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Film Noir

Don't fear the reaper... (Bakura x Ryou)
von

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Die Männer von der anderen Seite

„…“

Sunset Mission – Bohren & der Club of Gore

 

Einige Wochen zuvor. Domino. Fünf Uhr morgens.

Das kleine Badezimmer, Bestandteil einer Hochhaussiedlung, die man vor zwanzig Jahren am Westende der Stadt errichtet hatte, bot kaum genug Platz für eine Person. Helles Licht nackter Neonröhren prallte an den weißen Fliesen ab und hüllte alles in einen kalten Schimmer, der einen blendete, wenn man aus der Dunkelheit kam. Der Dunst abgestandenen Duschwassers hing in der Luft, durchsetzt vom Moschusduft billigen Männershampoos. Er hatte einen dünnen Film über die Oberflächen gelegt und hatte nicht einmal den kleinen Badezimmerspiegel, den jemand einst über dem schmucklosen Waschbecken angebracht hatte, verschont. Über allem schwebte der Geruch frisch aufgebrühten Kaffees.

Yami Atem schloss die Knöpfe des dunkelblauen Leinenhemdes, welches er Minuten zuvor aus dem Schrank genommen hatte und betrachtete sich nachdenklich in dem holzgerahmten Badezimmerspiegel. Unzufrieden mit seinem Äußeren, verzog er missbilligend das Gesicht, ehe er nach einer schlichten Kaffeetasse griff, die er am Rand des Waschbeckens platziert hatte. Wortlos nahm er einen Schluck und strich sich mit den Fingerspitzen eine hellblonde Strähne hinter das Ohr.

Er war ein schlanker, beinahe zierlicher Mann, dessen sehnige Gestalt trotz allem von einer Kraft kündete, die leicht zu unterschätzen war. Kleiner, als man es von einer Person seines Alters erwarten würde, hatte er die Eignungsprüfung zur Polizeiakademie nur knapp bestanden. Sieben Jahre war das her. Feminin anmutende Finger fuhren durch dickes, bunt eingefärbtes Haar, während ein Paar blutunterlaufene, violette Augen aus dem Spiegel zurück starrten. Ihr sonst waches Blitzen war von dem Fakt, dass der Schlaf sich erst zwei Stunden zuvor seiner erbarmt hatte, ausgemerzt worden. Alles an ihm wirkte weich. Die Haut war blass, das Gesicht ohne charakteristische Erhebung. Volle Lippen, Stupsnase, die Augen ungewöhnlich groß. Nur die stille Entschlossenheit, die er bei allem, was er tat, stets ausstrahlte, kündete von der Härte, die in ihm wohnte.

Es war zu früh am Morgen, als dass er einen klaren Gedanken fassen konnte. Einem Roboter gleich nahm er die Tasse an sich und trat hinaus in den Flur.

Seit seinem Abschluss vier Jahre zuvor bewohnte er dieses Apartment in einem der weitläufigen Pendlervororte. Das Zimmer selbst war kaum zehn Matten groß und beherbergte neben einem Futon einen Kotatsu, einen Fernseher, ein Bücherregal und eine Küchenzeile – wobei letzteres den Namen kaum verdient hatte. Dekoration suchte man vergebens. Es wirkte steril, doch war es ausreichend für jemanden, der ohnehin kaum zu Hause war.

Er ließ den Blick über die Tatamimatten gleiten und seufzte. Wie alles in seinem Leben, so hatte seine Wohnung über die Jahre hinweg ein Chaos befallen, dessen er nicht Herr wurde. Die Decke des Futons unordentlich, eingerahmt von leeren Lebensmittelpackungen umliegender Supermärkte, einem überfüllten Aschenbecher aus Glas und ausgelesenen Mangamagazinen. Auf der dunkelbraunen Tischplatte des Kotatsus stand noch immer das schwere Glas, an dessen Grund Überreste jenes Whiskeys klebten, der in Form einer Flasche Yamazaki direkt daneben stand. Er trank oft, wenn er aß und noch öfter, wenn er es nicht tat. Die Verpackung des Bahnhofsbentos befand sich in der Nähe, die Essstäbchen lagen auf der hölzernen Tischplatte. Die Aromen von Eiche und Reisessig hingen in der Luft, die noch dick war vom Schlaf der kaum vergangenen Nacht. Es war kein Ort, an dem man lebte. Selbst die Einrichtung seiner Küche beschränkte sich auf wenige, ausgesuchte Teile. Genutzt wurde sie nie. Wie der größte Teil alleinstehender japanischer Arbeitnehmer ließ er sich seinen Speiseplan von umliegenden Schnellrestaurants und Konbinis diktieren. Dort fand er alles, was er brauchte. Es störte ihn nicht mehr, wenn es das jemals getan hatte.

Seit jenem Tag, an dem sich die Resignation in seinem Herzen eingenistet hatte, war es ihm gleich, mit was er sich durch den Tag brachte. Er lebte. Diese Zustandsbeschreibung genügte ihm vollkommen.

Er stellte die Tasse auf der Spüle ab und bahnte sich den Weg durch das Schlafzimmer. Sodann nahm einen schwarzen Parka aus Synthetik vom Haken an der Wand und wickelte sich einen Schal aus anthrazitfarbener Wolle um den Hals. Er schlüpfte in das Paar dunkler Anzugschuhe, das er am Abend zuvor achtlos im Genkan abgestellt hatte, fischte den Schlüsselbund aus einem Holzschälchen neben der Haustür und zog sie, ohne einen Blick zurück zu werfen, hinter sich zu.

Eine Stunde zuvor. Der schrille Klang des dunkelgrünen Wählscheibentelefons, welches neben seinem Kopfkissen auf dem Fußboden stand, riss ihn aus dem Schlaf. Starr vor Schreck und mit weit aufgerissenen Augen starrte er an die Decke, ehe im folgenden Moment der pulsierende Kopfschmerz einsetzte, der ihn immer dann heimsuchte, wenn er am Abend zuvor zu tief ins Glas geschaut hatte. Stöhnend drehte er sich auf die Seite und wühlte sich einarmig durch den Müll, der ihn umgab. Bei jedem Schellen zersprang sein Kopf in tausend Stücke. Einige Sekunden später hatten seine Finger den Kunststoffhörer erreicht. Erleichtert nahm er ab und beendete den zermürbenden Lärm.

„Atem.“

Er klang alles andere als erfreut über die nächtliche Störung. Schlecht gelaunt klemmte er den Hörer zwischen Ohr und Kopfkissen und zog die Decke über die nackten Schultern. Am anderen Ende räusperte sich jemand. Yami erkannte die Stimme sofort, war jedoch nicht überrascht. Für nächtliche Störungen dieser Art kam nur eine Person in Frage. Tief und sachlich, gehörte sie zu einem Mann, der immerzu rational handelte und das Wesentliche stets im Blick hatte. Seine kalte Art konnte so schneidend sein wie sein Verstand. Als das Räuspern Yamis Ohr erreichte, schnellte sein Puls in die Höhe. Etwas gutes hatten seine nächtlichen Störungen noch nie verheißen.

„Wir haben eine Leiche. Wie lange brauchst du?“

Im Hintergrund knackte und rauschte es. Yami vernahm Fetzen der elektronischen Bahnsteigansagen, in die sich das Knattern der ersten Pendlerzüge mischte. Mit einem Mal saß er kerzengerade im Bett. Die Decke glitt von seinen Schultern. Da er kaum mehr trug als Unterhemd und Shorts, begann er augenblicklich zu frösteln. Erneut streckte er den Arm aus und griff nach dem Wecker, der neben dem Telefon stand, drückte den silbernen Knopf, mit dem man die Beleuchtung einschalten konnte und las benommen die Uhrzeit vom digitalen Display ab. Vier Uhr dreiundzwanzig. Es brauchte drei Anläufe, bis die Anzeige in seinem Hirn Sinn ergab.

„Rufst du von unterwegs an?“

Sein Blick fiel auf die Temperaturanzeige. Sechs Grad Celsius. Frierend ließ er sich zurück in die Matratze sinken, innerlich fluchend über den diesjährigen Winter und die einfachverglasten Fenster. Seit seine Klimaanlage drei Tage zuvor den Geist aufgegeben hatte, hatte sich seine Wohnung in einen Eisschrank verwandelt.

„Ja. Ich bin in Meguro.“

Brummend zog er die Decke bis zum Kinn.

„Ein Mord?“, raunte Yami in den Hörer. Er schloss die Augen. Seine Stimme klang matt und erschöpft, ganz im Gegenteil zu der seines Partners, die keine Müdigkeit zu kennen schien. Warum er sich bereits so früh dort herum trieb, erschloss sich ihm nicht – er verzichtete darauf, nachzufragen.

„Die Spurensicherung sagt, es sieht danach aus.“

„Wo?“

„Im Hamarikyu-Park in Chuo.“

Einhändig öffnete Yami eine dunkelrote Zigarettenschachtel, die neben seinem Bett auf den hellbraunen Tatamimatten gelegen hatte. Als er nicht fündig wurde, drehte er sie auf den Kopf und schüttelte sie. Nichts. Kein Rascheln, keine Zigaretten, nichts. Sie war leer. Genervt schnippte er die Packung zur Seite und rollte sich auf den Rücken. Chuo. Bis dahin würde er mit den öffentlichen Verkehrsmitteln eine halbe Ewigkeit brauchen. Mit dem Auto ebenfalls. Halb fünf am Morgen und der Tag war bislang eine einzige Katastrophe.

„Alles in Ordnung?“, ertönte es aus dem Hörer.

„Ja, ja.“

Er fuhr sich mit der Zunge über die Unterlippe und bemerkte den zarten Hauch von Whiskey. Er musste vom letzten Abend zurück geblieben sein.

„Bin eben erst eingeschlafen.“

Auf der anderen Seite ertönte ein amüsiertes Schnauben.

„Das sagst du jedes Mal, wenn ich dich aus dem Bett hole, Atem."

Ja, sie kannten das schon. Ein alter Hut. Stete Routine in einem Leben, das bis auf ungelöste Verbrechen nicht viel zu bieten hatte. Ein mattes Lächeln erschien auf Yamis Gesicht. Er konnte es nicht abstreiten.

„Womöglich.“

Mit geschlossenen Augen lag er da. Allmählich ließ der Kopfschmerz nach.

„Das würde nicht passieren, wenn du mal mit einem Kaffee vor meiner Haustür stündest, anstatt mich immer nur per Telefon aus dem Bett zu werfen.“

Seine Mundwinkel zuckten belustigt.

„Ein bisschen mehr Romantik, weißt du?“

„Du weißt, dass das nicht passieren wird.“

Das Grinsen wurde breiter, doch der Schmerz in seiner Stirn blieb. Ohne Koffein würde er den Tag nicht durchstehen können, so viel stand fest.

„Natürlich nicht. Ich stehe jetzt auf. Gib mir eine halbe Stunde.“

„In Ordnung. Bis gleich.“

Es klickte, und der Mann am anderen Ende hatte aufgelegt.

Fünfzig Minuten später parkte Yami seinen silbernen Toyota Tercel auf dem Parkplatz unweit des Tores, welches den Eingang zum Park bildete. Er kannte diesen Ort, diente er als Naherholungsgebiet der hiesigen Bevölkerung, dessen weitläufige Grünanlagen eine Einheit bildeten mit der ans Meer angrenzenden Bucht der Stadt. Der Geruch von Salzwasser hing in der Luft. Kaum, dass er die Autotür hinter sich ins Schloss geworfen hatte, erfasste ihn eine Windböe und ließ ihn erschaudern. Der Winter war ein verdammt kalter Bastard dieses Jahr.

Er tat einige Schritte in der Dunkelheit, das Gesicht tief im Schal vergraben. Jeder Windstoß brannte in den Augen und ließ die gefühlte Temperatur noch weiter absinken. Steinchen schwarzen Schotters knirschten unter seinen Anzugschuhen. Yami schob die Hände in die Taschen seiner Jacke und blickte sich um. Es brauchte einen Moment, bis sich seine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnt hatten. Der Parkplatz war miserabel ausgeleuchtet.

Neben seinem Toyota fanden sich weitere Autos, in der Mehrzahl japanische Fabrikate. Die meisten trugen Nummernschilder, die ihm vertraut waren und die zu Kollegen gehört, die vor ihm am Tatort eingetroffen waren. Aus der Ferne, verdeckt von Bäumen und Sträuchern, drang ein kaum wahrnehmbares Gewirr von Stimmen zu ihm hinüber, in das sich hin und wieder vereinzelte, lautere Rufe mischten. Es dauerte nicht lange und Yami passierte das Tor, welches ins Innere des Parks führte. Für gewöhnlich schloss dieser seine Pforten am späten Nachmittag, und so verschluckte ihn die Dunkelheit, sobald er die ersten Bäume passiert hatte. Hin und wieder kam er an Männern und Frauen in weißer Schutzkleidung vorbei, die Füße in Gummistiefeln, die Hände in Handschuhen von der Farbe frischer Mayonnaise. Einige von ihnen trugen Aluminiumkoffer. Gemeinsam war ihnen allen eine gewisse Rastlosigkeit, die jeden ihrer Schritte zu begleiten pflegte. Nur die wenigsten hatten ein grüßendes Wort ihn übrig. Es waren die Mitglieder der Spurensicherung, jene, die zuerst vor Ort waren, und dafür sorgten, dass alles seine Ordnung hatte. Yami verstand ihren Unmut, mussten sie noch weniger geschlafen haben als er selbst.

Kaum, dass er den Park betreten hatte, nahmen Kälte und Luftfeuchtigkeit zu. Das Aroma frischer Kiefernnadeln und toten Laubs erfüllte die Luft. Yami vernahm das metallische Rufen aufgeschreckter Vögel, die vom plötzlichen Tumult in ihrem letzten Rückzugsort laut ihre Empörung kund taten. Ein Schaudern erfasste seinen Körper, in Folge dessen er den Kragen seiner hoch klappte und den Schal über Mund und Nase zog. Zu gerne hätte er sich wieder in sein Bett verkrochen, doch es half nichts.

War das Licht auf dem Parkplatz noch schummrig gewesen, so wandelte er nun in pechschwarzer Dunkelheit. Die Hände suchend ausgestreckt wartete er darauf, dass sich seine Augen an die Lichtverhältnisse gewöhnen würden. Nachdem er einige Meter gegangen war, zweigte der Pfad nach rechts ab und verschwand nach fünfhundert Metern in einem dicht angelegten Waldstück, aus dem das helle Flackern kalten, artifiziellen Lichtes gebrochen durch die Äste zu ihm hindurch drang. Tatortscheinwerfer. Das Stimmengewirr nahm an Intensität zu.

Er fasste sich ein Herz und betrat den Hain, der sich – seinen Nerven war es nur recht – bereits nach wenigen Metern lichtete und den Blick frei gab. Die Scheinwerfer trafen ihn mit voller Härte. Geblendet hob Yami einen Arm und hielt ihn vor sein Gesicht, bis sich seine Augen an die Helligkeit gewöhnt hatten. Das Surren der Generatoren brannte sich in seinen Schädel, doch der allgegenwärtige Dieselgeruch gab ihm den Rest. Unruhig fuhr er sich mit den Fingern durch das Haar und atmete tief ein. Übelkeit hatte von ihm Besitz ergriffen, gesellte sich zu dem Pochen in seiner Stirn, das ihn begleitete, seit er eine Stunde zuvor die Augen aufgeschlagen hatte. Bei allem, was dir heilig ist, Atem, schoss es ihm durch den Kopf. Kotz jetzt nicht den Tatort voll. Reiß dich zusammen!

Blinzelnd riskierte er einen erneuten Blick. Vor ihm erstreckte sich ein künstlich angelegter See, der durch eine Lichtung in zwei Hälften geteilt wurde. Auf dem Wasser befand sich ein Teehaus in traditionellem Stil, von dem aus man eine gute Aussicht über die umliegende Landschaft hatte. Das Areal hatte man weitläufig mit Flatterband abgesperrt. Ohne zu zögern hob Yami das Band an und tauchte darunter hinweg, ehe er den Steg betrat, der zum Teehaus führte. Dort fand er die höchste Konzentration an weiß gekleideten Menschen vor. Einige platzierten Nummernkärtchen, andere trugen Kameras bei sich. Das Klicken des Auslösers einhergehend mit dem Flackern des Blitzlichtes sorgte dafür, dass Yami sich einmal mehr mit grimmiger Miene abwandte. In diesem Moment hätte er alles für eine Aspirin gegeben.

Wortlos betrachtete er die Gruppe bei der Arbeit, die immer wieder den Standort wechselte, sich murmelnd unterhielt und Dinge auf vorgedruckten Bögen notierte. Sie wirkten nicht wie eine Ansammlung von Einzelpersonen. Zusammen bildeten sie einen Korpus, der atmete, lebte – dachte. Einem Ameisenstaat gleich erledigten sie ihre Arbeit gewissenhaft nach einem Programm, dass man ihnen Jahre zuvor in muffigen Klassenzimmern eingeimpft hatte. Streng nach Dienstvorschrift, ohne jede Chance, jemals vom Schema abzuweichen. Sein Blick blieb an dem hölzernen Rahmen in der Mitte des Raumes hängen, der einst als Befestigung für die raumtrennenden Schiebetüren gedient haben musste. Dagegen lehnte der Körper einer Frau, der, eingehüllt in einen hellbraunen Wollmantel, eins wurde mit dem vergilbten Untergrund. Der Kopf hing vornüber gebeugt. Dichtes, schwarzes Haar verdeckte, einem seidigen Schleier gleich, ihr Gesicht. Die Hände, weiß im Licht der Scheinwerfer, ruhten regungslos in ihrem Schoß. Lederne Boots bedeckten ihre Füße. Ein aus dunkelrotem Wollstoff gefertigter Rock reichte bis zu den Knien. Ihre leblos ausgestreckt liegenden Beine waren auseinander gerutscht und ermöglichten den Blick auf ihr Allerheiligstes. Es vermochte nicht, Yamis Aufmerksamkeit länger zu bündeln, als es die dienstliche Routine erlaubt hätte. Bemerkenswerter waren die Spuren getrockneten Blutes, die sich ihren Hals hinab über den Mantel hinweg bis zur Höhe ihres Bauchnabels zogen. Sie musste viel davon verloren haben, denn es war nahezu überall, hatte sich vereinigt mit dem porösen Untergrund, der nun ohne Zweifel ein Fall für die Müllkippe war.

Die Stirn in Falten gelegt, ging Yami voran, bis er ein weiteres Absperrband, welches den Eingang zum Haus verriegelte, erreicht hatte. Auf dem Boden, direkt vor dem Körper, lag ein Portemonnaie aus braunem Leder. Jemand hatte es aufgeklappt und sämtliche sich darin befindliche Karten fein säuberlich daneben ausgelegt. Alles wirkte, im Gegensatz zu den Tatorten, an denen er zuvor gewesen war, merkwürdig geordnet. Bis auf die Unmengen an Blut deutete kaum etwas auf ein Gewaltverbrechen hin. Nichts im Raum schien beschädigt worden zu sein. Als wolle man sicherstellen, dass die Identität des Opfers im Trubel der Ermittlungen nicht verloren ging, hatte man ihre persönlichen Gegenstände ausgebreitet, ein identitätsstiftender Rahmen im Angesicht des Todes.

Er fuhr sich mit der Hand durch das Gesicht, massierte die Schläfen und rieb sich den letzten Schlaf aus den Augen, ehe er den Kopf hob und lange zur Leiche blickte. Er konnte nicht nennen, was es war, doch irgendetwas störte ihn. Irgendetwas war anders. Der Ermittler war sich nicht sicher, woher dieser Eindruck rührte, doch er konnte sich des Eindrucks, dass dem ganzen etwas vertrautes anhaftete, nicht erwehren. Fröstelnd verschränkte er die Arme vor der Brust und machte Anstalten, unter dem zweiten Absperrband hinweg zu tauchen, als hinter ihm eine Stimme ertönte, die ihn in seiner Bewegung erstarren ließ.

„Da bist du ja endlich.“

Verschreckt fuhr Yami herum. Für Sekundenbruchteile schoss sein Puls in die Höhe, normalisierte sich jedoch, als er erkannte, mit wem er es zu tun hatte. Sodann trat ein Lächeln auf seine Lippen. Vor ihm stand ein groß gewachsener, sehr schlanker Mann von knapp dreißig Jahren. Dunkelbraunes Haar fiel in das schmal geschnittene Gesicht, aus dem ihn ein Paar eisblaue Augen anblitzten. Trotz der frühen Stunde war er perfekt heraus geputzt. Ein weißes Hemd ragte unter dem Kragen des schwarzen Einreihers hervor, über den er einen dunkelgrauen Trenchcoat gezogen hatte – böse Zungen behaupteten, dass es sich dabei um seine Art des Humors handelte. In den Händen hielt er zwei dampfende Becher frischen Kaffees, wo auch immer er diese an jenem Ort, zu jener Stunde aufgetrieben haben mochte. Er wirkte schlecht gelaunt, doch das tat er immer. Seit drei Jahren arbeiteten sie zusammen. Sein Name lautete Seto Kaiba.

„Von wegen dreißig Minuten.“

Er klang verärgert. Yami ignorierte den Tonfall und hob abwehrend die Schultern.

„Entschuldige.“

Ohne zu fragen griff er nach einem der Becher und nahm einen vorsichtigen Schluck. Kaffee war das einzige, was ihn jetzt noch retten konnte. Mit einem flüchtigen Lächeln dankte er dem Anderen, doch dieser starrte nur ernst zurück. Ein Knistern lag in der Luft. Langsam ließ Yami den Becher sinken und betrachtete seinen Freund und Kollegen nicht ohne Argwohn. Setos Gesichtsausdruck jagte ihm einen Schauer über den Rücken.

„Stimmt etwas nicht?“

„Komm mit.“

Schlanke Finger schlossen sich um Yamis Oberarm und zogen ihn mit sanfter Gewalt vom Ort des Geschehens fort hinauf auf den Steg, über den Yami nur Minuten zuvor gekommen war. Hier, abseits von den Menschenmassen, waren sie ungestört, umgeben vom friedlichen Plätschern des Sees. Fernab der Scheinwerfer, hüllte die Dunkelheit sie ein. Verwundert betrachtete Yami Setos Hand, die ihn gepackt hielt, wandte sich um und warf einen letzten Blick hinüber zum Tatort, ehe er endlich stehen blieb. Mit dem Verhalten seines Kollegen konnte er nichts anfangen. Was war denn los? Normalerweise hätte Seto ihm jetzt die üblichen Instruktionen gegeben. Informationen zum Opfer, zum bisherigen Wissensstand, dem Zeitpunkt, an dem man die Leiche gefunden hatte – wer sie gefunden hatte – und wo sie am besten mit der Arbeit beginnen würden. Nichts von all dem geschah. Unruhig leckte Yami sich mit der Zunge über die Unterlippe und warf Seto einen Blick zu, der aus der sich allmählich einschleichenden Unsicherheit keinen Hehl machte. Seto verhielt sich abseits jeder der für ihn geltenden Normen und so abweisend, dass Yami nicht zu deuten vermochte, was in seinem Kopf vorgehen mochte. Übermüdet, wie er war, fand seine Geduld ein rasches Ende. Gefühle von Frustration und Sorge kochten in ihm hoch. Mit einem Ruck riss er sich los und trat einen Schritt zurück.

„Kaiba, was ist los?“, versuchte er das Eis zu brechen.

„Hat deine Herzensdame dich abserviert? Warum zur Hölle schubst du mich herum?“

Der Andere verzog keine Miene. Still schob er eine Hand in die Tasche seines Trenchcoats und nahm selbst einen Schluck Kaffee. Seine Mundwinkel umspielte nicht einmal der Hauch eines Lächelns, wie es sonst vorkam, wenn Yami ihn derart von der Seite anging. Sie arbeiteten lange genug zusammen, kannten sich gut genug, um solche Spielchen problemlos deuten zu können.

„Du weißt, dass ich keine Freundin habe“, erwiderte er trocken. Yami stöhnte auf.

„Das ist mir klar.“

Seufzend zog er eine kleine, dunkelrote Schachtel hervor, schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen und zündete diese wortlos an. Mit dem ersten Zug fiel die Anspannung von ihm ab. Kaffee und Zigaretten – ein richtiges Nuttenfrühstück. Es war der Moment, in dem Seto endlich eine Regung zeigte.

„Rauchst du wieder?“

„Ja.“

Der Brünette verzog das Gesicht.

„Du betreibst Raubbau mit deinem Körper“, stellte er nicht ohne Tadel fest. Eine Bemerkung, die ein dünnes Schmunzeln auf Yamis Lippen erscheinen ließ. Er konnte nicht abstreiten, dass der Andere Recht hatte. Kümmern tat es ihn nicht.

„Ich komm schon klar“, antwortete er tonlos und blies den Rauch in die kalte Nachtluft. Im Hintergrund konnte er ihre Kollegen auf und ab laufen sehen. Noch immer wunderte er sich über die Hektik am Tatort, die weit über das gewöhnliche Maß hinaus ging. Alle, die er heute getroffen hatte, hatten einen gehetzten Eindruck auf ihn gemacht. Es übertrug sich auf ihn und machte ihn nervös. Unruhig drehte er die Zigarette zwischen seinen Fingern hin und her, ignorierte den tadelnden Blick Setos und nahm einen weiteren Zug. Zwei Jahre hatte er es geschafft, ohne Nikotin durch den Alltag zu kommen. Dann hatte ihn die Überzeugung verlassen.

„Ist Yamamoto von der Staatsanwaltschaft schon da?“, fragte er beiläufig und drehte den Kaffeebecher in den Händen.

Yukiko Yamamoto war eine alte Bekannte von ihnen. Ehrgeizig und verbissen hatte sie schon so manchen Verdächtigen seiner Schuld überführt. Stets als erste am Tatort, war sie eine bemerkenswerte Karrierefrau, die sich ihren Posten in einer von Männern dominierten Welt hart erarbeitet hatte. Über die letzten Monate hinweg hatte sie einige Erfolge verzeichnen können, die über ihre Abteilung hinaus Schlagzeilen gemacht hatten. Sie war präzise, genau und ein Arbeitstier, vor dem man sich in Acht nehmen musste, mit einem Humor, schwärzer als der Kaffee, der in dem weißen Pappbecher in seinen Händen dampfte. Widerworte gab man ihr exakt ein Mal – dann nie wieder. Sie hatte Charakter und Durchsetzungskraft, und Yami hatte sie seit Beginn seiner beruflichen Laufbahn dafür respektiert und geschätzt.

Ihm entging nicht, dass sich etwas in Setos Gesicht veränderte, kaum, dass er ihren Namen ausgesprochen hatte. Mit zusammen gepressten Lippen blickte dieser für einen Moment zu Boden und schien nach passenden Worten zu suchen. Schließlich nahm er Yami den Becher aus den Händen und stellte ihn auf das weiß lackierte Geländer des Stegs. In diesem Moment ging mit  Yami, der langsam zu ahnen begann, dass die Unruhe am Tatort nicht nur ein Produkt seiner Einbildungskraft war, die Nervosität durch. Er öffnete den Mund, um einen Schwall von Fragen auf seinen Kollegen nieder regnen zu lassen, doch dieser schnitt ihm das Wort ab, ehe er einen Ton von sich geben konnte. Ihre Blicke trafen sich in der Dunkelheit.

„Darüber wollte ich mit dir reden.“

Die Ermittler verharrten in ihren Bewegungen und blickten einander stumm an. Setos Stimme hatte etwas so ernstes an sich, dass Yami kaum zu atmen wagte. Etwas in den Worten seines Kollegen, in dem Tonfall, der Art, wie er sprach, sagte Yami, dass etwas anders war als sonst. Das alles anders war als sonst. Alarmiert trat Yami einen Schritt näher an Seto heran und packte ihn am Oberarm. Dieser zuckte durch die Heftigkeit der Bewegung zusammen und hob abwehrend die Hände. Widerwillig ließ Yami ihn los.

„Sag mir, was passiert ist“, forderte dieser mit bebender Stimme, wandte sich ab und umklammerte mit beiden Händen das Geländer. Er musste sich beherrschen. Er durfte jetzt nicht die Fassung verlieren. Er war übermüdet und gestresst, aber all das war keine Entschuldigung dafür, sich unpassend zu benehmen. Aus den Augenwinkeln betrachtete er seinen Freund, der den Kaffee abstellte und nun die Arme vor der Brust verschränkte. Insgeheim wusste Yami bereits, was geschehen war, doch er musste es hören. Jemand musste es aussprechen.

Mit einem subtilen Kopfnicken deutete Seto in Richtung des Teehauses.

„Sie war wie immer vor uns am Tatort“, sagte er voll Bitterkeit. Die letzten Worte erreichten Yami schon nicht mehr. Kaum hörbar schnappte dieser nach Luft, musste sich festhalten, damit er nicht einknickte, denn seine Knie verließ mit einem Schlag jede Kraft. Für einen Moment hörte sein Herz auf zu schlagen.

„Yamamoto ist…“, presste er zwischen den Zähnen hervor, das Gesicht weiß wie Papier, die Augen weit aufgerissen. Seto nickte knapp.

„Ja. Yamamoto ist tot.“



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  berrymelon
2015-04-04T17:28:40+00:00 04.04.2015 19:28
Liebe.
Ich war kurz geneigt, es einfach bei diesem Wort zu belassen, weil es eigentlich alles aussagt, was mir so durch den Kopf geht. Ich weiß, dass es manchmal echt nicht den Anschein hat, weil ich ewig brauche, ehe ich mal ein neues Kapitel gelesen, geschweige denn kommentiert habe. Aber dieses Kapitel. Dieses eine Kapitel. Ich habe ihm entgegengefiebert sobald ich von seiner Existenz erfuhr und ich lasse immer wieder gern genüsslich meinen Blick darüber schweifen, einfach weil es so grandios ist.

Dass Atem und Kaiba auftauchen würden, war so ziemlich von Anfang an klar, allein weil sie in der Charakterbeschreibung auftauchen. Dass du sie zu Polizisten machen würdest, war mir jedenfalls so nicht ersichtlich, auch wenn ich mich gerade frage, welche andere Lösung mir jemals vorgeschwebt sein könnte. So wie es ist, fühlt es sich nämlich ziemlich perfekt an.
Ein weiteres Hoch auf deine Dialoge. Telefongespräche finde ich für gewöhnlich sehr langweilig, gerade in einer Situation wie dieser, in der man kaum eine Ahnung hat, was genau los ist. Wie du aber hier zwischen brummigem Unwillen und verspielter Vertrautheit wechselst, verzaubert mich total *_* Der Humor zwischendurch übrigens ebenso:
Bei allem, was dir heilig ist, Atem, schoss es ihm durch den Kopf. Kotz jetzt nicht den Tatort voll. Reiß dich zusammen!
Ahahaha.

Im Grunde fällt es mir echt schwer, irgendeine Art von Reaktion auf das Kapitel zu formulieren. Kennst du das, wenn du anfängst zu lesen und es ist in sich alles so schön stimmig, dass du kaum bemerkst, dass du am Ende angelangt bist? So etwa geht es mir hier. Es passiert die meiste Zeit über nichts, man wird nur mit der Umgebung vertraut gemacht und bekommt ein paar Gespräche mit. Aber es ist auf eine Art aufgezogen, die undefinierbar ansprechend ist. Fühl dir auf die Schulter geklopft ;)

Um übrigens kurz auf das Thema Musik einzugehen. Ich habe das Kapitel ohne und mit der von dir angegebenen Musik gelesen, und ich finde, dass dieses Gefühl von dreckigem Grunge durchaus ohne die Musik rüberkommt. Als ich sie dann hörte, passte es wie die Faust aufs Auge, aber ich denke durchaus, dass du die Stimmung auch sehr gut ohne sie aufbaust.
Von:  Kaylean
2015-02-15T19:22:17+00:00 15.02.2015 20:22
Großartig!
Ich liebe dieses Kapitel!

Ich freue mich so unendlich darüber, dass Yami endlich aufgetaucht ist. Ein wenig hatte ich den Guten schon vermisst. :)
Genauso wie den feinen Herrn Kaiba.

Ich liebe es, wie in diesem Kapitel wieder eine weitere Seite der Geschichte beleuchtete wird, indem die Polizei eingeführt wurde. Seit der Auftrag kam die Staatsanwältin zu töten und Bakuras ungutem Gefühl habe ich diesem Kapitel entgegen gesehen. Ich wurde auch wieder nicht enttäuscht. :)
Yami, wie du und ich ihn lieben, ein Wrack. Die Beschreibung seiner Wohnung, der Unordnung darin, die Szene mit dem Telefon hat wieder wunderbares Kopfkino verursacht. Ich bin einfach immer davon begeistert, wie gründlich, aber subtil du Erinnerungen einbaust in welcher Zeit die Geschichte eigentlich spielt. Kudos für das Telefon mit Wählscheibe.

Ich kann eigentlich gar nicht sagen, welcher Teil dieses Kapitels mir am Besten gefallen hat.
Jedenfalls freue ich mich endlich Yami und Seto wieder zu sehen.
<3

Antwort von:  MadameFleurie
16.02.2015 02:24
Mwihihi! Ich musste die tage bei nem rpg an dich denken. Kriegst gleich ne ens!
Von:  Arya-Gendry
2015-02-14T16:13:53+00:00 14.02.2015 17:13
Hi^^
Nun sind auch Yami und Seto aufgetaucht. Und beide Arbeiten bei der Polizei. Bin gespannt wie es weiter geht und ob sie den landen von Malik hoch gelassen und die anderen retten. ;)
Lg.
Antwort von:  MadameFleurie
14.02.2015 17:20
Wie immer die erste :) vielen dank!


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