Toris bricht die Regeln
Anstatt eine Karte zu spielen, als er an der Reihe war, legte Toris sein Blatt umgedreht auf dem Tisch ab. Er streckte die Hand aus und drehte das Radio, das gedämpft im Hintergrund gespielt hatte, etwas lauter.
„Was ist los?“, fragte Ivan überrascht.
Toris lächelte ihn an. „Das Lied gefällt mir“, antwortete er, als sei es nichts Besonderes. Er nahm seine Karten wieder auf und sah sie durch, ein undurchschaubares Lächeln auf den Lippen. Ivan betrachtete sein Gesicht im flackernden Licht der Kerze.
„Pik ist Trumpf“, sagte er, vielleicht in der Hoffnung, hilfreich zu sein.
„Damit kann ich nicht dienen.“ Toris schüttelte den Kopf und legte eine Kreuz-Sieben ab.
„Auch nicht schlimm. Ich finde ohnehin, Herz sollte Trumpf sein.“
„Weil Sie dafür das richtige Blatt hätten?“
„Weil ich es schön fände.“
„Es wäre ein guter Titel für eines von Raivis' grauenhaften Büchern, finden Sie nicht? Herz ist Trumpf.“
Toris hatte die Bücher, die Raivis verschlang, immer grauenhaft gefunden. Es waren Romanzen, je pathetischer, desto besser – Raivis war schmerzfrei, was das anging. Ivan hatte die dünnen, bunten Bände einige Male mit einem schuldbewussten Vergnügen überflogen. Es war eine schöne Welt gewesen, in der diese Bücher gespielt hatten. Und schön war die Welt damals gewesen, als Raivis' Kitschromane überall in Ivans Bücherregalen gestanden hatten. Früher.
„Ich will nicht davon sprechen.“
Toris schien einen siebten Sinn zu haben, der immer dann anschlug, wenn Ivan einen Satz mit „Früher“ beginnen wollte. Gespielt überrascht sah Ivan ihn an und griff nach einer der beiden letzten Karten, die er auf der Hand hatte.
„Wovon denn? Ich habe gar nichts gesagt.“
I don't wanna talk
About things we've gone through
Though it's hurting me
Now it's history
Seine Kreuz-Acht landete auf der Sieben derselben Farbe. Toris' Blick wanderte zwischen dem Stapel und den aufgefächerten Karten in seiner Hand hin und her. Er wirkte besorgt. Vielleicht würde er gewinnen, dachte Ivan und bemerkte, dass ihn noch immer die alte Aufregung packte, wenn er auf die Zielgerade einbog. Manche Dinge verloren ihren Reiz nach einer Weile, aber andere nicht. Karten spielen gehörte in letztere Kategorie. Zumindest Karten spielen mit Toris.
Toris zischte einen Fluch und legte einen Kreuz-Buben ab. Sein Blick huschte zu Ivans Gesicht, voller Unsicherheit, ob er das Richtige getan hatte, voller Furcht, er könnte schon verloren haben, ohne es zu wissen. Ivan hätte in diesem Blick versinken können. Einige Sekunden lang kostete er ihn aus und bemühte sich um einen unbewegten Gesichtsausdruck, bevor er lächelte und die letzte Karte mit einer theatralischen Geste auf den Tisch warf. Das Pik-Ass.
„Pik ist Trumpf.“
Erneut fluchte Toris, ließ seine restlichen Karten fallen und zwang sich zu einem Lachen. „Sie haben schon wieder gewonnen.“
Ivan lächelte und suchte unter Toris' wild hingeworfenen Karten nach dem Herz-Buben. Er war nicht da, und Ivan selbst hatte ihn auch nicht gehabt. Er musste wohl noch unter dem Stapel liegen. Was für eine Verschwendung.
I've played all my cards
And that's what you've done too
Nothing more to say
No more ace to play
„Ich finde, wir sollten um irgendeinen Einsatz spielen. Das macht mehr Spaß.“
„Ausgerechnet jetzt, da Sie diese Glückssträhne haben?“
„Ich habe von Anfang an gesagt, mit Einsatz wäre es lustiger“, verteidigte Ivan sich.
„Und ich habe Ihnen gesagt, dass ich kein Freund von Strip-Poker bin und kein Geld bei mir habe.“
„Irgendetwas wirst du ja wohl haben. Fast jeder hat doch etwas, was er immer bei sich trägt, weil es ihm teuer ist.“
Toris zögerte.
„Ich zum Beispiel habe das hier.“
Ivan griff unter seinen Schal, tastete eine Weile lang nach der Halskette und zog sie dann heraus. Ein rundes, silbernes Amulett baumelte daran, höchstens zwei Zentimeter im Durchmesser. Auf der glänzenden Vorderseite war ein fünfzackiger Stern eingraviert. Verblüfft sah Toris es an.
„Und ich weiß genau, dass auch du etwas um den Hals trägst. Du nimmst es niemals ab.“
Streng genommen stimmte das nicht. Ivan wusste erst, dass Toris es theoretisch niemals abnahm, seitdem er ihn in eine Situation getrieben hatte, in der er es doch getan hatte. Wenn ich diese Schande auf mich lade, dann nicht damit, hatte er geflüstert. Welche Schande?, hatte Ivan gefragt, der es dennoch gehört hatte. Und Toris hatte den Kopf geschüttelt und geschwiegen.
„Es ist mir viel zu teuer, um darum zu spielen.“
„Das hier ist mir auch teuer“, erwiderte Ivan ernst und legte sein Amulett behutsam auf der Tischplatte ab.
Toris biss auf seiner Unterlippe herum. Scheinbar ohne sein Zutun fuhr seine Hand in seinen Kragen und zog ein Lederband mit zwei Anhängern hervor. Es waren ein schlichtes Kreuz und ein goldener Ring, der tatsächlich so alt war, wie er aussah. Die Gravur auf der Innenseite war abgewetzt, und Ivan hätte die Schrift nicht entziffern können, wenn er nicht ohnehin gewusst hätte, was sie besagte.
„Sie geben“, murmelte Toris und legte die Kette neben dem silbernen Amulett ab. Ivan lächelte, raffte mit beiden Händen die Karten zusammen und türmte sie sorgfältig zu einem Stapel auf.
The winner takes it all
The loser's standing small
Beside the victory
That's her destiny
„Karo ist Trumpf.“
Schon wieder nicht Herz, er hatte sich Herz gewünscht. Aber dafür hatte er diesmal den Herz-Buben auf der Hand. Ivan musste sich beherrschen, um nicht zu lächeln. Er würde ihm Glück bringen.
Wortlos fächerte Toris sein Blatt auf. Er überflog die Karten, ohne eine Miene zu verziehen, ordnete sie mit dem Ernst und der Sorgfalt, mit der er jede Aufgabe anging, die ihm gegeben wurde. Es erinnerte Ivan an früher. Alles, was Toris tat, erinnerte ihn an früher – eigentlich kein Wunder. Früher war Toris immer da gewesen, ob er morgens frühstückte, abends ins Bett ging oder mitten in der Nacht erwachte und sich fürchtete und einsam fühlte. Toris war immer da gewesen, und es hatte sich gut angefühlt. Nicht so, als würde es jemals enden.
„Sie sind dran.“
Ivan starrte die Spielkarte an, ohne zu verstehen, was sie zu bedeuten hatte. Toris beobachtete ihn abwartend. Ahnte er irgendetwas von Ivans Gedanken?
Ich würde dich gerne noch einmal in den Armen halten.
Da Toris nicht irritiert aussah, schloss Ivan, dass er zumindest seine Gedanken nicht lesen konnte. Beruhigte ihn das? Wenn er ehrlich war, hätte er es reizvoll gefunden, wenn Toris in seinen Kopf hätte sehen können. So blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als eine Karte zu spielen.
Du weißt genau, dass du zu mir gehört hast, Toris. Vielleicht weißt du sogar, dass du es immer noch tust.
Nein – offensichtlich wusste Toris nicht, was er dachte.
I was in your arms
Thinking I belonged there
I figured it made sense
Building me a fence
Nachdenklich summte Toris einige Takte des Liedes im Radio mit. Seine Lippen bewegten sich, vielleicht kannte er den Text. Ivan war das Lied völlig unbekannt, es klang fremd, unpassend zu ihrer kleinen Runde. Ihm gefiel es nicht, aber wenn Toris es mochte, würde er nichts dagegen sagen.
„Ivan? Sie sind dran. Ich habe die Pik-Dame gelegt.“
Ivan lächelte und fuhr mit den Fingern über die alten, schon etwas speckig gewordenen Karten. Mit einem Pik-König konnte er dienen. Toris behielt ihn genau im Auge. Die beiden Halsketten, ihre Heiligtümer, lagen unberührt auf dem Tisch. Niemand hatte sie erwähnt oder auch nur angesehen, seitdem sie die Partie begonnen hatte. Vergessen hatte sie dennoch keiner von beiden, das war Ivan klar, dafür stand zu viel auf dem Spiel. Toris wollte gewinnen, und er lauerte auf eine Schwäche von Ivan. Auf diese Schwäche war er angewiesen wie ein Verdurstender auf Wasser. Wer nach den Regeln spielte, musste sich an sein Glück klammern. So funktionierte die Welt.
Building me a home
Thinking I'd be strong there
But I was a fool
Playing by the rules
Toris legte die Pik-Sieben. Herz-Sieben. Herz-Neun. Ivan betrachtete das Blatt auf seiner Hand. Herz-Bube? Nein, es kam überhaupt nicht in Frage, seinen Herz-Buben wegzugeben. Seelenruhig streckte er die Hand aus und zog zwei Karten. Kreuz-Zehn und Pik-Neun. Nicht schlecht. Er legte die Neun ab und lächelte Toris zu.
„Schwierigkeiten?“, erkundigte Toris sich höflich.
„Nur vorübergehend“, erwiderte Ivan im selben Tonfall. „Ich komme zurecht.“
„Das freut mich.“ Toris lächelte ihn an und legte die Kreuz-Dame behutsam auf den Stapel. Die Hauptsache war, dass er auf seinen Herz-Buben aufpasste, dachte Ivan und sah die abgegriffene Karte liebevoll an. Er hatte schon einmal den Fehler gemacht, ihn wegzugeben. Ein zweites Mal würde ihm das nicht passieren.
The gods may throw a dice
Their minds as cold as ice
And someone way down here
Loses someone dear
Die Kreuz-Sieben, die Kreuz-Zehn, den Herz-Buben und das Pik-Ass hatte er auf der Hand. Nach kurzem Überlegen legte er die Sieben ab und warf einen besorgten Blick auf Toris' zwei verbleibende Karten. Toris bemerkte es und lächelte ihn an, während er eine davon hervorzog.
„Kreuz-Acht.“
Ivan runzelte die Stirn. Wenn er die falsche Entscheidung traf, würde Toris seine letzte Karte ablegen und gewinnen. So siegessicher, wie er aussah, hatte er sicher einen Trumpf oder irgendein Kreuz auf der Hand. Ivan hätte die Kreuz-Zehn legen können, aber er ahnte, dass er die Farbe wechseln musste, wenn er noch den Hauch einer Chance auf den Sieg haben wollte. Seine Finger bebten leicht, als er zwei Karten vom Stapel zog. Irgendetwas, das ihm weiterhelfen würde. Ein Karo. Irgendein Karo.
Pik-Zehn und Herz-Zehn.
Er hatte den Kopf geschüttelt, bevor er sich daran hindern konnte. Toris zog die Augenbrauen hoch.
„Können Sie ablegen?“
„Ja!“, schnauzte Ivan ihn an und versuchte im nächsten Moment, es mit einem Lächeln zu entschuldigen. Worüber regte er sich auf? Es war ja nur ein Spiel, ein dummes Spiel. Er knallte die unschuldige Kreuz-Zehn so fest auf den Stapel, dass er verrutschte. Behutsam rückte Toris ihn wieder zurecht und legte seine letzte Karte obenauf.
„Kreuz-König.“
Eine weiße Karte aus Karton mit schwarzen Bäumchen in den Ecke und der Zeichnung eines ominösen Herrn mit Krone. Mehr war es nicht.
„Ich habe gewonnen.“
The winner takes it all
The loser has to fall
It's simple and it's plain
Why should I complain?
Wortlos griff Ivan nach dem Amulett und schob es Toris hin. Eine Niederlage war immer bitter. Er hasste diesen Geschmack und hätte alles getan, um ihn nie wieder schmecken zu müssen.
„Sie können es behalten.“
„Was meinst du?“
Toris stand auf, griff nach seiner eigenen Kette und hängte sie sich behutsam wieder um den Hals. „Sie können es behalten. Ich bin nicht an Ihrem Amulett interessiert. Mir gefiel die Idee mit dem Einsatz von Anfang an nicht...“
„Dann eben nicht“, unterbrach Ivan ihn schroff.
„...und außerdem haben Sie sicher ein Foto von jemandem darin, der Ihnen viel bedeutet.“
Toris lächelte, und Ivan hasste ihn dafür.
„Du irrst dich, mein lieber Toris. Es ist kein Foto darin.“
Das Lächeln geriet kurz ins Wanken. „Nicht?“
„Es war das Foto von jemandem, den ich sehr geliebt habe. Er hat sich mein Vertrauen verspielt, also habe ich das Foto zerrissen und verbrannt.“
Dafür wusste Ivan, was in dem Ring stand. Si Deus nobiscum, quis contra nos?
Reglos sah Toris ihn an. „Es ist spät“, sagte er dann und sah auf die Uhr. „Ich sollte gehen. Ich danke Ihnen für den netten Abend.“
Sein Lächeln war höflich und unverbindlich. Ivans Hände verkrampften sich um die Tischkante.
„Du weißt genau, dass du mir gehörst, Toris, mir und niemand anderem. Ich weiß, dass es dir auch gefallen hat, dass du es auch genossen hast. Und du weißt, dass du eines Tages wieder bei mir sein wirst, weil es so sein muss, weil es gar nicht anders geht, weil wir zusammen gehören. Aber glaube ja nicht, dass ich es dir einfach so verzeihe, wie du mich enttäuscht hast, weil...“
Erschrocken schlug er sich die Hand vor den Mund. Er hatte das nicht sagen wollen. Sicher hatte er genau das gedacht, sicher hatte er auch gewollt, dass Toris es verstand. Aber aussprechen wollen hatte er es nie.
„Ich sollte wohl wirklich gehen“, murmelte Toris, der blass geworden war.
„Wenn du das sagst“, erwiderte Ivan mechanisch.
Toris schluckte und wandte sich zum Gehen. „Machen Sie sich noch einen schönen Abend... oder eine gute Nacht, wie Sie wollen.“
„Du hast eine Kreuz-Dame auf eine Pik-Neun gelegt.“
Beinahe wäre Toris schon aus der Tür gewesen, als es Ivan auffiel. Es hatte ihn die ganze Zeit über gestört, aber er hatte sich nicht erlaubt, den Gedanken zu Ende zu denken. Wenn er sich auf eines unter allen Umständen verließ, dann darauf, dass Toris nach den Regeln spielte.
„Habe ich das?“, fragte Toris, als erinnere er sich nicht. Er hatte Ivan den Rücken zugewandt und drehte sich nicht um.
„Du hast es mit Absicht getan.“
Ivan saß da und spürte, dass seine Welt sich veränderte. Es mochte wie eine Banalität wirken, aber es warf einen seiner festesten Grundsätze über den Haufen. Toris brach niemals die Spielregeln. Doch nicht Toris.
Er schreckte erst auf, als er die Tür ins Schloss fallen hörte. Das Radio spielte immer noch, und er stand auf, um es abzustellen. Jetzt, da Toris weg war, konnte er das ja tun. Es lief immer noch dieses furchtbare Lied, das schon viel zu lange dauerte und das niemand hören sollte. Zumindest nicht im Januar 1934.
The game is on again
A lover or a friend
A big thing or a small
The winner takes it all
Toris hatte die Regeln gebrochen, dachte Ivan und biss die Zähne aufeinander. Aber schön – sollte er es doch tun. Sollte er doch die falschen Karten legen und sich in seinem Haus verschanzen und Lieder im Radio hören, die erst in ein paar Jahrzehnten geschrieben werden würden. Man würde ja sehen, wer am Ende triumphierte. Ivan betrachtete die verstreuten Spielkarten auf dem Tisch und hob langsam den Herz-Buben auf. Der Gewinner würde alles nehmen, und der Verlierer hatte keine Bedingungen zu stellen. Keine Bedingungen.
Zärtlich zog er die Kerze zu sich heran, hielt er den Herz-Buben darüber und sah zu, wie er in Flammen aufging.