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A gentle Song

Diarium Fortunae
von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Themesong für den Prolog: Beginning Location aus .hack//G.U.
Dieser Prolog war ein kleines Experiment, das ich gewagt habe. Nur hier (und später im Epilog) wird die Ich-Perspektive in der Gegenwart angewendet. Normalerweise schreibe ich aber immer in der Vergangenheit, also bitte ich Zeitfehler zu entschuldigen (dürfen mir gerne mitgeteilt werden :>). >.< Komplett anzeigen

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Verloren im Paradies

Menschen werden geboren, um zu leben. Sie wachsen zu eigenständigen Individuen heran und sind sich niemals gleich, höchstens ähnlich. Jeder von ihnen ist wie ein Buch, das seine ganz persönliche Geschichte schreibt, die zwar manchmal Ähnlichkeit mit anderen haben mag, aber doch wird es Zeilen geben, deren Beschaffenheit einzigartig ist und die den Unterschied ausmachen.

Alpträume dagegen werden erschaffen, um zu existieren. Sie wachsen zu einer einheitlichen Präsenz heran und sind niemals unterschiedlich, höchstens fortgeschrittener oder zurückgeblieben in ihrer Entwicklung. Jeder von ihnen ist wie eine Uhr, deren Zeiger sich unaufhaltsam in eine einzige Richtung bewegen, die ohne Ausnahmen beschritten wird, selbst wenn sie sich danach sehnen, aus diesem Kreis auszubrechen.

Zeit ist unser größter Feind. Ja, unser. Ich gehöre zu ihnen. Ich bin ein Alptraum. Schon seit der ersten Sekunde meiner Existenz habe ich es gehasst, einer von ihnen zu sein. Hass ist eines der wenigen Gefühle, zu denen wir in der Lage sind. Kein Wunder, dass wir es gern tun, es gibt uns Beschäftigung und die Illusion, ein Teil von dieser Welt voller Gefühlen zu sein. Einer Welt, von der, zu Beginn, ausnahmslos jeder von uns komplett abgeschnitten ist und doch kennen wir sie. Aber wir gehören nicht dorthin.

Unsere Heimat nennt sich Eden Howl, die Bezeichnung Gefängnis trifft es jedoch eher. Es ist mir zuwider, das hier als mein Heim anzuerkennen. Das hier ist eine Zelle. Eine Endlosigkeit mit Grenzen und ich teile sie mir mit vielen anderen Alpträumen, also mit Verbrechern, zu denen auch ich gehöre. Wir sind keine Familie, wir sind eine Einheit und haben uns gegen die Menschen verschworen. Empfindungen wie Geborgenheit und Sicherheit sucht man vergeblich an diesem Ort, deshalb ist es auch falsch, ihn als Heimat zu bezeichnen. So verdammt falsch.

Es ist und bleibt ein Gefängnis, das irgendwann jemand als Paradies betitelt hat. Dieser jemand hat entweder wahrlich keine Ahnung oder will uns absichtlich mit diesem Namen quälen. Das Eden Howl ist kein Paradies und erst recht keine Heimat.

Allerdings ist es der Ort, an dem wir alle erwachen. Wären wir Menschen, könnte man das Eden Howl als unsere Geburtsstätte beschimpfen, aber wir sind Alptraume. Nichts weiter als eine düstere Präsenz zwischen Traum und Wirklichkeit, die nicht lebt. Was nicht lebt, wird auch nicht geboren. Wir existieren nur. Darin sind wir gut, schließlich harren die meisten von uns schon seit Jahrtausenden hier aus und wir sind viele. Sehr viele, uns zu zählen dürfte mehr als eine Ewigkeit dauern.

„So viele von uns“, entgleiten mir die Worte, während ich meine Artgenossen bei ihrem Treiben beobachte, das nirgendwohin führt. Meine Stimme ist nur ein leises Echo unter Tausenden, wenn nicht sogar mehr. Es erstickt stets, bevor es sich richtig ausweiten kann. „Verloren im Paradies.“

Seit Jahren schon starre ich vom Grund meiner Zelle aus empor zum höchsten Punkt des Eden Howl und sehe nichts weiter als Verzweiflung, die unseren Hass nährt. Ich stehe im Mittelpunkt von einer Art Strudel im gigantischen Ausmaß, der ununterbrochen in Bewegung ist und nicht aufhört zu fließen. Nach oben, an die Spitze. Zum Ausgang. Ein gewaltiger, pechschwarzer Strom aus Alpträumen, der sich kreisförmig nach oben zieht, ohne jemals sein Ziel zu erreichen. Unzählige von uns sind schon mal bis zur Grenze vorgestoßen, doch natürlich öffnet uns niemand die Tür, wenn wir klopfen und schreien, dass wir rausgelassen werden wollen.

Dicht an dicht pressen sie sich aneinander, meine Mitinsassen in diesem Gefängnis. Wir besitzen keine materiellen Körper und sind nur ein dunkler Hauch, der bei Menschen Gänsehaut verursacht. Ein dunkler Hauch aus Verzweiflung, der den Hass nährt und durch den wir im Laufe der Zeit anfangen uns zu schwarzen, nebelhaften Schatten zu entwickeln, dazu verdammt auf ewig hier auszuharren. Mehr und mehr Schwärze anzusammeln, bis wir nicht mal mehr als Präsenz wahrzunehmen sind, weil wir dann von unserer eigenen Existenz verschlungen werden. Menschlich sind wir nicht, aber wir können sterben. Das finde ich ironisch – ich dürfte nicht wissen, was Ironie ist.

Ein Chor aus Stimmen bildet sich in diesem dunklen Strudel aus schwarzen Schatten, der sich nach oben zieht und verzweifelt an die verschlossene Tür unserer Zelle klopft. Freiheit ist es, von der die Alpträume sprechen. Ihre Stimmen sind laut und sie schicken sich diese Sehnsucht in Form von Worten hin und her, während sie diesen Strom bilden. Ein Mensch könnte unsere Sprache nicht verstehen, sie zeichnet uns von allem ab, was es auf der Welt gibt, weil sie nie jemand zu hören bekommt. Wie auch, wenn wir hier eingesperrt sind?

Ich stehe also auf dem Grund meiner Zelle, ganz unten, von wo aus ich den anderen dabei zusehen kann, wie sie verzweifelt versuchen dort oben in der Ferne den Ausgang zu erreichen. Ein gewaltiger, schwarzer Strudel, der das Eden Howl mit Dunkelheit füllt. Eine Endlosigkeit mit Grenzen, in der unzählige Alpträume gefangen gehalten werden. Wir sind verloren und niemand hört uns schreien.

Man sagt uns nach, dass wir nicht zu Gefühlen fähig sind und das stimmt auch. Bei uns ist es anders, als bei den Menschen, da wir mit einer Leere im Herzen erschaffen werden, das niemals Gefühle erfahren hat. Zeit ist unser größter Feind, denn sie bringt Verzweiflung mit sich und durch die lernen wir den Hass kennen, der sich wie eine unheilbare Krankheit an uns festklammert. In der Regel lässt er nicht mehr los, sobald er uns einmal zu fassen bekommt. Er treibt uns an oder vielmehr die meisten von uns.

Am Grund des Eden Howl bleiben die zurück, die auch verzweifelt sind, aber nicht den Drang zu hassen entwickeln – ich hasse durchaus. Auf den ersten Blick sieht es aus, als unterscheiden wir uns von denen, die mit dem Strom schwimmen und ihren klagenden Chor singen, doch das täuscht. Würde einer von uns entkommen, tun wir das gleiche, wie jeder andere Alptraum: Wir vergreifen uns an den Träumen der Menschen, um uns davon zu stärken und zu wachsen, bis wir mächtig genug sind. Mit dieser Macht zerstören wir alles und jeden, das muss so sein. Dafür sind wir da.

Wir lernen zu verzweifeln, damit wir keine Scheu davor haben alles zu zerstören. Wer verzweifelt ist tut alles, was möglich ist, um sich selbst zu schützen. Darum wollen wir zerstören. Zerstörung hilft uns zu verhindern, dass wir uns eines Tages selbst verschlingen und sterben. Dank Zerstörung wird es nichts mehr geben, was uns einen Grund geben kann, weiterhin so verzweifelt zu sein. So sind wir. Alpträume. Und ich bin einer davon.

„Arme Geschöpfe“, sage ich leise, nur für mich.

„Das hast du schon lange nicht mehr gesagt“, reagiert eine Stimme, die mir vertraut ist.

Ich löse meinen Blick von dem Strudel der Verzweiflung und lenke ihn zu demjenigen, der gesprochen hat. Obwohl ich ihn als männlich einstufe, lässt sich das nicht mit Sicherheit sagen. Alpträume besitzen kein eigenes Geschlecht, trotzdem verwenden wir untereinander immerzu die männliche Anrede. Das ist einfacher für uns, wir denken nicht gerne nach. Nicht jeder von uns, ich denke sehr viel nach.

Direkt seitlich neben mir sitzt ein menschlicher Schatten zu meinen Füßen, der sich mit dem Rücken an meine Beine angelehnt hat. In dieser Position sitzt dieser Alptraum schon seit einer langen Zeit neben mir, seit wir zum ersten Mal miteinander gesprochen haben. Er weicht mir nicht mehr von der Seite, weil er sich bei mir sicher fühlt, wie er mir einst gesagt hat. Sicherheit ist etwas, was wir nicht kennen und empfinden können, aber er fühlt sie in meiner Nähe, was mein Interesse an ihm geweckt hat – auch das soll angeblich nicht bei uns möglich sein.

Wir zwei sind also beide Alpträume, die aus dem Rahmen fallen. Gleich und gleich gesellt sich gern. Irgendwann werden aber auch wir dennoch so wie alle anderen sein und das kränkt mich. Ich weiß, dass ich dem Schicksal, zu einem zerstörungswütigen Alptraum zu werden, sobald ich hier heraus komme, nicht entfliehen kann. Dieser Präsenz an meiner Seite geht es genauso, daher haben wir beschlossen, nicht mit dem Strom zu schwimmen und einfach auf dem Grund zu bleiben, bei den anderen, wenigen Ausnahmefällen, die emotionale Zustände aufweisen, wie wir sie nicht haben dürften. Der Strom ignoriert uns Außenseiter, weil auch sie wissen, dass wir am Ende doch alle eine einheitliche Präsenz werden würden – ich hasse es wirklich, ein Alptraum zu sein, der keine Wahl hat.

„Stimmt“, erwidere ich knapp und halte meinen Blick auf ihn gerichtet. „Das habe ich schon lange nicht mehr gesagt, aber ich denke die ganze Zeit darüber nach.“

Von ihm kommt ein leises Seufzen. „Du glaubst immer noch, jemand erschafft uns aus einem bestimmten Grund?“

„Es ist doch ziemlich offensichtlich.“

„Ja?“

„Ja“, betone ich und lasse meinen Blick nun durch die Gegend schweifen, quer über den Grund des Eden Howl, um die anderen Außenseiter zu betrachten. „Aber denk nicht darüber nach.“

„Warum?“

„Weil du sonst nur noch mehr verzweifelst.“

„Das heißt, du bist also verzweifelt?“, fragt er. Seine Stimme klingt merkwürdig – ist das etwa Sorge? Woher weiß ich, wie die sich anhört?

„Wer von uns hier ist das nicht?“

„Ich bin nicht verzweifelt“, streitet er ab und entfacht damit wieder mein Interesse an ihm.

Ich glaube ihm nicht, aber das behalte ich für mich. „So? Was bist du dann?“

„Ich bin froh, dass ich hier bin.“

Darüber muss ich humorlos lachen. „Bist du dir sicher, dass du ein Alptraum bist?“

„Mach dich nicht lustig über mich“, schmollt er, wie ein kleines Kind.

„Darf man fragen, wieso du froh darüber bist, hier zu sein?“

„Es ist doch ziemlich offensichtlich“, wiederholt er den Satz, den ich eben noch zu ihm gesagt habe. Wir müssen beide schmunzeln. „Wenn ich hier rauskomme, muss ich die Welt da draußen zerstören und das will ich nicht. Darum bin ich froh, dass ich hier bin.“

Erstaunlich. Ich weiß, dass ich bereits zu viel denke und empfinde für einen Alptraum, mein Freund hier scheint jedoch ein ganz besonderer Fall zu sein. Mein Interesse wird immer größer, so intensiv habe ich es noch nie verspürt. Das Gespräch mit ihm lenkt mich gut davon ab, wie traurig unsere Lage ist.

„Klingt, als hättest du die Welt da draußen schon mal gesehen?“, hake ich nach.

„Habe ich nicht“, verneint er und in mir will schon etwas wie Enttäuschung aufkeimen, vorher fügt er aber tatsächlich noch was hinzu. „Aber ich glaube, sie zu kennen. Aus einer Zeit, die ganz weit zurückliegt.“

„Ich beneide dich“, gestehe ich offen.

„Musst du nicht.“ Wieder seufzt er. Sein Blick hebt sich, um erst mich und dann den Strudel anzuschauen. „Du und ihr alle habt wirklich Glück. Was man nicht kennt, kann man auch nicht vermissen.“

„Was man nicht kennt, kann man auch nicht vermissen“, wiederhole ich nachdenklich – ich sollte damit aufhören. „Klingt plausibel, aber traurig. Auch du bleibst für mich ein armes Geschöpf.“

„Hey! Ich sagte doch, du sollst dich nicht über mich lustig machen.“

„Ich mache mich nicht lustig“, beruhige ich ihn und lenke meinen Blick wie er nach oben, in den Strudel hinein. „Ich nehme dich ernst.“

„Davon merke ich nichts.“ Ich glaube, er ist beleidigt.

Ich streiche ihm mit einer Hand über den Kopf, auch wenn er es sicher nicht spüren kann. „Ich nehme dich wirklich ernst.“

„... Danke“, murmelt er leise. Ist das jetzt etwa Verlegenheit?

„Ändert aber nichts daran, dass ich dich beneide“, greife ich das Thema nochmal auf. Nun bin ich derjenige, der seufzt. „Ich kenne die Welt da draußen nicht, aber ich würde sie gerne kennenlernen.“

„Du wirst sie zerstören wollen, sobald du draußen bist.“

„Denkst du, das ist mir nicht bewusst?“ Etwas in mir fühlt sich auf einmal furchtbar schwer an.

„Deine Verzweiflung ist ziemlich groß, oder?“

Da ist es schon wieder: Sorge. Er macht sich eindeutig Sorgen, die Frage ist nur: Um mich oder darum, dass ihm der Schutz fehlen wird, wenn ich nicht mehr da bin? Ich beschließe, ihn nicht danach zu fragen. Was würde das bringen?

„Ja, das stimmt“, bringe ich die Worte langsam hervor und ich fühle mich noch schwerer. „Ich bin sehr verzweifelt.“

Leider kommen wir nicht dazu, uns noch länger zu unterhalten, denn an der Spitze des Strudels, am höchsten Punkt vom Eden Howl, tut sich etwas. Nein, es ist meinen Artgenossen nicht gelungen, die Tür zu durchbrechen – das würde mich auch sehr wundern. Es geschieht etwas, was öfter vorkommt, in unterschiedlichen Zeitabständen:

Sechs golden leuchtende Klingen dringen durch die Tür ins Eden Howl ein und sie blenden uns alle mit ihrem Leuchten. Am Dach dieses Ortes positionieren sie sich kreisförmig zu einer Blume. Nun lauern sie.

Jeder von uns weiß, was gleich passiert. Einer wird auserwählt werden, um dieses Gefängnis zu verlassen. Die Klingen symbolisieren Freiheit, weil sie uns nach draußen führen, an die Außenwelt. Sie durchbrechen die Gitterstäbe von diesem Gefängnis jedes Mal problemlos und können uns mitnehmen. Einen von uns. Wer wird diesmal das Glück haben?

Der Schatten neben mir kauert sich verängstigt zusammen – endlich verstehe ich, warum er immer so reagiert, sobald die Klingen auftauchen. Ich dagegen blicke sie hoffnungsvoll an, rufe sie buchstäblich, so wie es der Rest auch tut. Nur in solchen Augenblicken wird der Chor aus Stimmen besonders laut. Der Lärm ist kaum zu ertragen, wir alle flehen um Gnade und verleihen kollektiv unserer Verzweiflung ein Bild.

Plötzlich löst sich eine von den Klingen endlich von der Decke und stürzt sich in den Strudel hinab. Blitzschnell wie ein Pfeil rast sie nach unten. Sehr weit nach unten, geradewegs auf mich zu. Ich kann es kaum glauben. Meine Existenz wird sofort von dieser Klinge absorbiert und färbt sie rot, als sie in mich einschlägt. Ich bin es. Heute bin ich der Auserwählte. Endlich.

„Hiwa!“, höre ich meinen Freund verzweifelt rufen. „Nein!“

Wieso spricht er mich mit einem Namen an? Alpträume haben keine, wir verdienen sie nicht. Wir sind bloß unscheinbare Existenzen. Woher nimmt er diesen Namen? Ein letzter Blick zu ihm verrät mir, dass er Angst hat, ganz alleine hier zurückzubleiben. Dieser schwarze Schatten ist erfüllt von Angst. Dieser Anblick löst in mir etwas aus, begleitet von einem Namen, der mir ebenfalls in den Sinn kommt. Sein Name.

„Kian“, spreche ich seinen Namen leise aus. „Tut mir leid.“

Ich werde kämpfen, wenn ich draußen bin, aber ich will nicht zerstören. Ich werde mich dagegen zur Wehr setzen, wenn ich kann. Ich werde nicht die Welt zerstören, die Kian so sehr vermisst. Das ist alles, was ich für ihn – und auch für mich – tun kann. Alles, was ich will.

Als die Klinge mich vollständig absorbiert hat, ist es, als würde ich vorübergehend in einen Schlaf fallen. Mit mir als Auserwählten in sich kehrt sie rasend schnell zur Decke zurück, vorbei an all den Alpträumen, deren neidische Rufe mich sogar im Traum erreichen. In diesem sehe ich bereits die Außenwelt, wie sie sein könnte. Auch Kian ist da, der alleine zurückbleibt und weint. Jetzt ist auch er verzweifelt.



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