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Nicht in Zuckerwattenhausen

von

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Auf Augenhöhe

Als ich erwachte, musste ich erst ein paarmal ins Licht blinzeln. Und realisieren, dass ich nicht zuhause war. Sondern bei David. In seinem Bett. Alleine. Mit all meinen Klamotten an und der Decke um meinem Körper gehüllt.

David war schon aufgestanden. Er saß an seinem Schreibtisch und hatte einen Leitzordner auf dem Schoß, in dem knallbunte Post-its klebten. Das beständige Blättern musste mich aufgeweckt haben. Er knabberte an der Verschlusskappe eines Textmarkers herum.

„Morgen“, meldete ich mich zu Wort und streckte verschlafen die Glieder. „Gut geschlafen?“

„Mhh“, brummte er ohne aufzusehen.

„Seit wann lernst du denn schon?“

Jetzt drehte er sich endlich zu mir um. „Schon länger. Ich bin mit Kopfschmerzen aufgewacht und konnte nicht mehr einschlafen. Und du hast mir die Decke geklaut.“

„Du wachst mit Kopfschmerzen auf und fängst an zu lernen?“ Ich schlug mir mit der flachen Hand auf die Stirn. „Du lernst dich noch kaputt! Komm ins Bett zurück…“

„Nein, ich kann einfach nicht mehr ins Bett, wenn ich schon angezogen und am Lernen bin.“

Dann kam ich eben zu ihm. Ich krabbelte aus dem Bett, strich mir die Klamotten glatt, schlüpfte in meine Schuhe.

„Musst du nicht in die Uni?“

„Später erst.“

„Wie viele Kurse hast du eigentlich belegt?“ Ich ging auf ihn zu, auf seinen Wischmopp von Haaren, legte die Finger in die faszinierenden Locken. Und er ließ es sich gefallen – viel konnte ich eh nicht kaputtmachen. Sooo weich waren die. Das war zu putzig zu beobachten, wie die Ohren von meinem Liebsten den Farbton roter Paprika annahmen – ob ihm das eigentlich bewusst war?

„Die Pflichtmodule, das sind vier, und dazu alle Kurse, die ich kriegen konnte, auch den Althebräisch-Sprachkurs. Ich finde es sehr schwer, aber ich werde mich da durchbeißen! Da sind echt nette Leute drin, da habe ich Glück gehabt, die meiste Zeit verbringe ich mit Jochen, Claudia und Sylvie…“

Aus der offenen Schachtel auf dem Tisch mopste ich mir einen Traubenzucker. „Wozu braucht man denn Althebräisch?“

„Na, um die Bibel im Original lesen zu können. Weißt du, wie viele Übersetzungen es gibt?“ Und David seufzte. „Mir stehen demnächst zwei Klausuren ins Haus.“

„Das packst du. Wer, wenn nicht du.“ Ich küsste meinem fleißigen Freund auf die Haare, erhaschte dabei einen Blick auf seinen Ordner. Am Rand standen Notizen von ihm in sehr sauberer, ordentlicher Schrift. Mir knurrte der Magen.

„Hast du schon gefrühstückt?“

„Nein, ich wollte auf dich warten.“

„Okay. Ich gehe schnell ins Bad. Hast du noch eine Zahnbürste für mich?“

„Oben im Schrank.“
 

Mich beschlich schon wieder das Gefühl, dass er mich heute nicht an der Backe haben wollte. Denn sein Blick galt nicht mir, sondern dem Buch vor ihm auf dem Frühstückstisch. Mein Blick schweifte zu der Zutatenliste auf der Verpackung seines Biomüslis mit Amaranth. Er konsumierte extrem viele Bio-Produkte, aber mit seinem Nebenjob saß er ja direkt an der Quelle.

„Was liest du?“

„Literatur, die wir für Philosophische Propädeutik brauchen.“

„Aha. Und genauer?“

„Wir werden halt in philosophisches Denken und in die Philosophie der Religion eingeführt.“

„Erzähl mir doch was von deinem Studium. Wie ist es so?“

„Als ob dich das interessiert.“

„Doch. Ich will das wissen, es hat schließlich mit dir zu tun. Wieso wolltest du das überhaupt studieren?“

David schien extra lange herumzukauen, bevor er antwortete. Mit einem leisen Klirren legte er den Löffel ab.

„Meine Familie geht regelmäßig in der Kirche, und ich war von klein auf begeistert von der Atmosphäre dieses alten Ortes, den Traditionen und den Bräuchen, so dass ich unbedingt Messdiener werden wollte. Und unser alter Gemeindepfarrer war mein Vorbild. Mit zwölf hab ich gewusst, dass ich Priester werden will. Es liegt vielleicht auch in der Familie...“

Mir schnellten die Augenbrauen in die Höhe. „In der Familie?“

David lachte. „Ja. Mein Vater ist Religionslehrer – er hat von Pfarramt zu Lehramt gewechselt, als er meine Mutter kennengelernt hat. In unserer Gemeinde leitet sie heute den Kirchenchor... Und Noah, mein Bruder, hat ebenfalls Theologie studiert und ist jetzt Priester.“

Mir war der Kiefer fast auf die Tischplatte gefallen bei dieser Aufzählung. „Du hast mir das noch nie erzählt.“

Dazu zuckte er nur die Achseln. „Du hast nie gefragt. Wir haben uns irgendwie immer nur über unwichtige Dinge unterhalten, wenn ich so darüber nachdenke.“

Ich nickte, er hatte Recht. Aber auch diese unwichtigen Dinge hatten dazu geführt, dass ich ihn interessant fand.

„Und was genau lernt man in diesem Studium? Sich Bestätigung von Professoren holen, dass das, was in der Bibel steht, das einzig Wahre ist?“ Etwas Provokation lag schon in meiner Frage, zugegeben.

David antwortete mir trotzdem. „Gerade deswegen ja nicht, für wen hältst du mich denn? So krass bin ich auch wieder nicht drauf. Der Glaube ist nicht mal Zugangsvoraussetzung, wir haben sogar welche, die sich als Atheisten definieren.“

„Kann ich beim besten Willen nicht nachvollziehen“, sagte ich leise.

„Das erste Semester ist für mich auch ziemlich desillusionierend, einfach weil ich es mir anders vorgestellt habe. Aber gleichzeitig wahnsinnig spannend. Es geht viel ums Hinterfragen. Widerspricht die Vernunft dem Glauben oder ist es einfach so, dass Glaube irrational ist und gar nicht begründet werden muss? Das ist die Frage in einem Modul. Das was wir in der Schule im Religionsunterricht gemacht haben, damit kann man es überhaupt nicht vergleichen! He, wir haben uns in einen Kreis gestellt und uns Bälle aus Luft zugeworfen!“

Ich konnte nicht mal genau sagen, wann sich mein Glaube an Gott verflüchtigt hatte. Bei meiner Firmung aber war ich schon lange nicht mehr gläubig. Einzig meiner Mutter zuliebe hatte ich teilgenommen.

Er füllte sich Orangensaft nach, und während ich auf meine dritte Scheibe Brot noch mal einen Löffel von der grauen aber leckeren Erdbeer-Kiwi-Marmelade klatschte, erzählte er mir mehr über den Inhalt seiner einzelnen Module und seine Dozenten. Deutlich hörte ich seine Begeisterung heraus.

„Ich glaube dir gern, dass dein Studium interessant ist, weil du dich mit Sachverhalten auseinander setzt, die dich interessieren. Aber danach? In einer Kirche Gottesdienst halten, wirklich?“

„Die Kirchen, das weißt du jetzt nicht, weil du selten rein gehst, werden nicht mehr so rege besucht, was wirklich schade ist. Aber nicht nur das, an Priester-Nachwuchs mangelt es auch, die suchen händeringend Leute, man sieht es auch in den Kursen, sie sind jedenfalls nicht überfüllt.“

David kapierte nicht, was ich an ‚Priester-Nachwuchs‘ so komisch fand.

Ich zuckte die Achseln. „Der Beruf Pfarrer wird nicht aussterben. Trotz, dass sich die Kirche in den letzten Jahren nicht unbedingt mit Ruhm bekleckert hat.“

„Das heißt, ich komme später auf jeden Fall unter.“ Ihm war der Sarkasmus in meiner Stimme komplett entgangen.

„Und hältst Gottesdienst?“

„Es ist viel mehr als nur Gottesdienst. Ich bin für meine Gemeinde da, kann mit ihnen den Glauben leben, Bräuche zelebrieren, Taufen, Kommunion, Hochzeiten… bin Seelsorger und helfe Menschen in Krisen. Das ist doch der schönste Beruf, den es gibt!“

Ja. Wenn es nicht diesen klitzekleinen Nachteil dabei gäbe… Diese ganzen strengen Dogmen. Das Zölibat. Homosexuelle, die ihnen ein Dorn im Auge waren, noch mehr als den Fußballvereinen… Ich sah in seine Augen, in denen die Begeisterung loderte, sah wie er darauf brannte, bald diesen Beruf ausüben zu dürfen und darin die Erfüllung zu finden, und sagte nichts dazu. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in mir aus. Und zwar nicht vom Neid, dass er seine Profession gefunden hatte und ich dagegen noch nicht. „Das ist nicht nur ein Beruf, sondern eine Berufung“, schloss er und trank den Saft ganz aus.

Er stand mit seinem Besteck auf, begleitet von einem quietschenden Geräusch des Stuhles auf dem Boden. In die winzige Spüle auf der Küchennische ließ er Wasser ein.

„Da gibt es doch in der Bibel solche Zitate wie – ich zitiere mal ganz frei: Als Mann sollst du nicht bei einem anderen Mann liegen wie bei einer Frau, das wäre eine Schande. Ist das auch nur eine Fehlübersetzung?“ Mein Geschirr gab ich ebenfalls ins Wasser, strich über seine Arme. Am liebsten würde ich den ganzen Tag bei ihm bleiben; ich Trottel hatte einfach zu lange geschlafen, sonst hätten wir mehr Zeit miteinander gehabt.

„Das dritte Buch Mose. Natürlich kenne ich diesen Absatz“, sagte er mit schneidender Stimme und drehte sich um. „Die Bibel lässt sich nicht nur auf eine einzige Art interpretieren. Im Großen und Ganzen aber, ist sie ein guter Leitfaden für alle Fragen im Leben.“

„Hmm“, meinte ich nur. Dieses Thema war kein Terrain, das wir heute betreten sollten, sagte mir mein Gefühl. Seine Augen ruhten auf mir – und ich fragte mich, was ihm so alles durch den Kopf ging, wenn er mich anschaute; wie er mich sah; wie er wirklich von mir dachte.

„Irgendwie… ist es so ungewohnt“, flüsterte er. „So, als wärst du plötzlich ein ganz anderer Mensch, und der Dominique, den ich kenne, der gute Freund, weit fort. Das denke ich jedes Mal, wenn ich dich küsse.“

„So ein Schwachsinn“, sagte ich, kam dabei seinem Gesicht näher. „Ich bin immer noch Dominique Vogel, und du bist immer noch David Zimmermann. Das einzige was sich verändert hat, ist, dass du zum Kumpel noch einen Lover dazugewonnen hast. Küss mich schon. Na los.“

Eine nasse Hand an meiner Wange, die andere auf meiner Schulter abgelegt, kam er meiner Forderung nach. Ein kleines Miniküsschen.

„Kannst du doch besser!“, ermutigte ich ihn. Der zweite Kuss war schon etwas länger.

„Was?“, fragte ich nach, als er lautlos in sich hinein kicherte wie so oft.

„Ich brauche mich nicht mehr herunter zu beugen beim Küssen. Es ist auf Augenhöhe…“

Weil mir ein langer Arbeitstag bevorstand, an dem ich seine Anwesenheit schmerzlich vermissen würde, zog ich ihn in meine Arme und hielt ihn eine Weile so fest. Quasi als emotionale Wegzehrung.

„Ich bin so froh, dass ich dich habe“, murmelte ich, die Augen geschlossen und die Wange an seine Schulter gelehnt. David erwiderte stumm die Umarmung.

„Aber jetzt muss ich los“, sagte ich, als wir uns wieder voneinander lösten. „Glaub mir, viel lieber würde ich mit dir den ganzen Tag bei dir bleiben. Sehen wir uns morgen?“

„Da muss ich in die Bibliothek. Und Samstag arbeite ich im Naturkostladen“, gab David zur Antwort.

„Ich habe auch abends Zeit“, entgegnete ich.

„Dominique...“

„Was hast du denn so wichtiges vor?“

„Ich will es einfach nur langsam angehen lassen, mit uns, das ist alles.“

„Langsam?“ Ich grinste verschmitzt, er war einfach zu süß. „Okay. Je seltener wir uns sehen, desto mehr Sehnsucht hab ich nach dir.“

Meine Jacke nahm ich, dann ging ich zur Tür. Oben an der Wand war eine hölzerne Madonna befestigt, mit einem Rosenkranz. David folgte meinem Blick.

„Mein Opa hat sie selbst geschnitzt… Erst wollte ich sie nicht aufhängen, aber dann…“ Er zuckte die Schultern.

Das seltsame Gefühl, beobachtet zu werden, beschlich mich. Was natürlich vollkommener Quatsch war. Das war bloß mein schlechtes Gewissen.
 

~
 

Frau Bach war gestorben. Unsere Orchideenliebhaberin. Herzversagen, heute Nacht. Schade, dachte ich, während ich mit einem Eimer voll Desinfektionslösung auf der Suche nach Fatima war, der ich die Aufgabe delegieren sollte, die Bettgestelle in Hannelores Zimmer zu desinfizieren. Sie war mir so sympathisch gewesen wie keine andere Bewohnerin. An meinem allerersten Tag wurde ich von der Heimleitung vor dem Schwesternzimmer abgesetzt und sollte auf meinen Teamleiter warten.

Es war das erste Mal, dass ich ein Altenheim von innen sah; ja, dass ich überhaupt so viele alte Leute auf einem Fleck sah. Vorher waren sie in meinem Leben total unterrepräsentiert. Pflegerinnen schoben alte Leute in Rollstühlen durch die Gänge und grüßten im Vorbeigehen. Doch nach Lächeln war mir nicht zumute, ich sah nur das Elend, den Tod, und die Frage kreiste in meinem Kopf: Wollte ich jemals so alt werden, und wie war das dann? Ich hatte keinerlei Zugang zu alten Menschen gehabt, wusste nicht, wie sie lebten, dachten und fühlten, kannte sie nur vom Beobachten aus sicherer Distanz heraus. Und hatte den Eindruck, dass sie in ihrem eigenen Leben schon gar nicht mehr die Hauptrolle spielten.

Wie in einem Gefängnis war ich mir vorgekommen und fragte mich, wie ich hier ein Jahr aushalten sollte, ohne durchzudrehen und bereute, mich überhaupt beworben zu haben.

Tonnenschwer lag mir der Ekel und die Abneigung auf den Schultern und hatten mich daran gehindert, einfach abzuhauen an die frische Luft.

Dann sprach ein leises Stimmchen hinter mir. Frau Bach kam mit ihren Rollator aus ihrer Tür – vor einem halben Jahr war ihr das noch möglich gewesen – mit ihrer Bitte, ob ich ihr die Strickjacke zuknöpfen könnte, weil ihre Finger nicht mehr so wollten.

Was tun? Der alten Frau sagen, dass ich noch nicht mal meinen Vertrag unterschrieben hatte und bis dahin keinen Finger rühren würde? Das konnte ich einfach nicht übers Herz bringen!

„Sie sind der Neue?“, erkundigte sie sich, vermutlich, weil ich mich so unbeholfen dabei anstellte, ihre großen Knöpfe durch die Knopflöcher zu zwängen. Ich bejahte, ohne ein herzerweichendes Seufzen zu unterdrücken.

„Wenn Sie mich nicht beißen, beiße ich auch nicht“. Die Menschen merkten, ob jemand wirklich an ihnen interessiert war – an dem Menschen hinter den Falten – oder nur stur seine Pflichten erledigte.
 

Fatima kam gerade aus der Toilette und ich passte sie genau ab. Ich rief ihren Namen und hielt ihr den Eimer hin.

„Was?“, fragte sie und beäugte mich skeptisch.

„Du sollst die Schränke und das Bettgestell in Frau Bachs Zimmer desinfizieren und das Bett frisch beziehen.“

„Ich?!“ Sie funkelte mich böse an. „Wieso macht das nicht die Putzfrau?!“

„Weil das deine Aufgabe ist.“ Ich hielt ihr immer noch den Eimer hin.

„Leck mich! Ich bin gerade eben vollgekotzt worden! Siehst du das?“ Sie deutete auf einen riesigen Wasserfleck auf ihrem Hosenbein. „Ich gehe mich jetzt umziehen, und dann eine rauchen. Ihr könnt mich alle mal!“

Sie schob mich wutentbrannt zur Seite, dass etwas Wasser aus dem Eimer schwappte.

„Was ist denn mit dir los!“, rief ich ihr hinterher, doch sie drehte sich nicht mehr um. Unglaublich. Sturer als Désirée. Nur dass Désirée manche Arbeiten zwar hasste, aber trotzdem erledigte. Sollte Fatima doch tun, was sie für richtig hielt. Mein Problem war das wirklich nicht, wenn sie ein schlechtes Zeugnis bekam oder sogar gefeuert wurde. Den Eimer stellte ich vor der Tür ab. Ich würde ganz sicher nicht ihre Arbeit erledigen, ich hatte selbst genug zu tun. Aber vielleicht kam sie ja noch zu Verstand, nach ihrer Beruhigungszigarette.
 

Schneller als gedacht, flog die Zeit und ich fand mich kurz vor Feierabend im Badezimmer mit Winfried Schwarzer wieder, den ich für die Nacht fertig machte. Wir waren ganz alleine hier im Bad, wie jeden Abend, wenn ich ihm beim Waschen und Rasieren half und dann ins Bett brachte.

„Sie haben mir noch nie was über ihren Sohn erzählt, Herr Schwarzer.“

Der Mann saß im Rollstuhl vor dem Spiegel und starrte Löcher in den Spiegel, mit den gleichen eisgrauen Augen, wie sie Sandro hatte.

Winfried Schwarzer schwieg eisern weiter. Hoffentlich hatte er wenigstens ein erfülltes Leben gehabt, bevor er zu uns gekommen war. Aber heute schien es mir, als hätte er einen seiner besseren Tage.

„Am Montag hat er Sie besucht.“

Ich fragte mich, wie er wohl Sandros Coming-Out aufgenommen hatte. Wie jemand, den es mit Stolz erfüllte, dass sein Sohn schwul war, wirkte er nicht auf mich. Aber schließlich hatten sie noch Kontakt, das hieß wohl, dass er es akzeptiert hatte?

„Hat er eigentlich das Talent fürs Gitarrespielen von Ihnen geerbt? Gestern habe ich ihn live gesehen! Er ist mit seiner Band in einem Club aufgetreten“, sagte ich im Plauderton.

Jetzt zeigte sich zum ersten Mal eine Regung in seinem Gesicht. Er blickte mich direkt an, formte den Mund zu Worten, die er aber nicht aussprach. Er schnappte nach Luft wie ein Fisch an Land, krächzte und verfiel in einen Hustenfall.

„Herr Schwarzer!“, rief ich bestürzt und klopfte ihm auf den Rücken.

„Soll sich eine gescheite Arbeit suchen!“, würgte er heraus. Den ersten Satz, den er mit mir sprach! Ich war etwas baff aber irgendwie auch stolz. „Wie du! Das ist nichts für einen Mann!“ Nun. Wenigstens sprach er überhaupt mal mit mir. Wir hatten das Eis gebrochen!

Als ich ihm danach ins Bett half, fiel mir ein Glitzern auf dem Fußboden auf.

Bei näherer Betrachtung stellte ich fest, dass es die Aluminiumverpackung von Karamell-Kaubonbons war. Winfried war aber Diabetiker!

Ich fragte ihn, woher er das hatte. Doch für heute schien er sein Quantum an Worten aufgebraucht zu haben und gab mir keine Antwort.

Dann kam mir ein schleichender Verdacht… ich sah Sandro vor mir, wie ich ihn das allererste Mal im Altenheim gesehen hatte, dass er mir dick vorgekommen war, obwohl er das überhaupt nicht war… Einem Impuls folgend, öffnete ich die Nachttischschublade.

Diese Schublade quoll über mit genau den gleichen bunten Papierchen! Eine wahre Goldgrube aus Fressalien, und ich fand unter dem Müllberg kein einziges noch volles. Eine Schimpftirade ausstoßend, stopfte ich alles in meine Kitteltaschen und würde es dann irgendwie verschwinden lassen, denn ich wollte nicht, dass er Ärger bekam.

„Ich hoffe, das war alles! Mit Sandro hab ich mal ein Hühnchen zu rupfen!“
 

Als ich später das Zeug entsorgt hatte und in Richtung der Umkleide ging, rauschte Fatima an mir vorbei.

„Boah, endlich Feierabend, ich dachte schon der Tag geht nie rum! Ich will einfach nur nach Hause! Heute holt mich übrigens mein Cousin Faruk ab!“ Ihre Schwalbenschwänzchen aus Kajal waren verschmiert, fiel mir auf.

„Hast du in Frau Bachs Zimmer…“

„Ja, hab ich“, fiel sie mir ins Wort. „Du Streber. Weißt du, was ich heute den restlichen Tag gemacht hab? Wäsche sortiert und Windeln aufgefüllt! Ach ja, und die Kloliste geführt.“

„Tja… dann rede doch mal mit…“

„Mit Raffaelo?! Der ist ein Arsch!“

So nannte sie Eckhart, unseren Teamleiter, wenn sie mit mir alleine war. Seinen Kaffee pflegte er aus seiner ICH-BOSS-DU-NIX-Tasse zu trinken. Sein rundliches Äußeres und seine vielen Schuppen hatten sie auf diesen Spitznamen gebracht.

„Ja, er ist eine etwas schwierige Persönlichkeit…Aber es geht schließlich um dich, es ist doch deine Ausbildung, die du dir versaust. Deine Zukunft!“

„Du redest wie meine Mutter!“, stöhnte sie genervt. „Wie ist es eigentlich mit dem hübschen Blonden ausgegangen?“

Für eine Sekunde verlor ich den Faden. „Was?“

„Na…“ Sie zeigte ihr schelmisches Lächeln und rückte ein bisschen näher an mich heran. „Hast du ihn angesprochen, hast du seine Nummer? Wie heißt er? Wo wohnt er? Ist er auch schwul?“

„Schhh“, zischte ich und schaute mich hastig um, ob auch keiner das Gespräch mitbekam. „Das ist mir alles egal, mit dem will ich nichts zu tun haben. Lenk jetzt nicht ab.“

Fatima streckte sich, um aus dem Fenster zu sehen. „Oh, da ist er ja schon! Tja. Selber schuld, wenn du dir diese blonde Sahneschnitte durch die Lappen gehen lässt, ich habe gesehen, wie er dich angeschaut hat. Bis Morgen!“ Dann eilte sie in Richtung Ausgang, und ihre Stiefelabsätze hallten laut durch den Gang.

Ich schaute ebenfalls heraus. Unten vor dem Eingang stand ein junger, schlanker Mann, der in sein Smartphone vertieft war. Viel konnte ich allerdings nicht von ihm erkennen, seine Mütze versteckte zu viel.
 

~
 

„Hey, Alter. Alles fit?“, begrüßte mich Mik am Telefon, als ich in der Bahn nach Hause saß und aus dem Fenster starrte. Ich hatte einen Bärenhunger. Erst würde ich mir eine schnelle Brotzeit bereiten, dann fernsehen und vor dem Schlafen David anrufen.

„Bin müde. Was gibt’s?“

„Ich wollte mal fragen, was gestern war? Weißt du, wie es ausgegangen ist mit David und der Rothaarigen? Weil er hält sich ziemlich bedeckt.“

„Hör zu, Mik, er hat ihr gesagt, dass er null Interesse hat, und ist dann heim. Und er will in Zukunft keine Verkupplungsdinger mehr von dir, ist aber zu höflich, dir das klipp und klar zu sagen. Deswegen sage ich es dir jetzt.“

„Ich hab es ja nur gut gemeint…“, brummte Mik beleidigt.

„Ich weiß. Aber hör auf mich und lass es bleiben!“

Schweigen.

„Hat David nicht genau das gleiche bei dir versucht? Dich mit einer Kommilitonin von ihm zu verkuppeln?“

Scharf sog ich die Luft ein und versuchte meinen Zorn zu bändigen. Ich hatte überhaupt keine Lust mehr, mit dieser beschissenen Lüge weiterzumachen!

„Reit jetzt nicht bis in alle Ewigkeiten darauf rum, kapiert! Es war eh nicht so, wie du denkst!“

„Okay, Chef“, sagte Mik etwas eingeschüchtert von meinem Ton. „Ach ja, Dome? David hat doch bald Geburtstag…“

„Ja. Ich überlege schon die ganze Zeit, was ich ihm schenke...“

„Ich weiß nicht mal, ob er überhaupt feiert. Aber was er sich wünscht, das weiß ich! In Skype habe ich ihm das mal in aus der Nase gezogen – halt dich fest: Er würde gerne einmal in einem Heißluftballon mitfliegen! Aber er ahnt nicht mal, dass ich wirklich vorhabe, ihm so einen Gutschein zu schenken, hehe!“

„Oha“, machte ich. „Heißluftballon…Das ist krass.“ Und das passte total zu Mik und seinen verrückten Ideen.

„Also, willst du dich daran beteiligen?“

„Lass mal. Ich will ihm selbst was schenken.“
 

Zwei Stunden später hatte ich David an der Strippe. Er hatte mir von seinem Tag erzählt, mich gefragt, wie mein Tag gewesen war und ich hatte mir über Fatima Luft gemacht.

„Ist natürlich nicht schön“, sagte er, nachdem er alles angehört hatte, „aber ich verstehe auch, dass es für sie nicht gerade einfach ist. So viele Jahre die Schulbank drücken, und dann muss sie von jetzt auf morgen in einem Pflegeberuf mit anpacken. Und dann gibst du ihr auch noch einen auf den Deckel. Das arme Mädchen!“

„David…“, sagte ich leicht angesäuert, „Das arme Mädchen hat sich diesen Beruf doch selbst ausgesucht! Wieso stehst du eigentlich immer auf der Seite der Frauen? Neulich hat dir eine Wasser ins Gesicht geschüttet!“

„Limo war das, nicht Wasser! Und ich tu das gar nicht pauschal. Ich versuche bloß, mich in die Lage von anderen hineinzuversetzen.“

„Willst du mir jetzt unterstellen, dass ich das nicht könnte?“

„Natürlich nicht“, sagte er, immer noch geduldig, „aber ich mag es einfach nicht, wenn man andere Menschen so leicht abfrühstückt und in Schubladen steckt, bloß weil man einen ersten Eindruck von ihnen gewonnen hat. So entstehen Vorurteile. Und dadurch Mobbing. Und das ist alles andere als ein Miteinander! Glaub mir, ich weiß, wie es ist, in den Pausen alleine rumzustehen.“

Ich schluckte. „Das wusste ich nicht…Warum haben sie dich denn ausgegrenzt?“

„Man ist halt nicht der Coolste, wenn man Messdiener ist… Vielleicht waren es auch meine Klamotten, was weiß ich. Die finden doch immer irgendwas.“

„Ja. Aber das Wichtigste, du hast dich trotzdem nicht von deinem Weg abbringen lassen…wow…du hast an deinen Zielen festgehalten und bist gegen den Strom geschwommen, das finde ich echt cool.“

„Findest du?“

„Ja.“ War es der Gegensatz zu mir, weshalb ich mich zu ihm hingezogen fühlte? Weil er von der Richtigkeit seines Glaubens überzeugt war, egal was alle anderen sagten? Wer wollte schon Schlappschwänze und Mitläufer.

Ich unterdrückte nur mit Mühe und Not ein Gähnen. „Morgen backen wir Apfelkuchen mit den Bewohnern. Ich denk an dich, wenn du dir den Hintern in der Bibliothek platt sitzt.“

„Ich wünsche euch viel Spaß.“ Auf meine Neckerei ging er nicht ein.

„Moment, David. Wie feierst du deinen Geburtstag, der ist ja bald?“

„Ich habe bis jetzt nichts geplant…er fällt auf einen Samstag, und einen Tag vorher schreibe ich die letzte Prüfung in diesem Semester...Hmm…Mach bloß nichts Verrücktes, ich sag es dir.“

„Nein, nein. Keine Sorge“, versprach ich. Ich bestimmt nicht. „Ich gehe jetzt auch ins Bett. Tschüss.“

„Tschüss. Und schlaf gut.“



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