Ganz mein Sohn
„Psychedelisch (von gr. psychḗ, „Seele“ und gr. dẽlos, „offenkundig, offenbar“) bezeichnet einen durch den Konsum bestimmter Drogen (sogenannter Psychedelika), aber auch mittels geistiger und ritueller Praktiken (etwa Trancetanz oder Meditation) erreichbaren veränderten Bewusstseinszustand. Dieser zeichnet sich unter anderem durch eine Aufhebung der Grenzen zwischen dem Ich und der Außenwelt aus, wodurch es zu spirituellen Erlebnissen und Erfahrungen von All-Einheit kommen kann. In diesem Zusammenhang spricht man oft auch von einer Bewusstseinserweiterung.“ (www.wikipedia.org)
Sie sind heute zum ersten Mal auf dem Territorium, es läuft gut.
Das Wetter ist durchwachsen, zwar bewölkt, aber trocken. Es ist windstill, und noch – noch – macht das nichts, bisher steigt kein Fäulnisgestank auf. Und der Geruch von Blut ist alltäglich und unbedeutend.
Der Himmel ist frei von Krähen, das bedeutet jedoch nur, dass sie sich von einer Gruppe Männer nicht stören lassen und somit nicht aufflattern. Die sanft hügelige Landschaft eignet sich gut, um die Entfernung von Geräuschen zu schätzen, Unebenheiten werfen den Klang zurück und schärfen das Gehör. Zwei Krähen brechen in Streit aus über einen besonders guten Brocken.
„Wie weit ist es?“
„In etwa hundertfünfzig Meter.“
„Jetzt sieh hin.“
„Hundertsiebzig.“
„Besser.“
Fugaku erhält für sein Lob ein kurzes Einatmen durch eine eng gewordene Kehle. Er spürt kalte, klamme Finger in seiner Handfläche. Das Gefühl von klebrigem Schweiß ist nicht angenehm.
Yashiro dreht sich zu ihnen um und richtet seine roten Augen nach unten, lächelt sogar. Das helle Oval des Kindergesichts verschließt sich instinktiv vor dem Aufblitzen vor Zähnen, auch wenn sie ihm vertraut sind. „Du machst dich“, brummt Yashiro. „Wenn ich daran denke, wie Shisui-“
„Vorhut voraus“, unterbricht Fugaku ihn schroff. Sie sind auf feindlichem Terrain, obgleich die Wahrscheinlichkeit eines Angriffs gering ist. Denn ihre Widersacher treten sie mit Füßen – wörtlich. Ein Schlachtfeld, auf dem Eisen unter den Füßen knirscht und, zynisch geschätzt, vier Waffen auf jede Leiche kommen. Neun, wenn Kunais mitgezählt werden.
Yashiro gehorcht fließend und nimmt zwei Männer mit sich, um auszuschwärmen. Itachis Augen folgen ihnen nicht, sondern blicken stier geradeaus. Langsam zieht er seine klamme Hand aus Fugakus; sein Verstand begreift, dass er sich von Menschen fernhalten muss, die ein leichtes Ziel bieten können, dass seine Aufmerksamkeit dem gelten muss, was seine Augen nicht erfassen. Sie sind von einem unauffälligen Schwarz, große Kinderaugen, noch rund in ihrer Form und ohne einen definierten Ausdruck. Bislang ist ein rotes Flackern alles, was sich je darin gezeigt hat, doch es hat Zeit.
Hauptsache, sie sind jetzt trocken, anstatt von Tränen überzufließen.
Fugaku weiß, was er tut. Kinder mit dem Krieg vertraut zu machen ist Tradition, sie abzuhärten, bevor sie später daran zerbrechen. Ein kindlicher Geist widmet sich noch profanen Dingen und hinterfragt nicht alles, weshalb der Tod leicht zu akzeptieren ist, solange er Fremden zustößt. Für Ehre und Respekt… Das hat auch Zeit.
Itachi muss schnell gehen, um mit den Erwachsenen Schritt zu halten. Mit vier Jahren ist seine motorische Entwicklung in einem höheren Stadium als bei anderen Kindern, und man muss sich keine Sorgen machen, dass er über Müdigkeit klagt. Dabei hat er die typischen, leicht pummeligen Formen der frühen Kindheit.
Ihn so sehend, verspürt Fugaku denselben Drang wie Yashiro, mit Itachi zu reden. Er hat den Älteren weggeschickt, damit genau das nicht geschieht, sie sind schließlich nicht auf einem Ausflug. Alles gehorcht einer tiefen Logik.
Das Gras zu ihren Füßen ist niedergetrampelt, kein Baum verhüllt mehr die Aussicht. Für jemanden, der inmitten von Wald aufgewachsen ist, ist das eine wichtige Lektion.
Fugaku macht mühelos einen längeren Schritt und überwindet eine Furche, die das Erdreich aufgewühlt hat. Itachi lässt sich von dem Flattern eines zerrissenen Banners irritieren und übersieht die Tiefe, stolpert, bringt die Arme nach vorn, um sich abzufangen, erkennt die verstreuten Messer, als ihm die Zeit zum Reagieren ausgegangen ist.
Fugaku packt ihn hinten am Kragen seines schwarzen Hemds; er muss sich vorbeugen, um den Jungen hochzuzerren. Anstatt sich schleifen zu lassen wie ein nasser Sack zieht Itachi die Beine an und presst die angewinkelten Arme an die Seiten, hält instinktiv von sich fern, was ihn erschüttert.
Es ist nicht das Verhalten, das man erwartet, erwünscht ist es keinen Deut. Fugaku muss anhalten, was die Männer hinter ihm aus dem Marschrhythmus bringt, und lässt ein grobes Schütteln durch seinen angespannten Arm gehen. Kurz erinnert er sich an das, was Yashiro sagen wollte, dass Shisui sich beim Anblick achtlos verstreuter Toter erbrochen hat. Dinge, die fehl am Platz sind.
„Stell dich hin.“ Er setzt Itachi ab, und der Junge bringt geistesgegenwärtig die Beine wieder unter den Körper, atmet durch seine verengte Kehle pfeifend ein. Fugaku bückt sich, um die angewinkelten Arme herunterzudrücken, und spürt die schweißkalte Faust, hart wie eine Eierschale.
Vierjährige Kinder werden nicht mehr getragen, und es steht niemandem zu, das anzubieten. Itachi ist alt genug, um zu lernen, auch wenn Fugaku, sein Vater nach allem Anschein, ein kurzes Würgen verspürt, als Itachi mechanisch dem Druck gehorcht und die Arme senkt. Es ist mittlerweile bekannt, eine Mischung aus Selbstsucht und Angst. Es würde ihn als Anführer bloßstellen, würde er Itachis Ausbildung verzögern, am allerwenigsten auf Anraten seiner Frau, wie sieht das nur aus. Der Erstgeborene gehört immer dem Clan, und dann hat er bald ein weiteres Kind, das verhätschelt werden kann.
Davon ab tut er das Richtige.
Itachi kennt seinen Fehler, blickt zu Boden, um Hindernisse zu sehen. Blicklose Augen starren ihn an, verkrustetes Blut auf der Erde knirscht unter seinen Sandalen. Er atmet wieder, nicht schneller als zuvor, aber schwerer.
In die vorderen Reihen kommt Bewegung, der kleine Trupp Männer fächert sich auf, sucht nach Gefallenen des Clans. Fugaku bleibt zurück und Itachi auch, der bereits in eine andere Richtung schaut. Es ist ein feines Rascheln, auf das er seine Ohren konzentriert. Das Kind zögert.
Fugaku sieht ihn an, das fahle Gesicht mit den weichen Wangen, der kurzen, platten Nase und der ernsthaft gefurchten Stirn. Er stellt sich vor, wie ein Herz, kleiner als sein Handteller, angestrengt Blut pumpt, wie Gelenke ineinandergreifen, als der Junge nach der Tasche an seiner Hüfte greift, wie die kalten, feuchten Finger hineinschlüpfen und Itachi sich für einen Moment fragt, worin der Unterschied zwischen dem Messer ist, das er greift, und all denen, die hier verstreut liegen.
Itachi zieht das Kunai und lässt seinen schmalen Körper leicht sacken, verlagert sein Gewicht auf die Fußballen, hebt den freien Arm, um sich Deckung zu sichern. Es ist gut, dass er dem Mann, der neben ihm steht, nicht seine Verteidigung anvertraut; das wäre ineffektiv und leichtsinnig, selbst wenn, und gerade wenn es der eigene Vater ist. Itachi muss sich und sein Umfeld als Ganzes begreifen, in dem jedoch nur er aktiv agiert.
Eine unscheinbare graue Ratte klettert über ein ausgestrecktes Bein, die Schnurrhaare zittern misstrauisch. Fugaku sieht die Muskelanspannung seines Sohnes, die weit aufgerissenen Augen, Schweißperlen auf dem hellen Gesicht. Die Ratte hat sich bewegt, sie gehört nicht zur Einheit.
Itachi hat kein Sharingan – er kann nicht unterscheiden, ob es tatsächlich ein Tier ist oder ein verwandelter Shinobi. Fugaku kann, er erkennt es als Tier. Aber das ist alles, denn Gott bewahre, dass Itachi sich je auf die Information eines anderen verlässt, der sich irren könnte, lügen könnte. Um ein Ninja zu werden, muss Itachi das Ganze in sich aufnehmen, doch zu diesem Ganzen gehören keine anderen Menschen.
Selbst wenn, und gerade nicht der eigene Vater.
Das Kunai wirft die Ratte zurück, sie verschwindet hinter einem Toten. Itachi hebt den Blick und macht wieder einen Fehler.
„Hol es zurück.“
Itachis Kiefer spannt sich an, verbreitet Widerwillen und Trotz. Und Ekel. Fugaku stellt sich vor, dass der Junge weiß, dass er seine Ausrüstung zusammenhalten muss, aber es widert ihn an, dorthin gehen zu müssen und sein Messer mit dem Blut aus dem Körper eines Aasfressers zu ziehen, auf den man ihn hätte aufmerksam machen können. Seine Mutter hätte das sicher nicht von ihm verlangt, oder sein Cousin – es war so gemein.
Aber Itachi ist psychedelisch. Er stellt sein eigenes Denken zurück und steigt über die Leichen, kniet sich hin. Er wendet Fugaku den Rücken zu, Schultern, die, wie dieser jetzt sieht, rund sind und sich heben, als Itachi einatmet, singend wie ein kleiner Blasebalg.
Vermutlich wischt er die Klinge nun an der Kleidung eines Toten ab. Itachi mag einen der Aasfresser getötet haben, aber er interessiert sich nicht für all den Tod hier und nicht für Respekt. Mit dem Toten gibt es keine Einheit, es wird ausgeblendet.
Itachi steckt das Kunai zurück in seine Tasche und geht denselben Weg zurück. Er setzt seine Füße genau dort auf, wo sie zuvor waren, entgeht geübt den eventuell angebrachten Sprengsätzen oder Stolperdrähten, nach denen er Ausschau hält.
Er steht kurz vor seinem Vater und ordnet sich dann selbstverständlich wieder neben ihm ein, die Arme baumeln an den Seiten. Itachi erfasst eine neue Bewegung, diesmal sind es lediglich Clanmänner, die die Toten aufschichten, um sie zu verbrennen und somit den grausigen Verfall zu beenden. Bereits jetzt stinkt es nach Qualm, und dunkler Rauch steigt auf.
„Dort hinüber.“
Itachi setzt sich klaglos in Bewegung. Seine Brust arbeitet weiterhin energisch, das Rasseln des Atems ist leise und bleibt der einzige Hinweis, dass in diesem kleinen Körper ein mörderischer Kraftakt vor sich geht, ein gewaltiger Einsatz auf allen Ebenen, mit dem Itachi sich all das aufzwingt.
Er ist kein sensibles Kind und braucht keinen Beistand. Shisui ist ohnehin nicht abkömmlich, und so kann Itachi ihn in Sicherheit wissen, ebenso wie seine Mutter und seine kleine Schwester. Zumindest schwört alle Welt auf ein Mädchen, selbst Fugaku hofft es.
Aber die Art, wie seine kühle, trockene Hand sich leer anfühlt, ist quälend, das stellt Fugaku fest, als sie zu einem der düsteren Berge treten. Die Aufschichtung der Körper ist kleiner als Itachi, wenn auch nur knapp, und die Männer treten zurück, weil sie Fugaku eher sehen als den Jungen.
Ein Fingerzeig genügt. Itachi holt Luft, diesmal dröhnt und tost das Geräusch in der andächtigen Stille. Fugaku hat plötzlich das Bedürfnis, seine Finger gegen Itachis Stirn zu pressen und sich zu überzeugen, dass der kleine Apparat seines Körpers nicht schon längst heiß gelaufen ist von der Mühsal, Luft einzusaugen. Denn Hitze ist es auch, die ihn erfasst, als Itachi zischend eine Flammenlohe speit, die rasend schnell auf die Körper übergreift und dort wütet. Die Männer weichen zurück und bedecken ihre vor Trockenheit stechenden Augen, manch einer hustet, während Itachi die Lohe und ihre schmerzhafte Hitze hält, bis alles zu friedlicher Asche verbrannt ist.
Vereinzelt grinst jemand, vielsagende Blicke werden ausgetauscht, als eine Windböe wie zum finalen Paukenschlag in die schmierige Asche fährt. Verbranntes Fett hat sich auf der Haut abgesetzt und bedeckt sie alle, die Einheit, mit einer schauderhaften Schicht.
Itachi blinzelt und wischt sich mechanisch über die Lippen. Fugaku erkennt die Blicke und begreift verspätet, dass die Männer ein Lob erwarten – so jung, wie Itachi ist, beherrscht er die Flackernde Feuerkugel bereits und treibt ihre Hitze zu einem verheerenden Grad. Niemand, und gerade nicht sein Vater, hat das erwartet.
Fugaku blickt auf die Gestalt neben sich herab, auf geschmolzenes Metall und Stofffetzen, die das Feuer ausgespuckt hat. Aus irgendeinem Grund sind sie einfacher anzusehen als der Junge, der jetzt nicht schwerer atmet als vorhin. Sein Gesicht glänzt vor Schweiß und Fett.
Fugaku räuspert sich krächzend und drückt Itachis Schulter unbeholfen. Dünn wie Vogelknochen ist sie, kalt, und die Schlagader, die wie bei jedem Menschen an der Unterseite des Oberarms verläuft, pumpt voller Anstrengung Blut.
„Du bist ganz mein Sohn.“
Itachi mag psychedelisch sein, aber was hinter diesen profanen Worten steckt, wird er erst dann begreifen, wenn es ihm bereits egal ist.
Fugaku wird sie in seinem Leben noch öfter sagen, und jedes Mal, um jemanden zufriedenzustellen, Stolz zu heucheln, während er selbst Itachis rasselnden Atem hört und seine feuchte Hand spürt, wie sie seiner entgleitet.
fin