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Yoru no tenshi

Engel der Nacht
von

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Das Erwachen

Schmale, bernsteinfarbene Augen blickten Natsuki vom Schatten her an. Ein bisschen sahen sie aus wie die einer Katze. Die Pupillen waren nur gebogene, senkrechte Striche. Das Mädchen bekam eine Gänsehaut. Bildete sie sich das ein oder hatten die merkwürdigen Augen einen vorwurfsvollen Blick?

„Fynn Fish!“, rief auf einmal eine Stimme.

Natsuki schaute sich überrascht nach allen Seiten um. Woher war das Geräusch gekommen? Und wer hatte da bloß gerufen? Sie konnte nichts sehen als undurchdringbare Dunkelheit. War dies ein Traum? Die Fünfzehnjährige fühlte sich auf einmal sehr leicht, so, als ob sie über dem Boden schwebte. Dieses Gefühl war unglaublich. Das Mädchen spürte die pure Energie in ihren Adern pulsieren. Was war nur los?

Dort, wo Natsuki eben noch die merkwürdigen Augen gesehen hatte, konnte man langsam eine Silhouette erkennen. Es war kein Mensch, nein, das verrieten die großen, gespreizten Schwingen aus tausenden von schwarzen Federn. Obwohl sich um sie herum nur Dunkelheit befand, leuchteten die Flügel in einem geheimnisvollen Licht und erhellten die stockfinstere Nacht ein wenig. Dies hier war ein Engel.

Natsuki versuchte, die Traumgestalt etwas genauer zu betrachten, da löste sie sich auch schon wieder in Rauch auf. Nur die auf merkwürdige Weise schönen, bernsteinfarbenen Augen blickten das Mädchen aus den Schatten weiter vorwurfsvoll an.

„Fynn...“, rief wieder eine Stimme. Es war seltsam. Obwohl die Fünfzehnjährige wusste, dass sie nichts gesagt hatte, schien der Ruf aus ihr selbst zu kommen. Etwas befand sich in ihrem Herzen. Und es wollte heraus.

„Natsuki!“, wie ein Erdbeben erschütterte nun die Stimme ihrer Mutter Natsukis Traumwelt. Ein Wirbelsturm brauste auf und sog sie in seinem Inneren nach oben, dem Himmel entgegen.

Das Mädchen öffnete die Augen.

Marrons kastanienbraunes Haar fiel ihr ins Gesicht. Die Mutter hatte sich über ihre Tochter gebeugt und rief die ganze Zeit aufgeregt deren Namen. Natsuki blinzelte. „Was’n los?“, nuschelte sie noch etwas schläfrig.

Die Frau sprang auf. „Was los ist?“, keifte sie hektisch. „Die Schule ist los!“ Marron musste erst einmal nach Luft schnappen. „Schnell, beeil dich!“, sie klatschte in die Hände. „Wir haben verschlafen!“

„Was?“, auf einmal hellwach, richtete ihre Tochter sich ruckartig im Bett auf. Das Mädchen sprang auf ihre Füße und stürzte zum Kleiderschrank. „Ich hab hier deine Schuluniform“, meinte Marron und hob das blaue-weiße Matrosenkleidchen hoch. Natsuki riss es ihr hastig aus der Hand. „Gib her!“

Sie streifte sich die weiße Bluse mit dem meeresfarbenen Kragen über und legte den blauen Faltenrock an. Aus einer Schublade kramte die Fünfzehnjährige ihre weißen Kniestrümpfe und zog sie sich über die Füße. „Meine Schultasche“, stieß sie hervor und blickte ihre Mutter an.

„Hab ich schon gepackt“, erwiderte Marron und warf den schweren Lederrucksack Natsuki auf den Schoß. „Beeilung.“

Die beiden rannten aus dem Zimmer der Tochter hinaus und geradewegs Chiaki in die Arme, der einen Marmeladentoast in der Hand hielt. Kopfschüttelnd betrachtete er seine Ehefrau und den Nachwuchs. „Am ersten Schultag nach den Sommerferien schon verschlafen. Du bist ja noch schlimmer als deine Mutter.“ Marron verschränkte die Arme und blickte den Blauhaarigen mit hochgezogenen Augenbrauen an. Dieser drückte Natsuki den Marmeladentoast in die Hand. „Irgendwas musst du ja essen. Und jetzt geh.“

Das Mädchen nickte und stürmte durch die Wohnungstüre, welche ihr Vater für sie aufhielt.

„Wohin des Weges so früh am Morgen?“, lachte eine fröhliche Stimme, die im Moment die letzte auf Erden war, welche Natsuki hören wollte.

„Ah, Shinji.“ Marron streckte vergnügt ihren Kopf aus dem Türrahmen. „Sag, könntest du mir einen Gefallen tun und Natsuki zur Schule bringen? Das wäre doch ein gebührender Anlass, dein neues Auto einzuweihen, oder?“

„Natürlich, Marron“, der junge Mann schüttelte der Brünetten die Hand und grinste. „Ich könnte dir nie einen Gefallen ausschlagen, besonders nicht, wenn es um deine reizende Tochter geht.“

„Übertreib es nicht“, meinte Chiaki, der auf einmal mit verschränkten Armen neben seiner Frau stand und Shinji ärgerlich anblickte. Marron stieß ihm mit dem Ellenbogen in die Rippen und zischte leise, so dass nur der Blauhaarige es verstehen konnte: „Chiaki!“

„Ich glaube, bei euch piept’s wohl!“, rief Natsuki aufgebracht. „Ich werde niemals in diesem Leben mit dem da“, sie wies auf den violett-haarigen Jungen, „zusammen in ein Auto steigen!“

„Das ist aber schön, dass du mich so unentbehrlich findest, Natsuki-chan“, Shinji büßte kein bisschen von seinem fröhlichen Lächeln ein.

„Bitte, mein Liebes“, Marron fasste ihre Tochter an den Schultern und blickte ihr fest in die Augen. „Vergiss doch mal für einen Moment deinen ewigen Streit mit Shinji und sei vernünftig. Oder willst du etwa wirklich zu spät kommen?“

Trotzig schüttelte Natsuki den Kopf. „Nein.“ Sie steckte die Hände in ihre Jackentaschen und stampfte wütend mit dem Fuß auf. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Jede Sekunde, die sie mit diesem unverschämten Trottel verbringen musste, war eine Sekunde zu viel. Und nicht zu vergessen, schließlich hatte Shinji gestern ihr Date ruiniert. Ein Grund mehr, ihn zu hassen. Aber nur wegen diesem Idioten konnte sie es sich natürlich nicht leisten, zu spät zu kommen.

Mit verzogener Miene folgte Natsuki also dem jungen Mann die Treppen des siebenstöckigen Wohnhauses hinunter zum Parkplatz. Aber das war doch komisch. Erst jetzt fiel es der Fünfzehnjährigen auf. Seit wann hatte Shinji denn bloß ein Auto?

Als hätte er ihre Gedanken gelesen, beantwortete der Violett-Haarige die Frage des Mädchens: „Für die alte Schrottkarre hab ich schon seit drei Jahren gespart. Ich hab echt viele Nachhilfestunden dafür geben müssen.“ Er lachte. Natsuki zog die Augenbrauen hoch. Shinji und Arbeiten? Irgendwas in ihrem Inneren weigerte sich, daran zu glauben.

Der junge Mann hob die Tür zum Beifahrersitz des schon ziemlich ramponiert aussehenden Wagens auf. „Bitte, die Dame.“

„Spiel dich bloß nicht so auf“, Natsuki schoss in ihrer Vorstellung gerade tausend Giftpfeile auf den Achtzehnjährigen ab.

Wetten, der war auch noch stolz auf diese Karre? Männer und Autos!

Der Motor sprang an. Das Mädchen verschränkte die Arme vor der Brust. Sie würde kein einziges Wort mit Shinji reden. Nie wieder.

„Du bist sauer wegen gestern, oder?“, fragte der Violett-Haarige nach einigen Minuten des Schweigens.

„SAUER?!?“, donnerte Natsuki. „Wie kommst du bloß darauf, dass ich SAUER sein könnte. Ich bin doch nicht SAUER! ICH BIN STINKWÜTEND!“ Sie holte tief Luft. „Du bist der größte Vollidiot, dem ich je in meinem Leben begegnet bin! Du machst mein Leben kaputt! Das ist doch deine Absicht, oder?“ Die Fünfzehnjährige blickte ihn mit Augen, zu schmalen Schlitzen zusammengekniffen, an. „Ich hasse dich!“

„Verstehe...“, Shinji lenkte den Blick wieder nach vorne auf die Straße. Seiner Miene war nicht zu entnehmen, was er im Moment dachte. Aber das interessierte Natsuki eigentlich auch gar nicht. Jetzt fuhr der Wagen auf dem Schulgelände der Momokuri-Mittelschule vor. Das Mädchen öffnete die Autotür und sprang hinaus. Energisch stapfte sie auf das große Eingangstor zu, ohne sich noch einmal umzusehen.

Shinji schaute ihr kopfschüttelnd nach.
 

Erschöpft ließ Natsuki sich auf ihren Sitzplatz, direkt hinter dem von Aoko, fallen. Verwirrt schaute ihre Freundin sie aus wasserblauen Augen an. Aokos blasses Gesicht sah noch weißer aus, dadurch dass ihre Haare kohlrabenschwarz die Wangen des Mädchens umrahmten. Im Gegensatz zu Natsuki war ihre Freundin sehr groß und hatte eine schöne, kurvige Figur. Die Grünhaarige war der Meinung, wenn man sie selbst direkt Aoko stellte, sähe sie aus wie ein kümmerlicher Strich in der Landschaft.

„Was ist denn los mit dir?“, fragte die Freundin. Über die Tatsache, dass Natsuki fast zu spät gekommen wäre, sah sie hinweg.

„Shinji ist los“, knurrte die Fünfzehnjährige. Natürlich hatte sie Aoko bereits am Telefon alle Einzelheiten über das Date mit Ren-kun am vergangenen Tag erzählt, und wie Shinji es geschafft hatte, dieses zu ruinieren. Deshalb blickte die Schwarzhaarige ihre Freundin nun auch fragend an. Das wusste sie doch schon.

„Dieser blöde...äh...“, Natsuki fehlten die Worte. „Siehst du, Shinji ist so schrecklich, dass kein Schimpfwort der Welt ihn beschreiben könnte!“

Aoko musste lachen. „Was hat er denn jetzt schon wieder getan?“

„Ich wüsste nicht, was daran so lustig sein sollte“, murmelte die Fünfzehnjährige ärgerlich. „Der Typ hat jetzt ein Auto. Und meine Mutter hat heute Morgen darauf bestanden, dass ich mitfahre. Stell dir das mal vor! Zehn Minuten lang mit dem Kerl im selben Raum. Das hält man ja im Kopf nicht aus!“

„Mhm...“, war der einzige Kommentar, welchen Aoko zu dieser Aussage bereit war, abzugeben. Sie hatte schon lange bemerkt, dass es sinnlos war, mit Natsuki über Shinji zu diskutieren. Mit vernünftigen Argumenten kam man bei diesem sturen Esel nicht weit. Der Schwarzhaarigen persönlich tat der Junge ja leid. Wenn er sich so eifersüchtig aufführte, musste er ihre beste Freundin schon ziemlich gern haben. Nur dummerweise bemerkte Natsuki das nicht.

Nun wurde die Türe aufgeschoben und der Mathelehrer betrat das Zimmer. Auf einen Schlag verstummten alle Gespräche zwischen den Klassenkameraden und Schüler, die sich bisher vorne bei der Tafel unterhalten hatten, hasteten auf ihre Plätze. Bücher wurden aufgeschlagen und Schreibwerkzeuge gezückt. Der Unterricht begann.
 

Natsukis Gedanken drehten sich im Kreis. Sie kam an diesem Traum von heute Nacht einfach nicht vorbei. Ganz klar. Es war wieder ein Bildertraum gewesen, aber das Mädchen hatte noch nie einen so undeutlichen erlebt. Außerdem war dies das erste Mal, dass jemand in so einer Art Traum gesprochen hatte. Irgendetwas hatte sich verändert. Nur was? Und warum?

Wenn doch Natsuki nur ihren Skizzenblock mitgenommen hätte... dann könnte sie die Verwirrung etwas lindern, indem sie das Motiv, welches in ihren Kopf eingebrannt war, zu Papier brachte. Der Engel mit den schwarzen Flügeln und den alles durchschauenden, bernsteinfarbenen Augen.

Die Fünfzehnjährige hatte gewiss schon einige Engel in ihren Skizzenblock gezeichnet. Doch dieser hier war völlig neu in der Sammlung- und auf merkwürdige Weise auch ganz anders als alles, von dem Natsuki bis jetzt geträumt hatte.

Das Mädchen kramte in ihrer Schultasche, um den Taschenrechner hervorzuholen, denn eben hatte der Mathelehrer eine Aufgabe diktiert. Da entdeckte sie es. Das Skizzenbuch! Ihre Mutter hatte es wohl aus Versehen mit eingepackt, denn die Grünhaarige hatte es gestern unachtsam auf ihrem Schreibtisch liegen lassen. Was für ein Glück. Nachher in der Pause würde sich Natsuki sofort den Zeichnungen widmen.

„Fräulein Nagoya!“, rief der Lehrer in diesem Moment erbost. „Wenn ich dich langweile, dann sag es mir bitte jetzt!“

„Wie...äh...was?“, fragte die Fünfzehnjährige ein wenig verwirrt.

„Vor die Türe!“, knurrte der Pauker ärgerlich.

Natsuki seufzte und erhob sich. Langsam schlängelte sie sich durch die Sitzreihen hindurch und öffnete die Tür des Klassenzimmers. Kopfschüttelnd trat das Mädchen heraus und schloss die Tür hinter sich. Immer, wenn sie solch einen Traum hatte, war sie am Tag danach so unkonzentriert, dass sie meistens während dem Unterricht auf dem Gang landete. Normalerweise kamen die Träume auch nicht so häufig vor, was ein Glück war, doch dies war seltsam. Zwei Träume innerhalb von drei Tagen. Das gab es normalerweise nicht. Sehr merkwürdig.

Ach, daran war bestimmt nur Shinji schuld! Natsuki nickte entschlossen. Je öfter sie dieselbe Luft einatmen musste wie dieser Trottel, desto schlechter war das für ihre Gesundheit. Und dann erst die Nummer mit dem ruinierten Date. Ganz klar. Das konnte die einzige Erklärung sein.
 

Natsuki saß unter dem großen, alten Laubbaum auf dem Schulhof. Etwas Sonnenlicht brach durch das dichte Blätterdach und wärmte den Sitzplatz des Mädchens angenehm. Ein leiser Wind bewegte das noch sommerlich grüne Laub hin und her, so dass es leise raschelte. Als ob der Baum flüsterte. Die Fünfzehnjährige atmete einmal tief die frische Luft ein und genoss die wohltuende Stille. Hier, zum hinteren Ende des Schulhofes, kam so gut wie niemand hin. Wenn Natsuki einmal Zeit für sich brauchte, zum Beispiel um in ihr Skizzenbuch einzutragen, war dies der perfekte Zufluchtsort.

Das Mädchen holte den schon etwas zerfledderten Block und einen Bleistift aus ihrer Schultasche und setzte das Schreibwerkzeug auf der noch leeren, weißen Fläche an. Sie zeichnete den ersten Strich. Und noch einen. Und drei weitere. Linie um Linie, Punkt um Punkt kamen hinzu. Kreis um Kreis. Man konnte die Augen erkennen, nach einer Weile auch Umrisse und schließlich war die Skizze fertig ausgearbeitet.

Natsuki hatte sogar mehr gezeichnet, als sie sich im Traum erinnert hatte, gesehen zu haben. Auf irgendeine Weise wusste sie, wie der Engel richtig auszusehen hatte. Jetzt konnte man viel mehr Details schön und genau betrachten.

Die Person hatte schmale, katzenartige Augen, die einen direkt und analysierend anzuschauen zu schienen, umrundet von langen, dunklen Wimpern. Über den Augen, auf der Stirn, befand sich etwas, das Natsuki als ovalförmigen Kristall analysierte. Eine seltsame Macht schien davon auszugehen. Die Ohren sahen aus wie die eines Elfs: Lang, schmal und am Ende etwas spitz. Der Engel war groß und schlank, jedoch auch muskulös gebaut. Er trug ein elegantes, weißes Gewand, was ihn irgendwie magisch wirken lies. Langes, dunkles Haar wehte im Wind und umrahmte die Figur. Abgerundet wurde die gesamte Skizze durch die großen, schwarzen Schwingen, die aus schier tausenden und abertausenden feinen Federn zu bestehen schienen. Dieser junge Mann mit den Flügeln war doch nur eine Zeichnung... und trotzdem anders als alles andere, was Natsuki bis jetzt geträumt und skizziert hatte. Wieso wusste sie, wie er aussehen sollte, wo man den Engel im Traum doch nur schemenhaft erkennen konnte? Und warum klopfte ihr Herz auf einmal so laut?

„Also, Natsuki“, das Mädchen zuckte zusammen, als sie die leicht besorgte Stimme ihrer besten Freundin vernahm.

Etwas verwirrt blickte die Grünhaarige Aoko an.

„Was ist denn heute mit dir los? Du stehst ja total neben den Schuhen“, bemerkte diese und setzte sich neben sie. „Hat dich das mit dem Date gestern so sehr schockiert?“

„Nein“, Natsuki schüttelte heftig den Kopf. „Das ist es nicht. Ich meine, das war echt furchtbar und so, aber nein.“

„Du weißt, wenn dir etwas auf dem Herzen liegt, kannst du es mir immer sagen“, erklärte Aoko und nickte dabei verständnisvoll.

Die Fünfzehnjährige lächelte. „Vielen Dank. Das weiß ich zu schätzen.“ Sie konnte ihrer Freundin trotz allem nicht erzählen, dass sie solche Träume hatte. Sie würde die Grünhaarige für verrückt erklären. Aber es war nett, wie sie sich sorgte.

„Wollen wir jetzt in die Cafeteria gehen und uns ein Lunchpaket holen?“, fragte Aoko. „Ich hab einen Bärenhunger.“

Natsuki musste kichern. Das war ihre beste Freundin eben. Deren Magen glich ohne Zweifel einem endlosen, schwarzen Loch. Ohne Essen konnte sie einfach nicht leben und trotzdem wurde Aoko nicht dick. Sie war ein echter Nimmersatt.

„Klar“, die Grünhaarige nickte. „Lass uns gehen.“
 

Natsuki atmete die etwas frische, feuchte Abendluft ein und füllte damit ihre Lungen. Am Horizont verfärbte sich der Himmel schon leicht rosa. Sie war auf dem Weg zu ihrem Kendo-Training und nahm dafür den etwas längeren, jedoch auch schöneren Weg durch den Momokuri Park. Jetzt war dort nicht viel los. Nur ein paar Jugendliche von der High School, die nun Schulschluss hatten, kamen ihr entgegen. Auf einer Parkbank saß eine alte Dame und fütterte Tauben mit trockenen Brotkrumen. Energisch hackten die Vögel mit ihren Schnäbeln auf den Boden ein, um auch ja jedes Körnchen zu erhaschen.

Natsuki musste lächeln. Die Tauben wirkten so unbeschwert und frei. Als ob es nichts Schlechtes gäbe auf der Welt.

Die Fünfzehnjährige warf einen raschen Blick auf ihre Armbanduhr und erschrak. Sie sollte sich besser sputen, wenn sie nicht zu spät zum Training kommen wollte!

Das Mädchen beschleunigte die Schritte und hastete den schmalen, gepflasterten Weg, der sich quer durch den Park schlängelte, entlang. Zwischen den sorgfältig gepflegten Bäumen, Sträuchern und Blumen konnte man das leise Zirpen von ein paar Grillen vernehmen.

Endlich. Da vorne, am Ende des Parks baute sich die große Trainingshalle auf. Sie war einfach gigantisch. Umgeben von einem riesigen, grau gepflasterten Parkplatz war sie aus mächtigen, stählernen Metallstreben in den Himmel erhoben worden. Ein großes, flaches Dach lag schwer lastend auf dem Gebäude, gestützt durch majestätische Balken. Ein beeindruckendes Eingangstor stand offen, jede Minute gingen Menschen ein und aus.

Natsuki kam jeden Tag nach der Schule hierher, um ihre Sportart zu trainieren. Manchmal auch samstags, wenn ein Turnier oder ein Wettkampf stattfand. Dies war sozusagen ihr „Schloss“, ihr „Himmelreich“. Das Mädchen konnte sich keinen schöneren Zeitvertreib vorstellen, als sich beim Kendo abzureagieren und all ihre Kraft in dem langen Holzstab, der ein Schwert ersetzen sollte, zu konzentrieren.

„Ah, hallo, Nagoya-san.“ Als Natsuki die vergnügte, helle Stimme vernahm, drehte sie sich ruckartig um und erblickte ein Mädchen mit schokobraunem Haar. Dies war Yumi, ihre Freundin aus dem Training. Sie war recht klein und dünn, um einiges kleiner sogar als Natsuki selbst, hatte schneeweiße Zähne und das strahlendste Lächeln, das man sich vorstellen konnte. Ihre großen, dunklen Augen blickten einen immer herzlich an.

„Und, wie waren deine Ferien?“, fragte Natsuki die Freundin.

„Klasse!“, antwortete Yumi. Dann auf einmal blickte sie die Grünhaarige geschockt an und rief entsetzt: „Ach je, du hattest doch gestern Geburtstag, oder?“

„Vorgestern“, erwiderte Natsuki.

„Oh mein Gott“, platzte Yumi hervor. „Das hab ich total vergessen. Gomen nasai, Nagoya-san. Es ist mir wirklich komplett entfallen. Ach herrjemine. Gomen nasai!“ Bei jedem Wort, das das Mädchen aussprach, verbeugte sie sich einmal tief.

Die Fünfzehnjährige musste grinsen. Das war einfach typisch Yumi. Diese meinte das natürlich nicht böse, nein. Ihre Freundin aus dem Kendo-Training wäre nicht mal in der Lage, einer Fliege etwas zuleide zu tun. Aber Yumis Problem war, dass sie furchtbar vergesslich war.

Schon ein paarmal hatte Natsuki ihr eine Trainingshose oder eine Fahrkarte für den Nachhauseweg mit der Bahn ausleihen müssen, da die Brünette ihre eigenen vergessen hatte. Und einmal hatte sie sogar ihren Kampfstock zu Hause liegen lassen und musste einen Gebrauchten aus dem Bestand des Vereins benutzen. Ja, Natsuki konnte sich sogar an einen Tag erinnern, an dem das Training eine Stunde früher losgehen sollte. Völlig verdutzt war dann irgendwann Yumi während einer Lektion hereingeschneit gekommen und hatte sich gewundert, warum denn alle schon versammelt waren.

Tja, das war eben ihre Freundin, und Natsuki selbst würde nie auf die Idee kommen, dem übrigens dreizehnjährigen Mädchen für irgendetwas böse zu sein. Sie war der festen Überzeugung, dass eigentlich niemand auf der Welt Yumi wegen irgendeiner Sache böse sein konnte. Dieser Kindskopf war eben die Ruhe selbst, so aufgeweckt und fröhlich, dass man sie einfach gerne haben musste.

„Ich habe so ein schlechtes Gewissen“, meinte die Brünette traurig und schaute so niedergeschlagen, dass Natsuki sie erst einmal umarmen musste. „Das ist doch nicht schlimm“, erklärte sie ihr und nickte wichtig. „Ob du mir heute gratulierst oder in zehn Jahren, ist egal. Ich finde es schön, wenn du dich an mich erinnerst, und das ist doch die Hauptsache, oder?“
 

Natsuki fixierte ihren Gegner. Es war ein großer, stämmiger Junge in ungefähr ihrem Alter. Er schien zuversichtlich, den Trainingskampf zu gewinnen. Der musste wohl neu sein.

Die Fünfzehnjährige selbst war ja, wenn man sie von außen betrachtete, ziemlich zierlich, dünn und klein. Daher wurde sie oftmals von ihren meist viel kräftiger wirkenden Gegnern unterschätzt. Dies stellte sich meistens hinterher als schwerwiegender Fehler heraus. Die Menschen dachten, ‚Oh, was kann mir so ein kleines Mädchen denn schon anhaben?‘, und nach dem Kampf bemerkten sie erst: ‚Eine ganze Menge!‘

Natsukis Kampfstil war nicht zierlich, nein, ganz und gar nicht. Sie war schnell und wendig und konnte hart zuschlagen. Viele andere im Training bewunderten des Mädchens verbissene Art, zu Kämpfen.

Nun griff der Gegner an. Er schwang sein hölzernes Übungsschwert und holte zu einem weiten Schlag aus. Das hatte die Fünfzehnjährige schon vorhergesehen. Sie blockte den Angriff des Jungen ab und konzentrierte die Kraft in ihre eigene Waffe, um blitzschnell zuzuschlagen. Treffer.

Dann hörte sie den Trainer rufen. Anscheinend war der Kampf beendet. Das Training ging seinem Ende zu. Die beiden Kontrahenten, Natsuki und ihr Gegner, verbeugten sich und gingen auseinander.
 

Natsuki kramte den Schlüssel zur Wohnung aus ihrer Tasche und schloss die Türe auf. Sie warf ihre Trainingstasche, die Schuhe und die Jacke zur Seite und setzte sich auf das Sofa. Jetzt erst mal ein wenig entspannen. Nachdem das Mädchen ein paar Minuten lang so dagesessen war, blickte sie verwundert auf. Komisch. Wieso war es so still in der Wohnung? Kein spielerisches Gezanke zwischen ihren Eltern aus der Küche war zu hören. Keine Marron, die ihr um den Hals fiel und sie begrüßte, als wäre ihre Tochter zehn Jahre lang im Ausland gewesen. Kein Chiaki, der sich irgendwelche Sportsendungen im Fernsehen ansah und alle fünf Sekunden „FOUL! FOUL!“ brüllte. Was war los?

Dann entdeckte Natsuki den kleinen, weißen Zettel, der neben einem Teller noch warmer, gut duftender Ramen auf dem Tisch stand. Das Mädchen nahm ihn in die Hand und las.

„Natsuki, dein Vater hat heute Abend eine wichtige OP und kommt erst spät von der Arbeit nach Hause. Ich bin von Miyako zum Abendessen eingeladen worden, aber ich vermute, du willst nicht zu uns hinüberkommen und mitessen.“

„Richtig vermutet, Mom“, murmelte Natsuki und las weiter.

„Daher habe ich dir einen Teller Ramen auf den Tisch gestellt. Bitte sei nicht böse, wir werden dafür morgen Abend wieder alle gemeinsam essen können. –Marron.“

Tja. Natsuki faltete den Zettel zusammen und legte ihn beiseite. Dann sollte sie die Nudeln doch besser erst einmal aufessen, bevor sie kalt wurden. Das Mädchen setzte sich an den Tisch und schlang hastig ihr Abendessen hinunter. Das Training machte sie wirklich meistens furchtbar hungrig.

Als die Fünfzehnjährige fertig war, räumte sie eilig das Geschirr beiseite und ging ins Badezimmer. Nach dem Kendo brauchte sie immer ein heißes Bad. Also drehte Natsuki den Hahn auf und ließ warmes, schäumendes Badewasser in die Wanne. In zehn Minuten war das Becken mit heißem, nach Meer duftendem Wasser gefüllt.

Schließlich legte Natsuki ihre Kleider über die Heizung und ließ sich in die Wanne gleiten. Ein warmes, angenehmes Gefühl durchströmte sie und das Mädchen schloss die Augen.

Dann, auf einmal überkam die Grünhaarige eine merkwürdige Empfindung. Es war, als würde an ihrem Hals etwas vibrieren. Überrascht schlug Natsuki die Augen wieder auf und entdeckte, dass sie immer noch die Halskette trug, welche der kleine Junge ihr gestern Nachmittag geschenkt hatte. Diese hatte nun aber merkwürdig, ganz leicht zu zittern angefangen, als ob sich darin etwas Lebendiges befand.

Plötzlich begann der Anhänger, zu leuchten. Zuerst erhellte sich nur das eingravierte Herz, dann breitete sich das Glühen auf die gesamte rote Fläche und schließlich auf die seitlich herausragenden Flügel aus. Immer mehr Licht schien aus dem kleinen, so unscheinbar wirkenden Schmuckstück zu schießen und Natsuki mitsamt dem ganzen Badezimmer zu umhüllen. Der Boden wurde unter ihren Füßen weggerissen.

Das Mädchen fühlte sich, als würde sie gerade den gesamten Planeten Erde in Lichtgeschwindigkeit umkreisen, was ja eigentlich nicht ging, wie sie in ihrem ,räusper, „Lieblingsfach“ Physik gelernt hatten. Doch im Moment hatte die Fünfzehnjährige den Gedanken, sie sei das pure Licht.

Nun bekam Natsuki langsam wieder etwas Halt und versuchte, sich auszubalancieren. Das Leuchten wurde mit der Zeit etwas schwächer und man konnte die Umrisse des Badezimmers erkennen. Das Mädchen erschrak, dass sie schwankend auf der Kante der Badewanne stand. Wie war sie dort hinaufgekommen? Verdutzt blickte sie sich um, denn alles Wasser war auf einmal aus der Wanne verschwunden. Wohin war es denn gegangen?

Schließlich schaute Natsuki an sich herunter und erschrak gewaltig. Was hatte sie denn auf einmal für komische Klamotten an? Angefangen bei grünen, zierlichen Absatzschuhen mit einem Schaft, wo über der Ferse eine kleine, rote Kristallkugel prangte, trug das Mädchen silberne Knie- und Unterarmschoner, die ebenfalls mit roten Edelsteinen verziert waren. Außerdem hatte Natsuki einen grünen, genauso geschmückten Brustpanzer an, der ein weißes, luftiges T-Shirt festhielt, und eine kurze, grüne Hose. Darüber umrundete ein roter, glänzender Gürtel ihre Taille und ein weißes Tuch umwehte die Beine der Fünfzehnjährigen. Schockiert bemerkte sie schließlich auch, dass ihre Haare länger geworden waren und mehrere Strähnen nun fast bis zum Boden reichten, wo sie von roten Schleifen zusammengebunden waren.

Der größte Schreck jedoch überkam Natsuki, als sie sich umdrehte und in den Badezimmerspiegel blickte. Auf ihrer Stirn sah sie ein silbernes Diadem, in dessen Mitte ein großer, runder, roter Edelstein saß. In ähnlichem Design, silber und rot, waren auch die Ohrringe verfasst worden, die an ihren jetzt so spitz wie bei einer Elfe aussehenden Ohren baumelten. Ihre Augen waren nicht mehr wie gewohnt grün-braun, sondern hatten etwas von einer stechenden, giftgrünen Farbe. Die Pupillen waren zu schmalen, senkrechten Strichen geworden, so wie bei dem Engel aus ihrem Traum, oder wie bei einer Katze. Moment? ENGEL?

Erst jetzt bemerkte Natsuki es, doch da standen wirklich große, weiße Flügel zwischen ihren Schulterblättern heraus und umrahmten den Oberkörper wie eine Sphäre. Was war hier bloß los? War dies ein Traum? Das Mädchen kniff sich fest in den Oberarm. Sie spürte den Schmerz deutlich. Es war klar: Dies hier war real! Die Fünfzehnjährige musste tief Luft holen. Erschrocken stürzte sie aus dem Badezimmer und suchte nach ihrem Skizzenbuch. Vielleicht konnte sie sich beruhigen, nachdem sie darin eingetragen hatte. Was ein Glück. Es lag auf dem Wohnzimmertisch, Natsuki rannte darauf zu und schnappte sich den Block hektisch.

Dann, plötzlich hörte sie ein Brausen. Das Mädchen drehte den Kopf und sah das ganze Badewasser, das vorhin verschwunden war, auf sie zurollen. Wie ein Strudel wurde die Fünfzehnjährige davon umkreist und schoss in einer gewaltigen Fontäne durch einen regenbogenfarbenen Tunnel. Natsuki verstand die Welt nicht mehr. War das nun wirklich oder nicht? Drehte sie jetzt völlig am Rad?

Die Stimme war ganz leise und schien aus ihr selbst zu kommen, ohne dass das Mädchen persönlich den Mund aufmachte. „Erwache, Fynn Fish.“
 

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Fortsetzung folgt am 10.07.2011

Kurze Vorschau:

„Ich mache dir gleich eine heiße Schokolade“, mit diesen Worten stürmte Marron in die Küche und machte die Türe hinter sich zu.

Kaum war sie verschwunden, vernahmen Natsuki und ihr Vater, die beide noch im Hausflur standen, das Klingeln der Wohnungstüre.

„No... äh...“, Chiaki schüttelte den Kopf und knurrte dann bedrohlich: „Hijiri Shikaido!“
 

Enjoy<3



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