Und warum sah mich ausgerechnet Ami immer so entgeistert an? Wir hatten zusammen gekämpft, waren seit über drei Jahren ein Team, ein sehr erfolgreiches Team, und jetzt sollte sich all das verändert haben – wegen etwas Schminke im Gesicht? Und drei Kilo Pickeln weniger, zugegeben.

Okay, meine Funktion als Köder konnte ich auf diese Art auch erfüllen. Zugegeben. Vielleicht sogar noch besser. Aber wollte ich das überhaupt? Letztendlich hatte ich in meiner Zeit als Otomo-Pest mit niemanden sprechen müssen. Das war immerhin von Vorteil gewesen.

Und dann diese Blicke von Hina. Sie sah mich an als wäre ich eine fliegende Elfe, unendlich hübsch und unendlich zerbrechlich. Wenn ich es nicht besser gewusst hätte, hätte ich geglaubt, dass sie einen Fanclub für mich gründen würde. Ein entsetzlicher Gedanke.

„Warte mal, Akira.“ Yoshi legte eine Hand auf meine Schulter und drückte mich auf den Sitz zurück, gerade als ich hatte aufstehen wollen.

„Es ist Mittag. Ich bin verabredet. Was willst du?“

Grinsend hielt er eine Tube Haargel hoch. „Gib mir nur eine Minute, um aus dieser Ruine eine Frisur zu machen. Du willst doch topp aussehen, wenn du Megumi-chan unter die Augen trittst, oder?“

„Was soll das denn? Ist das eine Massage, oder ein Frisurenstiling?“

„Oh, ich dachte, der Strubbel-Look würde dir am besten stehen. Frech und wild. Glatt nach hinten können wir auch mal ausprobieren. Später. Jetzt geh mal lieber nach oben.“

„Hm! Hast du nen Spiegel?“

„Was denn? Traust du meiner Arbeit nicht, Akira?“

„Niedlich. Warst du das, Yoshi? Du hast ja richtig Geschmack. So wirkt er ja wie ein richtiger Draufgänger.“

„Ja, ich habe schon verborgene Talente, Joan. Soll ich dich auch mal stylen? Dazu müsstest du dein Haar aber etwas abschneiden. Dann brauchen wir magentafarbene Tönung und etwas Haarspray.“

„Aus rot mach rot? Interessant. Vielleicht lass ich dich wirklich mal an meine Haare. Also, Akira, sind wir dann soweit?“

„Soweit für was?“

„Na, denkst du, ich lass dich mit meiner Konkurrenz alleine? Ich komme natürlich mit. Ich lass mir doch nicht die Butter vom Brot nehmen.“

Ich ächzte verzweifelt auf. „Das ist nicht dein Ernst.“

„Aki-chan, ich habe selten etwas ernster gemeint.“

Verdammt, ich glaubte ihr. Ich glaubte ihr wirklich. Und das, obwohl sie mich für Kuroi Akuma hielt? Frauen waren jedenfalls eine Personengruppe, die ich nie, nie, niemals verstehen würde. Und zum Schutz meiner geistigen Gesundheit sollte ich das wohl auch besser nie versuchen.
 

„Jetzt hätte ich gerne die Theatermaske von Kuroi Akuma“, murmelte ich leise und unterdrückte den Impuls, mir den Schweiß von der Stirn zu wischen. Ich war es gewohnt, den Spießrutenlauf zu nehmen. Ich war es gewohnt, dass die anderen Schüler aus Gleichgültigkeit oder weil die Gelegenheit so günstig war, auf mich herab sahen. Aber das, daran konnte sich niemand gewöhnen.

„Du musst nicht mitkommen. Aki-chan und ich schaffen das ganz alleine.“

„Von wegen. Einer muss ja dabei sein und dich festhalten, bevor du da oben Unsinn anstellst, Joan“, erwiderte Yoshi grinsend.

Er klopfte mir auf die Schulter. „Gewöhn dich dran. Du bist jetzt eine der süßen Jungs der Schule, und es wird eine lange Zeit so bleiben. Willst du, dass ich dir eine Narbe verpasse? Obwohl, es gibt genügend Mädchen, die eine Narbe an einem Mann als Ausrede nutzen, um in seiner Nähe sein zu können. Nach dem Motto, sie ertragen seine Verletzung stoisch und es wäre wahre, reine Liebe.“

„Dann lassen wir das doch besser“, erwiderte ich.

„Willst du etwas Spaß haben? Mach es mir einfach nach, ja?“ Yoshi grinste mich an, dann sah er zu einer Gruppe Mädchen herüber. Die drei Mädchen aus dem Jahrgang über uns begannen übergangslos zu kreischen. Eine fiel in Ohnmacht.

„Was hast du getan?“, rief ich entsetzt. Hatte er KI-Waffen eingesetzt? Hier, in der Schule? Oh, dieser… Yoshi, verdammt!

„Ich habe gezwinkert. Das klappt jedes Mal. Vergiss nicht, ich bin auch einer der süßen Jungs.“

„Ach, das“, kam es von Joan. „Alter Hut. So was kann ich auch. Seht ihr die beiden da drüben?“ Sie legte den Kopf schräg, kniff die Augen zusammen und lächelte.

Einer der beiden bedauernswerten Burschen sackte gleich bis zum Boden durch, den anderen stoppte wenigstens die Wand.

„Lasst den Quatsch, alle beide“, mahnte ich. „Und ich werde einen Teufel tun und… Hiroko-sempai! Du weißt nicht zufällig, wo Hatake-sempai gerade ist?“

„A-akira! Mamoru ist unten in der Cafeteria. Er wollte das neue F-Menu ausprobieren.“

„Sehr gut. Danke, Sempai.“ Ich neigte leicht das Haupt und gestattete mir den Luxus eines Lächelns.

„Hiroko! Was ist mit dir? Geht es dir gut?“

„Du bist mir einer, Akira. Wir sollen so was nicht machen, und du mordest hier selbst Frauenherzen.“ Yoshi knuffte mich schmerzhaft gegen die Schulter.

Ich fühlte, wie sich erneut ein Schweißfilm auf meiner Stirn bildete. „Bloß schnell hier weg. Dieses Make-up ist ja gefährlich.“

„Nicht das Make-up ist gefährlich“, sagte Joan und hängte sich an meinen linken Arm. „Du bist es. Und irgendwie mag ich das. Mein großer, böser Tiger.“

Ich schluckte hart. Warum wurde mir vom Schicksal diese schwere Prüfung auferlegt? Irgendjemand im Göttlichen musste mich entweder wirklich hassen oder sich wirklich köstlich über mich amüsieren. Mist.
 

Auf dem Dach wurden wir bereits erwartet. Megumi stand am Maschendrahtzaun und sah auf die Straße hinab. Sie sah zu uns herüber. „Hallo, Akira.“ Dann begannen sich ihre Augen zu verdüstern. „Was macht die denn hier?“

„Hallo? Ich bin auch noch da. Oder zähle ich nicht?“, beschwerte sich Yoshi amüsiert.

„Was denn, was denn, Miss Klassenprinzessin. Hast du noch nie was von Konkurrenz gehört? Denkst du, du bist die Einzige, die ihre Rechte an Aki-chan durchdrücken will?“

„D-durchdrücken? Wie gemein. Du zwingst ihn? Wie fies muss man sein, um so etwas tun zu können?“

„Das sagt die Richtige. Nutzt hier ihren Status als Yohkos Freundin aus und will sich meinen Aki-chan schnappen. Hm, im Gegensatz zu dir mochte ich ihn schon, bevor er gut aussah.“

„Danke, jetzt weiß ich, dass ich vorher hässlich war. Sehr freundlich.“

„Sei ein Mann und ertrag es, okay? Also, Schätzchen, bist du bereit zu einem harten Fight?“

„Denkst du, ich gebe mich dir geschlagen? Ausgerechnet dir? Ha!“

„Okay, Auszeit. Auszeit. Können wir an dieser Stelle abbrechen? Ich bin hier hochgekommen, um mit Uno-kun zu reden, klar? Also, ihr zwei wartet hier schön brav, während ich rüber gehe und ihr meine Antwort gebe, verstanden?“

„Aber das ist unfair. Ich kann dann gar nicht drauf reagieren und…“

„Meine Entscheidung ist bereits gefallen. Daran kannst du nichts mehr ändern, Joan.“

„Und wie lautet die Entscheidung?“

„Du verlangst von mir, dass ich sie zuerst dir sage? Das ist nicht sehr nett, Miss Reilley.“

Frustriert blies sie die Wangen auf. „Okay, okay, habe kapiert.“

Yoshi legte der Amerikanerin eine Hand auf die Schulter. „Geh nur, Akira. Wir beide warten hier.“

„Wenigstens etwas“, brummte ich.

Langsam kam ich Megumi entgegen. „Weißt du, es tut mir wirklich Leid, was ich jetzt tun muss, aber wir wollen doch ungestört reden, oder?“ Ich trat an sie heran und schloss sie in die Arme. Dabei hob ich sie leicht an.

„A-akira!“

„Es ist nicht was du denkst, Uno-kun.“ Ich ging leicht in die Hocke, konzentrierte mein KI und sprang.

Yoshis Lachen klang hinter mir auf und ich hörte Joan erstaunlich undamenhaft fluchen.
 

Mit Megumi in den Armen sprang ich auf das Dach des Nebengebäudes. Und von hier noch ein Dach weiter. Erst weit außerhalb des Schulgeländes stoppte ich.

„Wenn du mich jetzt hasst, habe ich es wohl nicht anders verdient“, erwiderte ich und ließ Megumi auf ihre Füße herab. Sie taumelte, also griff ich wieder zu, um sie zu stützen.

„Oh. Das war toll! Ich meine, das war… Das war phantastisch! Akira, woher kannst du so was?“

Misstrauisch hob ich die Augenbrauen. Sie hatte sich amüsiert?

„Ach, das… Es ist nichts weiter als ein wenig KI-Beherrschung. Ich benutze es schon seit ein paar Jahren und…“

„Du meinst, du bist wirklich Kuroi Akuma, der schwarze Teufel? Der Vigilant, der durch unsere Straßen zieht und Verbrecher züchtigt?“

„Macht mich das jetzt interessanter oder gefährlicher?“

Langsam löste sie sich von mir. Hm, ich hatte gar nicht gemerkt, dass ich sie immer noch in Armen gehalten hatte. Vielleicht hatte ich es auch nur ignoriert. Es hatte sich einfach zu gut angefühlt.

„Weißt du, Akira, man erzählt sich nicht viel Gutes über den Kuroi Akuma. Für die Verbrechensbekämpfung haben wir die Polizei, und wenn ein Bürger mal selbst eine Verhaftung durchführt oder die Polizei dabei unterstützt, ist nichts dagegen zu sagen. Aber sich selbst zur Gerechtigkeit in Person aufzuschwingen und selbst zu strafen ist nicht der richtige Weg.“

„Hör mal, Megumi, ich…“

„Schon klar. Ich weiß, dass du so etwas nie machen würdest.“ Sie drehte sich um und ging ein paar Schritte. „Andererseits weiß ich, dass man im Eifer des Gefechts schon mal jemanden verletzen kann.“

Betreten sah ich zu Boden. HA! Verletzen? Wenn man es genau nahm, dann war ich ein Metzler und ein Massenmörder. Ein Leben in Isolation, fernab von Freunden und Menschlichkeit war da noch eine geringe Strafe gewesen. Ich war es, durch dessen Hände bereits über dreihundert Daina gestorben waren. Ich war es, der…

„Du bist also wirklich Kuroi Akuma“, stellte sie fest. Sie verschränkte die Hände hinter ihrem Rücken und wanderte ein paar Schritte über das Dach. Dabei wandte sie mir den Rücken zu.

„Aber das war es noch nicht, oder? Warum bist du mit mir gesprungen? Für wen spielst du hier den Lockvogel? Warum zeigst du allen, was du kannst? Hast du Angst, du bist jetzt, wo dein Gesicht niedlich geworden ist, kein mögliches Ziel mehr? Und wenn ja, ein Ziel für wen?“

Mist, die Kleine war mir ein wenig zu schlau. Wenn sie jetzt noch ein wenig Phantasie hatte, dann konnte sie sich die ganze Geschichte selbst zusammenreimen.

„Was ist dein Interesse an mir, Megumi?“, fragte ich direkt. „Welche Rolle hast du in dieser Tragödie?“

„Tragödie? Es ist eher eine Komödie. Und du spielst die männliche Hauptrolle.“

„Sehr komisch. Bist du dann die weibliche Hauptrolle?“

„Nur wenn ich gut aufpasse und Joan nicht an mir vorbeikommen lasse.“ Sie wandte den Kopf zu mir herum und lächelte.

Viel zu süß und viel zu niedlich. Konnte es so eine Frau wirklich geben?

„Aber die Gefahr besteht wohl nicht. Sie weiß ja noch weniger als ich. Sie denkt immer noch, du wärst nur Kuroi Akuma. Nun, ich weiß ein wenig mehr. Vater hat es mal angedeutet und… Kannst du mir es erklären, Akira?“

Ich schluckte hart. Ihr Vater? Steven Uno war ein… Kollege meines Vaters traf es wohl. Er war ein Insider, aber ich hatte nicht gewusst, dass er Zuhause zur Indiskretion neigte.

Wenn er ihr zuviel erzählt hatte, konnte sie das gefährden.

Aber war Megumi das nicht ohnehin schon? Immerhin war sie seine Tochter, und er war ein legitimes Ziel unserer Gegner. Sobald ich als Lockvogel versagte.

„Was willst du von mir, Megumi?“, antwortete ich mit rauer Stimme. „Was willst du nur von mir?“

Sie fuhr herum. Und mit Entsetzen im Blick sah sie mich an. „Du hast es vergessen?“

Schnell kam sie näher, bis uns nur noch eine Handbreite trennte. „Du hast es wirklich vergessen? Akiraaaaaa, du kannst es doch nicht vergessen haben!“

Ihr trauriger, ein wenig verletzter Blick traf mich tief, bis in die Abgründe meiner Seele. War da wirklich etwas, was mich gerade ins Abseits stellte? Ein Erlebnis, an das sie sich erinnerte, ich aber nicht? „Tut mir Leid, ich weiß nicht, wovon du sprichst.“

Ihre Rechte legte sich sanft auf meine Wange. „Akira… Idiot!“

Die schallende Ohrfeige tat weh, aber ich glaubte, sie irgendwie verdient zu haben. Außerdem schmerzte es mich viel mehr, dass sich das Mädchen umdrehte und von mir abwandte.

„Okay, damit du nicht dumm stirbst! Du hast versprochen mich zu heiraten.“

„WAS?“

„Was ist so schlimm daran? Musst du hier gleich in Panik ausbrechen?“

„Darum geht es doch gar nicht! Wann habe ich das denn getan?“

„Damals, als wir zusammen in die Grundschule gegangen sind. Du hast gesagt, du beschützt mich und du wirst mich heiraten, wenn wir groß sind.“

Ich überschlug die Zahlen kurz im Kopf. „Megumi, das ist fast elf Jahre her. Wir waren Kinder.“

„Und das gleiche hast du mir vor der Mittelstufe versprochen. Und in der zweiten Klasse der Mittelstufe hast du gesagt, wenn du bis zur Oberstufe überlebst, würdest du dein Versprechen wahr machen.“

Ich fühlte wie meine Knie weich wurden. Ups, das fiel ziemlich genau mit dem Beginn der Kämpfe zusammen. Seitdem war eine Menge passiert. Ich war hart und kalt geworden und hatte es genossen, andere Menschen auf Distanz zu halten und… Und, verdammter Mist, ich hatte es ihr wirklich versprochen. Nur war ich irgendwann auf die superkluge Idee gekommen, dass sie ohne mich besser dran war. Ich hatte versucht, die Versprechen zu vergessen. Ihr aus dem Weg zu gehen. Hatte beides super geklappt, bis heute.

Es war einfach zuviel passiert. Und es war noch nicht vorbei. „Megumi…“

„Du erinnerst dich wieder?“, fragte sie mit dünner Stimme. „Und? Erneuerst du dein Versprechen? Oder hast du noch nicht lange genug überlebt? Wird es noch schwerer für dich?“ Langsam legte sie die Arme um ihren Körper, als würde sie frieren.

Ich zögerte. Ich hatte es ihr versprochen, zugegeben. Und damals hatte ich es ernst gemeint. Aber wenn ich auf meine Hände sah, dann glaubte ich, das viele Blut an ihnen herab fließen zu sehen und… Und ich war noch lange nicht mit töten fertig. Warum musste ich so schwer tragen? Warum? Konnte ich Megumi unter diesen Umständen an mich binden? Durfte ich das überhaupt? „Ich…“

„Erklär es mir, bitte. Erklär mir, was für dich wichtiger ist als ich es bin. Erklär mir, wofür du mich aufgibst.“

Ich wollte widersprechen. Ich wollte sagen, dass ich sie nicht aufgab. Aber darauf lief es wohl letztendlich hinaus. Halb wandte ich mich ab. „Mamoru ist alles an sich ein feiner Kerl.“

Nun geschah alles sehr schnell. Ich sah wie Megumi herum wirbelte, Tränen in den Augen, und die Rechte erneut erhoben, um mir die zweite, wohl verdiente Ohrfeige zu verpassen.

Ich sah, wie neben mir eine zweite Sonne aufging. Und ich reagierte.

Mit einem schnellen Schritt war ich bei ihr, drückte ihre Schlaghand weg und warf mich mit ihr zu Boden. Wir rollten einige Zeit und stießen gegen den Zaun. Dann drückte ich ihren Kopf gegen meine Schulter und hoffte, sie gut genug schützen zu können.

Es wurde grell.
 

„Du solltest deine Deckung nicht so sehr vernachlässigen, Akira“, klang eine spöttische Stimme auf.

Ich sah auf. Gut, ich war noch nicht tot. Wir waren noch nicht tot. Und der Grund dafür war offensichtlich ein niedliches junges Mädchen in einem herzerweichend niedlichen blauen Minirock und dazu passendem Matrosenhemd. Sie hatte lange, gut geformte Beine, und eines nahm sie gerade wieder langsam ab. Direkt vor ihr sank ein KI-Biest in sich zusammen, einen kräftigen Abdruck ihrer kniehohen Stiefel in der Stirn. Noch bevor das Monster den Boden berührte, leuchtete es ein zweites Mal auf und verschwand in einem Regen aus Licht.

„Ich bin nicht immer zur Stelle, um dich zu retten.“

Ich richtete mich auf und half dabei Megumi hoch. „Ist es sicher? Wurde es auf mich oder auf Akira Otomo angesetzt?“

Das Mädchen lachte hoch und spöttisch. „Es ist deinen dämlichen Sprüngen gefolgt. Du hättest wissen sollen, dass KI-Biester einer solchen Zurschaustellung von Macht nicht widerstehen können. Zum Glück habe ich es auch gesehen. Dummkopf.“

Ich trat ein paar schnelle Schritte vor, und umarmte sie von hinten. Dabei rieb ich auch meine Wange an ihrer. „Danke für die Lebensrettung. Du bist mein absoluter Liebling, das weißt du doch.“

„Ach. Schmeicheleien nützen dir nichts, wenn du tot bist, Akira.“

„Ich bin aber nicht tot, und du bist schuld daran.“

„Ich weiß, ich sollte so etwas nicht sagen, nachdem sie unser Leben gerettet hat, aber… Wer ist das und in welcher Beziehung stehst du zu ihr, Akira? Warum bist du so vertraut mit ihr?“

Nanu? War sie eifersüchtig? Das versprach lustig zu werden. Ich wandte mich um und drehte dabei auch das Mädchen um.

Amüsiert beobachtete ich, wie Megumi die Kinnlade herabsackte.

„Ma… Ma… MAKOTO?“

Er lächelte lieb. „Hallo, Megu-chan.“

„Aber… Aber… Warum? Du hast uns gerettet und…“

„Gerettet habe ich euch, weil ihr beide jetzt sonst tot wärt.“

„…und du trägst ein Matrosenkostüm?“

Makoto errötete. „Äh, der Minirock bietet mir größere Freiheit bei meinen Attacken. Akira, kannst du nicht mal aufhören mich zu knuddeln?“

„Was denn, was denn? Wenn du hier so niedlich rum läufst, da kann es halt passieren, dass dir ein Mann mit Haut und Haaren verfällt. Außerdem wehrst du dich nicht gerade, oder?“

„Ach… So ist das also… Tja, gegen Makoto-o-nii-chan kann ich nicht gewinnen. Das ist mir jetzt klar. Ich… Ich wünsche euch beiden…“

„M-megumi? Das ist doch nur ein Witz! Wir machen doch nur Spaß.“ Ich ließ meinen Cousin los und schnappte nach Megumis Hand, bevor sie sich mir entziehen konnte. Zusätzlich trat ich vor und… Nun, man konnte mich überraschen. Man konnte mich sogar sehr überraschen. Und, ehrlich gesagt, ich war schon ein paar Mal in geschickte Fallen geführt worden, aber selten waren sie so zerstörerisch wie diese gewesen.

Das wurde mir etwa eine Minute später klar, nach einem langen und intensiven Kuss, der in mir die Frage aufkommen ließ, wer zum Henker Megumi das küssen beigebracht hatte.

„Wenn ihr zwei lieber allein sein wollt…“, begann Makoto spöttisch.

„Danke, dass du dein Versprechen erneuert hast, Akira“, hauchte Megumi und sah mich mit einem Blick an, der sehr, sehr sicher verhinderte, dass ich ihr widersprach, leugnete oder sonst etwas Dummes tat.

„Mist.“

„Also, Akira, Makoto-o-nii-chan, reden wir mal Tacheless. Ihr erklärt mir jetzt genau, was hier los ist. Warum Akira den Köder spielt und wieso die halbe Welt hinter euch her ist. Dann übersehe ich großzügig wie ich bin dieses wirklich nette Matrosenkostüm.“

„Du willst die Wahrheit wissen?“, höhnte Makoto. „Du kannst die Wahrheit doch gar nicht ertragen.“

„Hm“, machte sie und setzte sich auf den Boden. Es war eine sehr sittsame, damenhafte Pose, und für einen Moment stellte ich sie mir in einem hellen Kimono auf einer grünen Wiese vor und…

„Okay. Wir können ja immer noch dein Gedächtnis löschen“, brummte Makoto. Er griff nach seinem Rocksaum, zog ihn nach oben, und stand einen Augenblick später in der Sportkleidung für Männer da, die unsere Schule befahl. Er setzte sich ihr gegenüber, raffte sein langes Haar zu einem Pferdeschwanz und lächelte dünn. „Die lange oder die kurze Version?“

„Die lange.“

„Du hast es so gewollt“, murmelte Makoto und befahl mir, mich hinzusetzen, mit einem einzigen scharfen Blick.
 

2.

„Um zu verstehen, worum es hier geht, müssen wir zwanzig- bis dreißigtausend Jahre in die Vergangenheit“, erklärte Makoto ernst.

„Mit Kleinigkeiten gibst du dich wohl gar nicht erst ab, oder?“, spöttelte Megumi. Unwillkürlich glitt ihre Hand auf meine und drückte sie. Ein wenig Angst hatte sie schon.

„Es liegt an der Geschichte. Hast du schon mal was von Atlantis, Mu, Lemur oder der Doggerbank gehört?“

„Das sind Mythen über versunkene Kontinente, auf denen einstmals hoch stehende Völker gelebt haben sollen. Sie sollen technologisch weiter fortgeschritten gewesen sein als wir.“

„Bis auf die Doggerbank. Das ist eine Geländeformation in der Nordsee, einem bis zu hundert Meter tiefen Seegebiet im Nordatlantik. Ursprünglich war dieses Gelände mal Festland, aber als der Meeresspiegel nach der letzten Eiszeit anstieg, wurde es überschwemmt. Kannst du dir vorstellen, dass dieses Phänomen nicht nur auf die europäische Küste beschränkt war?“

Makoto machte eine alles umfassende Geste. „Es gibt einige Gebiete auf dieser Welt, die nach der Eiszeit überflutet wurden. Es gibt auch etliche Gebiete, die durch tektonische Bewegungen der Kontinentalplatten versanken oder aufstiegen. Plötzlich von der Last des Packeis befreit – und für die Erde sind ein paar tausend Jahre plötzlich – kam es zu tektonischen Verwerfungen und etlichen Verheerungen. Gerade in der Pazifik-Region, mit der gigantischen pazifischen Platte kam es zu massiven Bewegungen.

Es gab einmal Zeiten, in denen man zwischen Sibirien und Alaska zu Fuß verkehren konnte, weil es die Beringstraße damals nicht gab. Die Kontinente hingen zusammen. Ähnlich ist es mit Australien und dem ostasiatischen Festland. Das Schwarze Meer, ein salziges Binnenmeer in Westasien, war zu dem damaligen Zeitpunkt nur eine Senke, die erst durch Beben dem Salzwasser ausgeliefert wurde und über Jahrtausende zu dem Meer wuchs, wie wir es heute auf dem Globus sehen. Und das sind nur ein paar Beispiele.“

„Aha. Und was hat das mit euch beiden zu tun? Ihr seid definitiv keine zwanzigtausend Jahre alt. Und wenn doch habt ihr euch gut gehalten.“

Ich wechselte einen amüsierten Blick mit Makoto.

„Nun, wir sind keine zwanzigtausend Jahre alt, zugegeben. Aber die Geschichte ist noch nicht zu Ende. Kannst du dir vorstellen, dass es Mu, Lemur oder Atlantis wirklich gegeben hat? Dass es auf ihnen Hochkulturen gegeben hat, die unserer jetzigen Kultur überlegen waren?

Oder vielmehr, dass es einen Kontinent gab, der später Mu, Lemur oder Atlantis genannt wurde, und auf dem es eine einzige Hochkultur gab, in einer klimatisch attraktiven Zone, die weit weg vom massiven Packeis des Nord- und Südpols war? In einer lebensfähigen Zone, weitab des rauen Lebens der Cro Magnons direkt am Packeis?“

„Vorstellen kann ich es mir, ja.“

„Nun, um die Sache abzukürzen, die Legende ist wahr.“

„Ach.“

„Ja. Ach.“

„War ja klar, dass es darauf hinausläuft. Und? Wie geht es weiter? Schreibst du ein Buch drüber oder kommst du endlich zum Kern der Sache?“

„Ha, ha. Sehr witzig. Also, es gab diesen Kontinent. Das heißt, eigentlich gibt es ihn immer noch, aber das zu erklären führt zu weit. Tatsache ist, es gab diese Hochkultur, und diese Hochkultur bildete diverse Ableger in klimatisch heißen Zonen der Erde, hauptsächlich in den Küstenregionen rund um den Äquator.“

„Regionen, die später überschwemmt wurden.“

„Richtig. Diese Hochkultur nannte sich selbst Dai, die Hohen. Es kam wie es kommen musste. Die besiedelbaren Regionen boten den Dai bald keinen Platz mehr. Oder ihre Abenteuerlust überwältigte sie. Das Volk der Dai spaltete sich auf. Die einen, die Daina, blieben auf der Erde. Die anderen, die sich fortan Daima nannten, breiteten sich über das Universum aus.“

„Ach. Gib mir doch bitte mal ne Sekunde zum Luftholen. Das klingt alles so abstrakt wie von einem schlechten Autor runtergekliert, aber trotzdem wird mir schwindlig, wenn ich es höre.“

„Soll ich dir vielleicht einen Kaffee bringen?“, scherzte Makoto.

„Hör auf zu spotten. Kann weitergehen.“

„Hm. Wie ich bereits sagte, die Daima breiteten sich über Universum aus. Oder besser gesagt, über die nähere stellare Region. Wir schätzen, dass diese Wesen, die wir manchmal die Erste Menschheit nennen, eine Raumkugel mit einem Durchmesser von einhundertzwanzig Lichtjahren besiedelt und erforscht haben.

Übrigens kamen ständig Daima nach, die von der Erde aus ins Unbekannte aufbrachen.

Aber irgendwann nannten diese Abenteuerlustigen sich nur noch Daina, um ihre Verbundenheit mit der Urheimat und mit dem Volk der Dai an sich auszudrücken.

Und du weißt ja was passiert, wenn jemand etwas nicht versteht oder partout missverstehen will, nicht?“

„Du meinst so wie mit unseren Mitschülern und Akira, richtig? Es gab Krieg.“

„Aber hallo. Es gab Krieg. Wirklich fetten, saftigen Krieg. Wer angefangen hat, nun, wen interessiert es? Wichtig für uns ist nur zu wissen, dass nur sehr wenige Daina den Krieg überlebt haben. Und das auch nur, weil sie ihre Urheimat, Lemur, Mu oder Atlantis, selbst vernichteten. Mehr oder weniger. Damit war Ruhe im Karton, und die übrigen Daima und Daina draußen im Universum konnten sich ganz darauf konzentrieren, sich selbst die Köpfe einzuschlagen.“

„Tolle Geschichte. Willst du nicht ein Buch, nein, noch besser, eine Serie darüber schreiben? Würde bestimmt gut kommen und sich toll verkaufen. Du müsstest nur noch ein paar Details einfügen wie einen Oberbösen, einen Orden der Beschützer für Recht und Ordnung, den ewigen Kampf zwischen Licht und Schatten und…“

„Megumi“, mahnte ich.

„Okay. Bin ja schon still. Erzähl weiter, Mako-o-nii-chan.“

„Während dieses Krieges wurde eine Waffe eingesetzt. Sie nennt sich Liberty-Virus. Es ist ein teuflischer, kleiner biologischer Kampfstoff, der in einem Daina-Gehirn etwa folgendes anrichtet. Er perforiert dir die Birne.“

„Ach, wie nett. Grausig ist das.“

„Ja, grausig. Aber das richtig grausige ist, er perforiert dir das Hirn gezielt. Es gibt da einige Sektionen in deinem Kopf, die für das Gefühl da sind, für Emotionen, für Moral und Anstand. Für Maßhaltung, soziales Verhalten und dergleichen. Der Liberty-Virus zerfrisst gezielt diese Zentren. Darüber hinaus stimuliert er die Zirbeldrüse. Wir wissen nichts über die Gründe hierfür, aber die Folge ist… Nun, Daina mit Superkräften, wenn du es so willst.“

„Aha. Enthemmt, keine Moral, keine soziale Bindung und Superkräfte. Klingt für mich wie die ultimative Bedrohung.“

„Etwas in der Art. Womit wir in unsere Gegenwart springen. Es gibt auf unserer Welt ein Volk, das sich selbst Dämonen nennt. Sie… Nun, sie leben schon länger auf der Erde als die Daina, und sie haben die Daina und die Daima bei ihrem Tun beobachtet. Mit steigendem Entsetzen, wenn ich das mal anmerken darf. Als die Daina ausgelöscht wurden – okay, fast ausgelöscht wurden, waren es die Dämonen, welche die Daina über die Welt verstreuten und sie zurück in die Primitivität führten. Das war nicht unbedingt eine Strafe, vielmehr eine Schutzfunktion, um sie fortan vor den Daima zu bewahren.

Danach wurden sie zu den Nachlassbewahrern der Daina und übernahmen Atlantis, den Kontinent.“

„Der eigentlich vernichtet sein sollte.“

„Eigentlich. Aber die Daina hatten ihn lediglich in einer eigenen Realität eingebettet.“

„Klingt nach dem Bermudadreieck, oder?“

„Etwas in der Art, ja.“

Ich hob eine Hand. „Wie du dir sicher denken kannst, sind wir Daina. Genauer gesagt Makotos und meine Familie sind mehr oder weniger direkte Nachkommen der Daina. Aber durch die Vermischung über die Jahrtausende mit den Cro Magnon sind wir immun gegen den Liberty-Virus geworden. Was gerade jetzt sehr nützlich ist, denn die Dämonen sind es nicht.“

„Zumindest die meisten nicht. Einige haben absolute Kontrolle über ihre Körper, andere nicht. Es sind jedoch definitiv zu wenige, um den Kampf zu führen.“

„Aha. War ja nicht schwer zu erraten. Ihr kämpft also. Mit den Dämonen an der Seite, richtig? Nur gegen wen? Die Daima werden wohl kaum zurückgekehrt sein. Aber dieses ganze Gerede von Joan, dieses KI-Biest eben gerade und ein paar weiterer Hinweise sagen mir, dass es auf Atlantis zu finden ist.“

„Soweit richtig. Der Konflikt spielt sich auf dem Phasenverschobenen Kontinent ab. Wir kämpfen dort gegen Daina.“

Megumi runzelte die Stirn. „Und die Daina können den Kontinent, beziehungsweise die Phasenverschiebung nicht gegen den Willen der Dämonen verlassen, oder? Also kämpfen sie gegen ihre Gefängniswärter. Alles, was sie rausschicken können sind diese KI-Biester, denen sie einfache, klar strukturierte Aufgaben geben können und…“

„Moment, Moment, wie viel weißt du schon über die Materie?“, fragte Makoto mit Schweiß auf der Stirn.

„Nur was du mir bisher gesagt hast.“

„Erstaunlich.“

„Beachtlich.“

„Danke. Für Komplimente ist eine Frau immer empfänglich.“ Sie lächelte süß, wirklich süß. „Und? Gibt es einen bestimmten Grund dafür, die Daina in der Phasenverschiebung gefangen zu halten? Sind sie mit dem Liberty-Virus infiziert?“

„Gut kombiniert, Holmes. Vor ungefähr fünf Jahren wurde auf dem Kontinent eine kryogene Anlage entdeckt, oder um es mal simpel auszudrücken: Ein riesiger Kühlschrank für Menschen. In ihm ruhten dreißigtausend Daina. Das Projekt war streng geheim, sodass nicht einmal die Dämonen davon etwas erfuhren. Sie tauten ein paar von ihnen wieder auf und machten die schreckliche Entdeckung, dass zumindest die Daima von diesem Projekt gewusst haben mussten. Nachdem der erste Daina erwacht war, wurden hunderte Bomben in der Anlage gezündet, die den gesamten Bereich mit dem Liberty-Virus überschütteten. Damit nahm das Verhängnis seinen Anfang. Es wurden mehr und mehr Daina wiedererweckt, was gleichbedeutend mit der Infektion des Liberty-Virus war. Mit einer totalen Enthemmung, mit dem Zusammenbruch jeder Struktur, jedes sozialen Verhaltens. Es gibt nur das Recht des Stärkeren und Unterwerfung. Es ist keine nette Wohngegend.“

Ich räusperte mich. „Die Dämonen konnten die Daina nur schwer bekämpfen, gerade auch weil ihre Zahl mit jedem Tag anstieg. Im Moment gehen wir davon aus, dass etwas über siebentausend wiedererweckt wurden. Jeden Tag kommen etwa dreihundert hinzu. Und abgesehen von den höchsten und mächtigsten Dämonen gibt es nur eine Gruppe von Menschen, die sie bekämpfen, besiegen und letztendlich retten können: Uns.“

„Die Nachfahren der Daina“, komplettierte Megumi. „Wie lange geht das schon so?“

„Nicht ganz drei Jahre.“

„Okay, das erklärt einiges. Und wie erfolgreich seid Ihr?“

„Nun, wenn wir es schaffen, die kryogene Anlage zu zerstören, bevor die restlichen dreiundzwanzigtausend Daina erwachen, haben wir eine Chance.“

„Aha. Und Akira spielt in dieser Welt den Lockvogel für die KI-Biester, welche die enthemmten Daina auf euch hetzen? Aber warum?“

Makoto lächelte. „Das hat einen einfachen Grund. Er ist der Stärkste von uns.“ Eine flache Hand traf mich am Hinterkopf. „Und normalerweise lässt er sich nicht so leicht überraschen!“

„Urgs.“

„Ja, urgs du nur. Ohne mich wäre Megumi gestorben, du Superheld. Dich hätte nichts so leicht umgebracht, aber sie…“

Ich spürte einen harten Griff an meinem Kragen und wurde fortgezerrt. Dann sah ich Megumi gezwungenermaßen aus allernächster Nähe direkt in die Augen. Ihr Blick war amüsiert und eiskalt. „Wehe, du denkst auch nur eine Sekunde daran, das jetzt als Ausrede zu benutzen, um mir zu erklären, du würdest mich nur gefährden, wenn wir zusammen sind. Das zieht nämlich nicht bei mir, verstanden?“

„Urgs.“

„Das fasse ich als Einverständnis auf.“ Langsam ließ sie meinen Kragen los.

„Megumi, versteh doch, dass wir…“

„Makoto-o-nii-chan. Da gibt es nichts zu verhandeln. Weißt du nicht, was Liebe ist?“

Ich lüftete meinen Kragen. Übergangslos wurde mir heiß, übel und irgendwie komisch. Frauen. Was für eine herrliche Erfindung.

Betreten sah Makoto zu Boden. „Natürlich weiß ich, was Liebe ist. Ich kann dich also nicht umstimmen, Megumi-chan? Bedenke, wie schwer er es haben wird, wenn in der Schule bekannt wird, dass ihr zwei zusammen seid.“

„Hm… Zugegeben. Und Joan könnte deshalb sehr enttäuscht sein und Akira das Leben schwer machen. Ach, ich bin ja nicht besonders Besitz ergreifend. Wir verheimlichen es einfach. Zumindest bis die Daina besiegt sind, okay?“

Sie lächelte mich an, aber es war ein noch kühleres Lächeln als eine knappe Minute zuvor.

„Das heißt aber nicht, dass du mit ihr rumknutschen darfst, Akira.“

„I-ich…“

„Sonst kriegst du nämlich keine mehr von mir. Überleg es dir.“

Verdammt, wer hatte ihr bloß das küssen beigebracht? Wenn ich den erwischte, würde ich ihn mit Orden überhäufen.

„Küssen? Orden? Was nuschelst du da, Akira?“

„Schon gut, Makoto. Ich werde sie nicht küssen. Aber was ist, wenn sie versucht mich zu küssen?“

„Das hättest du wohl gerne, was?“ Sie kicherte amüsiert. Aber dann stockte sie. „Mist. Das ist leider sehr wahrscheinlich.“ Wieder lächelte sie, doch diesmal war es blankes Eis. „Ich bin ja zum Glück nicht so Besitz ergreifend.“

Für mein Glück, zumindest für ein einigermaßen ruhiges Leben, neben meiner Schlacht auf dem Boden von Atlantis und in den Straßen meiner Heimatstadt, musste ich wohl fortan meine Lippen beschützen. Nicht, dass ich jemand anderen als Megumi wollte, aber leider interessierte das Frauen manchmal herzlich wenig. Überhaupt schienen Frauen nur ungern auf die Entscheidungen von Männern zu hören, wenn sie ihnen nicht in den Kram passten.

„Also?“, fragte sie mit leuchtenden Augen. „Wann kann ich mal mit rüber kommen?“

Ich wechselte einen entsetzten Blick mit Makoto. Dann starrten wir Megumi an. „WAS?“

***

„Das war nicht nett von dir, Aki-chan“, klagte Joan, als ich mit Megumi in den Armen auf das Dach zurückgesprungen kam. Außerdem hatte ich die Pause überzogen. „Einfach so mit ihr fort zu springen. Hm, andererseits wird mir jetzt einiges klar, Kuroi Akuma.“

„Ach was. Akira hat nur starke Knöchel“, scherzte Megumi, nachdem ich sie abgesetzt hatte.

„Sehr komisch. Darf ich auch mal, oder bist du ab sofort ihr Privateigentum?“

Megumi sah mich ernst an. „Sagen wir, das Rennen ist noch nicht entschieden. Außerdem bin ich ja nicht Besitz ergreifend. Hm, ich gehe schon mal vor und hole mir den Anschiss vom Lehrer ab.“ Sie ging ins Treppenhaus und knallte die Tür.

„Besitz ergreifend ist sie vielleicht nicht, aber definitiv sauer. Ich dachte die Tür fliegt raus. Und, alles klar, Akira?“

„Ein KI-Biest, nicht der Rede wert, Yoshi. Mako hat auf mich aufgepasst.“

„Was denn, was denn, du brauchtest Hilfe? Gegen ein KI-Biest?“

„Bitte, sprecht nicht in Rätseln. Was hat eure kleine Aussprache also ergeben? Bist du vom Markt, Kuroi Akuma? Oder habe ich noch ne Chance?“

„Wie Megumi schon sagte.“ Ich räusperte mich, um meinen Hals wieder frei zu kriegen. Mist, mein Kragen wurde plötzlich so eng. „Das Rennen ist noch nicht entschieden.“

„Hm. Hast du dich dann wenigstens dafür entschieden, mit diesem Vigilantenquatsch aufzuhören? Auch wenn du über Häuser springen kannst, irgendwann erwischt es dich. Und das will ich nicht, Akira.“

Ich lachte trocken. „Ist es dann wenigstens in Ordnung, wenn ich in einer Phasenverschobenen Welt eine Armee außergewöhnlicher Menschen gegen eine Heerschar pervertierter und verseuchter Monstren führe, um die Welt zu retten?“

„Playstation oder PC?“

„PC!“

„Genehmigt.“ Sie wandte sich um, zwinkerte mir über die Schulter zu und meinte: „Wir sehen uns spätestens heute Abend an der Barriere, Aki-chan.“

„Soll ich die Situation noch ein wenig verschärfen?“, kam es von oben, kaum dass Joan im Treppenhaus verschwunden war.

„Ich könnte ein wenig neben dir hergehen und behaupten, ich wäre die neue Austauschschülerin.“

Seufzend sah ich auf. „Makoto. Der Tag, an dem deine Schwester dich in Mädchenklamotten gesteckt hat, damit du diese getarnte Überwachung durchführen konntest, wird auf ewig ein schwarzer Tag für die Familie sein.“

„Warum? Weil ich seitdem ab und an mal Frauenkleider trage?“

„Nein, weil dein Geschmack als Frau furchtbar ist. Rosa Loose Socks, du bist krank, Mako.“

„Ha, ha. Du bist sooo witzig, ich hätte fast gelacht.“

„Mako… Jungenklamotten. Mitkommen.“

Mein Cousin sprang herab. Dabei verwandelte sich sein Matrosenkostüm in die an der Fushida übliche Jungenbekleidung. Seine KI-Rüstungen waren noch immer die besten.

„Und was jetzt, furchtloser Anführer?“

„Na was wohl? Zur Entspannung treiben wir Sakura-chan ein wenig in den Wahnsinn, genialer Meisterstratege.“

Makoto legte den Kopf schräg, als würde er nachdenken. „Spaß… Ärger… Spaß… Ärger… Spaß gewinnt! Gehen wir, Akira.“

Yoshi runzelte die Stirn. „Ihr wollt Sakura Ino ärgern? Die goldene Göttin? Den Racheengel der Apokalypse? Das wunderbarste Stück Weiblichkeit, welches die Götter je geschaffen haben?“

„Ja. Was dagegen?“

„Nun… Nein. Darf ich zugucken? Ich räume auch eure Reste weg, falls es schief geht.“

„Vielleicht ist es doch keine so gute Idee, Akira…“

Ich ergriff Makoto am Handgelenk. „Mitgefangen, mitgehangen, kennst du das Sprichwort?“

„Akiraaa…“

Warum sollte ich nicht auch mal Spaß haben?
 

3.

„Es ist wieder dunkler geworden“, murmelte ich leise. Das Land vor mir war weit und leer. Es schien nur aus Sand, Felsen und blankem Stein zu bestehen.

„Die Explosionen der letzten Woche haben viel Staub in die Luft geblasen. Er hält sich knapp unter der Barriere und reflektiert das Sonnenlicht. Wir haben dadurch fünf Grad Bodentemperatur verloren.“

Ich sah zur Seite, wo Kitsune stand. Eigentlich Dai-Kitsune-sama, die Herrin der Fuchsdämonen. Aber wir hatten so lange Zeit Seite an Seite gekämpft, dass eine gewisse Vertrautheit entstanden war. Die spröde, mundfaule Frau war eine exzellente Kämpferin, zudem gnadenlos gegen den Feind. Diese Art hatte sie auch lange uns gegenüber bewahrt, aber nach und nach war sie offener geworden. Von freundlich war das noch weit entfernt, zugegeben. Aber wenigstens redete sie heutzutage mit jemandem.

„Wird das ein Problem? Niederschläge?“

„Nein, die Reservoirs sind voll. Außerdem haben wir ohnehin Hochsommer, das ganze Land ist trocken. Es ist keine Beeinträchtigung für das bisschen Vegetation hier. Hm, deshalb haben wir diese Wüste ursprünglich ausgesucht, um die Daina abzufangen. Man kann hier nicht viel Schaden anrichten.“

„Aber Verteidigung und Nachschub sind ein Problem.“

„Zähl bitte keine bekannten Fakten auf. Konzentrier dich lieber. Es ist bald Schwarmzeit.“

Ich steckte den Tadel weg. Sie hatte Recht.
 

Langsam ließ ich den Blick schweifen. Ich stand auf der Buggallerie der AO, dem Flaggschiff der Dämonen. Das mächtige Gefährt diente den gegen den Liberty-Virus immunen Dämonen und ihren Daina-Verbündeten – also uns – als Basis für die Schläge gegen die verseuchten Daina, die von ihrer Festung aus, dem ehemaligen kryogenen Trakt, ins Land einfielen.

Die AO war ein Gigant, fast zwei Kilometer lang, einen halben breit und ebenso hoch. Ihre Bewaffnung war so gewaltig, dass sie Mu binnen eines Gedankens pulverisiert hätte. Und das war der Nachteil. Die meisten Waffen der AO waren für den Kampf gegen die Daina nicht einsetzbar.

Erst Eikichi hatte dafür gesorgt, dass die Dämonen eine Verteidigung etablieren konnten, die für die Situation angemessen war. Eikichi hatte das Schiff auch mit Angriffsplattformen für uns nachgerüstet. Und Teile der AO so umbauen lassen, damit wir direkt unterstützt wurden.

Etwas, was ich in all den Jahren zu schätzen gelernt hatte.

Neben und hinter mir standen meine Kameraden und einige der immunen Dämonen. Ich kannte jeden einzelnen von ihnen gut genug, um ihm mein Leben anzuvertrauen.

„Es geht los“, sagte Kitsune und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen.

Schwarmzeit.

Die Daina waren Menschen wie wir, eigentlich. Aber da ihnen die meisten Emotionen ausradiert worden waren, darunter auch Bereiche wie Verantwortung oder Angst, benahmen sie sich die meiste Zeit wie eine Herde oder ein Vogelschwarm. Oh, sie waren durchaus noch intelligent. Einige von ihnen waren sogar mehr als das, intelligent und grausam. Sie hielten den Cluster, wie wir die Gemeinschaft der verseuchten Daina nannten, mit Terror und drakonischen Strafen unter Kontrolle und brachten Strategie in den Eroberungskampf. Siegeswille war ihnen dabei fremd. Sie wollten sich einfach nur ausleben.

Dennoch fiel es diesen Königsdaina schwer, ihre Truppen hinaus zu scheuchen.

Hier kam das Schwarmprinzip zum tragen. Meistens waren es einer oder eine Gruppe, die zuerst herauskamen. Ihnen folgten weitere. Waren es genug, kamen alle anderen hinterher, wie ein Schwall Wasser aus einem offenen Hahn.

Danach dauerte es noch ein wenig, bis sie das aktuelle Kampfgebiet erreichten. Das war unser großer Vorteil. Sie kamen zu uns, zu den offensichtlichen Zielen. Dadurch ließ sich einiges steuern. Zum Beispiel konnte verhindert werden, dass wir große Teile der besiedelten Regionen von Mu verloren. In der Vergangenheit hatte es das gegeben, tausende Dämonen waren gestorben oder infiziert worden. Aber seit einem Jahr ging es nicht mehr rückwärts, es ging voran.

Oh, unsere Feinde wurden nicht weniger, oh nein. Aber wir wurden besser.
 

Einzelne Daina erschienen in der Wüste, ihnen folgten kleine Gruppen. Und darauf folgte eine schwarze, wogende Masse aus Leibern. Männer, Frauen… Und Kinder. Es waren alle, die auf die eine oder andere Art im Cluster überlebt hatten.

Was sie zu unseren Feinden machte.

„Noch nicht“, mahnte ich, obwohl es nicht nötig gewesen wäre. Meine Freunde standen erwartungsvoll bereit, aber niemand neigte hier zu Überreaktionen. Alle die das taten waren schon vor langer Zeit gestorben.

Die ersten Daina erhoben sich in die Luft, um die AO direkt anzugreifen, verformten dabei ihre Körper zu monströsen Chimären. Andere eilten auf dem Boden weiter, um die Bugluken anzugreifen.

Als die fliegenden Daina den Abwehrparameter erreicht hatten, begannen die Schnellfeuerkanonen ihre explosiven Geschosse auszuspucken. Raketenklappen öffneten sich und feuerten. Binnen weniger Augenblicke war die Luft vor dem Bug der AO von Tod, Blut und Sterben erfüllt.

Derweil begannen auch die Kanonen am Kiel der AO zu feuern, um die angreifenden Bodentruppen auf Distanz zu halten.

Ich setzte die Oni-Maske auf und spürte, wie sie sich auf meinem Gesicht verwandelte. Dann zog ich mein Katana blank. Diese Waffe war ein Oopart, ein Out of Period Artefact, oder um es mal einfach auszudrücken, das Mistding war zwanzigtausend Jahre alt und stammte von Mu, während die eigentlichen Katana der japanischen Schmiedekunst, der diese Waffe so frappierend glich, erst vor fünfhundert Jahren perfektioniert worden waren. Eigentlich hätte es vor zwanzigtausend Jahren niemanden geben dürfen, der diese Waffe hätte schmieden können. Und eigentlich war mir das reichlich egal, denn sie erfüllte ihren Zweck, und das war alles, was ich von ihr verlangte.

„Akari!“ „Ja, Meister.“ Die Klinge leuchtete weiß auf, als der Oni sie mit seiner Kraft erfüllte.

Ich lächelte matt unter der Maske. Es wurde wieder einmal Zeit. Wortlos stieß ich mich ab und sprang in den Pulk fliegender Daina.

Die anderen griffen nun auch in den Kampf ein, entweder in den Luftkampf oder in die Bodenkämpfe.

Während ich sprang, zog ich meine Waffe vor und erweiterte die Klinge mit meinem KI. Ich führte sie über den Boden; in fünfhundert Metern Tiefe riss sie eine Schneise der Zerstörung durch den Boden und jeden unvorsichtigen Daina, der nicht schnell genug ausweichen konnte.

Als ich sie durch die Luft riss, erwischte ich drei weitere Daina. Dann landete ich hart auf dem Boden, federte in den Knien nach und steckte die Waffe wieder ein.

Ein unförmiger Daina, groß und gewaltig wie ein Sumo-Ringer, versuchte mich mit seinen drei Hörnern aufzuspießen. Etwas, was ich nicht besonders mochte. Beiläufig zeigte ich auf ihn und entließ einen KI-Schlag, der den Daina erfasste, vom Boden hoch wirbelte und Dutzende Meter davon trug. Er überschlug sich mehrmals und blieb liegen.

Neben mir landete Ami auf einer Hand und dem linken Knie; beides hinterließ tiefe Abdrücke im Bodengestein. Ruckartig zog sie die rechte Hand nach vorne, und ich wusste, was nun geschah. In ihrer Hand hielt sie die Enden von mehreren Rollen KI-gesteuerten Titanstahldrahtes, zusätzlich mit ihrem KI verstärkt. Fünf unwirkliche Schreie klangen auf, und ich wusste, sie hatte fünf oder mehr Daina eingewickelt, und zertrümmerte nun ihre Körper.

„Du wirst immer besser, Ami-chan“, bemerkte ich.

Sie musterte mich einen Moment. „Rechte Seite. Sieben.“

„Verstanden.“ Ich riss mein Katana wieder hervor, ließ Akaris KI erneut aufleuchten und führte einen lockeren Schlag auf die rechte Flanke aus. Wieder fuhr die verstärkte und verlängerte Klinge durch Gestein und unvorsichtige Daina-Leiber. Ich zählte nicht mit, aber sechs bis sieben würden es schon gewesen sein.

„Du bist auch nicht gerade unbedingt schlechter geworden, Akira“, sagte Ami mit dem Anflug eines Lächelns und sprang davon.

Damit hatte sich meine persönliche Schlächterrechnung auf wie viel erhöht? Zwanzig für diesen Tag? Bei siebentausend nicht unbedingt eine wirkliche Hilfe. Selbst wenn ich annahm, dass meine Kampfgefährten zusammen ein gutes hundert pro Angriff erledigten, bevor die Daina zu erschrocken oder zu abgekämpft waren und sich zurückzogen, war das nicht wirklich eine Hilfe. Denn jeden Tag kamen dreihundert hinzu. Wenn wir diesen Kampf gewinnen wollten würden wir die Festung nehmen müssen.

„Hast du schon geübt? Morgen haben wir die Prüfung in Mathe“, rief Yoshi herüber. Er schoss seinen Bogen in schneller Folge ab, und jeder Schuss war ein Treffer. Einen überwitzigen Daina, der es wagte, den Fernkämpfer anzugreifen, erledigte Doitsu mit seinem riesigen Schwert.

„Ich brauche nicht üben. Ich habe die Materie verinnerlicht“, erwiderte ich und sprang ein wenig zur Seite, um den Krallen einer Daina-Furie auszuweichen.

Dieses Biest ging mich hart an, drängte mich fast zurück und gab erst Ruhe, als es zweigespaltet durch meinen Ziehschlag zu Boden fiel.

„Wir werden es an den Zensuren sehen. Duck dich.“

Ich machte eine Rolle nach vorne, Yoshi bekam freies Schussfeld und riss einen Daina mit einem sicheren Schuss von den Beinen. Natürlich. Ein Einhorn-Typ wie neulich. Hatte es sich zwischen ihnen herumgesprochen, dass ich einem von ihnen eine schwere Verletzung verdankte?

Yoshi nutzte die Lücke, die sich vor ihm auftat, sprang vor und ließ seine Waffe einmal um sich herum wirbeln. Die Daina, die bedauernswert genug waren, in seine Waffenreichweite zu gelangen, hatten nicht viel Zeit sich darüber zu ärgern.

„Seid froh, dass Ihr zwei nicht in meiner Klasse seid“, rief Doitsu. „Ich bin so gut, Ihr würdet Depressionen schieben.“

„Da! Sie beginnen sich wieder zurückzuziehen!“, klang Makotos Stimme auf. Auch eine der Neuerungen, die Vater eingeführt hatte: Funk. Alle Mitglieder des Teams standen permanent mit der Zentrale der AO in Kontakt, wo das Feuer des Schiffs und der Angriff der Verteidiger koordiniert wurden – meistens von meinem Cousin.

Rückzug bedeutete in diesem Fall, dass die ersten Daina in ihrem Blutdurst von der kreatürlichen Angst vor dem Tod durch unsere Hand überwältigt wurden.

Das Ergebnis war, dass die vorderen Linien zurückfluteten, mitten zwischen jene, die noch nicht gekämpft hatten. Daraufhin stockte der Angriff, die Linie erstarrte. Und irgendwann begann sie aufzubrechen. Dies war gleichbedeutend mit dem Rückzug aller infizierten Daina.

Dennoch, ich blieb wachsam. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass aus der Mitte der Infizierten ein neuer Angriff vorgetragen wurde. Unwillkürlich rieb ich meine Schulter. So etwas zu ignorieren war eine große Dummheit.
 

Erst als die Infizierten mehr als zehn Sekunden von mir entfernt waren, erlaubte ich mir, ein wenig zu entspannen. Langsam steckte ich die Waffe zurück. Hinter und neben mir taten es meine Freunde gleich.

Nun begann die grausigste Aufgabe, aber auch sie war notwendig. Wir töteten die verletzten Daina, die sich nicht hatten zurückziehen können.

Es gab immer eine Handvoll von ihnen, und sie am Leben zu lassen hätte nur bedeutet, ihnen zu erlauben, uns das nächste Mal erneut angreifen zu können.

Sie kannten keine Gnade, woher auch? Ihre Gehirne und ihr Verstand waren zerfressen. Daher wussten sie auch nicht, wie man Gnade akzeptierte, geschweige denn gewährte.

In einem Anflug von Zynismus dachte ich daran, dass sie tot wesentlich besser dran waren. Und ich hasste mich für diesen Gedanken, denn er war richtig.

Wütend ballte ich die Hände. Wäre dies ein normaler Krieg gewesen, man hätte die Fußsoldaten retten können, nachdem man die Anführer ausgeschaltet hätte. Man hätte sie interniert, den Krieg gewonnen und sie dann freilassen können. Aber in diesem Fall, in dieser Realität, bedeutete jeder infizierte Daina, den wir internierten, eine potentielle Ansteckungsgefahr für die Dämonen. Und damit neue Feinde, ausgerechnet im Rücken.

Nicht, dass wir es nicht versucht gehabt hätten. Nicht, dass wir nicht spektakulär gescheitert waren. Nicht, dass nicht die Leben von einem guten Dutzend Dämonen ausgelöscht werden musste, weil wir genau diesen Fehler gemacht hatten.

Nicht, dass ich nicht alles besser machen wollte, die Kämpfe beenden, das töten beenden.

Ich spürte, wie mir die Tränen die Wangen hinab liefen. Selbst aus den Augenschlitzen meiner Maske kamen sie geflossen. Verdammt, war ich immer noch nicht hart genug?
 

„Notsignal nahe der kryogenen Anlage“, klang Makotos Stimme auf.

Verwundert sah ich auf. „Haben die Dämonen Leute an der Festung?“, fragte ich hastig. Es wäre nicht das erste Mal gewesen, dass die Dämonen wie terranische Kommandotruppen versuchten, das Übel an der Wurzel zu packen, sprich, die Tanks zu zerstören, in denen die Daina ruhten. Oder die Königsdaina zu töten.

„Negativ. Es ist aber eindeutig ein Funkfeuer, kein Leuchtsignal. Jemand will definitiv, dass die infizierten Daina es nicht zu früh bemerken.“

„Entfernung?“

„Zwei Kilometer vor der Festung, dreiundfünfzig Kilometer von uns entfernt.“

„Hm.“ Das Gros der aktiven Daina war noch über fünfzig Kilometer von der Anlage entfernt. Selbst mit ihren grotesken Fähigkeiten würden sie zehn Minuten oder länger brauchen, um sich zurückzuziehen. Allerdings waren wir nicht viel schneller. Wir hatten vielleicht, wenn wir sofort loseilten, ein Zeitfenster von einer Minute. Und dann standen wir einer riesigen Wand zurückkehrender Daina gegenüber, die wirklich sauer über den unangemeldeten Besuch waren.

„Akira! Der Einsatz wurde noch nicht genehmigt! Akira!“, klang Makos Stimme auf.

Ach, war ich etwa schon unterwegs? Im selbst belügen war ich auch nicht so berauschend, aber was machte das schon? Ein Notsignal war in jedem Fall eine Untersuchung wert, und wir konnten jede Hilfe gebrauchen.

„AKIRA!“

„Ihr wisst doch wie es ist! Wenn ein Daina aus dem Tank befreit wird, hat er eine Inkubationszeit von dreißig Minuten bis neun Stunden. Weitergegeben wird die Infektion mit dem Liberty-Virus lediglich als Aerosol von den Bomben in einem unbekannten Radius, aber auf keinem Fall mehr als einen Kilometer, oder direkt von Wirt zu Wirt. Wenn wir es bei dem Notsignal mit einem Neunstünder zu tun haben, kann er uns in der verbleibenden Zeit, die er seine Sinne noch beisammen hat, einiges über die Festung erzählen, oder?“

„Es gibt auch Fälle, die von fast zwei Tagen sprechen.“

„Noch besser, Makoto. Zwei Tage Daten von jemandem bekommen, der in der Festung war. Ist das nicht großartig?“ Ich stieß mich vom Boden ab, machte einen Riesensatz. Ich würde die Daina umgehen müssen, das kostete sicherlich eine halbe Minute. Aber ein Kampf hätte mich weitaus mehr verzögert.

„Idiot. Du wolltest doch wohl nicht alleine gehen, oder?“

Der Boden kam rasend schnell näher. Ich stützte mich bei der Landung mit der Rechten ab und federte in den Knien nach, bevor ich mich erneut abstieß und einen weiteren Gigantsatz machte. „Danke, Kumpel“, sagte ich zu Yoshi, der direkt neben mir war.

Links von mir tauchte ein Fuchs auf. Er sprang ebenso weit wie wir. „Ihr macht auch jeden Quatsch, solange es nur interessant genug ist, oder?“, tadelte Kitsune.

„Okay, hergehört. Commander Otomo hier. Den Vorstoß von Akira, Yoshi und Dai-Kitsune-sama können wir wohl nicht mehr abbrechen. Außerdem scheint er das Risiko wert zu sein. Alle anderen beziehen Verteidigungsstellung und versuchen den dreien einen Rückzugskorridor offen zu halten, verstanden?“

„Hm, Kitsune, als Fuchs hast du irgendwie Spielzeugcharme, finde ich. Akira hier, habe verstanden.“

„Ich gebe dir gleich Spielzeug. Neulich wolltest du mir nicht mal den Nacken kraulen“, warf sie mir vor. „Kitsune verstanden.“

„Notsignal ändert Intervall. Die Datenbank identifiziert das Intervall als Notsignal höchster Dringlichkeit. Alter des Codes: Dreißigtausend Jahre.“

„Da geht wohl jemandem der Arsch auf Grundeis. Yoshi hat verstanden. Hey, Doitsu, halt uns schön die Tür auf, ja?“

„Ich will sehen was ich tun kann. Aber spielt nicht zu lange. Wenn die Daina wieder in Schwarmlust kommen, wird es hier brenzlig.“

„Optimist.“
 

Das besondere an der KI-Beherrschung war die Befähigung, den eigenen Körper zu kontrollieren, ihn zu verstärken und Grenzen niederzureißen, von denen man nicht einmal geahnt hatte, dass es sie gab. Oder das man sie jemals sehen würde.

Im Moment verstärkte ich die Kraft meiner Muskeln um ein Faktum, das jenseits von Beschreibung und Maß lag. Ich konnte es nicht mit meiner normalen Kraft vergleichen, denn das letzte Mal als ich mich ohne die Verstärkung durch mein kontrolliertes KI bewegt hatte, war ich elf gewesen; aber ich verglich es mit meinen Zuständen, wenn ich das KI gezielt sammelte, fokussierte und benutzte. Im Moment war ich erschöpft durch den Kampf, aber ich trieb mich an. Damit erreichte ich etwa achtzig Prozent meiner maximalen Kraft. Ausgeruht wäre ich wahrscheinlich noch weiter gesprungen.

Ebenso meine Freunde.

KI existierte immer im Körper. Aber es war wie Wärme. Man produzierte KI unbewusst, um leben zu können, aber ein Großteil wurde nutzlos an die Umgebung abgegeben. Doch so wie man Körperwärme mit Kleidung einfangen oder zumindest etwas bremsen konnte, so war es auch möglich das KI an sich zu binden. Es war auch möglich KI zu produzieren, so wie man durch Bewegung mehr Wärme im Körper erzeugte. Und konnte man erst einmal seine übliche Kraft an KI kontrollieren, gelang dies auch mit mehr KI. Es war kein besonders langer Prozess, und es war auch nicht schwer zu erlernen. Aber die Wenigsten wussten davon oder hatten den richtigen Weg gefunden, der zur Beherrschung dieser körpereigenen Kraft führte.

Im Moment erzeugte und bündelte ich KI in einem Maß wie selten zuvor. Na, ich freute mich schon auf das späte Abendessen. Nach solch einer Anstrengung würde ich wieder reinhauen wie ein Scheunendrescher.

Nun, auf diese Art ließen wir die Daina schnell an uns vorbei fallen und schließlich hinter uns, während wir uns der Quelle des Notsignals näherten. Es war definitiv möglich, auf noch nicht Infizierte zu treffen. Vielleicht fanden wir sogar einen Immunen, das wäre für die Liberty-Forschung ein Riesenschritt nach vorne gewesen. Aber ich wollte nicht zu optimistisch sein. Ein paar Hinweise über den inneren Aufbau der kryogenen Anlage reichten mir für den Anfang.

„Ich frage mich“, begann Yoshi neben mir, „wie weit wir noch vordringen können. Ich meine, sieh uns an! Wir springen mit jedem Satz über dreihundert Meter weit! Und ich habe noch Luft, um mit dir zu quatschen. Das ist weit mehr als Menschen eigentlich erreichen sollten.“

„Das ist richtig“, japste Kitsune und sprang auf meine Schulter. „Ihr seid schon sehr weit, aber es gibt noch eine Steigerung, eine ultimative Bewegung, die aber sehr viel KI erfordert. Es dauert Jahrhunderte, sie zu lernen, und nur die talentiertesten erahnen auch nur jemals einen Hauch dieser Technik.“

„Nanu. Schon müde?“, scherzte ich.

„Ich spare nur etwas Kraft, Akira. Wir wissen ja nicht, ob uns da vorne eine Falle erwartet. Du wirst dankbar für eine voll kampffähige Kitsune sein, wenn das der Fall ist.“

„Zugegeben. Und wie heißt diese ultimative Bewegung?“

„Schritt ohne Zeit.“

„Schritt ohne Zeit?“ Argwöhnisch runzelte Yoshi die Stirn.

„Fragt Dai-Kuzo-sama danach. Ich glaube sie ist eine von drei Wesen auf dieser Welt, die den Schritt ohne Zeit beherrschen.“

„Das werden wir. Sobald wir zurückkommen.“

Kitsune blies ärgerlich die Wangen ihrer Fuchsgestalt auf. „FALLS wir zurückkommen.“

„Sei nicht so pessimistisch“, brummte ich als Erwiderung.

„Leute, Ihr seid fast da. Könnt Ihr schon etwas erkennen?“

„Nein, Makoto. Aber wenn wir keinen Pulk halbverrückter Daina sehen, die einen anderen zu Tode hetzen, ist das doch ein gutes Zeichen, oder?“

„Im Zusammenhang mit Infizierten gibt es kein gut, Akira“, tadelte Mako. „Seid vorsichtig. Sehr vorsichtig.“

„Sind wir doch immer.“

„Ja, klar, Yoshi. Wer das glaubt, der zieht sich mit KI auch die Stiefel aus.“

Die Antwort von Yoshi war nicht sehr freundlich. Zudem fragte ich mich, woher er derart detaillierte Kenntnisse in menschlicher Anatomie hatte. Und warum er uns daran teilhaben ließ.

„Ihr Menschen seid komisch“, stellte Kitsune fest und sprang von meiner Schulter. „Und damit meine ich lustig.“
 

„Achthundert Meter vor euch befindet sich der Sender. Könnt Ihr dort etwas erkennen?“

„Mako, das hier ist eine kleine Geröllwüste. Eine Armee könnte sich zwischen den Felsblöcken verstecken. Wir rücken vorsichtig weiter vor.“

Nun, zumindest wäre das mein Plan gewesen, wenn nicht in diesem Moment ein KI-Schlag einen Daina angehoben und in die Luft gerissen hätte – ziemlich genau in der richtigen Richtung und zudem auch noch in der korrekten Entfernung. Dieser Daina war ein Infizierter, die Reißzähne waren ein deutlicher Hinweis. Auch die Tatsache, dass er plötzlich Flügel entwickelte und in der Art eines Falken niederstieß.

„AKARI!“, rief ich und sprang.

„Ja, Meister!“

Ich zog meine Klinge, Akari erfüllte sie mit ihrem KI. Als ich die Waffe zog, erzeugte ich eine Druckwelle, die mit KI angereichert war. Die Druckwelle war nicht stärker als eine Handbreite, aber sie war in der Lage, sogar Stahl zu scheiden. In diesem Fall war es Fels, noch mal Fels und ein wie ein Falke im Sturzflug herabstürzender infizierter Daina. Alle drei Dinge hielten nicht wirklich stand.

Junge, Junge, wer immer dem Daina das fliegen beigebracht hatte, wusste was man mit seinem KI anstellen konnte.

Mit gezogener Klinge stürmte ich voran; Yoshi sprang auf einen nahen Fels und schoss einen ersten Pfeil ab, Kitsune hielt sich an meiner Seite. Während sie lief verwandelte sie sich in einen Menschen zurück.

Als wir den Peilsender erreichten, erstarrte ich. Daina kämpften hier gegeneinander. Daina in den unterschiedlichsten Stufen der Infektion. Zumindest eines konnte ich klar erkennen: EINE Gruppe verteidigte, die ANDERE attackierte. Binnen einer Sekunde wusste ich, wo ich meine Sympathien zu setzen hatte. Ich griff an.

Kitsune blockte einen angreifenden Daina und machte ihm unmissverständlich klar, dass ihre Kräfte für einen durchschnittlichen Infizierten tödlich waren – sie behielt in diesem Fall Recht. Ihr Weg führte sie zum Notsignal.

Als sie erschrocken aufkeuchte, fuhr ich herum. Ironischerweise entging ich so einem vehement geführten Hieb mit einer Klaue.

Kitsune hatte schützend einen Arm um eine Frau gelegt, die deutliche Anzeichen der Infektion zeigte. Mann, auch wenn sie noch bei Sinnen war und gegen die Infizierten kämpfte, jede Sekunde konnte sie ihren Verstand verlieren und genauso besessen sein wie die armen Teufel hier.

Doch ich erkannte die Wahrheit sehr schnell. Kitsune ging es nicht um die Frau. Die schien sich auch nicht primär um sich zu kümmern, sondern um den kleinen Jungen auf ihrem Arm.

„AKIRA!“, blaffte Kitsune.

Sofort ließ ich von meinen Gegnern ab, eilte zu ihr. Yoshis zielsichere Schüsse gaben mir dabei Deckung.

„Immun?“, fragte ich atemlos, als ich auf den armen Burschen herabsah.

„Sie spricht nur Groß-Dai, aber ja, sie vermutet, dass der Junge immun ist. Wir müssen ihn für diese Leute hier raus schaffen“, sagte Kitsune. „Und…“

Die Fuchsdämonin schluckte schwer. „Und wir müssen sie töten, bevor sie sich auch in das da verwandeln.“

Ich erstarrte. Die harte und kalte Realität hatte mich wieder. Zudem begann die Abwehr der halb infizierten Daina zusammenzubrechen. „Kitsune. Nimm ihn.“ Ich nickte der Frau zu. Sie verstand und gab das Kind weiter. „Jetzt lauf.“

Wortlos erhob sie sich und machte einen gewaltigen Satz nach hinten, in Richtung Yoshi.

Ein Infizierter, der ihr folgen wollte, machte die Erfahrung, wie weit ich meine Klinge mit KI dehnen konnte.

Ich lächelte die Frau vor mir an, die immer deutlicher Anzeichen der Infektion zeigte. Sie lächelte zurück, aber ich sah an ihren Zügen, wie sehr sie bereits litt. Was mussten diese Daina auf sich genommen haben, um den Jungen zu beschützen? Zu retten? Wie hatten sie einander gefunden? Wie dazu entschlossen, wenigstens ihn zu beschützen? Welcher Heldenmut war nötig, um so weit gehen zu können?

Sanft nahm ich sie in die Arme. Sie schluchzte an meiner Brust. „VERSCHWINDE, YOSHI!“

„Oh nein, Akira, du willst doch nicht etwa… AKIRA!“

„HAU AB!“

„Okay, bin weg.“

Hinter mir zerbrach die Abwehr. Einige Verteidiger wurden überwältigt, andere verwandelten sich vollends. Die Frau in meiner Umarmung schrie vor Angst und Schmerz, aber sie bewegte sich nicht einen Millimeter.

„Ganz ruhig“, flüsterte ich ihr zu. „Es ist bald vorbei.“

Für einen Moment, einen winzigen Moment sah sie mich an als würde sie meine Sprache verstehen. Sie murmelte ein einziges Wort. Und ich glaubte, es war ein Danke.

Als ich den heißen Atem der Infizierten im Nacken spürte, war es soweit. „Akari!“

„Jawohl, Meister.“ Grelles weißes Licht flammte auf und erfüllte die Umgebung. Zehn Meter, zwanzig Meter, dreißig Meter weit. Und das war erst Stufe eins!
 

4.

Noch immer stand über der Region nahe des kryogenen Trakts die Staubsäule am Himmel, die ich mit meiner Attacke erzeugt hatte. Sie reichte bis zum oberen Rand der Barriere und staute sich dort. Nun, in der ohnehin staubigen Luft war sie in bester Gesellschaft, fand ich.

„Der Kleine steht dir aber gut, Akira“, scherzte Doitsu und versuchte den Jungen dazu zu überreden, eine Tasse mit Milch zu nehmen. Seufzend gab er auf und reichte sie mir.

Aus meiner Hand nahm er sie entgegen. Nun, er hing mir auch schon eine geschlagene Stunde am Hals, da war das wohl das Mindeste.

„Na? Jetzt geht es dir doch sicher gleich besser, oder?“ Ich lächelte, und das Ergebnis war nicht sehr nett. Wieder brach der Junge in Tränen aus, heulte Rotz und Wasser und war kaum zu beruhigen. Wenigstens hatte er die Milch getrunken.

Es war absolut kein Wunder, nach all dem, was er in der Festung der Infizierten gesehen haben musste.

Wie war das wohl? Der einzige Vernünftige in einer Horde Wahnsinniger zu sein? Mit dem Sprichwort über Blinde und Einäugige kam ich hier jedenfalls nicht weiter.

„Akira, gib ihn mir“, sagte Kitsune und gähnte erschöpft.

Er löste sich nur zögerlich von mir, aber genauso schnell hatte er sich Kitsune um den Hals geworfen, als der Abstand klein genug gewesen war.

Irgendwie fühlte ich mich eifersüchtig. So schnell war seine Liebe neu vergeben, was?

„Sein Name ist Laysan. Er ist ohne seine Eltern aufgewacht. Die Daina, die ihn entdeckt, dann versteckt und schließlich beschützt haben, kennt er nicht. Er ist fünf Jahre alt, und ich will mir gar nicht vorstellen, was er alles erlebt hat, seit er vor fünf Tagen aufgetaut wurde.“

„Fünf Tage?“ Yoshi pfiff anerkennend. „Das ist wie der einzige Mensch in einer Horde Zombies zu sein.“

„Du guckst die falschen Filme“, tadelte ich ernst. „Ist er also immun? Und wenn ja, warum ist er immun?“

Kitsune schob Laysan ein wenig höher, damit sie ihn besser halten konnte. „Die Untersuchung der Proben läuft. Selbst wenn er immun ist, kommt er immer noch als Überträger in Frage, wir machen gerade entsprechende Tests.“

„Wie lange werden diese Tests dauern, Kitsune-tono?“, fragte Vater ernst. Er stieß sich von seinem Platz an der Wand ab und kam zu uns herüber.

Mit der Rechten fuhr er Laysan durch die Haare, was dieser mit einem Quieken beantwortete. Merkwürdigerweise klang es erfreut. Er ließ Kitsune zwar nicht los, aber ich sah ihn das erste Mal lächeln. Wenn auch nur kurz.

„Hier kann er jedenfalls nicht bleiben. Dies ist ein Kriegsschiff, und auch außerhalb der Schwarmzeiten kommt es zu Kämpfen. In die Dämonenhaine können wir ihn auch nicht bringen, die Gefahr, dass er ein Überträger ist, ist einfach zu groß.“

Als sich das Schott zur Brücke öffnete, hatte ich das Gefühl, jemand würde mir mit rostigen Nägeln über den Rücken fahren – extra tief und extra langsam. Oh ja, das fühlte sich definitiv nach Ärger an.

„Gib ihn mir bitte, Dai-Kitsune-sama“, erklang die sanfte Mädchenstimme hinter mir. Ich musste mich nicht extra umdrehen um zu wissen, dass der kleine Bengel auch diesem Mädchen um den Hals fiel. „Er mag mich“, stellte sie fest.

Ich wollte hinzufügen, dass ich sie auch mochte, aber irgendwie erschien es mir unpassend.

„Bringen wir ihn in die Menschenwelt“, schlug Megumi vor.

Betreten ließ ich den Kopf hängen. Nicht nur, dass sie es geschafft hatte, jeden einzelnen von uns dazu zu überreden, sie mit in die Dämonenwelt zu nehmen, nicht nur, dass sie äußerlich vollkommen unbeeindruckt von der Schlacht schien, deren Zeugin sie gerade gewesen war. Nicht nur, dass sie noch nie zuvor Dämonen und infizierte Daina gesehen hatte. Nicht nur, dass Laysan auch ihr erster nicht infizierter Daina war… Nein, sie ergriff auch noch Initiative.

„Hm. Guter Vorschlag. Menschen können nicht infiziert werden. Wenn Laysan also immun ist, aber Überträger, können wir die Seuche so beenden. Akira. Du nimmst ihn mit nach Hause.“

„Akira hat überhaupt keine Ahnung, wie man mit einem kleinen Kind umgehen muss!“, widersprach Megumi energisch.

„Es gibt keinen besseren Ort. Er gehört mir und ich vertraue Akira. Und Yohko wird auf ihre Art sicher auch irgendwie hilfreich sein.“

„Ich werde Sakura bitten, ein Auge auf Laysan zu haben“, sagte Makoto. „Immerhin hat sie geholfen, mich, Akira und Yohko groß zu kriegen. Das kann nicht alles nur Glück gewesen sein.“

„Gute Idee. Aber ich werde auch helfen. Er lässt nur mich, Kitsune-sama und Akira an sich heran. Kitsune-sama wird hier bleiben, oder? Laysan braucht eine weibliche Bezugsperson.“

„Weibliche was? Er ist ein Junge! Er braucht, wenn schon, eine männliche Bezugsperson!“, erwiderte ich streng.

„Davon verstehst du nichts. Du bist ein Mann.“

Ich fühlte mich überfahren. Mächtig überfahren. Mindestens mit einem Dreißigtonner. Sie hatte nicht nur meine Argumente davon gewischt, sie hatte es auch noch geschafft, dass ich mich schlecht fühlte, weil ich ihr widersprochen hatte.

„Vorsicht, Akira. Wenn du dich immer so unterbuttern lässt, sehe ich schwarz für deine Zukunft“, raunte Yoshi mir zu.

„Und damit das nicht eintritt“, sagte ich wütend und krallte meine Hand in Yoshis Kleidung, „wirst du bei mir einziehen, Kumpel. Alleine gegen drei Frauen habe ich keine Chance.“

„Laysan spricht nur Groß-Dai“, sagte Kitsune, „aber er lernt schnell. Er sollte in wenigen Tagen ausreichend gut sprechen können, um sich verständlich zu machen. Ich gebe euch aber ein Lexikon mit, damit Ihr wenigstens die wichtigsten Wörter beherrscht, okay?“

Ich nickte knapp. Nichts war peinlicher als Toilette mit Bett zu verwechseln. Sowohl die Wörter als auch die Objekte.

Der Junge sah zu Kitsune herüber und sagte ein paar Worte in seiner fremden melodischen Sprache. Kitsune sah betreten zu Boden. „Er will wissen, wo die Leute sind, die ihm geholfen haben.“

Ein raunen ging durch den Raum. Betreten, nervös und schuldig.

„Kommt mal mit.“ Ich winkte Megumi mit Laysan und Kitsune, mir zu folgen.

Wir traten auf die Kampfplattform am Bug hinaus. Über uns schickte sich gerade die Sonne an, unterzugehen.

„Sag ihm, dass die Staubsäule da hinten eine Treppe ist. Eine Treppe in den Himmel, wo es ihnen jetzt besser geht als in der Anlage.“

Kitsune übersetzte und der Junge stellte eine Gegenfrage.

Sie sah mich an, mit Entsetzen im Blick. „Laysan fragt, ob seine Eltern auch die Treppe in den Himmel genommen haben.“

Megumi schluchzte verräterisch auf, aber sie bewahrte die Fassung. Ami war nicht so stark. Sie vergrub ihr Gesicht in Doitsus Uniform.

„Ja. Das sind sie. Das sind sie alle“, erwiderte ich und lächelte den Jungen an. Eines Tages würde er mich dafür hassen, fürchterlich hassen.

„Er sagt, er will auch in den Himmel zu seinen Eltern.“

Ich lächelte das falscheste Lächeln meines Lebens, fuhr Laysan auf die gleiche Weise durch die Haare wie mein Vater kurz zuvor und sagte: „Später, kleiner Mann. Jetzt musst du erst Mal ins Bett.“

Nun, es wirkte. Es wirkte gut genug, um den Jungen dazu zu bringen, müde gegen Megumis Schulter zu sinken. Er musste ja todmüde sein. Nach allem, was er erlebt hatte.

„Ich bin ein Lügner“, zischte ich wütend.

„Sicher bist du das. Alle Erwachsenen sind Lügner“, sagte Yoshi und legte mir eine Hand auf die Schulter. „Aber das sind wir vor allem deshalb, weil Kinder die Lügen besser verstehen als die Wahrheit.“ Er deutete auf die Staubsäule. „Du hast den Daina, die für Laysan gekämpft haben, ein riesiges Fanal gesetzt.“ Wieder landete seine Hand auf meiner Schulter. „Beachtlich, alter Freund.“

Beachtlich? Ich fühlte mich nicht beachtlich. Ich fühlte mich leer und wollte ein paar sichere Dinge in meinem Leben. Schulalltag und dergleichen. Von Joan als Kuroi Akuma gejagt werden. In der Schule gehasst… Okay, das vielleicht nicht, aber in einer überfüllten U-Bahn mitfahren wäre auch nicht schlecht gewesen. Normale Dinge halt. Vertraute Dinge. Keine Dämonen, infizierte Daina, kein Liberty-Virus und kein verschwundener Kontinent Mu.

Erstaunlich, dass ich mich in meinem Leben nach Langeweile sehnte.

***

Es konnte erstaunlich sein, wie ein Mensch sich auf eine neue Situation umstellen konnte.

Ich konnte mich noch gut daran erinnern, wie Vater und Onkel Jerry zusammen mit Tante Karen und Mutter gekämpft hatten, lange bevor meine Kontrolle überhaupt weit genug fortgeschritten war, um selbst einzugreifen. Das kam erst Jahre später, nach sehr intensivem Training. Aber wir hatten den Generationswechsel geschafft, und der Kampf gegen die Daina war selbstverständlich für mich geworden.

Ebenso verhielt es sich mit dieser Situation. Ich hatte mich sehr schnell an Laysan gewöhnt. Nun, ehrlich gesagt machte es mir Spaß, mich um ihn zu kümmern. Soweit Megumi und Yohko das zuließen, heißt das. Ich hatte ganz schön hart darum kämpfen müssen, dafür verantwortlich sein zu dürfen, ihn zu duschen und ihm die Zähne zu putzen. Ich fand, ein Mann konnte seinen männlichen Stolz gar nicht früh genug entwickeln, und mit fünf Jahren noch von Mutter… Himmel, wann hatte ich angefangen, so zu denken? Es fehlte nicht viel, und ich würde mich selbst in Gedanken als Vater bezeichnen.

Aber auch dieser Gedanke machte mir Spaß, und als ich mit dem auf Hochglanz polierten kleinen Daina wieder aus dem Bad kam, erwarteten ihn drei Paar glänzender Frauenaugen.

Ich stöhnte unterdrückt. Verdammt, Makoto hatte wirklich seiner Schwester Bescheid gesagt.

„Oh, der ist aber süß“, hauchte Sakura und griff nach dem Jungen. Laysan leistete keinen Widerstand, im Gegenteil. Als meine Cousine den kleinen Daina an ihren Brustkorb, besser gesagt, an ihren voll entwickelten Busen drückte, seufzte er und schlief beinahe sofort ein.

Sakura lächelte sanft. „Das erinnert mich an die Zeit, als ich dich noch so halten konnte, Akira. Es ist so lange her… Wo soll er schlafen gehen?“

Megumi hob eine Hand. „Ich dachte, wir rollen ihm einen Futon in meinem Zimmer auf, denn ich habe einen leichten Schlaf und…“

„Und du hast keine Ahnung von Kindern. Das ist kein Tadel, Megumi-chan. Aber er wird bei mir schlafen. Ich nehme mein altes Zimmer, Akira.“

Ich nickte. Was anderes blieb mir auch gar nicht übrig.

„Und wir müssen ein Zimmer für ihn vorbereiten. Er wird nicht ewig brauchen, um sich an uns zu gewöhnen. Und in ein paar Jahren wird er den Freiraum brauchen.“

„In ein paar Jahren?“, fragte ich erstaunt. An diese Möglichkeit hatte ich noch gar nicht gedacht. Ich rief mir ins Gedächtnis, wie ich mit sechs Jahren gewesen war, mit sieben, mit acht oder mit elf. Mir schauderte. Hoffentlich schlug er nicht nach mir.

Langsam legte ich eine Hand an die Stirn. Das war ja wie eine schwere Seuche, eine tödliche Infektion. „Yohko-chan, kannst du den Futon in Sakuras altem Zimmer vorbereiten?“

„Natürlich, O-nii-chan.“

„Ist es recht so? Oder kann ich noch etwas für euch tun?“, fragte ich mit einer gehörigen Portion Sarkasmus in der Stimme.

„Ooooh, du bist mir ja einer, Akira-chan. Keine Sorge, du bist und bleibst Sakura-o-nee-chans absoluter Liebling.“ Sprachs, und brachte meine Frisur durcheinander.

Ärger und Zufriedenheit hielten sich die Waage, weshalb ich nur zustimmend grunzte und im Wohnzimmer verschwand.

Auf der Veranda setzte ich mich und lehnte mich gegen einen Pfosten.

Hm, Yoshi war bereits dabei, einen Teil des Gartens zu seinen Zwecken umzufunktionieren. Er stellte Holzpfähle für sein Morgentraining auf. Das bewies eindeutig, wie lange der Freund zu bleiben gedachte. Und auch der Gedanke gefiel mir.

„Also, Papa, was machen wir jetzt?“, fragte Megumi, als sie sich neben mir hin hockte.

„Na was wohl. Wir warten die Testergebnisse ab… Mama.“

Obwohl sie diese Antwort, genauer gesagt, diese niedliche Bezeichnung erwartet haben musste, wurde Megumi rot.

„Und dann? Selbst wenn sie feststellen, dass er nicht infiziert ist, dass er kein Überträger ist, was dann? Laysan braucht ein Zuhause. Wie viele Daina sind gestorben, um ihm das Leben zu retten? Wir sind ihnen gegenüber in der Pflicht.“

Da hatte sie Recht, schlicht und einfach Recht. Als wir Laysan von den halb infizierten Daina übernommen hatten, hatten wir auch die Pflicht für ihn übernommen. Ich seufzte leise. Vielleicht sollte ich mich an den Namen Papa gewöhnen. Irgendwann würde Laysan mich so nennen. Mich oder Yoshi, oder Eikichi oder Opa Michael…

„Hm“, machte ich in Gedanken. Wenn ich Laysan nun beibrachte, Eikichi Opa zu nennen, dann konnte das lustig werden. Ach nee, eventuell brachte es ihn auf dumme Gedanken, oder noch schlimmer, es gefiel ihm.

„Woran denkst du, Akira?“

„N-nicht so wichtig.“

„So?“ Megumi streckte sich. Es war bereits zwei Uhr morgens, aber wir benahmen uns, als wäre helllichter Tag. Der nächste Tag würde schwer werden, sehr schwer. Eigentlich war es höchste Zeit für uns alle, im Bett zu verschwinden, und wenn ich mir das hübsche Mädchen neben mir ansah, dann musste es nicht unbedingt mein Bett sein und… Himmel, was dachte ich denn da? Und vor allem, warum dachte ich es mit der Begründung, Laysan schlief ja schon? War ich doch für den Liberty-Virus empfänglich und begann er gerade mein Hirn aufzulösen?

Sie gähnte neben mir. „Wenn es nicht wichtig war, gehe ich jetzt schlafen. Das solltest du auch tun, Akira. Es war ein harter Tag für dich.“

„Irgendwie glaube ich nicht daran, dass er schon vorbei ist.“ Nein, der Ärger begann erst. Wir mussten Papiere für Laysan besorgen, Bekleidung, uns um seine Schule kümmern und… Nun, zum ersten Mal war ich dankbar, dass Sakura rüber gekommen war. Sie würde sich um den Schriftkram kümmern. Die Mädchen würden dann mit dem Jungen einkaufen und… Der Arme.

„Ich frage mich, wann wir Laysan ordentlich befragen können. Er hat fünf Tage in der Festung überlebt. Er wird zumindest den Weg kennen, um aus ihr heraus zu kommen. Vielleicht weiß er noch ein wenig mehr.“

„Hm. Denkst du wirklich, das ist die richtige Zeit, an so was zu denken? Außerdem, ist das nicht unfair einem kleinen Jungen gegenüber? Er braucht Liebe, und keine Verhöre.“

„Tadel mich nicht. Ich bin im Krieg, und der Junge ist vielleicht der Schlüssel dafür, ihn endlich zu beenden. Wenn wir verhindern können, dass weitere Daina aufgetaut werden, bricht der Nachschub an Infizierten ab. Und dann rückt das Ende des Krieges in greifbare Nähe. Wenn du das nicht verstehst, ist das in Ordnung. Aber dran hindern kannst du mich nicht.“

Für einen Moment erwartete ich eine saftige Ohrfeige, verbunden mit dem Hinweis, wie unheimlich oder grausam ich doch war. Stattdessen bekam ich einen Kuss auf die Wange. „Ich bin sicher, du wirst nichts tun, was schlecht für Laysan ist“, hauchte sie. „Außerdem verdienst du noch ein Lob für die Geschichte mit der Treppe. Es hat uns allen viel bedeutet, dass er sich beruhigt hat.“

Sie erhob sich, strich ihre Kleidung glatt und gähnte. „Gute Nacht, Kuroi Akuma. Egal wie Joan die Sache sieht, für mich bist du ein Held.“

„Helden sind pathetisch“, erwiderte ich. „Und das trifft wohl auf mich zu, oder? Gute Nacht, Megumi.“
 

Eine halbe Stunde später war Yoshi fertig. Auch er gähnte herzhaft, als er zu mir herüber kam. „Ein langer Tag und eine viel zu kurze Nacht, hm? Du solltest ins Bett gehen.“

„Ich habe auf dich gewartet, alter Freund“, brummte ich statt einer Antwort. Ich sah ihn an. „Wie sehr kann ich dir vertrauen?“

„Nun, wenn es um Frauen geht, nicht einen Millimeter weit. Aber ansonsten so weit wie du Makoto werfen kannst.“

„Das ist ne Menge“, stellte ich fest.

„Ja, nicht?“ Yoshi zwinkerte mir zu.

„Ich habe den Ärger mit Joan, du erinnerst dich?“

„Nur zu gut. Aber so einen Ärger hätte ich auch gerne. Ich meine, hast du sie dir mal angesehen? Sie ist hübsch! Ich meine, sie ist ein Cop, aber sie ist hübsch.“

„Hübsch hin, hübsch her, würde sie sich mit der Erklärung zufrieden geben, dass ich die Welt rette – und zwar nicht auf dem PC?“

„Ähemm!“

„Okay, dass wir die Welt retten.“

„Schon besser, schwarzer Teufel.“

„Ich muss sie irgendwie loswerden. Ich meine, ich will nicht, dass sie aus meinem Leben verschwindet oder so. Aber diese Kuroi Akuma-Sache, die würde ich gerne aus der Welt schaffen.“

„Das ist einfach. Hör auf damit. Ich war schon immer der Meinung, dass… Okay, ich weiß ja, ich weiß. Du spielst damit Lockvogel für KI-Biester. Dann leg dir ne neue Maske zu oder zieh ein Superheldenkostüm an. Oder such dir ein Vorbild aus deinen Mangas. Es gibt da diese Magical Girl-Serie, die du so gerne liest. Wäre das nicht was für dich?“

„Bah! Miniröcke und Ballkleider stehen mir einfach nicht.“

„Gut, wenn die dir nicht zusagen, dann vielleicht der Smoking vom Helden?“

„Die Serie hat einen Helden? Ich kenne nur dieses bedauernswerte Würstchen, das ständig entführt, in Stein verwandelt, dann wieder entführt und letztendlich ein Dutzend mal gerettet werden muss.“

„Aber er trägt einen tollen Smoking, oder?“

„Zugegeben“, erwiderte ich. „Zugegeben. Aber ich hasse den Kummerbund.“

Wir lachten, und es tat gut, richtig gut.

„Morgen ist Emi wieder einsatzfähig, oder?“

„Mako erwähnte etwas in der Richtung, ja.“

„Das heißt, wir könnten morgen die Schwarmzeit schwänzen, oder?“

„Akira, dieser Blick gefällt mir gar nicht. Das bedeutet doch wieder Ärger, Ärger, Ärger. Ich bin dabei.“

„Du wirst es bereuen, alter Freund.“

„Das will ich auch schwer hoffen.“ Yoshi zwinkerte mir zu. „Stell die Welt auf den Kopf, Otomo-Pest.“

„Mehr als sonst schon?“, erwiderte ich, gähnte herzhaft und erhob mich. Ich entschied mich dafür, den Tag für beendet zu erklären.

Morgen würde es lustig genug werden…



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2007-05-30T11:28:34+00:00 30.05.2007 13:28
Ja, und ich kann mich w3ieder mal nur wiederholen. (Tu ich das nicht eh schon die ganze Zeit? XD) PHÄNOMENAL! ULTRAMEGAHAMMERGEILO! Akira als "Vater"? *looooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooooool*


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