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Kapitel 4

 

Das Weihnachtsfest in diesem Jahr ist schrecklich. Schrecklich seltsam.

 

Anna-Maria scheint ganz verzaubert von Richard zu sein und auch meine Schwester findet ihn supernett und supertoll; aber wahrscheinlich ist Vanessa einfach gut drauf, weil Karl ihr tatsächlich erlaubt hat, zusammen mit Deniz Silvester zu feiern.

 

Die Welt steht Kopf!

 

Meine gesamte Familie scheint so berauscht vom Fest der Liebe, dass sie Richard glatt für die gesamten Feiertage einladen. Alle trinken Wein und erzählen sich Witze und ich bin gezwungen mir Komödien aus den 80er Jahren reinzuziehen und alle Keksvariationen von Anna-Maria zu probieren. Wenigstens war Richard so nett, mir eine gesamte Stange Zigaretten zu schenken. „Weil ich gehört habe, du seist unausstehlich geworden ohne deine Glimmstengel“, so seine Erklärung. Und Karl gibt mir meine Canon wieder. „Weil Richard mir gesagt hat, du machst Fortschritte“, sagt er und klopft mir anerkennend auf die Schulter.

 

Ins Internet komme ich aber immer noch nicht.

Aber ich habe ja Harry Potter und während der Rest der Familie, inklusive Richard, sich im Wohnzimmer weiter mit einem Brettspiel amüsiert, liege ich auf meinem Bett, rauche glücklich vor mich hin und lese weiter.

 

Bis einer dieser Ärsche tatsächlich wagt, an meine Tür zu klopfen.

 

Augenrollend und in einem entsprechend genervten Ton rufe ich „herein!“ und staune nicht schlecht, als es tatsächlich Richard ist, der da zu mir aufschaut, seine Arme vor seiner Brust verschränkt.

 

„Was machst du?“, fragt er und ich halte das Buchcover kurz hoch, damit er es sehen kann. Er lacht kurz; eher gehässig als warmherzig, aber das ignoriere ich so gut es geht. „Hast du die Hausaufgaben eigentlich schon fertig, die ich dir vor den Ferien aufgegeben habe?“, will er dann von mir wissen.

 

Ich antworte nicht verbal, sondern deute beiläufig Richtung meines Schreibtisches auf dem der Laptop steht. Ohne etwas Weiteres zu äußern setzt Richard sich auf meinen Stuhl und beginnt in meinen Heften und Ordnern zu blättern. Obwohl ich gerne weiter lesen würde, fällt mir meine Konzentration schwer; immer wieder muss ich zu ihm rüber linsen.

 

Er hat einen breiten Rücken. Das fällt mir jetzt irgendwie erst so richtig auf, während ich meine Augen über seinen Körper wandern lasse. Dabei werde ich noch auf andere Dinge aufmerksam: Sein Haar ist wirklich dicht und seine Arme sehr ausgeprägt, so männlich und muskulös. Außerdem hat er eine unheimlich adrette Körperhaltung und streicht sich, während er so furchtbar konzentriert ist, mit der rechten Hand unentwegt durchs Haar.

 

Er passt so gar nicht in mein Zimmer, in dem alles nach Punk und Chaot schreit.

 

Nach einer gefühlten Ewigkeit, in der ich tatsächlich nicht einmal eine Seite weitergekommen bin, steht Richard endlich auf und dreht sich mir wieder zu.

 

„Gar nicht so übel“, urteilt mein Nachhilfelehrer dann, die Hände in den Taschen seines dunkelblauen Anzugs. Fast schon ein wenig lässig steht er da und schaut mich schweigend an.

 

„Du kannst jetzt wieder gehen“, sage ich so trocken wie ich es nur geht, das Buch immer noch aufgeschlagen in meinen Händen liegend. „Du brennst doch sicherlich darauf, den heißen Karl wieder in deiner Nähe zu haben“, füge ich nach einigen Sekunden Stille an. Richard bewegt sich kein Stückchen, er blinzelt nicht einmal, sondern starrt mich weiterhin emotionslos an. „Geh“, wiederhole ich und deute mit dem Kopf in Richtung Tür. „Geh und schmachte Karl weiter an. Aber ich befürchte, gegen Frau Zetel kommst du mit deiner flachen Brust und deinem Würstchen in der Hose nicht an.“

 

Ich presse die Lippen aufeinander, als Richard plötzlich scharf die Luft einzieht und umklammere das Buch, bereit für eine weitere brutale Attacke meines Hobbylehrers. Doch sie bleibt aus. Stattdessen macht Richard auf dem Absatz kehrt und knallt die Zimmertür hinter sich so laut ins Schloss, dass er Vanessa damit starke Konkurrenz macht.

 

Es vergehen einige Sekunden, bis ich erkenne, dass ich ihn wohl zum ersten Mal wirklich getroffen habe. „Wow...“, murmele ich geistesabwesend, meine Augen auch noch Minuten später immer auf der Zimmertür ruhend. Meine literarischen Stunden sind nun endgültig gezählt; konzentrieren kann ich mich auf kein einziges Wort mehr.

 

Ich habe Richard Vogt gerade sprachlos gemacht.

Das ist unfassbar.

 

Kurzzeitig überlege ich sogar, mich noch einmal zu bewegen und dieser abstrusen Szenerie beizuwohnen: Karl und Anna-Maria zusammengepfercht auf dem Sofa, beide mit ihrem geübten, festlichen Lächeln auf dem Gesicht, eine dümmlich lächelnde Vanessa unweit daneben, deren Gedanken eigentlich nur um einen gewissen Deniz kreisen, und auf dem Zweisitzer gegenüber der Familie mit vermeintlichem Heiligenschein: Richard Vogt, der den guten Freund und Arbeitskollegen mimt und vermutlich an nichts anderes, als an dreckigen wilden Sex mit meinem Alten denken kann. Irgendwie... beunruhigend und gleichermaßen abstoßend.

 

Diese Gedanken schaffen es tatsächlich, mich müde zu machen; ich drifte ab in einen leichten Schlaf und bestreite ein Quidditch-Turnier mit meinem besten Freund Harry, der in meinem Traum allerdings aussieht wie Kurt. Mein nerviger Klingelton weckt mich, wie so oft und es ist tatsächlich meine Mutter, die mir erzählt, wie schön es gerade in Österreich ist. Damit teilt sie mir dann auch gleichzeitig mit, dass unser eigentlich für morgen vereinbartes Treffen flachfällt und wir uns erst im nächsten Jahr wiedersehen werden.

 

Meine Laune ist endgültig dahin. Ich kann nicht einmal den kleinen Triumph gegenüber Richard genießen.

 

Das ist nicht das erste Mal, dass sie mich versetzt und dann auch noch kurz vor unserem Treffen. Wann habe ich sie das letzte Mal gesehen? Vor einer gefühlten Ewigkeit.

Wie gut, dass ich Zigaretten habe.

Mein Konto aber bleibt leer und damit verflüchtigen sich auch alle Möglichkeiten, etwas anderes zu tun als zu lesen und den Süßigkeitenschrank zuhause zu plündern. Und das ist tragisch im Anbetracht dessen ist, dass bald das neue Jahr eingeläutet werden soll.

 

Es ist Kurt, der mich rettet. Der richtige Kurt, nicht die Harry Potter Version meiner nächtlichen Ausflüge ins Traumland.

 

„Du brauchst nichts mitzubringen, komm einfach zum Bahnhof und wir fahren zusammen hin, die ganzen anderen Schwachmaten bringen genug Bier und Sekt und Schießmichtot mit und deine Fahrkarte haste ja eh, oder?“, bellt er regelrecht ins Telefon, als er mir von der Party von einigen seiner Bekannten erzählt.

 

Der Gedanke daran, das neue Jahr mit Karl und Anna-Maria auf dem Sofa zu begrüßen ekelt mich einfach zu sehr an. Und wer weiß? Vielleicht haben die beiden ja schon wieder ihren neuen besten Freund Richard eingeladen?

 

Es schneit am Silvesterabend, Bastian wünscht mir per SMS einen guten Rutsch, als ich mit Kurt in die S-Bahn steige und dann noch in den Bus wechsle. Die Party steigt in einem Haus am Arsch der Welt und ich frage mich, ob das hier überhaupt noch Hamburg ist. Die Musik ist laut und überall sind Leute, die trinken, rauchen, irgendwelche Pillen schmeißen, tanzen, lachen, reden, rumknutschen. Es gibt verdammt viel zu Essen und verdammt viel Flüssiges, wie mein Freund mir schon prophezeit hat.

 

Kurt stellt mir ein paar Leute vor und ich fühle mich endlich wieder lebendig, als ich mit ihm und zwei Tussis, deren Namen ich schon wieder vergessen habe, durchs Wohnzimmer zu den Takten von den Editors hopse. Wir trinken wild durcheinander. Sekt, Bier, Schnaps, Wein. Wir reden über Nichtigkeiten und absurde Weltuntergangstheorien, während wir das bunte Lichtermeer am Himmel betrachten.

 

Erst gegen 6 Uhr morgens treten wir den Heimweg an, als die Hälfte der Gäste sich eh schon verpisst hat und die restlichen Zombies auch nur noch in der Gegend herumliegen.

 

„Kommst du noch mit zu mir?“, fragt Kurt mich, kurz bevor die S-Bahn nach einer gefühlten Ewigkeit am Hauptbahnhof hält.

 

„…klar…“, willige ich ein. Schließlich bin ich schon so lange nicht mehr bei ihm gewesen.

 

Ich habe keine Ahnung, woher wir beide noch die Kraft nehmen, aber wir vögeln uns echt noch die Seele aus dem Leib. Als ich das letzte Mal auf die Uhr blicke ist es bereits halb zehn.

 

Der Heimweg einige Stunden später ist grausam. Die S-Bahn überfüllt, der Bus zu spät und ich komplett durchgefroren. Als ich endlich zuhause bin, erwartet mich wenigstens ein opulentes Essen und dieses Mal ist es mir sogar egal, dass ich mit meiner Familie an einem Tisch sitzen muss; wenigstens ist Mega-Arsch Richard nicht dabei.

 

Anna-Maria nervt mich zwar mit dieser wie immer völlig übertriebenen Fröhlichkeit, als sie in einem quietschigen Ton verkündet, wie sehr sie sich freut, das erste Festmahl im neuen Jahr mit der gesamten Familie zu teilen und wie wundervoll doch dieses Weihnachtsfest im kleinen Kreise gewesen ist. Vanessa klimpert mit den Wimpern und schaut verliebt in Richtung Decke, als sie von der Silvesterparty berichtet, die ja „so nett“ gewesen ist, weil sie nur zu sechst gewesen sind und mit lustigen Partyspielen und nur „etwas Sekt“ das neue Jahr begrüßt haben. Am Arsch. Aber Karl und Frau Zetel schlucken diese miese Story und ich sage einfach mal nichts, weil ich Kopfschmerzen habe und mir die Augen zufallen.

 

„Viktor“, spricht mein Vater mich mit gedämpfter Stimme an, als ich die Tür zu meinem kleinen Reich öffne.

 

„Hm?“

 

„Du weißt, dass ich dich mit all diesen Verboten die ich ausgesprochen habe nicht ärgern will, oder?“ Schweigend schaue ich meinen Vater an und Karl spricht weiter: „Ich will einfach, dass du es dieses Mal ernst nimmst, dass du es wirklich schaffst, einen Schritt in deine Zukunft zu gehen und... irgendwie auch selbstständig zu werden, verstehst du?“

 

„Das haben wir doch schon durchgekaut und ja, ich nehme das ernst, ja, ich will die Schule schaffen und ja, ich finde schon einen Beruf für mich, damit ich Geld habe und endlich nicht mehr unter deinem Dach hause, okay?“, entgegne ich, schenke ihm ein kurzes Lächeln und verschwinde dann in meinem Zimmer.

 

Auf diese Leier habe ich gerade einfach keine Lust.

 

Ich hätte Lust, mir Pornos im Netz anzusehen, mit irgendwem zu Chatten, mir Serien reinzuziehen. Stattdessen schmeiße ich mich aufs Bett und lese einfach weiter, bis mein Handy plötzlich klingelt und es tatsächlich Richard am anderen Ende der Leitung ist.

 

„Frohes Neues Jahr“, wünscht er mir mit eisiger Stimme.

 

„Ja, dir auch oder so. Was willst du? Vermisst du Karl und willst, dass ich ihm eine Liebesbotschaft überbringe?“, ziehe ich ihn auf.

 

„Nein, Danke. Du weißt sicherlich ganz genau, was ich wirklich von dir möchte“, antwortet dieser nur gelassen.

 

Natürlich kann ich es mir denken und ich möchte diesem Lackaffen am liebsten direkt ins Gesicht kotzen. Nicht nur, weil meine Masche dieses Mal keinen Erfolg hat und meine Worte erneut an ihm abprallen, wie an einer rutschigen Wand. Er informiert mich, dass er meinem Vater soeben einige Aufgaben und Texte gemailt hat, die ich doch bitte bis zu unserer nächsten Nachhilfestunde in fünf Tagen erledigen soll.

 

„Dann ist dir nicht so langweilig“, fügt er amüsiert hinzu. Ich will gerade Abscheulichkeiten ins Telefon bellen, muss aber feststellen, dass Richard schon längst aufgelegt hat. Dieser... miese Sack!

 

Wenigstens habe ich eine Sache, auf die ich mich freuen kann und die mir hilft, diesen Anruf wieder zu vergessen: Bastian kommt wieder. Und ehrlich gesagt freue ich mich wirklich. Ich kann es kaum erwarten, wieder in sein hässliches Ikea-Bett zu springen und sinnlose Gespräche über Tiefkühlpizza zu führen.

 

Es ist kalt, als ich am Hauptbahnhof am Gleis warte, so wie ich es ihm versprochen habe. Nur die Blumen habe ich ausgelassen. War mir dann doch irgendwie zu dämlich und mädchenhaft. Trotzdem muss ich dümmlich grinsen, als sich meine Augen auf Bastian legen, der seinen riesigen Koffer aus dem ICE hievt.

 

„Hallo, schöner Mann!“, grüße ich ihn völlig unoriginell, aber scheiß drauf.

 

„Hallo“, kommt es eiskalt zurück und ich stoppe meine Umarmung, noch bevor sie überhaupt richtig begonnen hat. Irritiert starre ich ihn an, aber Bastian hingegen weicht meinem Blick aus.

 

„...alles okay?“, hake ich etwas unbeholfen nach und er schaut mich immer noch nicht an. „Ist etwas passiert?“ Es vergehen noch einige Sekunden, ehe er mich endlich ansieht. Sein Blick ist giftig und ich habe keine Ahnung, was eigentlich Sache ist. „Ey, kannst du mir jetzt mal sagen, was los ist? Wie wär's mit frohes 'Neues Jahr', oder 'hier bin ich wieder“ oder 'hey Viktor, ich habe dich vermisst' oder was auch immer!“, fahre ich ihn an, als wir uns etwas abseits des Menschenstromes am Gleis positioniert haben.

 

„Okay...“, sagt Bastian dann immer noch eiskalt, verschränkt die Arme vor der Brust und schaut mich irgendwie herausfordernd an. „Hallo, du Hure. Hast du deinen Silvesterfick genossen?“ Ich will etwas entgegnen, aber die Worte bleiben mir unschön im Hals stecken. Ist aber auch egal, denn es ist Bastian, der weiter redet. „Ja, dein idiotischer Freund hat das Video von eurem Scheiß hochgeladen, ich hab's gesehen. Ich hoffe du hattest Spaß. Tschüß.“
 

Er macht auf dem Absatz kehrt, aber ich packe seinen Arm und wirbele ihn wieder herum zu mir.

 

„Du bist angefressen, weil ich mit Kurt Sex hatte, als du nicht da warst?!“, frage ich ihn ungläubig und das bringt das Fass offenbar zum Überlaufen. Ich meine sogar, eine pulsierende Ader auf Bastians Stirn zu entdecken, als er mich anschreit.

 

„Du bist so ein debiler, unsensibler Arsch!“ Eine handvoll Menschen sieht uns skeptisch an.

 

„Ich verstehe nicht, was dein Problem ist!“, brülle ich zurück.

 

„Mein Problem ist, dass wir beide eine Beziehung aufbauen und du, kaum dass ich weg bin, schon mit dem nächsten ins Bett springst!“, zischt er und erst da geht ein Licht in meinem Kopf auf.

 

„...du... und ich... du hast gedacht, wir sind zusammen?“

 

„Da war ich offenbar auch der einzige!“

 

„Hey, wir haben niemals etwas von Beziehung oder Monogamie oder so etwas gesagt!“, protestiere ich und muss zugeben, dass ich von dieser Situation doch etwas überfordert bin. Ich meine, ich hatte es ja schon irgendwie geahnt, dass er in mich verschossen ist, allerdings hätte ich nicht gedacht, dass er es wirklich ernst meint mit mir, und diese, nun ja, doch eher konservative Einstellung pflegt.

 

„Wir treffen uns jede Woche ein paar Mal, haben jede Menge Sex, gehen zusammen weg, hängen zusammen ab, telefonieren total oft miteinander, halten Händchen – ist das nicht alles, was ein Pärchen normalerweise macht?!“, wirft er aufgebracht ein.

 

„Ähm... ja...“, antworte ich vorsichtig, schiebe aber direkt ein: „Aber das heißt nicht, dass man ein Pärchen ist, nur weil man diese Sachen tut.“ Bastian schnauft. Er ist nicht nur wütend, wird mir klar, als ich in seine glasigen Augen sehe, er ist auch total verletzt. „Bastian...“, rede ich auf ihn ein, „es tut mir Leid, aber mir war nicht klar, dass wir in einer Beziehung sind, also... dass du das denkst. Verstehst du?“

 

„Also mir ist auf jeden Fall jetzt eines klar: Ich bin dir nicht genug und alles andere ist jetzt eigentlich auch nur noch nebensächlich. Ich bin einfach nur sauer auf mich selbst, dass ich auf deine Masche reingefallen bin und mich so reingesteigert habe und gedacht habe, ich könnte dich irgendwie zähmen. Und deswegen will ich jetzt nicht noch mehr Zeit mit dir verschwenden, sondern gehe nach Hause. Tschüß!“

 

Er schnappt sich seinen Koffer und stampft davon und mir bleibt nichts anderes übrig, als ihm dabei zuzusehen. Jetzt mit ihm zu sprechen, würde keinen Sinn machen. Und in einigen Tagen... wird es das sicherlich auch nicht tun.

 

Seufzend schleppe ich mich nach Hause. Was für ein Scheißtag. Nicht einmal Harry Potter kann mich aufmuntern oder die Tatsache, dass Vanessa sich mit Deniz gestritten hat und sich gerade die Seele aus dem Leib heult und Anna-Maria sie wie ein kleines Äffchen umspringt, damit es ihrer Stieftochter besser geht und Frau Zetel Pluspunkte sammeln kann.

 

Es geht sogar so weit, dass ich mich an Richards Hausaufgaben setze und auch noch mehr mache, als mir aufgetragen worden ist, und das haut selbst Richard aus den Socken. Das sagt mir jedenfalls sein Blick, als er sich alles ansieht während ich die Leckereien futtere, die er mir dieses Mal vorbereitet hat.

 

Wir reden an diesem Tag nicht viel. Nicht über dieses seltsame Weihnachten, nicht über die Tatsache, dass er so offensichtlich in meinen alten Herren verschossen ist und auch nicht über das Wetter. Ich habe tatsächlich mal keine Lust auf Konfrontation und Richard offensichtlich auch nicht. Auch wenn ich endlich weiß, wie ich ihn treffen kann.

 

Weil es die erste Stunde des Jahres ist und sie sogar noch vorm offiziellen Schulbeginn stattfindet, lässt Mr. Nachwuchslehrer mich ausnahmsweise etwas früher gehen.

Seltsam - und irgendwie sogar schade, weil ich nichts zu tun habe.

 

Das meiste von meinem neuen Geld ist auf die Handyrechnung draufgegangen. Dann hat Bastian sich tatsächlich bei mir gemeldet und die in letzter Zeit in mich investierten 50 Euro zurückgefordert. Er ist immer noch sauer. Und dann hatte mir Evelyn noch 40 Euro geliehen, die ich ihr sofort wiedergegeben habe, und für die neuen Kosmetika, die ich wirklich gebraucht habe, sind auch noch mal 30 Euro draufgegangen. Mir bleibt nicht viel und ich muss es gut dosieren und es ist so ätzend...!

 

Eigentlich sollte ich mich freuen, dass die Schule wieder losgeht, denn somit habe ich schließlich wieder eine Beschäftigung, der ich nachgehen kann. Das Problem ist nur, dass der Schulstart die völlig gegensätzliche Emotion bei mir auslöst.

 

Ich hasse es zwar zuzugeben, aber im neuen Jahr kommt es mir wirklich so vor, als würde ich in der Schule mehr verstehen, aber ich fühle mich komplett ausgebrannt, gleichzeitig rastlos; jeden Abend durch Hamburg zu den Stunden zu gurken und dabei all dieses pulsierende, bunte, chaotische Treiben mitzubekommen, an dem ich nicht teilnehmen kann, deprimiert mich. Alles was mir an Aktivitäten bleibt scheint das Vertilgen einer Portion billiger Pommes am Hauptbahnhof zu sein.

 

Zuhause geht Anna-Maria mir so richtig auf den Sack. Ständig räumt sie auf und kocht und backt und versucht mich zu irgendwelchen Gesellschaftsspielen zu überreden. Vanessa stopft sich all möglichen Süßigkeiten rein und frisst mir meine Lieblingsschokolade weg, weil sie Liebeskummer hat und wahrscheinlich gleichzeitig ihre Tage, und Karl ist einfach nur Karl; lächelt dümmlich, wenn er mich sieht und wagt es nicht, mich nach der Schule zu fragen, ist aber auch nicht weich genug, um mir meine Internetrechte wieder einzuräumen.

 

Ich hab Harry Potter komplett durch und kann nicht glauben, dass ich tatsächlich schon das nächste Buch angefangen habe. Immerhin ist das besser als das Vormittagsprogramm der bekannten privaten Sender...

 

Selbst die Ruhe am Vormittag, weil alle arbeiten oder zur Schule sind, geht mir langsam auf den Sack.

 

Alles nervt mich.

 

Mir geht auf den Sack, dass Richard in meinen Vater verknallt ist.

Die Geschichte mit Bastian geht mir auf den Sack.

Und mir geht auf den Sack, dass meine Mutter mich hat an Weihnachten sitzen lassen, um mit ihren komischen Künstlerfreunden einfach mal nach kack Österreich zu reisen und sie sich noch immer nicht bei mir gemeldet hat, obwohl sie schon längst zurück sein müsste.

 

„Alles in Ordnung bei dir?“, fragt Evelyn mich am Freitag, als wir nach dem Unterricht noch eine rauchen.

 

„Ich langweile mich. Wollen wir noch was trinken gehen? Ein, zwei Bier sind drin in meinem Budget“, schlage ich vor.

 

Doch meine Freundin lächelt entschuldigend. „Sorry, ich muss gleich direkt nach Hause. Ich gehe morgen mit meiner Ma und meiner Kleinen in den Tierpark“, erklärt sie. „Hey – vielleicht willst du ja mit?“

 

Mir wird klar, wie erbärmlich mein Leben im Moment eigentlich ist, als ich tatsächlich überlege, mitzugehen und der Gedanke an irgendwelche Tiere hinter Gittern so etwas wie grenzenlose Begeisterung in mir auslöst. Gut, dass der berühmte Hamburger Tierpark nicht in mein Budget passt und Evelyn natürlich kein Geld hat, um mich einzuladen. Schade nur, dass ich somit am Samstag absolut nichts zu tun habe, als zu lesen, eine Stunde in der Badewanne rumzuhängen und dann ein Familien-Mittagessen über mich ergehen lassen muss.

 

Ich sortiere meine Klamotten. Ich schieße tausend Fotos von mir. Dass ich sie nicht hochladen kann, zerstört diesen kleinen Moment der Glückseligkeit wieder.

 

Unter Karls wachendem Blick sitze ich schließlich an dessen Laptop im Esszimmer und recherchiere einige Dinge für die Übungszettel, die ich vor mir liegen habe, ebenso wie Richards Aufgaben, die ich tatsächlich noch einmal durchgehe.

„Du bist ja richtig fleißig!“, lobt mein Vater mich mit diesem breiten Grinsen auf seinem Gesicht, das selbst sein dämlicher Vollbart nicht verbergen kann, als ich ihm den Laptop wiedergebe.

 

Ich möchte kotzen.

Noch mehr, als ich am nächsten Tag in der S-Bahn sitze, die mich zum widerwärtigsten Menschen auf diesem Planten bringt.

 

„Wundervoll, wie erfrischt und voller Energie du jetzt immer bist, wenn du herkommst“, begrüßt Richard mich gespielt freudig, und bedeutet mir hereinzutreten. 

 

Natürlich weiß er ganz genau, dass ich einfach kein Geld zum Saufen habe. Schon wieder ist da dieses dringende Bedürfnis, ihm in die Magenkuhle zu treten. Am besten mit Springerstiefeln. Wichser. Wie er schon wieder grinst, während er mich begutachtet.

 

„Schöne Grüße von meinem Daddy“, flöte ich daraufhin. „Er vermisst dich und sehnt sich nach dir. Nein, was sage ich da, er verzehrt sich nach dir“, trompete ich weiter, den Flur entlanggehend. Und bevor ich mich an meinen Lernplatz setze, schaue ich Richard in die Augen, dessen Miene sich doch tatsächlich verfinstert hat, und füge an: „Natürlich nur in deinen Träumen, mein Großer.“

 

Mein Nachhilfelehrer setzt sich und ich kann meine Klappe einfach nicht mehr halten. „Wie oft holst du dir einen runter, während du an meinen Vater denkst?“, frage ich, doch Richard antwortet nicht, sondern schlägt mein Heft auf, um meine Aufgaben zu korrigieren. „Jeden Tag? Jeden Morgen, wenn du unter der Dusche stehst? Oder läufst du in der Firma direkt zur Toilette, wenn du die Mittagspause mit ihm verbracht hast, um deiner Fantasie freien Lauf zu lassen, hm?“

 

„Viktor, such dir einen Psychiater“, entgegnet Richard spöttisch, ohne mich dabei anzusehen. „Du geilst dich gerade indirekt an deinem Vater auf. Das ist irgendwie... beunruhigend.“

 

Genervt schnalze ich mich der Zunge. „Ich finde es eher beunruhigend, dass mein Nachhilfelehrer sexuelle Fantasien mit meinem bärtigen Vater hat. Noch beunruhigender ist, dass du dich sogar in dessen Familienleben einmischst und hoffst, die Makler-Ehefrau mit deinem harten Schwanz irgendwie auszustechen.“

 

„Großer Gott...“, murmelt Richard augenrollend, aber das stachelt mich noch mehr an. Ich ignoriere auch die dicken Schoko-Muffins, die auf dem Tisch stehen und definitiv appetitlicher aussehen als alles, was Mrs. Stock im Arsch jemals in unserer Küche zusammengezimmert hat.

 

„Durchforstest du das Netz nach Karls schwulen Doppelgängern? Die bereit wären, es dir zu besorgen?“, säusele ich und Richard sagt nichts, aber seine Miene hat sich abermals verfinstert. „Suche bärtigen Typen, 1,85 m groß, Anzugträger mit dunklem Haar, willig für ein schwules Rollenspiel, Hamburg und Umgebung“, trage ich theatralisch eine mögliche Suchanzeige vor und muss beinahe laut loslachen.

 

Richard entlässt genervt eine Portion Luft aus seinen Lungen. Es ist eine kleine Belohnung.

 

„Der Typ mit dem du Giulia betrogen hast“, setze ich an und beuge mich etwas zu Richard vor, „sah er aus wie Karl?“

 

„Es reicht!“, brüllt Richard mich plötzlich so laut an, dass ich meine, mein Trommelfell würde gleich explodieren, zeitgleich springt er auf und schlägt mit seinen zu Fäusten geballten Händen gegen die Tischplatte; ein fluffiger Muffin kippt vom süßen Stapel.

 

Richards Augen sind zu winzigen, dunklen Schlitzen verengt. Seine Gesichtszüge vom Ärger zu einer hässlichen Fratze verzogen. „Hast du denn wirklich so gar keinen Respekt für deinen Vater?! Du solltest dich mal hören, du widerwärtiges, kleines Kind. Wenn dein Vater nicht wäre, würdest du doch von Obdachlosenheim zu Obdachlosenheim ziehen!“, schreit er mich an.

 

„Wie oft willst du mir sowas noch an den Kopf werfen?!“, keife ich zurück.

 

Ja, eigentlich weiß ich es besser. Zum einen, dass Richard irgendwo Recht hat und zum anderen, dass ich ihn nicht mehr so verärgern sollte, denn wer weiß, was ihm dann schon wieder durch den Kopf geht und was ich als Konsequenz zu spüren bekomme. Aber: Ich kann heute nicht anders, ich bin so aufgewühlt und einfach furchtbar wütend.

 

„Du klingst wie eine dämliche, festgefahrene Schallplatte. Ich dachte, du musst kreativ in deinem Beruf sein!“, schnauze ich ihn an.

 

Noch immer blickt er von oben auf mich herab mit dieser wutverzerrten Fratze, abgestützt am Tisch; wie ein scheußliches Raubtier, das auf den richtigen Moment für die tödliche Attacke wartet, die brutal, blutig und effizient ist.

Noch schlimmer ist jetzt allerdings dieses bedrückende Schweigen. Den Blick auf mich fokussiert sagt Richard einfach gar nichts. Er schnauft nicht einmal, seufzt nicht schwer, und er schnalzt nicht einmal mit der Zunge.

 

Seine Missbilligung ist dennoch offensichtlich.

 

„Was?!“, zische ich, einfach um diese mich in die Nervosität treibende Stille zu zerstören. „Jetzt fällt dir nicht einmal etwas darauf ein, Herr Oberschlau?“

 

Die Stille scheint erdrückend. Dass die zweite Stunde des Jahres so schnell eskaliert ist, überrascht selbst mich. Normalerweise würde Richard mich doch jetzt mit irgendeinem Objekt verdreschen, oder süffisant lachen und mir in netten Worten sagen, dass ich mich ins Knie ficken kann, weil er mich absolut nicht erst nimmt. All das geschieht jedoch nicht. Ich schlucke. Etwas stinkt hier gewaltig.

 

„Mir reicht es jetzt“, fasst Richard seine Gedanken mit ernster Stimme zusammen, die er im Schweigen zusammen gewoben hat. „Ich will, dass du jetzt gehst“, fügt er an und erhebt sich im selben Augenblick. Automatisch stehe auch ich auf und weiß im ersten Moment nicht, was ich sagen soll. Richards Blick ist nicht tadelnd, so wie er immer ist, wenn er mir die Leviten liest. Er ist arktisch kalt, irgendwie bedrohlich. Auf diese ganz böse Art; meine Knie sind weich und mein Herz fängt an schneller das Blut durch meinen Körper zu pumpen. Wahrscheinlich, weil mir klar wird, was hier gerade passiert.

 

„Rufst du jetzt Karl an?“, frage ich mit brüchiger Stimme.

 

Richard nickt und ich bin nicht imstande, noch irgendetwas zu entgegnen, mich zu entschuldigen oder ihn anzuflehen, es sich anders zu überlegen. Denn an diesem heutigen Tag ist einfach alles anders zwischen uns. Etwas sagt mir, dass ich ihn sowieso nicht umstimmen kann. Dass ich zu weit gegangen bin; vermutlich.

 

Mein Nachhilfelehrer wünscht mir keinen guten Tag, er sagt nicht auf Wiedersehen und er zeigt mir auch nicht noch einmal auf, was ich falsch gemacht habe, schickt keine tadelnden Worte mit auf den Weg. Stattdessen wünscht Richard mir „viel Glück“, und schließt die Tür.

 

Ich lasse mir Zeit mit der Heimkehr, lungere am Bahnhof herum, starre Menschen an und lese ein paar Zeitschriften im Laden, bis mich jemand rauswirft, weil ich nichts kaufe. Als die S-Bahn losfährt, ist es schon längst dunkel draußen. Es ist kalt und regnet. Das perfekte, norddeutsche Wetter.

 

Auf der Unterlippe kauend frage ich mich, was mich erwarten wird. Dass Karl mich rausschmeißt... das kann ich mir einfach nicht vorstellen. Erst recht nicht, weil er mir an Weihnachten erst meine geliebte Spiegelreflex wiedergegeben hat und mir erneut hat klarmachen wollen, dass er nur mein Bestes will.

 

...und was ist?

 

Karl ist einfach nur geladen – aber das Drama, das Richard da abgezogen hat, entpuppt sich als eben solches, als ein pathetisches Theaterstück, reine Fiktion. Leere Drohungen, heiße Worte.

 

Karl ordert mich in sein Arbeitszimmer und ja, er schreit rum, schrecklich laut sogar und ich weiß gar nicht, wie ich ihm antworten soll und ja er hat mir meine Canon schon wieder weggenommen und – das ist tatsächlich das Schlimmste und ich raste aus – er hat einen Teil meiner Klamotten in die Altkleidersammlung verfrachtet.

 

Mein Vater brüllt. Ich brülle. Vanessa brüllt, weil wir brüllen, aber Karl schmeißt mich nicht raus und irgendwie würde ich am liebsten über mich selbst  lachen, als ich mich rauchend in meinem Zimmer abzureagieren versuche, dass ich jemals daran geglaubt hatte, mein Alter würde es ernsthaft in Betracht ziehen, seinen Erstgeborenen auf die Straße zu verfrachten. Egal wie sehr Herr Vogt dessen Gehirn wäscht.

 

Doch anstatt, dass mich das alles aufmuntert, zieht mich die Erkenntnis nur noch mehr runter.

 

Ich kann einfach nicht mehr.

 

Rauswurf hin oder her: Mein ganzes Leben besteht nur noch aus Richards Nachhilfestunden und den Übungszetteln, die ich jeden Tag nach dem Unterricht mitbekomme.

 

No money, no internet – no fun.

 

Ich habe keinen Spaß mehr, treffe mich kaum noch mit Freunden und Bekannten und ich habe – außer Lesen – einfach gar kein Hobby mehr, dem ich irgendwie nachgehen könnte. Ich fühle mich wie ein Gefangener, obschon ich eigentlich frei bin. Und meine Ma – die hat sich immer noch nicht bei mir gemeldet. Ich hatte es ja schon mit der Angst zu tun bekommen, aber ihre Busenfreundin Annika, die an der gleichen Schule unterrichtet und die ich in meiner hoffnungslosen Lage angerufen habe, hat Entwarnung gegeben: Meine Mutter ist längst aus Österreich zurück und ihr geht es gut. So gut, dass sie die ganze Zeit über bei ihrem neuen Lover pennt und ihr Handy ignoriert. Ich möchte heulen, und zwar vor Wut.

 

Das ändert sich auch am Montag nicht, als ich nach einem eher erfreulich langen Schlaf erwache und mich trotzdem so fühle, als hätte ich wochenlang die Augen nicht zugemacht. Und so kommt es, dass ich am Nachmittag meinen Arsch auch nicht hoch kriege und mich mit Kurt treffe, anstatt nachmittags zur Schule zu fahren. Wir betrinken uns und in der Nacht schauen wir DVDs; und vögeln.

Am Dienstag fahre ich erst gar nicht nach Hause. Allein der Gedanke an Karls dämliches, ernstes Gesicht und seine taxierenden Blicke macht mich wahnsinnig. Ich versuche wirklich Kraft zu schöpfen, mich zusammen zu reißen – aber auch an diesem Tag erscheine ich nicht zum Unterricht.

Mittwoch schlafe ich lang und fahre dann zu Bartosch. Wir zocken die halbe Nacht.

Donnerstag fahre ich einfach mit der U-Bahn durch die Gegend und weiche sämtlichen Gesprächsversuchen meiner Familie aus.

Freitag hänge ich am Hauptbahnhof ab, lasse mir Pommes von irgendwelchen besoffenen Mädchen ausgeben und danach noch ein Bier von Evelyn, die mir tadelnde Worte mitgibt; fast schon wie Richard.

Der Samstag ist grässlich. Ich habe absolut nichts zu tun. Absolut nichts.

 

Die Hausaufgaben von Richard, wie immer per Mail an meinen Vater zugestellt und für mich auf hochwertigem Papier ausgedruckt, liegen vor meiner Nase wie ein Mahnmal.

 

Ja, irgendwo fühle ich mich schlecht, dass ich eine gesamte Woche geschwänzt habe. Ja, ich weiß, dass ich mich wenigstens an jene Aufgaben setzen sollte, um größeren Ärger zu vermeiden. Aber ich kann nicht. Kaum habe ich den Stift in der Hand, verlässt mich all meine Kraft und ich falle einen dunklen Korridor hinab.

 

Ich will diese Schule schaffen – aber ich bin so schlapp!

 

Genauso fühle ich mich, als ich am Sonntag in die Bahn setze. Eine halbe Stunde zu spät, weil ich mir bis zum Schluss nicht sicher war, ob ich überhaupt hingehen soll. Aber nun stehe ich tatsächlich vor Richards Haustür und würde ihm am liebsten auf die Fußmatte kotzen, auf der in schnörkligen Lettern ein Willkommensgruß platziert ist; mir gilt dieser sicherlich nicht. Ich klingele und nichts passiert. Ich klingele ein weiteres Mal und warte erneut.

 

Macht Richard nicht auf, weil ich zu spät bin? Oder ist er wahrhaftig nicht zuhause?

 

Nach dem dritten Klingeln wird die Tür letztendlich doch aufgezogen. Richards Miene ist finster. Trocken bittet er mich herein; dieses Mal steht rein gar nichts zum Knabbern auf dem Tisch, es riecht nicht einmal mehr nach frisch gebrühtem Kaffee.

 

„Hausaufgaben“, sagt er knapp und streckt die Hand nach ihnen aus. Ich seufze.

 

„Ich hab sie diese Woche nicht geschafft, sorry“, lüge ich.

 

„Übungszettel?“, hakt er unbeirrt weiter nach.

 

Ich schüttele den Kopf.

 

„Zu sehr mit Harry Potter beschäftigt?“

 

Ich schweige. Es ist noch beschissener als vor einer Woche. Wahrscheinlich ist Richard sauer, dass mein Alter mich nicht rausgeschmissen hat.

 

„Viktor, was hast du am Freitag eigentlich am Hauptbahnhof zu suchen gehabt?“, fragt Richard mich plötzlich.

 

Meine Alarmglocken schellen, aber ich bleibe ruhig. „Pommes essen“, sage ich; was nicht einmal wirklich eine Lüge ist.

 

Richard lehnt sich zurück und sein Blick, mit dem er mich begutachtet, ist einfach vernichtend. „Aha“, macht er unzufrieden. „Pommes essen“, wiederholt er. „Ist das dein neustes Unterrichtsfach?“

 

„Was geht dich eigentlich an, was ich in meiner Freizeit mache?“, zische ich und versuche ihm dabei nicht in die Augen zu sehen, während ich nachdenke, wie ich Richards Gefühle für Karl wieder ins Spiel bringen kann, um ihm eins auszuwischen. Und was hat er überhaupt am Hauptbahnhof gemacht?! Ich dachte, der feine Herr fährt überall mit dem schicken Wagen hin.

 

„Deine Freizeit geht mich herzlich wenig an“, entgegnet der Nachhilfelehrer bestimmt, „allerdings hast du deine Pommes während der Unterrichtszeit gegessen – und danach auch nichts mehr Sinnvolles dort angestellt.“

 

„Beobachtest du jetzt also nicht nur meinen Vater, sondern auch noch mich? Denkst du wirklich, du kriegst Karl mit deiner vorgeheuchelten Sorge um mich noch rum, oder was?!“, zische ich, während ich zunehmend nervöser werde.

 

Richard lacht kalt. „Ich sorge mich nicht um dich, Viktor“, meint er dann, seine Stimme tief und furchterregend. „Ich will nur die Fakten vor Augen haben. Warum bist du heute eine halbe Stunde zu spät gekommen?“

 

„Wird das hier ein Verhör, oder was?“

 

„Das ist schon ein Verhör, Mr. Oberschlau.“

 

„Dann beende ich es jetzt.“

 

„Du hast geschwänzt, oder?“

 

„Hast du mich den ganzen Freitag beobachtet, oder was?“

 

„Nur eine Weile“, sagt Richard kalt. „Du hast die ganze Woche geschwänzt, oder?“

 

„Und du bist sauer, dass Karl mich nicht auf die Straße verfrachtet hat, oder?“, äffe ich ihn nach.

 

„Du spielst mit Feuer“, droht er und schon wieder gehen die Pferde mit mir durch.

 

„Ach, dann machen wir halt heute wieder keine Nachhilfestunde! Schick mich nach Hause, ruf ihn an und dann wird er mir halt noch mehr das Taschengeld kürzen und das wird megascheiße, ich weiß langsam nicht mehr, was ihr von mir wollt!“, schreie ich ihn an und bevor er mich überhaupt rausschmeißen kann, oder mir wieder eine klebt, oder was auch immer, stürme ich aus seiner Wohnung und lungere wieder stundenlang gelangweilt am Hauptbahnhof rum. Wenigstens treffe ich ein paar Bekannte, die mir ein Bier ausgeben.

 

Es ist spät, als ich nach Hause komme, immer noch geladen wie eine Pistole. Ich öffne die Haustür und runzele die Stirn. Eine Reisetasche steht da, vollgepackt. Haben wir Besuch? Zieht Richard jetzt etwa bei uns ein, damit er und Karl mir gleichzeitig auf die Nerven gehen können, Richard Karl anschmachten kann und ich einfach tagtäglich Nachhilfestunden bekomme?

 

Mit diesen Gedanken stampfe ich ins Wohnzimmer, will gerade mein Maul aufreißen und die anwesenden Familienmitglieder anbrüllen, als mein Blick auf Vanessa fällt. Wie ein Häufchen Elend steht sie da und kaut auf ihren Fingernägeln herum. Das hat sie seit Jahren nicht mehr gemacht. Karl sitzt auf dem Sofa, käsebleich und im ersten Moment glaube ich schon fast, dass Anna-Maria etwas zugestoßen ist, bis ich sie auf dem Sessel sitzend sehe; ihr Blick eine Mischung aus Nervosität und Betrübtheit.

 

Alle starren sie mich an. Doch keiner sagt ein Sterbenswörtchen.

 

„...ist was passiert?“, höre ich mich schließlich selbst fragen.

 

Das ist es.

 

Mein Vater kommt auf mich zu und zum ersten Mal in meinem Leben kann ich seine Miene nicht sofort deuten. Karl ist wirklich weiß im Gesicht. Als hätte er einen Geist gesehen, auch wenn er nicht an das Paranormale glaubt.

 

„…Richard hat mich angerufen…“, sagt er dann.

 

„Und?“

 

Dass mein debiler Nachhilfelehrer hier anruft und sich über mich beschwert ist ja nun wirklich nichts Neues und aus den Socken hauen sollte es meinen Alten schon auch nicht mehr. Und doch scheint Karl irgendwie aufgewühlt nach diesem neusten Telefonat.

 

„Er… er hat mir wieder erzählt, wie du alles boykottierst. Und dass du Freitag, und wer weiß wann noch, die Schule geschwänzt hast. Er hat dich am Hauptbahnhof gesehen.“ Karl hält kurz inne und lässt seine Augen durch den Raum wandern, ehe sie mich wieder fokussieren. „Ich wollte dich echt nicht rausschmeißen. Ich wollte dir wirklich noch eine Chance geben. Nach all den Chancen die ich dir bereits gegeben habe… Aber jetzt bleibt mir keine andere Wahl“ fügt er bitter hinzu und schnauft.

 

…die Reisetasche.

…Karl will mich wirklich rausschmeißen?

Meine Kehle wird trocken.

 

„Ich wollte Vanessa deinen Laptop geben“, sagt er und meine Schwester zuckt auf, als ihr Name fällt und stiert den Boden an, die Lippen hart aufeinander gepresst. „Ich habe netterweise all deine Dateien auf eine externe Festplatte gezogen… und ich weiß nicht wie, aber plötzlich hat das Scheißding einen deiner Filme abgespielt…“

 

Seine Stimme stockt und Tränen steigen in seinen Augen auf; meine Schwester ist bereits am Schluchzen und mir läuft es eiskalt den Rücken hinunter. So habe ich die beiden noch nie erlebt. Vanessa ist selbst nach der Scheidung meiner Eltern nicht so fertig gewesen wie jetzt – und damals hat sie auch gelitten; und wie.

 

„Wie kannst du so etwas nur machen, Viktor?!“, schreit Karl mich plötzlich an und dieses Mal bin ich es, der bei der Nennung seines Namens zusammenzuckt.

 

„Was?!“, japse ich völlig überflüssig. Ich weiß genau, welche Filme er meint.

 

„Mit Männern ins Bett gehen?!“, brüllt er – und ich hole tief Luft.

 

Ich hatte ja schon immer gewusst, dass Karl zu spießig ist, um Homosexualität irgendwie zu lobpreisen; dass er viel zu viele Vorurteile hegt. Er hat zwar nie irgendetwas Abwertendes gesagt, allerdings auch nie etwas Positives. Aber dass ihn jetzt die Tatsache, dass sein eigener Sohn mit Kerlen schläft, mehr aufregt als der reine Fakt, dass es sich um Pornos handelt, katapultiert mich an die Decke.

 

„Warte…“, stammele ich und lache wütend-nervös, „dir geht es nicht um die reine Tatsache, dass es Amateur-Pornos sind, sondern, dass es schwule Amateur-Pornos sind? Das heißt… wäre es mit Mädchen, wäre es okay?“

 

„Jetzt komm’ mir nicht so!“, zischt mein Vater, aber ich falle ihm ins Wort, bevor er weiterreden kann.

 

„Du schmeißt mich raus, weil ich mich von Kerlen ficken lasse?!“

 

Karl fuchtelt nervös mit seinen Armen in der Luft herum. „Ich kann dich momentan nicht ertragen. Deine gesamte Art. Ich dachte, du meinst es endlich ernst mit deiner Zukunft, aber du respektierst dich ja selbst nicht. So habe ich dich nicht erzogen.“

 

„Was heißt denn, ich respektiere mich selbst nicht?!“

 

„Du versprichst mir, endlich einen wertvollen Abschluss zu machen, damit du eine berufliche Perspektive hast, dann strengst du dich null an, schwänzt die Schule und… du spreizt deine Beine wie eine billige Nutte und lässt dich von Männern vor der laufenden Kamera in den Arsch ficken… Verdammt, Viktor, das ist krank!“

 

„Hörst du dir eigentlich gerade selber zu?!“ Meine Stimme ist heiser, ich habe keine Spucke im Mund, mein Herz klopft wild und meine Handflächen sind schweißbedeckt. Hat er denn wirklich all meine Kommentare nicht mal ein bisschen ernst genommen?!

 

Anna-Maria ist aufgesprungen und legt ihre Hand beschwichtigend auf Karls Schulter. Aber dieser schiebt sie einfach wieder fort; Frau Zetel gefriert in ihrer Bewegung. Sie will etwas sagen, aber ihr bleiben die Worte im Mund stecken, als Karl mich anfährt: „Nimm deine Sachen, und geh’! Lass dich hier nicht mehr blicken. Sieh’ zu, dass du dein Leben allein auf die Reihe kriegst. Ich habe genug.“

 

Ungläubig starre ich meinen Vater an, oder wer immer dieser Mensch vor mir ist; ich erkenne Karl nicht wieder und so geht es dem Rest unserer seltsamen Familie offenbar auch. Vanessa heult so laut wie ein Baby und Anna-Maria wiederholt nun im Flüsterton „tu das nicht, Karl, bitte…“

 

Aber Karl tut es, packt mich am Arm, als wäre er so ein Psychopath wie Richard, und schiebt mich einfach aus dem Haus. Die Reisetasche landet vor meinen Füßen und dann reißt er mir sogar noch die Schlüssel aus meiner Hand; ich stehe allein in der Kälte und starre die Fassade meines Heimes an, das es offenbar nicht mehr ist.

 

… das kann doch nicht sein, oder?

 

 

 

 

 

 

 



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  z1ck3
2017-10-17T06:30:58+00:00 17.10.2017 08:30
Der Vater ist sowas von bescheuert!
Ich blase meinem Sohn jeden Monat 500€ in den Arsch (500€!!!!?) Und was sonst noch. Obwohl er stinkend faul ist und heule dann rum, dass aus ihm ein furchtbarer Mensch wird? Kann das Kind doch nix für wenn es ein verwöhnter Rotzbengel wird!
Und das ist er, meine Güte Viktor ist total anstrengend😝
Und Richard ein Sadist hilfeeee
Von:  cisba
2014-11-08T04:41:46+00:00 08.11.2014 05:41
hi du
wau, oh man naja ein wenig tut er mir ja schon leid aber man er sollte sich auch ein wenig ändern, glaube ich aber he freue mich echt wenn es weiter geht.
lg cisi


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