Zum Inhalt der Seite

Nicht in Zuckerwattenhausen

von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Und wenn doch

Es war halb acht an einem Samstagabend, und ich stand alleine in der Küche an der Spüle und kratzte die Überreste der Bratkartoffeln von der Pfanne. Das war, wie fast immer, in meinen Aufgabenbereich gefallen. Während meine Schwester, mit der ich in dieser Altbauwohnung lebte, sich an ihren Schreibtisch verkrümelt hatte.

Was mich noch halbwegs aufmunterte, war die Musik aus dem CD-Player, die mich auf Party einstimmte und die Vorfreude darüber, dass ich heute seit langem wieder auf die Piste gehen würde. Mich abchecken lassen, den ein oder anderen Drink abstauben, und mit viel Glück hatte ich Mister Right an der Angel. Trotz knackigen neunzehn Jahren war der gewünschte Erfolg bisher ausgeblieben.

Vielleicht, weil mein persönlicher Mister Right bereits existierte, in greifbarer Nähe sogar. Er hieß David, war ein guter Freund, nicht so oberflächlich wie die meisten in unserem Alter, und sah verdammt süß aus, was seine Freundin bestätigen würde. Der Kerl studierte noch dazu Katholische Theologie, und zwar auf Pfarramt. Meine Chance war gleich Null.

Und das frustrierte Grübeln darüber hatte mich eine Sekunde lang abgelenkt und so waren die Bratkartoffeln überhaupt erst angebrannt. Nun, zumindest war die Pfanne jetzt wieder sauber.

„Dominique, kommst du mal kurz?“, rief meine Schwester Désirée aus dem Wohnzimmer, ihrem Arbeitszimmer. Was waren unsere Eltern mit ihrem Frankreich-Faible bei der Namenswahl kreativ gewesen – wobei sie das bessere Los gezogen hatte: Ihrer wurde nicht dauernd mit einem Mädchennamen verwechselt.

„Moment“, brummte ich, legte die Pfanne beiseite und trocknete die Hände an einem Geschirrtuch ab. Im Flur kam ich am bodenlangen Wandspiegel vorbei. Beziehungsweise, ich kam dort eben nicht vorbei, ohne einen kritischen Blick hineinzuwerfen und meine hellbraunen Haare beiseite zu streichen. Ich wollte sie wachsen lassen, bis ich sie zusammen binden konnte, das stellte ich mir ziemlich cool vor. Meine eigenen Augen starrten mich selbstmitleidig an, eine Farbe, die man am schmeichelhaftesten als erbsensuppengrün definieren konnte.

Was mir noch weniger gefiel, war dass das letzte Weihnachtsfest leichte Spuren um meine Hüften herum hinterlassen hatte. Oh Gott, diese Wampe... Entweder ich musste wirklich mal mit regelmäßigem Sport beginnen, oder mir meine Klamotten eine Nummer größer kaufen. Zwei Möglichkeiten, von denen mir eine schlimmer als die andere erschien.

Ich stieß die Tür auf. „Was gibt’s?“

Sie rotierte in ihrem Chefsessel, auf dem sie mit überschlagenen Beinen saß. Einige Ordner lagen auf ihrem Schreibtisch gestapelt; sie hatte wieder ordentlich Arbeit mit nach Hause genommen. „Mann, bis du dich mal her bequemst…“ Sie verschränkte die Arme hinter dem Kopf, zog ihre eine Braue so hoch, dass sie bis über den Rand ihrer Streberbrille ragte und nickte in Richtung ihres Tintenstrahldruckers auf dem Regal.

„Also. Er zeigt immer eine Meldung an, dass die Magenta-Patrone alle ist.“

„Und hast du die schon gewechselt?“

„Müsste ich erst kaufen. Aber ich will sowieso nur schwarz drucken.“

„Was willst du an einem Samstagabend überhaupt ausdrucken?“

„Na, den Kram fürs Qualitätsmanagement, der bis Montag zur Post muss… Oh, verdammt, ich krieg die Krise!“ Sie rammte ihre Ellbogen auf den Tisch und vergrub das Gesicht in den Händen.

„Das kriegen wir schon hin…“ Ich schnappte mir die Maus und klickte in den Druckeinstellungen irgendwas an. Doch als wir einen Probeausdruck wagten, meckerte der Drucker immer noch, anstatt seinen Dienst zu tun.

„Ja super. Was kannst du überhaupt?! Verpiss dich einfach!“

„Kein Problem. Habe sowieso noch was zu tun.“

Wenn sie nicht gerade technische Probleme hatte, ließ es sich bei meiner sieben Jahre älteren Schwester fast so gut leben wie in einer WG. Es kümmerte sie nicht, wenn ich abends länger wegblieb oder gar woanders übernachtete, aber auch nicht, wenn ich morgens verschlief. Dafür kümmerte sie sich um die Rechnungen und Papierkram, während ich mich einem Großteil der Hausarbeit widmen durfte und Reparaturen, soweit es mir möglich war. Verquere Rollen im Hause Vogel – nicht, dass ich nicht gerne kochen würde, aber sie nutzte mein Talent dafür total aus. Was hatte ihr Ex bloß mit ihr angestellt, dass sie sich zum totalen Koch-Muffel entwickelt hatte?!

Ich beschloss, zu duschen, mich umzuziehen und nochmal die eine eBay-Auktion zu checken. Schließlich besaß ich kein Handy, mit dem man surfen konnte. Skype öffnete sich automatisch beim Hochfahren und David war online.

„Hi“ schrieb er. „Hast du gerade Zeit?“

„Worum geht es?“, schrieb ich zurück.

„Naja…“

„Mit mir kannst du über alles reden.“

Ich rechnete schon fest damit, dass er mich anrief, doch dann stand da plötzlich:

„Mit Marie ist Schluss. Gerade ist sie heimgefahren.“

Schluss?! Ernsthaft? Das änderte einfach alles! Solange es kein makabrer Scherz war. Aber wieso sollte er über so etwas Witze machen?

„Wer von euch hat Schluss gemacht?“

„Ich.“

„Magst du erzählen?“

Dann kam längere Zeit nichts mehr von ihm. Ich wollte erst schreiben, dass ich es gut fand, dass er es getan hatte. Weil sie ihn gar nicht verdient hatte. Das wusste ich einfach. Obwohl ich an einer Hand abzählen konnte, wie oft ich ihr persönlich begegnet war. Und dann kam mir plötzlich eine völlig abgefahrene Idee. Eine Idee, die so verrückt war, dass sie nur von mir kommen konnte.

„Oder sollen wir uns besser treffen?“

„Wo?“

„Wie wärs mit Ablenkung? Ich kenn da einen guten Laden in der Innenstadt, wo du bestimmt auf andere Gedanken kommst: IGLU. Warst du da schon mal?“

„Nein.“

Was anderes hatte ich auch wirklich nicht erwartet. Das hätte mich sogar erschreckt. Jaja, der brave, unschuldige David.

„Da gibt es echt supergute Cocktails!“

„Ich brauche keine neue Freundin, ok? Versuch gar nicht erst, etwas auszuhecken.“

„Weiß ich doch. Ich pass auf dich auf!“

„Wenn du es versprichst.“ Smilie. „Okay, ich komme mit, ausnahmsweise.“

Ich beschrieb ihm kurz, wo der Club war, dann gingen wir offline.
 

~
 

Der Türsteher hatte uns kommentarlos hineingelassen, und Garderoben-Fee Giovanni hatte ausnahmsweise mal die Klappe gehalten. Ich liebte diesen Club. Wir saßen mit Blick auf die blau leuchtende Theke, auf der die Gläser zu Pyramiden aufgestapelt waren. Optisch ein richtiger Hingucker, dieser Tresen aus Milchglas, der wie ein Eisblock aussah.

Viel erzählt hatte mir David bis jetzt noch nicht. Und ich bohrte auch nicht nach. Wenn er nicht drüber sprechen wollte, dann war es eben so.

Als ob er meine Gedanken gelesen hätte, sprach er: „Es hat halt einfach nicht mehr gepasst, Dominique. Außerdem trennen uns achtzig Kilometer...“

„Das ist doch keine Entfernung!“ Ich schüttelte den Kopf und trank einen Schluck. Und David zuckte die Achseln und stierte weiter in sein halbvolles Glas. Es war nichts Alkoholisches, er trank so gut wie nie Alkohol. Und stellte sich manchmal an wie ein Landei. Das war er ja auch. Zum Studieren war er in die Stadt gezogen, kam aus dem gleichen Kaff wie seine Ex und war zwei Jahre mit ihr zusammen gewesen.

Während ich innerlich feierte, sah David untröstlich aus. Ihn so zu erleben, verpasste mir einen Stich und ich hasste Marie noch ein bisschen mehr, sofern das überhaupt möglich war. Seine ganze Körpersprache strahlte Kummer aus, was sehr untypisch für ihn war. Ich kannte ihn eigentlich nur als Frohnatur. Die wilden dunklen Locken hatte er wohl nicht einmal versucht in Form zu bringen, und das ließ ihn so sexy aussehen, dass ich mich mit aller Kraft zurückhalten musste, nicht dorthin zu fassen und sie ihm noch mehr zu zerwühlen…

Wenn ich den Knopf fände, würde ich einfach diese Gefühle ausschalten, die nie erwidert würden und mir nur Grübeleien und Frust bescherten. Denn ich liebte ihn, liebte ihn seit ich ihn das erste Mal gesehen hatte, ungelogen.

„Außerdem wollte sie mir meinen Berufswunsch ausreden“, meldete er sich plötzlich wieder zu Wort. „Zuerst hatte sie es ja nicht mal ernst genommen, hat mich verspottet. Dann hat sie gemerkt, dass es mir wirklich ernst ist. Das hat ihr wohl Angst gemacht.“

Richtig. Sein Berufswunsch kam ja noch hinzu, oder genauer gesagt, sein Lebenstraum, Priester zu werden. Einerseits passte das zu ihm auf eine seltsame schräge Weise, andererseits... hatte es schon etwas sehr Exotisches. Ich kannte sonst niemanden, der das werden wollte.

„Das ist scheiße von ihr. Sie hat überhaupt nicht darüber zu bestimmen, wie du dein Leben gestalten willst, echt nicht, das hat niemand!“ Ich biss mir auf die Lippen. Nicht mehr viel hätte gefehlt, und ich hätte gesagt, dass Marie so nervig war wie eine Schmeißfliege, diese grünlich schimmernden, die penetrant brummten und ins Zimmer herein fanden, aber nicht mehr hinaus.

„Danke, dass du das auch so siehst.“ Er warf mir einen schüchternen Blick zu, der mich fast zerfließen ließ. „Und gerade wegen dem Beruf, den ich anstrebe, darf und will ich mich nicht mehr verlieben“, sagte er ernst, so ernst wie ich ihn noch nie habe sprechen hören und ich senkte den Blick und fühlte mich ertappt. Wusste er was? Hatte er eine leise Ahnung, dass ich an ihn dachte, wenn ich mir unter der Dusche einen runterholte; verriet ich mich durch irgendetwas?

„Wieso hast du eigentlich keine Freundin, Dominique?“

Bullseye, David, genau ins Schwarze. Ich starrte ihn nur an wie eine Maus in der Falle.

„Ich meine, du hättest sicher eine, wenn du eine wollen würdest, denn du bist ja keine schlechte Partie! Hehe, ich weiß wieso!“, rief er plötzlich und erstickte mein Lachen über sein Kompliment im Keim. „Hörst du dir vielleicht zu oft die ganzen Beziehungskisten von jedem an, dass es dir vergangen ist?“

Jetzt lachte ich laut auf, das war einfach zu genial kombiniert. „Es schreckt schon etwas ab, was man so zu hören kriegt…“, faselte ich um den Brei herum, mit einem Gesicht heiß wie eine glühende Kohle. Zum Glück waren wir im IGLU… Da gab es viel einschlägigere Bars, wie zum Beispiel die Mannbar, oder das berüchtigte FASS, wo sie Frauen gar nicht hinein ließen. Während wir hier eine gemischte Klientel hatten und jeden Gast willkommen hießen, egal als was er sich selbst definierte.

Aber es erschien doch nicht so, als wäre mir David auf die Schliche gekommen. Er wollte bloß Konversation betreiben, sich ein wenig von seinen Sorgen ablenken.

„Wo haben die eigentlich die Tanzfläche versteckt?“, fragte er jetzt, als hätte jemand bei ihm den Knopf für einen Themawechsel gedrückt.

„Im Keller. Heute ist ein guter DJ da, hast du Lust?“

„Auf Tanzen? Nee, nicht wirklich.“

„Ach komm! Hab dich nicht so. Wo wir schon mal hier sind, möchte ich sie dir schnell zeigen.“ Ich zerrte ihn am Arm mit, ob er wollte oder nicht – ich musste jetzt einfach tanzen, war schon ganz hibbelig. David folgte mir die Treppen hinunter. Wir tasteten uns an der Wand mit dem rauen Putz entlang, die in den Keller führte, dann schob ich den Vorhang aus aufgefädelten Plastiksteinchen beiseite, die eine frappierende Ähnlichkeit mit Gletschereis-Bonbons aufwiesen.

Die angestaute Hitze des gut mit Menschen gefüllten Gewölbekellers empfing uns. Ich war wieder da, wo ich hin gehörte. Gut abgeschirmt von der Welt draußen. Und David war bei mir. Es war perfekt. Wie in einem Traum.

„Oha. Hier ist es wirklich cool!“, staunte er über die Lounge mit ihren Sitzwürfeln aus weißem Leder. „Wieso waren wir hier noch nie?“

Um diese Uhrzeit war für gewöhnlich noch wenig los, trotzdem waren zwei Jungs in eine innige Knutscherei vertieft. Doch David schien es gar nicht zu bemerken! Nannte man das katholische Scheuklappen? Ich zog ihn weiter voran, vorbei an den Leuten.

Die Tanzfläche war übervoll. Künstlicher Dampf strömte aus der Vorrichtung in der Ecke, Laser in ihren wechselnden Farben zogen über unsere Köpfe hinweg und brachen sich in der Discokugel in sämtliche Himmelsrichtungen.

Vom Rand der Tanzfläche bei den Stehtischen, für die Kerle, die zu cool zum Tanzen waren, bemerkte ich gewecktes Interesse und ignorierte es. Heute nicht, Jungs. Nicht wenn ich meinen persönlichen VIP an der Seite hatte! Wir ruderten durch die Menschenmenge, hin zu einem freien Plätzchen für uns beide.

„Ist dir der Hintern eingeschlafen?“, stachelte ich David an, der mir folgte, die Hände in dnen Hosentaschen versteckt und seinen Blick zu Boden gerichtet.

„Hier ist es viel zu voll.“

Wahrscheinlich hielt er nach dem nächsten Fluchtweg Ausschau. So still und stocksteif stand er da, während mein Körper zum Takt seinen eigenen Rhythmus erfand, und ich nur den Kopf schütteln konnte, wie er so ruhig bleiben konnte.

„Mit Marie war Tanzen immer so toll…“ David seufzte.

„Wie habt ihr euch eigentlich kennen gelernt?“, wollte ich wissen.

„Also, das war so…“, begann David und trat näher an mich heran, und ich spitzte die Ohren, um ihn zu verstehen. „Sie hat mich auf unserem Weihnachtsmarkt angesprochen, sie sagte: Du bist mir gestern schon aufgefallen. Ich meinte nur, Irrtum, du musst mich verwechselt haben, ich fall doch niemanden auf. Dann hat sie gefragt, ob ich sie jetzt wirklich einfach so stehen lassen will, wo sie gerade all ihren Mut zusammen genommen hat, mich anzusprechen, oder ob wir einen Punsch zusammen trinken. Ja. So hat sich das ergeben.“

Und schon wieder dachte er an Marie, so durfte das einfach nicht weitergehen. Ich tanzte und vergaß die Zeit dabei. Versuchte ihn anzustacheln.

„Wie kannst du bloß wie ein Baum auf einer Tanzfläche stehen, wenn gute Musik läuft?“, rief ich gegen die Musik an.

„Ich mag House einfach nicht“, brüllte er zurück. Zwei Jungs vor uns tanzten so eng miteinander, dass kein Blatt mehr dazwischen passte! Ich drehte mich zu David, wollte wissen, wie er das aufnahm, aber er war nicht mehr da. Nirgends konnte ich im Discogetümmel seinen Lockenkopf erkennen. Na super, ich hatte ihn verloren. Ich musste ihn suchen. Jedoch konnte ich gleich die Nadel im Heuhaufen suchen.

Dann machte ich ihn glücklicherweise an der Schlange der Bar ausfindig. Er hielt sein Smartphone in der Hand, starrte unschlüssig drauf und kaute auf seiner Unterlippe herum. Ich winkte ihm zu, doch er sah mich nicht. Dann war er an der Reihe, packte es zurück in die Hosentasche und nahm zwei Flaschen entgegen.

Ich lehnte mich gegen eine Säule, fühlte den kalten rauen Putz und winkte ihm zu, als er sich suchend nach mir umschaute.

„Hast ja gar nicht gesagt, dass du was zu trinken holst.“

„Habe ich doch. Hast du es nicht gehört? Siehst du, deswegen mag ich Discos nicht. Man versteht nicht mal sein eigenes Wort.“ Er reichte mir die andere Flasche und prostete mir zu. Ich trank ein paar Schlucke Eistee, bevor ich mich wieder an sein Ohr beugte.

„Sie hat dich nicht angeschrieben gerade eben, oder?“ Ich hoffte, dass man meine Eifersucht nicht heraus hörte.

David schüttelte den Kopf, sah mich ganz merkwürdig dabei an. „Dominique.“ Er schaute mir direkt in die Augen. „Wo sind wir hier?“

„Na, im IGLU“, antwortete ich gelassen.

„Ich weiß. Aber warum? Der Typ an der Garderobe, er hat dich behandelt wie einen Stammgast!“ Dieser Tonfall. David war stocksauer. Dass ich so etwas mal erlebte.

„So ist er bei jedem“, wiegelte ich ab.

Unbeirrt fuhr David fort, zu kombinieren: „Das bedeutet, dass du öfter hier bist! Und wieso gerade hier? Weißt du nicht, was das für eine Art Schuppen ist?“

„Natürlich weiß ich, was für eine ‚Art von Schuppen‘ das hier ist“, wiederholte ich trotzig seine Worte und kniff die Augen zusammen.

„Ich habe dieses Iglu grade gegoogelt. Du schleppst mich in…“ Er schluckte hastig, bevor er weitersprechen konnte, und auch nur mit gedämpfter Stimme: „In eine Schwulen-Disco? Was hast du dir dabei gedacht?!“, fragte er fast hysterisch.

Ich hätte gelacht unter anderen Umständen: David googelte eine Disco, in der er gerade drin war? Wie verrückt war das denn. Wer tat so etwas außer ihm?

„Was du dir gedacht hast, will ich wissen! Du bist doch nicht schwul?“ Sein Blick durchbohrte mich, eine Antwort einfordernd.

Kunstpause. „Und wenn doch?“, fragte ich herausfordernd, legte meinen Kopf leicht in den Nacken, während mein Herz fast explodierte.

Was folgte, war ein Kopfschütteln, ein Seufzen, das nahezu erleichtert klang. „Weiß es Mik?“

„Nein, deswegen ist er ja noch mit mir befreundet...“

„Hä? So ein Quatsch, wieso sollte er dir deswegen die Freundschaft kündigen? Es sei denn…du willst was von ihm?“, folgerte er.

„Was, von Mik?! Niemals! Ich habe auch Geschmack!“

David bekam einen regelrechten Lachanfall und kriegte sich gar nicht mehr ein. Zwar wusste ich nicht, was an meinem Comingout so witzig sein sollte, denn mir war es verdammt ernst, aber okay, immerhin lachte er heute überhaupt einmal. Ich musste ihm auf den Rücken klopfen, als er sich verschluckte.

„Bist du jetzt sauer, weil ich dich hierher gebracht habe?“

„Von Mik willst du also nichts. Gibt es jemand anderen?“

Schon diese Frage von ihm ließ meinen Mund trocken werden. Was sollte ich darauf antworten? Plötzlich, noch bevor er sich danach umdrehte, bemerkte ich diese fremde Hand auf seiner Schulter. Die zu einem fremden Kerl gehörte.

Und es fühlte sich an, als würde etwas in mir explodieren, und ja, ich fand, ich hatte die verdammte Pflicht, diese Hand da weg zu scheuchen.

Und mir wurde etwas klar: Dass ich nicht so dermaßen aus der Haut gefahren war, als er seine Ex vor mir geküsst hatte. Denn dabei hatte ich eher Enttäuschung, Ohnmacht und Resignation gefühlt denn Zorn. Wahrscheinlich, weil das vollendete Tatsachen waren, mit denen ich mich eben abfinden musste. Aber hier, jetzt und heute war meine Gelegenheit, Einfluss zu nehmen! Ich hielt die Zügel in der Hand. Die unsichtbare Mauer war weg, machte mich von einem Beobachter zu jemandem, der eingreifen konnte. Mit einem bösen Blick scheuchte ich sie weg und trat näher an David heran.

Die Hand, und der Typ, dem sie gehörte, verschwanden so schnell er aufgetaucht war, doch an David ging diese Aktion ebenfalls nicht spurlos vorüber.

Der Blickkontakt, der sich zwischen uns aufbaute, fegte meinen Kopf leer. Diese ernsten Augen, die mich mein freches Mundwerk vergessen ließen. Seine Lippen formten meinen Namen, seine Augen die Fragen: Wenn nicht Mik, wer denn dann? Wieso heute? Wieso hier? Wieso ich?

Ich wollte sie ihm alle beantworten, doch stattdessen legte ich meine Hand an seinen Hinterkopf, in sein weiches Wuselhaar, und mein Daumen strich über seinen Kieferknochen. Mein Blick glitt von seinen Augen hinab auf seine Lippen, auf die ich meine presste. Neugierig. Mutig. Auf jeden Fall hatte ich in diesem Moment total den Verstand verloren. Nicht nur ich. David küsste mich zurück, öffnete seine Lippen für mich. Ob beabsichtigt oder nicht, das wusste ich nicht… Aber seine Zunge schickte eine Welle aus Strom durch meinen ganzen Körper. Es war wunderbar, er schmeckte gut, roch gut, war so nah bei mir. Unglaublich. Ich schloss die Augen, drehte leicht den Kopf. Und dann verlor ich ihn.

„Ich glaub, du spinnst!“, hörte ich ihn brüllen. David riss sich von mir los. Ich sah ihn nur noch die Stufen hoch rennen. Aber hatte er nicht mitgeküsst?! Was sollte das…

Ich folgte ihm, was durch die Enge hier drinn nicht so einfach war. Mir schien, als ob die Leute eine Schranke bildeten, um zu verhindern, dass ich David noch erreichte. Immer noch waren mir seine Lippen so präsent. War das gerade wirklich geschehen, oder träumte ich nur?

Nirgends fand ich ihn, obwohl ich den ganzen Club durchkämmte. Schlussendlich zog es mich zur Garderobe, wo Giovanni gerade den Mantel eines Gastes auf den Kleiderständer hängte. Er wandte sich erst zu mir, nachdem er dem Mann mit dem langen Zopf noch schöne Augen gemacht hatte.

Der dichte Haarbusch, der aus seinem V-Ausschnitt ragte, ließ mich jedes Mal hoffen, dass das bloß eine Perücke war und ich musste mich dazu zwingen, dort nicht hinzustarren.

„Sag, hat David seine Jacke abgeholt? Der, der mit mir da war, weißt du das?“

Giovanni dachte lange nach und sagte dann: „Dein Begleiter? Ja, an den erinnere ich mich. Er sah nicht besser aus als du jetzt. Was ist denn vorgefallen, Süßer?“

„Ach, nichts… außer vielleicht, dass ich vor ihm jetzt wie ein Volltrottel aussehe.“

Giovanni kicherte los. „Du siehst nicht wie einer aus, glaub mir. Du bist ein Volltrottel.“

Dazu sagte ich nichts.

„Also.“ Er stützte die Arme auf die Theke. „Was jetzt? Willst du auch deine Jacke, um ihm hinterher zu gehen?“

Fast wäre ich geneigt, ja zu sagen. Doch ich entschied mich im letzten Moment anders. Ich würde das Beste draus machen. Und mir nicht den Abend von David Zimmermann und seiner Engstirnigkeit verderben lassen! Wahrscheinlich hatte er den Kuss schon längst unter Nächstenliebe verbucht.
 

Ich tanzte so ausgelassen wie noch nie. Den ganzen Abend lang. Die Jungs und die Kerle um mich herum tanzten ekstatisch, zeigten was sie drauf hatten, oder in manchen Fällen auch dran. Zu dieser Zeit war man an den feuchten Kellermoder, der sich mit Schweißdunst mischte, und die Lautstärke schon gewöhnt. Wir waren Disco. Wir liebten den Tanz und die Nacht. Wir störten uns auch nicht mehr daran, angerempelt zu werden, wie ich gerade, weil es in diesem Nebel nicht zu vermeiden war. Vernebelt waren ebenfalls die Sinne der Clubbesucher um mich herum. Ich war auch schon nicht mehr ganz nüchtern, wenn ich ehrlich war. So laut ich konnte, grölte ich mit den anderen den Refrain mit, die Hände hoch in die Luft gereckt. Ein bekannter Song aus den Achtzigern als House-Remix. Meine Augen flitzten abwechselnd zum DJ, dann zu dem gut aussehenden Typen an der Bar. Am Tresen gelehnt, trank er nun schon das zweite Bier und starrte mich die ganze Zeit an. Ich wusste gar nicht, wie lange ich schon darauf wartete, dass er herkam, den ersten Schritt machte. Oder er auf mich? Da konnte er lange warten.

Aber jetzt! Jetzt stellte er tatsächlich die leere Flasche ab und ging auf die Tanzfläche zu. Zu mir. Bis er ganz nah war. Die Scheinwerfer hinter ihm ließen sein lockiges rotblondes Haar wie einen glühenden Heiligenschein aussehen. Das weiße T-Shirt tat sein übriges dazu, ihn wie einen tröstenden Engel wirken zu lassen.

Doch sein Gesicht, das sah mindestens zehn Jahre älter als aus der Entfernung. Uh. Der war wirklich schon ziemlich alt. Und stank ekelhaft nach Zigarettenqualm.

„Die Musik war hier schon besser, oder?“

„Wieso?“, fragte ich und merkte regelrecht, dass ich ihn plötzlich überhaupt nicht mehr attraktiv fand. „Der Song ist Kult, du hast früher bestimmt dazu getanzt.“

„Aber als Remix einfach scheiße“, erwiderte er, ohne auf meine Anspielung auf sein Alter einzugehen. „Hier muss man sich die Musik immer schön saufen. Aber wegen der Musik komm ich eh nicht her. Hat dir schon mal jemand gesagt, dass du einen geilen Arsch hast?“

Ich wich zurück, als er näherkam und mir in den Hintern kneifen wollte. Umso erschrockener war ich, als an meinem Arm ein Funke knallte.

„Hi. Tanzt du noch oder lebst du schon?“, raunte mir eine fremde Stimme zu. Bartstoppeln kitzelten mich leicht an meinem Nacken, was mir einen Schauder über den Rücken laufen ließ. Nicht wegen dem, was er sagte, sondern wegen dieser Stimme, die so tief und rauchig war wie aus der Radiowerbung.

Ich war unfähig, die komplette Lage zu erfassen, in der ich mich befand, genauer gesagt, dieses Sandwich, in dem ich mich befand; ein Sandwich aus zwei Kerlen, die mich beide wollten.

Ich strich über die Arme des zweiten Kerls. Sie waren glatt rasiert oder gewachst oder was auch immer. Adern, die sich wie dicke Wurzeln im Unterholz ihren Weg zu den Handgelenken bahnten, erfühlte ich.

„Na dann kann ich ja auch gehen“, murmelte der erste sehr enttäuscht und ließ mich wieder los. Ich unternahm keinen Versuch, ihn zum Bleiben zu überreden.

„Kann ich dir was zu trinken holen?“

Schon hatte ich mich an die Wärme des fremden Körpers gewöhnt, und gut gebaut war er obendrein. Mit seinen Armen, die so breit waren wie meine Schenkel, schleppte er mir sicher gern kistenweise Getränke ins Haus.

„Nein“, erwiderte ich, und spürte es in meinen Augen heiß brennen. „Bleib einfach wo du bist, ich brauche das jetzt.“

„Brauchst was?“ Er drehte mich zu sich herum - viel schneller als ich mir die Tränen wegwischen konnte - sodass ich sein Gesicht hätte sehen können, wenn es mir nicht vor den Augen verschwommen wäre. Er war einen Kopf größer als ich, und hatte eine breite, einladende Brust. Ich stürzte mich auf ihn und ließ den Tränen freien Lauf.

Nicht der sexieste Kerl der Welt könnte mir David ersetzen – und mit ihm hatte ich mir alles versaut! Was war ich für ein Idiot! Als würde es jemals was mit uns werden.

Ich heulte, als wollte ich die Ozeane neu erschaffen, das Gesicht an das T-Shirt des Blonden gedrückt, der ganz still dastand und mich heulen ließ. Mir dabei über den Rücken streichelte, und sich gar nicht daran zu stören schien. Er roch nach frischer Wäsche und bittersüßem Parfüm, und sein Atem leicht nach Minze und Zigarette. Der dachte bestimmt, was ist das denn für ein armseliger Wurm, mit vollem Recht! Ich hatte es satt, immer der kleine, passive Dominique zu sein, das ewige kleine Brüderchen, das beschützt werden musste!

Wäre ich doch lieber heimgegangen, dann wäre ich jetzt schon im Bett und könnte mich unter der Decke verkriechen bis Montagmittag, wenn ich Spätschicht hatte.

Stattdessen blamierte ich mich bis auf die Knochen, rotzte einem Wildfremden sein T-Shirt voll…. unter dem sich, zugegeben, wahre Muskelberge häuften. Oh Mann.

„Hast du jemanden verloren? Oder willst du jemanden vergessen?“, drang die Stimme aus den Tiefen seines Brustkorbes irgendwie zu mir durch. Wie ein Kater, der schnurrte. Einen Kater würde ich morgen auch haben.

„Beides“, erwiderte ich kurz angebunden. „Sorry.“ So schnell ich konnte, löste ich mich von ihm und trat den Rückzug an. Mein Gesicht glühte. Nie, nie wieder Alkohol, verdammt!



Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (1)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.
Von:  May_Be
2015-10-25T14:28:17+00:00 25.10.2015 15:28
Wow :D fesselnde Geschichte und toller Schreibstil !!


Zurück