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Ein Kuss aus Salz

{DeiIta}
von

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Folie à deux

How should we like it were stars to burn

With a passion for us we could not return?

If equal affection cannot be,

Let the more loving one be me.

(W.H. Auden, “The More Loving One”)
 

Man gewöhnte sich an alles – auch an Langeweile.

Itachi war jetzt seit drei Wochen tot, und Osaka hatte ihn längst vergessen, trotzdem mied er sämtliche Medien, verhielt sich still. Drei Wochen, und es kam ihm vor, als sei er tatsächlich unter der Erde.

Die Akte Itachi Uchiha war schon geschlossen, dafür war gesorgt worden. Genauer gesagt gab es eine Leiche mit seinen DNA-Spuren, eine Sterbeurkunde mit seinem Namen und ein Begräbnis. Die Zeit, die jetzt noch verstrich, war lediglich dazu da, ihn zu überwachen, seine Reaktionen zu testen. Ihn mürbe zu machen, weil er drei Wochen, einundzwanzig Tage in dieser Wohnung ausgeharrt hatte, ohne die Nerven zu verlieren.

Erst kamen Schuldgefühle, dann sinnloser Aktionismus und schließlich Langeweile. Itachi hatte festgestellt, dass er nach dem Duschen das Wasser ausgedreht hatte, sich auf den Rand des schmalen Beckens gesetzt und einfach gewartet hatte, bis er trocken war, ohne dass er hätte sagen können, warum er das tat und woran er gedacht hatte. Er war jedes Mal verwirrt, wenn er das Türschloss klicken hörte.

Deidara war dazu da, ihn zu bewachen. Er stand dieser Aufgabe eher gleichgültig gegenüber – den halben Tag war er überhaupt nicht da, und ihre Gespräche erreichten nie eine persönliche Ebene. Was vermutlich daran lag, dass man diese Dinge am besten vergaß.

Itachi kannte nicht mal Deidaras Geburtsnamen, geschweige denn seine Nationalität oder seinen sozialen Hintergrund. Das galt für alle anderen auch – er hatte nicht mal eine konkrete Ahnung, wie viel alle anderen waren. Sie schienen einfach aus ihrem Leben gefallen zu sein, wie ein Foto, das unter der Glasscheibe des Bilderrahmens hervorrutschte.

Itachi hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, möglichst nüchtern über seine Familie zu denken, wie zur Übung. Deidara hatte seines Wissens noch eine jüngere Schwester, Madara war sogar verheiratet. Ob diese Menschen hatten Leichen identifizieren müssen, vermeintlich die sterblichen Überreste von Angehörigen? Oder hatten sie sich einfach zurückgezogen und den Kontakt abgebrochen?

Itachi erinnerte sich, dass jemand seine Leiche identifiziert hatte. Bei Selbstmord zog man ungern Eltern oder Partner heran, und Itachi war sich trotzdem absolut sicher gewesen, dass alles auffliegen würde. So groß der Schock auch war, und so normal Itachis Gesichtszüge waren, das reichte nicht als Täuschung. Ganz egal, was ein DNA-Abgleich sagte.

Madara hatte ihn dafür eher zynisch angesehen. Was glaubst du, wie viele Mütter bei allem, was ihnen heilig ist, schwören, dass ‚das da‘ nicht ihr Kind sein kann? Es war brutal, aber es leuchtete ein. Itachi wollte es nicht genauer wissen.

Er blickte nicht auf, als er das Türschloss hörte, und las weiter. Er wusste nicht, ob Deidara ihn einfach damit ärgern wollte, wenn die einzigen Bücher, die er mitbrachte, Horrorromane waren, oder ob der andere wirklich glaubte, dass es ihn amüsierte. Diese ganze Wohnung war steril und unpersönlich, eingerichtet mit dem Primärziel, keinen Aufschluss über die Bewohner zu geben.

Seltsamerweise gab Itachi das umso mehr das Gefühl, in einen Folie à deux verfallen zu sein. Alle Ereignisse, die ihn mit der Außenwelt verbanden, lagen drei Wochen zurück, Zeit genug, um sich in eine Psychose hineinzusteigern. Wenn er diesen Ort verließ, würde er wieder auf Streife gehen und sich mit desorientierten Jugendlichen herumschlagen, die auf Ampeln herumkletterten und Wände beschmierten. Bis dahin war all das eine Einbildung, ein Wahnsinn, den er mit jemandem teilte.

Plastik raschelte und senkte sich wie eine Abrissbirne vor seinem Gesicht. Itachi unterbrach den menschenfressenden Ghoul, der sich aus dem Schrank schälte, und blickte auf.

Deidara schien ihn als eine Art Haustier zu betrachten – eine Katze, mit der er sich beschäftigen konnte und die allein zurechtkam, wenn er sie allein ließ. Itachi mied Konfrontationen. Es war verstörend genug, dass diese Bücher ihm Albträume bescherten, deren Schrecken manchmal vor allem im Aufwachen lag.

„Was ist das?“

Itachi spielte das Spiel mit, obwohl es ihn nicht interessierte, was in der Plastiktüte war. Das aufgedruckte Logo verriet ihm, dass es aus einem Convenience Shop stammte. Das hieß, dass es keine neuen Bücher waren, mehr nicht. Vielleicht war es ein Spielzeug. Vor ein paar Tagen (oder Wochen, Itachi unterschied sie nicht) hatte Deidara ihm ein Tamagotchi mitgebracht, weniger zu Itachis Unterhaltung als vielmehr zu seiner eigenen. Itachi hasste diese Geräte in ihrer ganzen Funktionsweise, und die Batterien schienen einfach nicht den Geist aufgeben zu wollen. Jemand mit weniger strikter Höflichkeitserziehung hätte das Tamagotchi schon in der Toilette heruntergespült. Itachi sorgte dafür, dass es wenigstens in einem anderen Raum war als er.

Deidara grinste und ließ die Tüte los, sodass sie auf das Buch prallte und in Itachis Schoß rutschte. Dann ließ er ihn wieder allein, seine Schritte waren gut zu hören. Deidara zog seine Schuhe nicht nach japanischer Sitte neben der Tür aus, was mit seiner Abstammung zu erklären war, doch Itachi wurde das Gefühl nicht los, dass es das nicht war. Es hatte mehr von ständiger Bereitschaft.

Itachi starrte die Plastiktüte teilnahmslos an. Er begriff Deidaras Verhalten nicht, so wie alles Andere auch. In den vergangenen Wochen hatte er angestrengt überlegt, warum sein Leben und Sterben für irgendjemanden von Wichtigkeit war. So wichtig, dass sein Tod aufwändig konstruiert wurde, mit einer falschen Leiche, einem Begräbnis und wahrscheinlich einem Kondolenzschreiben an seine Eltern. Itachi war nicht mal überragend qualifiziert für gefährliche Aufgaben. Seine Intelligenz war überdurchschnittlich, und er war ein geschickter Schütze, doch sein Mangel an Ehrgeiz erschwerte eine Karriere. Er hatte keine nennenswerten Feinde, niemand in seiner Familie arbeitete in einem riskanten Milieu.

Shisui war anders gewesen, zielstrebiger und mit einem messerscharfen Verstand ausgestattet, den er jeden Moment nutzte. Sein Vater arbeitete für die Einwanderungsbehörde und befasste sich intensiv mit Fällen von Drogenschmuggel, sein Stiefbruder war in der Kadena Air Base bei Nara stationiert. Und Shisui hatte sich mit denen angelegt, die ihm Probleme machten. Und mit denen, die Itachi Probleme machten.

Hatten diejenigen Shisui getötet? Wenn ja, warum? Noch war er nicht befördert gewesen, und er hatte Itachi nichts anvertraut, was Grund zur Annahme geben könnte, er sei in etwas verstrickt.

Es war müßig, darüber nachzudenken, doch Itachi konnte nicht aufhören. Er wollte wissen, wer Shisui getötet hatte, einen Selbstmord hielt er nicht mehr für möglich. Und er wollte wissen, warum. Es war ironisch, dass seine ganze Familie für ihn nicht mehr existierte – nur sein toter Cousin blieb.

Und wenn er erfuhr, dass dieser fingierte Selbstmord das Tun derselben Menschen war, die Itachi hatten verschwinden lassen… Seine Überlegungen stockten jedes Mal bei diesem Punkt.

Ihm wurde bewusst, dass er beobachtet wurde. Widerwillig löste Itachi sich aus seinen Gedanken. Er sah Deidara auch aus den Augenwinkeln, wie dieser im Türrahmen lehnte und der Wasserkocher in der Küche leise zu zischen anfing. Schicksalsergeben spähte Itachi in die Plastiktüte.

Struppiges Grün kam ihm entgegen. Als er die Hand in die Tüte schob und einen schwarzen, rechteckigen Keramiktopf von der Größe seiner Handfläche herauszog, rieselten bereits kleine Blätter herab, und ein paar sternförmige Blüten in schmutzigem Weiß hingen schlaff und bekümmert herunter. Es war in Bonsai – ein billiges Exemplar aus dem Supermarkt, das anscheinend in der Nähe der Türen gestanden und die herbstliche Kälte zu spüren bekommen hatte.

Itachi fragte sich, was er damit sollte. Er kannte sich mit Bonsais nicht aus, und dieses war ein hässliches Exemplar, bei dem die abgeschnittenen Aststümpfe auffielen wie abgehackte Finger. Was nicht von allein starb, würde die trockene Heizungsluft für das Bäumchen erledigen.

„Danke.“

Wenigstens piepste der Bonsai nicht so nervtötend wie das Tamagotchi. Mit etwas gutem Willen war er so lang wie Itachis ausgestreckte Hand und ließ sich somit leicht ignorieren. Er erinnerte Itachi an eins der Bücher, das er gelesen hatte, in dem ein Puppenspieler Miniaturen von Frauen aus uralten Bonsais angefertigt hatte – Frauen, die wenig überraschend daraufhin gestorben waren. Aus diesem Stämmchen konnte man nicht mal einen Zahnstocher bauen.

Kurzum, er hätte diese kränkelnde Vegetation nicht viel ablehnender aufnehmen können.

Der Wasserkocher pfiff, und Itachi wandte erst den Kopf, als er sicher war, dass der Türrahmen leer war. Vielleicht war es ein Beweis für seine vortreffliche Eignung als stumpfes Instrument, dass er sich bislang nicht gewehrt hatte, keinen Hungerstreik angetreten hatte, diese drei Wochen hatte er kein einziges Mal in den Lauf des Revolvers geblickt. Man könnte meinen, er habe sich damit abgefunden.

Itachi rieb sich die Augen, als er begriff, dass er kurz davor gewesen war, einzunicken. Er schlief nicht gern ein, seine Träume waren unruhig.

Heute Morgen hatte er geträumt, dass er in einem Garten saß, umgeben von anderen Männern verschiedenen Alters. Es war schwül und windstill, und Itachi erinnerte sich, dass es unglaublich schwer war, den einzelnen Stimmen zu lauschen, die tanka vortrugen, fünfzeilige Gedichte ohne Reim. Die Gedichte waren schlecht – viele der Zuhörer schliefen, manchmal gab es Getöse und in jedem Fall eine Menge Wein. Itachi nahm nur das Gefühl wahr, dass diese Veranstaltung ihn endlos langweilte und er zu gern geschlafen hätte.

Es war ein harmloser Traum im Vergleich zu anderen, aber Itachi hätte ihn am liebsten vergessen. Es war real, dennoch war das nicht der Grund, warum der Traum so sonderbar war. Itachi war kein Poet, Lyrik im Allgemeinen mochte er nur in kleinen Dosen, und die tanka, die er gehört hatte, mochten nicht gut sein, doch sie entsprachen dem strengen Schema. Er konnte nicht glauben, dass seine Fantasie sich in einer einzigen Nacht verselbstständigte und Dinge vollbrachte, die er schon in der Schule nicht gekonnt hatte. Das war nicht von ihm.

Itachi stand auf und nahm den Bonsai aus der Plastiktüte, um einen angemessenen Platz für ihn zu suchen. Er hatte ein paar rudimentäre Kenntnisse über diese Bäume, doch wenn er sich dieses Geschenkes zu sehr annahm, sagte das vermutlich einige hässliche Dinge über ihn aus.

Shisui hätte das nicht getan. Er hätte Deidara im Schlaf erstickt (Itachi hörte nie, dass er sein Zimmer nachts abschloss), den Revolver gefunden, geladen und sich gerächt. Und er hätte sich ganz sicher nicht für diesen abscheulichen Bonsai bedankt und ihn in die Küche getragen, wie Itachi es tat.

Im Grunde war die Küche, genau wie das Bad, winzig. Sie bot Platz für einen Kühlschrank, eine Spüle mit einem Fach darunter, und einen Gasherd. Ein Schränkchen mit Geschirr zwängte sich mit äußerster Mühe noch neben die Tür. Es gab einen halbrunden Tisch und einen Hocker, den man darunter schieben konnte. Dann blieb gerade noch genug Platz zum Navigieren.

Itachi stellte den Bonsai auf das Schränkchen, zögerte jedoch. Jeder Windstoß der Tür würde mehr Blätter abreißen, und es konnte nur Stunden dauern, bis der Topf beim Verlassen oder Betreten heruntergeworfen wurde.

Deidara sah ihm unbeteiligt zu. Als Itachi die Küche durchquerte, um zur Fensterbank zu gelangen, sprang der Toaster mit einem metallischen Krachen um, und Deidara erhob sich von dem Hocker. Itachi wich automatisch zurück, um ihm Platz zu machen, und drückte sich gegen die Anrichte. Anstatt sich zu bewegen, streckte Deidara allerdings die Hand aus und schob sie an Itachi vorbei, um die Toastscheiben geschickt zwischen seine Finger zu klemmen und herauszuziehen. Er tat es mit der Beiläufigkeit, mit der man es tolerierte, dass eine Katze einem um die Beine strich. Sein Arm streifte Itachis Seite, und kurz blickten die blauen Augen zu ihm auf.

Es versetzte Itachi zurück in seinen Traum, von dem er morgens aufgewacht war. Weniger ein Traum als eine obszöne Fantasie, in der er den glitschigen, nassen Untergrund einer Gasse unter seinen Füßen spürte, während sich Regenwasser von einer verstopften Regenrinne direkt neben ihm plätschernd und spritzend ergoss. In seinem Traum kümmerten diese Widrigkeiten ihn nicht, als sein durchnässter Körper sich an einen anderen drängte. Er konnte das Gesicht seines Gegenübers nicht erkennen, wusste aber wohl, dass dieser ihn ansah. Sie küssten sich mit atemloser, sogar gieriger Leidenschaft, vor der Gasse trabten schnaufend Pferde vorbei, jemand schlug langsam eine Trommel. Itachis geschärfte Wahrnehmung registrierte das, ohne den Vorgängen außerhalb Beachtung zu schenken. Wasser lief in seinen Kragen, brennende Hitze erfüllte seine Glieder, und er konnte an nichts Anderes denken als an den Mann, ihm war völlig klar, dass es einer war. Der schlichte Baumwollkimono war durchweicht vor Nässe, leistete keinen Widerstand…

„Willst du?“, raunte eine Stimme, die vor Begierde selbst heiser war.

Es knallte, ein unangenehm scharfer Laut von Ton auf Stein. Itachi stellte den Bonsai auf die Fensterbank der Küche. Er wollte diesen Traum nicht. Es hatte ihn erregt, nicht nur die Lebhaftigkeit des Ganzen, und so war er auch erwacht. Die Situation war ihm peinlich, er konnte nichts damit anfangen, dass diese Fantasien plötzlich auftauchten. Und dass sie Deidara zum Akteur machten, den er kaum kannte.

Irgendwo war ihm bewusst, dass er schon vor drei Wochen gestorben wäre, hätte Deidara es nicht für nötig befunden, zu seinen Gunsten einzuschreiten. Itachi hielt es für krank, deshalb Sehnsüchte auf ihn zu projizieren, der zu keinem Zeitpunkt daran interessiert gewesen war, was Itachi selbst wollte.

„Willst du?“

Er zuckte unmerklich zusammen, als er die Frage hörte. Freilich war der Tonfall diesmal nicht im Mindesten sinnlich. Itachi sah über die Schulter; Deidara bot ihm eine der Toastscheiben an. Die Seiten waren nur leicht gebräunt, den anderen Toast hatte Deidara für sich beansprucht. Itachi schüttelte den Kopf und sammelte die herabgefallenen Bonsaiblätter auf, wobei er tief ein und aus atmete.

Wenn es nach seinen Gewohnheiten ging, war Deidara anscheinend Amerikaner. Er mochte Toast, diese Vorliebe erinnerte Itachi trotzdem an ein Kind, das einen Nachmittag lang allein ist und den Herd nicht benutzen darf, weshalb es sich mit dem behilft, was es zubereiten kann. Kochen interessierte ihn nicht, und wenn er den Fernseher laufen ließ, schaute er nicht zu. Der erdige Geruch, den Itachi bei ihrer ersten Begegnung an ihm bemerkt hatte, stammte von hellgrauem Kunstton, mit dem er sich in seinem Zimmer beschäftigte. Was genau er damit anstellte, wusste Itachi nicht. Er sah ihn zwar, weil die Tür offen stand, doch da Deidara mit dem Rücken zur Tür saß und sein Tun verdeckte, überschritt Itachi diese Schwelle zur Privatsphäre nicht.

Wahrscheinlich hatte Deidara durchaus mehr Beschäftigungen, nur lebte er sie nicht hier aus. Hier existierte er nicht mal unter einem echten Namen, sondern unter einem Kunstwort, einer Onomatopöie. Das war wohl kaum sein Geburtsname, und Itachi fragte sich, ob er seinen Namen auch würde ändern müssen. Allerdings nannte Deidara ihn jetzt schon Polizist, und es schien ganz so, als werde sich das einbürgern.

Itachi füllte Wasser aus der Leitung in den kleinsten Becher, den er fand, und goss vorsichtig etwas auf die Erde des Bonsais. Kaum etwas versickerte, das Wasser quoll über, als hätte der Topf es ausgespuckt wie ein krankes Kind den Tee. Itachi nahm einen Lappen und wischte es weg. Dabei wunderte er sich, wie er es jedes Mal schaffte, seine Aktivitäten, sein Denken auf etwas Unwichtiges zu verlegen, wenn er in der Klemme steckte. Vor drei Wochen war es seine Kette gewesen. Jetzt der Bonsai.

„Wie lange soll ich hier noch bleiben?“

Es klang kein bisschen aggressiv, eher so, als erkundigte Itachi sich, wie lange der Tee noch ziehen sollte. Hätte er tun sollen, denn Deidara vergaß in den allermeisten Fällen, wann er ihn aufgegossen hatte. Er hatte das, was man im Englischen „kitten’s tongue“ nannte, eine an Übertreibung grenzende Vorsicht dabei, heiße Dinge zu konsumieren. Da war es nur recht und billig, den Tee so lange stehen zu lassen, bis der es sich abgewöhnt hatte, heiß zu sein.

Itachi war ein überaus aufmerksamer Beobachter. Dennoch war ihm, wie er nun feststellte, völlig entgangen, dass Deidara ihn die ganze Zeit ansah, während er Stücke von der Toastscheibe abriss und aß. Er biss nie sofort ab.

„Paar Wochen. Maximal zwei Monate.“ Er klang, als sei ihm das völlig egal.

In zwei Monaten würde er seinen gesunden Menschenverstand endgültig verloren haben. Wenn nicht vor lauter Stumpfsinn, dann wegen dieser Träume.

Itachi wusste einiges über Deidaras Gewohnheiten, aber nicht, wie man sich gegen ihn durchsetzte. Die blauen Augen waren hart und glatt wie Bergkristall, und das Desinteresse in seiner Stimme war abweisender als eine verbale Ablehnung.

„Ich kann so lange nicht warten.“

Die Art, wie Deidara Krümel von seiner Hose klopfte, besagte überdeutlich: ‚Und seit wann ist das mein Problem?‘ Und Shisui warf die Arme in die Luft: ‚Das war nicht alles, oder?!‘

Er fing an, Stimmen zu hören. Er wurde verrückt.

„Du gehst es falsch an.“

Deidara stand auf, fast wäre Itachi aus Gewohnheit wieder zurückgewichen, um ihm Platz zu machen. Ein Schauer überlief ihn, einerseits, weil er gegen das instinktive Unbehagen ankämpfte, einen Fremden so nah zu haben, dass in etwa eine Handspanne Platz zwischen ihnen blieb. Andererseits, weil er für eine irrwitzige Sekunde glaubte, Deidara werde in seinen Augen sehen, was für Fantasien ihn nachts heimsuchten.

Deidara war kleiner als er, sodass Itachi auf ihn herabschaute. Er wusste, dass die Gelenke des anderen so dehnbar waren, dass er die Finger auf dem Rücken verschränken konnte, wenn er einen Arm dabei ans Ohr legte. Seine Zehen waren schmal und nach unten gerichtet. Eine feine Schicht goldenen Haars bedeckte die Haut unterhalb seines Nabels und endete vor dem Schoß, hell und weich, kitzelnd unter den Fingern…

Itachi hatte den anderen weder nackt gesehen, noch ihn berührt, noch ihn dabei beobachtet, wie er Gymnastik machte. Trotzdem besaß er eine schlafwandlerische Sicherheit, die ihn beunruhigte.

Deidara schob sich an ihm vorbei, er fühlte sich kühl statt warm an. Noch in der Bewegung hob er den Arm, ohne sich umzudrehen, und winkte Itachi mit einem einmaligen Wippen seines Zeigefingers.

Itachi warf dem schicksalsergeben vor sich hindampfenden Teekessel einen Blick zu, bevor er folgte.
 

Das Wohnzimmer war ein kahler Raum ohne Dekoration. Die Größe, die in der Küche fühlte, schien hier umso bedrückender zu wirken, obwohl ‚Größe‘ sehr relativ war. Es gab eine blaue Couch, davor einen Fernseher und eine Garderobe, da die Wohnung keinen Flur besaß. Im Grunde erfüllte das Wohnzimmer diesen Zweck.

Itachi vermied es, hier etwas hinzulegen, und sei es ein Buch oder ein Kissen, das er aus seinem Bett genommen hatte. Manchmal sah er eine Weile aus dem Doppelfenster, das gegenüber von der Eingangstür lag, und ließ sich dabei von dem kleinen Heizkörper die Beine wärmen, doch das war alles. Mittlerweile war es November, und manchmal kroch Frost über das Glas.

Deidara hatte sich auf das äußere Polster gesetzt, direkt an die Armlehne, die Beine überkreuzt. Der Fernseher blieb ausgeschaltet, und Itachi ließ sich zögernd auf die Couch sinken, diesmal in respektablem Abstand.

„Umdrehen“, wies Deidara ihn schlicht an, sein Tonfall ließ keinen Raum zur Diskussion. Alles in Itachi sträubte sich dagegen, der Anweisung zu folgen und dem anderen somit den Rücken zuzukehren. In einer Fantasie, die diesmal sicherlich seiner Unruhe entsprang, fühlte er den kalten Lauf des Revolvers ein zweites Mal, diesmal direkt an seinem Hinterkopf.

Wenn Deidara ihn allerdings töten wollte, hatte er zahllose Gelegenheiten. Widerwillig zog Itachi die Beine auf das Polster, winkelte sie an, da die Couch nicht lang genug war, um sie auszustrecken. Das Verlangen, sich wenigstens aus den Augenwinkeln umzusehen, war stark.

Deidaras Hand landete auf seiner Schulter. Itachi gab sich Mühe, sich nicht zu verkrampfen, als hätte er es mit einem gefährlichen Tier zu tun. Er wusste nicht mal, was er erwarten-

Deidara zog ihn mit einem Ruck nach hinten, sodass Itachi den Halt verlor. Sein Genick prallte auf den Oberschenkel des anderen, ein kurzer Schmerz zuckte durch die plötzlich eingeklemmten Muskeln. Der Gleichgewichtsapparat wurde ausgeschaltet, als Itachi unfreiwillig den Kopf in den Nacken legte. Mit geweiteten Augen blickte er auf und schluckte hörbar, die unnatürliche Körperhaltung versetzte ihn in Anspannung.

War das eine eindeutige sexuelle Aufforderung? Kaum, Deidara hatte es absichtlich so arrangiert, dass Itachis Gesicht nicht in seinen Schoß gedrückt wurde. Vielleicht genoss er es, dass Itachi nun zu ihm aufblicken musste, trotzdem war es eine verwirrend intime Geste. Natürlich nur, wenn man darüber hinwegsah, wie ruppig Deidara sie zuwege gebracht hatte.

Seine Mundwinkel hoben sich leicht, was der Anfang eines Lächelns sein mochte, auch wenn es zu kurz war, um es genau zu sagen. Itachi räusperte sich leise und rückte sich zurecht. Wärme drang durch den Stoff der Hose und an seine Haut, sein Haar. Ich mag dein warmes Haar.

Itachi konnte sich nicht erinnern, ob es seine erste Freundin zu ihm gesagt oder der Mann seiner Traumfantasien. Es wurde höchste Zeit.

Deidara sagte eine Weile nichts. Er blickte auch nicht mehr auf Itachi herab, sondern über den dunklen Bildschirm des Fernsehers hinweg. In den ersten Minuten konnte Itachi nicht vergessen, dass der Revolver sich auch jetzt an Deidaras Becken schmiegte, gesichert und geladen. Trotzdem sanken seine Lider herab. Er spürte den ruhigen Puls der Oberschenkelschlagader, Arteria femoralis. Sie war ihm so vertraut wie der Rest, wie der leise Gong, das Gemurmel von Stimmen, die muffige Luft. Wie spät ist es?

„Wirst du mich nicht endlich fragen?“

Deidaras Stimme, vage amüsiert, durchdrang Itachis Dösen. Er blinzelte und schüttelte die Bilder ab. Das war nicht die Frage, die er stellen sollte.

„Lässt du mich raus?“

„Nein.“

Deidara antwortete prompt, und der leere Raum schien Itachi in sich zu ziehen. Wochen. Monate. Er würde den Verstand verlieren. Schon glaubte er, Shisuis Stimme zu hören, diesmal behaftet mit der unterschwelligen Angst, die geistige Müdigkeit häufig mit sich brachte. Warum nicht in der Badewanne? Du wirst sehen, Ertrinken ist nicht schlimm. Du kannst das Wasser ja warm machen, den Luxus hatte ich nicht.

Madaras unpersönlichen, ablehnenden Tonfall. Hättest du mich ihn abknallen lassen, das hätte mir den Aufwand gespart.

Und seine eigene, ruhige Stimme. Ich hatte keine Zeit… deiner überdrüssig zu werden.

Das Polster der Couch zitterte leicht, als Deidara sich gegen die Rückenlehne fallen ließ. Dass er Körperspannung ablegte, war selten.

„Aber ich kann dich mitnehmen, hm.“
 

Itachi lächelte, als er sich auf den Beifahrersitz sinken ließ.

Er hatte erwartet, dass es nötig sein würde, sein Gesicht zu verhüllen, ihn unkenntlich zu machen, doch das einzig Auffällige an ihm waren seine Augen. Es regnete, und er hatte sich die Kapuze seines Mantels übergezogen. Das war alles, und niemand beachtete sie.

Es war nass und kalt draußen, der Himmel von einem schmutzigen Grau. Das Taxi, das Itachi kannte, hatte sich kaum verändert. Das Schild auf dem Dach und der Taxameter waren verschwunden, das Nummernschild war vermutlich ausgetauscht. Dieses Kennzeichen war aus Osaka, und Itachi merkte es sich aus Gewohnheit. Sein früherer Beruf hatte das verlangt.

Er hatte keinen Grund zum Lächeln, das wusste er, die Lage war unverändert mies. Dennoch verband er kein Unbehagen mit dem Wagen, und es war angenehm, aus dem Regen herauszukommen. Itachi hatte dieses kleine Privileg noch nie so sehr geschätzt.

Deidara hatte nicht weiter mit ihm gesprochen, doch Itachi achtete nicht darauf. Sein Verstand hatte die Stumpfheit abgeschüttelt und arbeitete klar und schnell. Der andere hatte seine Erlaubnis nicht zurückgenommen, und er würde sich nicht wiederholen – er erwartete, dass man nicht vergaß, was er sagte.

Itachi drängte die Frage zurück, die wieder an die Oberfläche stieg. Bin ich wirklich tot?

„Ihr seid tatsächlich Terroristen.“

Deidara blinzelte unbeteiligt. „Soweit man von einem einheitlichen Wir sprechen kann.“

Itachi wusste, dass er damit die Frage nach ihren Zielen geschickt verzögerte, weil er die Einleitung aufgriff. Trotzdem ging er darauf ein. „So viele?“

Meistens traten Splittergruppen erst dann auf, wenn eine Organisation groß genug geworden war. Menschen waren Herdentiere, nicht viele besaßen die Stärke, sich sofort in Opposition zu begeben, wenn sie ihre Ideen mangelhaft umgesetzt sahen.

„Keine Ahnung“, erwiderte Deidara lapidar und reihte sich in den Verkehr ein. Die Scheibenwischer quietschten anfangs leise und wurden dann lautlos. „Glaub’s oder nicht, ich bin nur die ausführende Gewalt.“

Itachi hatte in der Tat Mühe, sich das vorzustellen. Deidara hatte anklingen lassen, dass er rekrutiert worden war (wenn man es beschönigend ausdrücken wollte), aber nichts zwang ihn dazu, die Wahrheit zu sagen. Er war vertrauenswürdig genug, um Itachi zu bewachen, ohne dass er selbst dabei kontrolliert wurde. Möglich, dass es Kameras in der Wohnung gab, doch Technik wies häufig Schwächen auf.

Deidara war überhaupt kein Mensch, der sich als willfähriges Werkzeug benutzen ließ. Gleichzeitig würde er nicht sterben wollen.

„Also weißt du nichts.“

„Ist das eine Frage?“ Der lauernde Tonfall wies darauf hin, dass Itachi kurz davor war, sein Zugeständnis zu verspielen. Er atmete leise. „Wohin fahren wir?“

Deidara ignorierte die Frage. Anscheinend war er nicht befugt, darüber Auskunft zu geben, oder er wollte es einfach nicht, als Strafe für die Feststellung.

„Hast du Angst?“

Es kam Itachi eher so vor, als hätte er fragen wollen: ‚Habe ich Angst?‘ Er hatte keine. Er fragte sich, ob der Bonsai Dünger brauchte.

„Hältst du mich für einen Idioten?“, entgegnete Deidara. Eine Frage, von der Itachi wusste, dass man nicht darauf antwortete, auch nicht mit Nein.

„Das ein oder andere weiß ich. Es war immerhin mein Beruf.“ Der Ansatz eines schalkhaften Lächelns blitzte auf. Itachi wandte überrascht den Kopf.

„Du warst Polizist?“ Er konnte sich kaum vorstellen, wie jemand weniger zu diesem Beruf passen konnte. Und Deidaras Mundwinkel zuckten, als sei er derselben Meinung.

„Fast.“

Wenn er es so betitelte, war es vermutlich etwas Halbgares wie Privatdetektiv. Itachi konnte sich lebhaft vorstellen, warum sein Vater diesen Berufsstand verabscheute, der sich ständig in Ermittlungen einmischte und auf der Grenze zum Illegalen wandelte, wenn es um die Beschattung von Menschen ging. Die Abneigung lag sozusagen in der Familie. Itachi hielt seine Miene sorgfältig neutral, auch wenn er nicht glaubte, dass Deidaras Zartgefühl davon beeindruckt war.

Wenn er daran dachte, wie sein eigenes Leben ausgelöscht worden war, und annahm, dass Deidara ihn nicht der Solidarität wegen belogen hatte, legte das einen Schluss nahe. „Hast du jemanden gesucht?“

Deidara nickte und nahm eine Hand vom Lenkrad. Er spreizte den kleinen Finger ab, was in Japan im Allgemeinen ein Hinweis auf einen Ehebruch galt, dabei blieb er. Entweder aus Respekt vor seinem früheren Klienten oder, was wahrscheinlicher war, weil er es für besser hielt, nicht davon zu reden.

Itachi begann, sich in dem Auto eingesperrt zu fühlen, nachdem ihn wochenlang Hauswände umgeben hatten. Allerdings würde Deidara nicht das Risiko eingehen, dass er eine Möglichkeit zur Flucht hatte. Er schloss die Augen und ließ sich gegen den Beifahrersitz sinken. „Was wollen sie?“

Dabei wusste Itachi selbst nicht genau, von wem er sprach. Ihm war es vorgekommen, als sei Madara das befehlsgebende Organ, dann wieder erschien Izuna wie derjenige, der wirklich die Fäden zog. Und vielleicht war es keiner von ihnen. Itachi wollte nicht wissen, wer sie waren, er wollt von ihnen weg.

„So viel ich verstehe, ist es eine antiamerikanische Bewegung.“ Deidara sah wieder in den Himmel, während er fuhr. Wenn er ein festgesetztes Ziel hatte, ließ er sich nicht anmerken, dass er daran interessiert war, es zu erreichen. „Besonders auffällig war bisher nichts. In erster Linie machen sie sich die Polizei zum Ziel, sie hat Zutritt zu den meisten Stützpunkten.“ Wie Deidara es sagte, klang es, als wiederholte er einen Agententhriller, den er langweilig gefunden hatte.

„Ein paar Leute sind wohl drin, mit unterschiedlichem Erfolg.“

„Undercover.“

Deidara verzog das Gesicht zu einer Art Grimasse, die Humor erahnen ließ. Itachi stammte aus der Präfektur Osaka, folglich sprach er auch mit dem örtlichen Dialekt, der das englische Wort eher wie ‚Andakawaa‘ klingen ließ.

„Bisher war damit nicht viel los, aber dann kam das Gerücht auf, einer von denen sei ein Doppelagent, der die gesamte Gruppe verraten hat. Was fehlte, war nur ein Terroranschlag – etwas Amtliches, um Festnahmen zu rechtfertigen, ohne dass man womöglich wieder jemanden laufen lassen muss.“

Sie fuhren über eine der Brücken, die den Yodo überspannte. Itachi hatte das unangenehme Gefühl, dass ein Windstoß den Wagen in das grauschwarze Wasser fegen würde.

„Jetzt ist es die Frage, wer den Kerl zuerst erwischt. Die Polizei… oder andere Gruppierungen.“

„Wer ihn zuerst umbringt“, brummte Itachi trocken und riss seinen Blick vom Fluss los.

Deidara sah ihn an. „Jemand, der gegen eine ganze Organisation agieren soll, muss in die Tätigkeiten der Polizei eingeweiht sein“, gab er mit einem geisterhaften Lächeln zu Bedenken. Itachi funkelte ihn eisig an.

„Ich bin kein Agent.“

Aber Shisui? Ein junger, charismatischer Mann mit Aufstiegschancen und einflussreicher Familie? Jemand, bei dem es sofort auffiel, wenn er anfing, auffällig mit seinen Vorgesetzten zu kooperieren. Nicht jedoch, wenn er seinem jüngeren Cousin ein wenig Zeit widmete. Eine lebende Sicherheit, die er zurückließ, für den Fall, dass ihm etwas zustieß, damit seine Familie und vielmehr seine Partner wussten, an wen sie sich zu wenden hatten?

Nur, dass Itachi offiziell nicht mehr lebte.

Gleichzeitig durchforstete Itachi fieberhaft sein Gedächtnis. Seine letzten Gespräche mit Shisui lagen lange zurück, schließlich war der Tod knapp ein Jahr her. Und Shisui war wirklich tot, Itachi hatte seine Leiche in dem offenen Sarg gesehen, selbst Madara hätte das Gesicht nicht so präparieren können. Hatte es versteckte Andeutungen gegeben, die damals keinen Sinn gemacht hatten? Gab es irgendwelche Gegenstände an seinem Nachlass, die von Bedeutung waren?

Itachi wusste, dass es keinen Sinn hatte darüber nachzudenken. Das hier war kein Thriller, die Wahrscheinlichkeit, dass Shisui ihn wirklich in diese Sache reingezogen hatte, verschwindend gering. Schließlich war seitdem viel Zeit vergangen, und niemand war auf die Idee gekommen, dass Itachi etwas damit zu tun hatte. Niemand von den Menschen zumindest, denen Shisui vertraut hatte.

Aber wenn doch?

Itachi grub seine Finger in die Oberschenkel.

„Mir ist schlecht.“

Das war nicht gelogen. Um ihn drehte sich alles, und er verspürte eine plötzliche Angst vor allem. Dass sie Brücke unter ihnen zusammenbrach, dass er sich im Wagen übergeben musste, dass Shisui vielleicht ihre ganze Familie zum Tode verurteilt hatte, dass er allmählich den Verstand verlor. Dass Deidara ihn töten würde.

Das ehemalige Taxi kam knirschend zum Stehen, und Itachi sprang aus dem Wagen. Sie blockierten die Lieferzufahrt eines massigen Betongebäudes, womöglich ein Lagerhaus, und eine schmale, hässliche Promenade führte am Ufer des Yodo entlang. All das war Itachi egal, ebenso wie der kalte Wind und der Nieselregen. Er rannte zu dem Metallgeländer und erwartete, dass er sich darüber beugen würde, um sich zu erbrechen, doch stattdessen schlossen seine Hände sich darum, um den Schwindel abzuwehren.

Sie hatten ihn in jedem Fall im Verdacht, sonst hätten sie ihn nicht aus dem Verkehr gezogen. Er war gewarnt worden. Trotzdem war das nicht das Ende. Wenn er glaubhaft versicherte, dass er keine Ahnung hatte, was da für Informationen weitergegeben worden waren, würde er nicht nur höchstwahrscheinlich beseitigt werden (es sei denn, er war wirklich irgendwie nützlich, und Deidaras Einfluss, wenn er auf den überhaupt zählen konnte, hatte enge Grenzen), es würde weitergehen. Mit seiner restlichen Familie.

Seine Finger wurden taub vor Kälte. Itachi sah auf; außer dem gurgelnden Wasser vor sich gab es keinen Fluchtweg, der nicht gleichzeitig bedeutete, dass er viele Meter gerader Strecke vor sich hatte und ein leichtes Ziel bot. Hier war niemand. Wenn seine Leiche erst jetzt im Fluss landete, war das auch nicht weiter auffällig. Nicht jedenfalls, wenn vorher das Gesicht zerschossen wurde.

Er war fast erleichtert, als er Schritte hinter sich hörte. Deidara zog sich fingerlose Handschuhe über die Hände, ohne genau auf Itachi zu achten. „Besser?“

Itachi klemmte sich Haarsträhnen hinter die Ohren. Seine Haut war feucht vom Regen, auch vom Schweiß.

„Ich weiß nichts davon.“

Es bestand wenigstens die geringe Möglichkeit, dass Deidara sich in seinen Schlussfolgerungen irrte, aber im Grunde machte das keinen Unterschied. Itachi war so oder so tot.

„Kann schon sein.“ Deidara zog ihm mit einer fließenden Bewegung die Kapuze über den Kopf und lehnte sich mit dem Rücken gegen das Geländer. Winzige Tropfen schimmerten auf seinem blonden Haar, und Itachi sah ihn an. Er hatte weder Spott noch Zweifel in der fein modulierten Stimme gehört – einfach nur einen Mangel an Interesse. Es machte Sinn. Deidara hatte auch nicht die Absicht gehabt, gegen den Terrorismus im Land vorzugehen, er hatte nur die falsche Person gesucht.

„Warum hast du mir das erzählt?“

„Wir wollen dasselbe.“

„Nein.“ Itachis Stimme zitterte zu seiner eigenen Überraschung. Deidara hob seine fein gezogenen Augenbrauen, genauso blond wie sein Haar. Er war überall blond, doch zum ersten Mal brachte Itachi es nicht auf, das peinlich zu finden.

„Ich kann dir helfen.“

„Warum sollte ich dir das glauben?“

Den Tonfall seiner eigenen, sonst monotonen Stimme erkannte Itachi intuitiv, ohne dass er sich bewusst war, wie er klang. Er hatte ihn gehört, als er mit einem Kollegen während der Streife auf ein Mädchen getroffen war, das offensichtlich eine Ausreißerin war. In die Enge getrieben, versuchte sie nicht mehr, vor ihnen wegzulaufen, doch sie weigerte sich, einen Mann auf zwei Meter an sich heranzulassen. Itachi hatte bei ihr bleiben müssen, weil sein Begleiter über den Wagen eine weibliche Beamtin anforderte.

Lehrgänge schrieben vor, mit Jugendlichen zu sprechen, damit sie ihre Scheu verloren. Itachi hatte sich daran gehalten, und das Mädchen hatte ihm geantwortet, sogar ohne ihn über Gebühr zu beleidigen. Aber sie hatte jeden einzelnen Moment mit diesem Ton von absolutem Misstrauen gesprochen, dem Misstrauen eines Menschen, der sich völlig sicher ist, dass die ganze Welt ihm feindlich gesinnt ist.

Tatsächlich schien Deidara viel zu nahe zu stehen, obwohl er einen normalen Abstand hielt. Selbst jetzt, als er bloß die Stirn runzelte, empfand Itachi ihn als Bedrohung.

„Du hast keine Wahl“, brummte er ungeduldig.

Itachi rückte von ihm ab. Ein Teil von ihm war grimmig erleichtert, dass sich endlich ein Unterschied zu dem Mann abzeichnete, den er in seinen Träumen gesehen hatte. Der mit niemandem zusammenarbeitete, der Itachi tolerierte, weil er ihn selbst als harmloses, nicht gegen sich gerichtetes Werkzeug ansah.

„Sei vernünftig, hm“, beharrte Deidara – dass er nicht aufgab, erstaunte Itachi, machte ihn umso argwöhnischer. Wenn er sich befragen ließ und Details preisgab, die entscheidend waren, hatte Deidara davon erheblich mehr Nutzen als er. Und wenn seine Loyalität zu bröckeln anfing… Itachi presste die Lippen zusammen. Er wollte Deidara nicht mal vertrauen. Umso weniger, weil er in den letzten drei Wochen der einzige Mensch in seinem Leben gewesen war. Er konnte keine Dankbarkeit erwarten.

„Warum sollte ich?“

Er war froh gewesen, als er die Ausreißerin losgeworden war, während es für sie wohl keinen Unterschied machte, wer nun die Gespräche mit ihr führte.

Itachi umfasste das Geländer wieder fester und legte seine überkreuzten Arme darauf. Allmählich wurde auch sein Gesicht taub, und er war zufrieden damit, sich zurückzuziehen. Gegen seinen Willen konnte Deidara ihn sowieso nicht bewegen, es sei denn, er benutzte seinen Revolver. Itachi wollte nicht sterben, er konnte sich das nicht leisten.

Er war verwirrt. Am liebsten hätte er sich verkrochen und den Kopf in den Händen geborgen.

Aus den Augenwinkeln registrierte er schwach eine Bewegung, der Rand der Kapuze war ihm im Weg. Deidara bewegte sich mit verblüffender Leichtigkeit, wie jemand ohne Schwerkraft, seine Schuhe knirschten auf dem spröden Beton, als er die Füße gegen die Mauer der Promenade stemmte und sich mit den Händen am Geländer festhielt. Er verlagerte seinen Körperschwerpunkt nach hinten.

Es unterschied ihn kaum etwas von Itachi, wenn man davon absah, dass sie auf unterschiedlichen Seiten des Geländers waren. Unter Deidara floss etwa zwei Meter der Yodo.

Unwillkürlich schaute Itachi auf, als er den anderen plötzlich vor sich hatte. Herbstkälte hatte die hoch geschnittenen Wangen gerötet, und feine Wassertröpfchen klammerten sich an das gelbe Haar. Die blauen Augen blitzten wie Leuchtfeuer.

Er konnte ihn umbringen. Wenn er seine Ellbogen schnell genug auf die Finger schmetterte, würde Deidara loslassen, und es gab keinen weiteren Halt. Der Fluss war eisig kalt, niemand in der Nähe. Die nächste Leiter war weit. Und vielleicht hatte er den Mann vor sich, der Shisui getötet hatte.

Itachi starrte ihn stumm an, als Deidara sich nach vorn lehnte. Er sah es nicht kommen.

Deidaras Lippen waren kalt und rissig, sie drückten so unnachgiebig zu, dass Itachis Oberlippe taub kribbelte, weil sie gegen seine Zähne gepresst wurde. In unregelmäßigen Stößen strich warmer Atem über seine Wange. Es gab nichts Zärtliches dabei.

Aber Deidaras Lippen schmeckten schwach nach Salz, obwohl die Meeresmündung nicht hier war. Sein ganzer Kuss war salzig.

Itachi bedeckte die behandschuhten Hände mit seinen eigenen, er riss sie weder vom Geländer, noch hielt er sie fest. Der Wahnsinn zu zweit nahm eine neue Gestalt an.

Deidara war sehr gründlich. Er löste sich erst, als er atmen musste, und Itachis Lippen kribbelten, als die Kälte zurückkehrte. Adrenalin wurde grundlos ausgeschüttet, noch bevor Itachi richtig begriffen hatte, was geschehen war.

„Du hast niemanden außer mir.“

Itachi schaute auf ihre Hände herab und fuhr sich mit der Zunge über die Lippen. Er hatte sich eingeredet, dass er viel zu verlieren hatte, doch das war nicht so. Er würde ohnehin verlieren.

„Dann sag mir, was ich tun soll.“

Denn Itachi wusste es beim besten Willen nicht. Nicht, wo er anfangen sollte, nicht, wem er glauben sollte.

Ein seltenes Lächeln erhellte Deidaras verschlüsselte Miene. Es hatte nichts Triumphierendes, das war schon alles, was Itachi bestimmen konnte.

„Küss mich, hm.“
 

~
 

An dieser Stelle ein Dankeschön an diejenigen, die sich wirklich mit Reviews abgemüht haben – sie waren nicht verpflichtend, sondern ermutigend. Es tut mir leid, dass der erste Teil so missverständlich war, ist mittlerweile überarbeitet.

Über die Länge der Fanfiction kann ich wenig sagen. Dieses Kapitel ist allerdings nicht das Letzte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (3)

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Von:  Uchan382
2011-12-20T15:32:05+00:00 20.12.2011 16:32
Erster Gedanke: Yeyyy, es geht weiter ^.^!!
Dann resignation: Obwohl ich auf Favorit gedrückt habe, bekam ich keine Nachricht auf der PS -.-° Woran das schon wieder liegt... Ich habe es öfters mal, dass mir neue Kapitel nicht angezeigt werden, obwohl ich sie auf emienr Favoritenliste habe.
Daher hier eine ganz große Entschuldigung. Ich hätte schon viel eher ein Kommi geschrieben, wenn ich das gewusst hätte....

So, Nun zur Story:

Ich mag das zweite Kapitel. Ich muss ehrlich sagen, dass dein Schreibstil, so wie er hier aufgebaut ist, sehr an einen dieser Kriminalromane erinnert. Und ich liebe Krimis XD
Es ist eben mal etwas anderes als diese ständigen High- School- Geschichten oder auszüge aus dem Akatsukileben wie es garantiert nie war.
Wobei ich sehr neugierig geworden bin ist der Zusammenhang zu"Die tausend Kirschbäume von Yoshitsune". Obwohl man hierbei wieder den Zusammenhang hat mit den Träumen. Und ich bin immer noch aus irgendeinem Grund heraus davon überzeugt, dass Deidara schon wieder mehr weiß als er zugibt.

Ich bin wirklich sehr gespannt wie es weiter geht.

Lg
Uchan
Von: abgemeldet
2011-12-06T21:36:50+00:00 06.12.2011 22:36
Tja, die Fragen aus dem ersten Teil wären damit wohl beantwortet, dafür hast du wenigstens doppelt so viele Neue in diesem Teil geschaffen- die dann wiederum hoffentlich bald in einer Fortsetzung aufgegriffen werden.
Obwohl ich natürlich angefangen habe, die Geschichte unter dem DeiIta-Aspekt zu lesen, muss ich sagen: Hut ab vor dieser Handlung. Inzwischen kann ich kaum mehr sagen, welcher Aspekt mich mehr fesselt, aber da diese Geschichte einen glücklicherweise nicht vor die Wahl stellt, ist diese Frage glücklicherweise hinfällig.
Was ich jedoch inzwischen konkretisieren kann ist, was mich an deinem Stil so fesselt: Es ist einfach phantastisch, wie du Banales zur Haupthandlung erklärst und die `wichtigen´ Aspekte dann in Nebensätzen, Fieberträumen und Andeutungen verpackst. Die beklemmende Grundatmosphäre, die dadurch entsteht, ist unheimlich dicht- das muss sie ja auch, um Itachi so nahe an den Rand der Verzweiflung zu bringen- und bildet einen tollen Hintergrund für die immer wieder auftauchenden Fragmente aus Normalität und Menschlichkeit.
Der einzige Wehrmutstropfen, den ich erkenne, ist die Zeit, die vergehen wird, bis du den nächsten Teil hochlädst.
Von:  KARIN12
2011-12-06T20:42:59+00:00 06.12.2011 21:42
Ich hab es erst heut geschafft die beiden Kapitel zu lesen und ich muß sagen... die FF gefällt mir. Ich bin absolut kein ItaxDei-Fan, aber das Pair ist mir hier egal, die Story ist sowas von spannend. Eine Antiamerikanische Terrororganisation...
Ich bin auch kein Fan von Polizeikrimis, aber du schreibst es in einer Art und Weise, das man einfach mehr lesen will.
Ich bin schon echt gespannt wie es weiter geht!
Bis dann. KARIN12


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