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Schneesturm

von

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Die Ruhe vor dem Sturm

Grau war der Himmel und trüb, als sich sachte die ersten Schneeflocken des hereinbrechenden Winters ihren Weg hinab zur Erde suchten. Langsam, bedächtig, als wollten sie eigentlich nie dort ankommen, als wüssten sie, dass ihr kurzes, aber schönes Dasein in dieser Form dann ein Ende fand. Schmelzen würden sie, zu Wasser werden, als hätte es sie nie gegeben, um wieder eins mit der Erde zu sein. Doch nicht allen Schneeflocken war so ein Ende vergönnt. So verirrte sich die ein oder andere auf die warmen Wangen eines blonden Jungen, dessen Augen die Trübheit des Himmels zu erwidern schienen. Unter seinen Augen schmolz der kalte Schnee, bahnte sich einen Weg an seinem Gesicht hinab zu seinem Kinn, ehe seine Existenz in einem weißen Handschuh ein jähes Ende fand.

Edward wischte sich mit einer Hand den geschmolzenen Schnee aus dem Gesicht und richtete langsam seinen mittlerweile verschwommenen Blick, der an dem sich immer dunkler werdendem Himmel geklammert hatte, wieder zu dem Grabstein zu seinen Füßen. Fünf Jahre war es nun her, dass ihre Mutter nicht mehr war. Eine unerträglich lange Zeit, wie es ihm vorkam und doch so kurz, bemessen an der Lebensspanne eines einzelnen Menschen…

Behutsam legte er die Blumen, die er für sie mitgebracht hatte, auf ihr Grab, welches bereits mit einem leichten Schneehauch bedeckt war und dachte dabei einmal mehr an sie zurück. „Liebe Mutter..“, kam leise geflüstert über seine Lippen. All die Jahre, die er und Alphonse damit verbracht hatten, ihre normalen Körper zurück zu erlangen, für ihre Sünden, etwas so wertvolles wie ein Leben wieder zurückbringen zu wollen, zu büßen, hatte Edward nie richtig Zeit gefunden, wirklich angemessen um sie zu trauern. Doch nun, da fast alles war wie früher, nahm er sich fest vor, sie öfters zu besuchen. Er wollte ihr von ihren Reisen erzählen, von seinem Alltag, davon, dass er als großer Bruder immer noch kleiner war als Alphonse, wie er sein Leben nun ohne Alchemie meistern musste und er wollte sie eventuell auch um Rat fragen…

Edward musste schmunzeln. Ja, es war wirklich viel passiert, seit ihre Mutter gestorben war.
 

Noch immer fiel Schnee vom Himmel und die Sonne, die nur schwer hinter all dem Grau auszumachen war, gab zu verstehen, dass es spät wurde. Seufzend erhob sich der blonde Junge, warf einen letzten Blick auf den Grabstein und wandte sich dann zum Gehen. Es war besser, er würde jetzt nach Hause zurückkehren, denn er hatte seinem Bruder versprochen, rechtzeitig zum Abendessen wieder daheim zu sein und ein gutes Essen würde er sich sicher nicht entgehen lassen.

Daheim. In der Tat konnte man es so nennen, denn nach allem was passiert war, hatten sich die Brüder dazu entschieden, ihr altes Haus wieder aufzubauen. „Aufbauen“ betraf in diesem Falle nur Edward, der mit Nägeln und Hammer herumhantierte und sich einen oder zwei blaue Daumen einfing, während Alphonse größtenteils alles Gröbere kurzerhand transmutierte. Und Ed kam nicht umhin, seinen kleinen Bruder ob dieser Tatsache ein wenig zu beneiden. Dennoch war es damals die richtige und auch einzige Möglichkeit gewesen, Al nicht noch einmal beinahe zu verlieren. Und für ihn wäre er bereit gewesen, noch sehr viel mehr als nur seine Alchemie aufzugeben. So viel mehr. Daher war der Verlust dieser, ein durchaus erträgliches Übel für Edward gewesen. Alles was zählte war, dass er sein Versprechen hatte halten können und Alphonse endlich wieder lächeln zu sehen. Bei dem Gedanken an genau dieses Lächeln beschleunigte der Blonde seine Schritte. Er würde es sich nicht verzeihen, wenn er sich verspäten und damit Als Lächeln in eine grimmige oder gar traurige Mine verwandeln würde, weil das Abendessen bereits wieder kalt war.

Kaum hatte Edward einige Hügel überwunden, sah er bereits die hellen Lichter ihres Hauses. Mit einem vergnügten Grinsen und einem leeren Magen legte er die letzte Distanz zurück, öffnete die Haustür und als er eintrat, umfing ihn ein angenehm warmes Zimmer. Tief atmete er ein und schon konnte er den appetitlichen Duft eines leckeren Abendessens ausmachen. Edward schloss die Tür hinter sich, zog seinen Mantel aus und schlug sogleich den Weg Richtung Küche ein. „Al! Da bin ich wieder.“, rief er in freudiger Erwartung vergnügt aus, als er in die Küche trat. Und tatsächlich hatte er sich nicht einmal verspätet, denn sein kleiner Bruder stellte ihm gerade eine dampfende Schüssel mit Stew an seinen Platz. „Als hättest du es gerochen. Sonst bist du nie so pünktlich, Bruder.“, entgegnete Alphonse ihm lächelnd, als er sich zu ihm umwand. Da war es, genau dieses Lächeln, welches Edward all die Jahre vermisst und nun endlich wieder hatte. Zum Glück nahmen seine Wangen aufgrund des Temperaturunterschiedes zu Draußen eine gesunde Röte an und nicht etwa, weil ihn sein jüngerer Bruder mit diesem gefangennehmenden Lächeln bedachte. Zumindest redete er sich das ein.

Etwas verlegen kratze sich Ed am Kopf, ging dann zu seinem Platz am Tisch und setzte sich. „Naja weißt du, es wird langsam kalt draußen und außerdem wollte ich dich nicht warten lassen. Zudem halte ich meine Versprechen.“, antwortete er ihm auf seine vorherige Aussage hin. Alphonse, dessen Lächeln sich nicht im Geringsten gemindert hatte, folgte Ed mit seinen bernsteinfarbenen Augen, ehe er seinen Kopf leicht zur Seite neigte. „Ja, das hast du mir bereits bewiesen.“, flüsterte er mit einer Mischung aus Dankbarkeit und Reue, was sich auch in seinen Augen wiederspiegelte, als er daran dachte, was Edward seinetwegen bereit gewesen war zu geben. Diese Emotionen blieben von Ed nicht unbemerkt. Er wusste genau was in Alphonse vorging und er wusste auch, dass er diesen Ausdruck von Schuld nicht in seinem jungen Gesicht sehen wollte. „Al, hör bitte auf darüber nachzudenken. Du hättest für mich das gleiche getan und im Grunde hattest du es ja bereits getan, ich habe mich lediglich revanchiert. Und nun setz dich, sonst bin ich ja umsonst so früh zurückgekommen, wenn das Essen trotzdem kalt wird.“, riss er seinen Bruder aus seinen Gedankengängen. Dieser nickte und versuchte all die Gedanken zu verdrängen, die ihm immer wieder durch den Kopf gingen. Langsam ließ auch Al sich auf seinem Stuhl nieder, offensichtlich, dass er es noch nicht ganz geschafft hatte, unliebsame Gedanken auszublenden. Dennoch versuchte er der Bitte seines Bruders nachzukommen. Leise seufzend nahm er seinen Löffel zur Hand, schloss kurz die Augen, um sie daraufhin mit einem sanften Ausdruck darin wieder zu öffnen. „Guten Appetit.“, wünschte er bereits wieder etwas besser gelaunt. Beide aßen schweigend ihren Eintopf, jedoch herrschte keine unangenehme Stille, denn jeder der beiden genoss die Ruhe, die nach langer Zeit wieder Einzug in ihr Leben hielt.

Mit einem zufriedenen Laut und einem mehr als vollem Magen, stellte Edward seine Schüssel, die er zum Essen in die Hand genommen hatte, wieder auf dem Tisch ab. „Wäre es zu viel verlangt, wenn wir jeden Tag Stew essen könnten?“, wollte Ed mit einem breiten Grinsen im Gesicht wissen. Alphonse konnte daraufhin nur leise kichern. „Dir ist aber schon klar, dass da Milch drin ist, nicht das du am Ende doch noch wächst.“, warnte er seinen Bruder scherzhaft, welcher daraufhin etwas beleidigt und verlegen innehielt, als er sich gerade genüsslich strecken wollte. „Daran wärst aber nur du schuld, warum kannst du halt auch so gut kochen, he? Außerdem..“, schmollte Ed und verschränkte seine Arme vor der Brust,“…wäre es nur gerecht, wenn ich größer bin als du.“, meinte er etwas kleinlaut. Gewöhnlich flippte er auch bei der noch so kleinsten Anspielung auf seine Größe total aus, doch wenn Al darüber scherzte, konnte er ihn aus einem unerfindlichen Grund nicht einmal böse anfunkeln. Aber wenn er so darüber nachdachte, hatte sich sein Bruder auch noch nie wirklich in dieser Hinsicht über ihn lustig gemacht. Alphonse erwiderte darauf nichts. Er stand lediglich auf und räumte die Schüsseln vom Tisch in die Spüle. Edward beobachtete ihn dabei in Gedanken versunken. Er kam nicht umhin zu bemerken, wie ähnlich sie sich doch sahen. Schon damals, als er ihn zum ersten Mal nach langer Zeit auf der anderen Seite dieses Tores hat sitzen sehen. Kränklich sah sein Körper aus, abgemagert. Und ihm dennoch so ähnlich. Ein leichtes Lächeln umspielte seine Lippen, als er sah, wie Al vergeblich versuchte seine langen Haare so zu bändigen, dass sie ihm nicht ständig vor das Gesicht und ins Spülwasser fielen. Ja, wahrscheinlich waren genau diese Haare der ausschlaggebende Punkt, warum er fand, dass sie sich so ähnelten. Damals als sie noch Kinder waren, war es ihm nicht aufgefallen, wohlmöglich weil Alphonse auch schon immer eher kurze Haare bevorzugte, vielleicht war es ihm aber auch egal gewesen. Doch diese langen Haare, musste er feststellen, standen seinem kleinen Bruder vorzüglich, auch wenn er offensichtlich noch nicht damit umzugehen wusste. Kurzerhand griff er in seine eigenen Haare und nestelte an seinem Haarband herum und löste dieses. Dann stand Edward auf und trat hinter Al, der noch immer mit dem Aufwasch beschäftigt war, gab es eben nicht nur zwei Schüsseln zum abwaschen, sondern das gesamte Geschirr einer Woche. Alphonse war so vertieft in seine Arbeit gewesen, dass er sich ehrlich erschreckte und ihm fast ein Teller aus den Händen gerutscht wäre, als Ed plötzlich hinter ihm stand und mit beiden Händen langsam durch seine Haare fuhr. „Was…machst du denn da?“, fragte Al mit leichtem Schrecken und einem seltsam angenehmen Gefühl ob der beiden warmen Hände an seinem Kopf. „Wirst du gleich sehen!“, antwortete Ed ihm mit einem deutlich hörbaren Grinsen im Gesicht. Vorsichtig sammelte er alle Strähnen der, wie er feststellte, wirklich weichen Haare zusammen, ehe er sein Haarband in den ebenso blonden Strähnen wie den seinen, befestigte. „So. Jetzt solltest du keine Probleme mehr haben.“, meinte Ed und betrachtete seine Arbeit mit in die Hüften gestemmten Händen, ob er auch wirklich alle Strähnen erwischt hatte und der Zopf ordentlich saß. Vorsichtig hob Al eine vom Spülwasser nasse Hand zu dem Zopf an seinem Kopf und blickte seinen Bruder über seine Schulter hinweg an. „Ähm, danke.“, meinte er verlegen und dankbar, als er in Eds, nun von goldblonden Haaren umrahmtes Gesicht blickte. Dieser war durchaus zufrieden mit seinem „Werk“, nicht nur, dass er Alphonse mit langen Haaren mochte – nein, Alphonse mit Zopf mochte er noch mehr. Wieder schrieb er den kaum sichtbaren Rotschimmer der Wärme des Hauses zu, der sich bei dem Anblick, der sich ihm bot, in seinem Gesicht abzeichnete. Doch konnte er damit auch erklären, warum sich in seinem Inneren plötzlich eine noch viel angenehmere Wärme auszubreiten begann?

„Ich bin duschen, Al.“, mit dieser Aussage wandte er sich, vielleicht etwas zu schnell, von dem Jüngeren ab und nahm die Treppe nach oben in den zweiten Stock und ging ins Bad. Ja, eine warme Dusche würde ihm jetzt wahrlich gut tun. Oder doch eher eine eiskalte?

Etwas verwundert ob des schnellen Abgangs seines Bruders, blieb Al allein in der Küche mit seinem Aufwasch zurück. Seufzend stellte er nach einer Weile, in der er auch die Dusche im oberen Geschoss anspringen hörte, den vorerst letzten Teller beiseite. Sein Blick wanderte über das saubere Geschirr zu seiner Rechten und nach oben zum Fenster. Mittlerweile war es so dunkel geworden, dass man nur noch schwer die kleinen Lichter der umgrenzenden Häuser ausmachen konnte. Doch was Al trotz allem sehr deutlich sah, waren die vielen - unzählig vielen - dicken Schneeflocken, die regelrecht am Fenster vorbei zu rasen schienen, als wären es Kometen. Augenblicklich rückte er näher ans Fenster heran, um wegen der Helligkeit im Raum besser nach draußen sehen zu können. Sein zuerst neugieriger Blick wechselte über erstaunt bis nach ungemein fröhlich. Ja Alphonse strahlte regelrecht. Dies war der erste Schnee nach über vier Jahren, den er wieder richtig anfassen und fühlen würde können. Er hatte über die Zeit wirklich vergessen, wie sich kalter Schnee auf seiner eigenen warmen Hand anfühlte, wenn er ihn zu einem Schneeball formte, wenn er auf seiner Haut schmolz…

Er mochte die Kälte zwar eigentlich nicht, doch seitdem er überhaupt wieder etwas fühlen konnte, war ihm nahezu jede Empfindung, jede Berührung und sei sie auch noch so lächerlich klein, wirklich mehr als willkommen, denn dann fühlte er sich lebendig. Und lieber als Kälte, die sich nun draußen über das Land legte, hatte er eindeutig die Wärme – nicht nur jene, die dieses Haus erfüllte, sondern auch oder gerade vor allem menschliche Wärme. Die Hand ihres Vaters hatte sich so wunderbar warm angefühlt und genau dieses Gefühl beschwor er sich jetzt in Gedanken wieder herauf. Al hatte es eigentlich ganz anders in Erinnerung gehabt, hatte es vergessen. Fühlte sich wirklich jeder so wunderbar warm an? Fühlte er sich selbst so an? Oder von noch viel größerem Interesse: fühlte sich sein großer Bruder so warm an?

Jäh wurde er in seinen Gedankengängen unterbrochen, als quietschend die Tür zum Badezimmer aufging und mit einem Klicken wieder ins Schloss fiel. Edward kam, sich die Haare mit einem Handtuch trocken rubbelnd, die Stufen herunter, als Alphonse seinen Blick zur Treppe schweifen ließ. Sein großer Bruder trat wieder zu ihm in die Küche und staunte nicht schlecht, als auch er das rege Schneetreiben vor ihrem Fenster erblickte. „Gibt’s doch gar nicht! Vorhin waren es doch gerade mal so minikleine Flocken! Und Winter haben wir auch noch gar nicht!“, platzte es aus Ed heraus, als er zeitgleich mit Daumen und Zeigefinger die Größe der Schneeflocken verdeutlichte. Alphonse allerdings konnte über die Impulsivität seines Bruders nur lächeln, war er doch nichts anderes von ihm gewohnt. „Hey Al, lass uns raus in den Schnee gehen!“, meinte Ed völlig überzeugt von dieser Idee und schon fast auf dem Sprung, als er von dem Jüngeren aufgehalten wurde. „Spinnst du? Du hast doch noch feuchte Haare und draußen ist es furchtbar kalt!“ Allein bei dem Gedanken fröstelte es Al, der momentan die Wärme hier drinnen bevorzugte. Resignierend musste Edward feststellen, dass Al leider Recht hatte, wie fast immer, wenn es um Vernunft ging. „Ist ja gut, dann lass uns irgendwas anderes machen, ja? Zum Schlafen gehen ist es mir nämlich noch zu früh.“, schmollte er ein wenig und schlug den Weg in ihr Wohnzimmer ein. Schweigend, aber froh, dass der Ältere nicht darauf bestand seinen Willen durchzusetzen, folgte er ihm. Edward hatte es sich bereits auf der großen Couch gemütlich gemacht, ließ seinen Kopf auf einer der Armlehne ruhen und seine Haare locker über ebendieser fallen. Richtig, ging es Al durch den Kopf, er hatte ja noch immer das Haarband seines Bruders in den eigenen Haaren. Es gefiel ihm zwar irgendwie, jedoch hatte es lediglich einen praktischen Nutzen erfüllt. Aus diesem Grund wollte er sich für den Gefallen von vorhin erkenntlich zeigen. Leise kniete Alphonse sich an das Kopfende der Couch und ließ einige der blonden Strähnen seines Bruders durch seine Finger gleiten. Er mochte das Gefühl. Es kitzelte an seinen sensiblen Fingerspitzen und nie hätte er gedacht, dass Eds Haare so weich sind!

Leise murmelnd gab dieser seine Verwunderung kund. „Al? Was sitzt du denn da auf dem Boden?“, nun, dass war eigentlich nicht, was er hatte sagen wollen. Aber hätte er denn offen sagen können, dass es ihm gefiel, wenn man ihm durch die Haare strich? Edward dachte darüber nach und diese Aussage erschien ihm im Grunde gar nicht so schlimm. Doch als sich erneut eine bekannte Wärme in seinem Magen anfing auszubreiten, schlich sich ein ganz anderer Gedanke ein: Es gefiel ihm, wenn Alphonse ihm durch die Haare strich. Im Nachhinein war er ganz froh, dass Al hinter ihm auf dem Boden saß und so nicht seine nun wirklich sehr roten Wangen sehen konnte, was er mittlerweile nicht mehr auf die Zimmertemperatur schieben konnte.

Und Al schien es wirklich nicht zu bemerken. „Ach lass nur. Da du ja ohnehin die gesamte Couch in Anspruch genommen hast, nehme ich auch mit dem Boden vorlieb, Bruder.“, war Als mehr oder weniger naive Antwort. Alphonse saß auch nicht ganz uneigennützig auf dem Boden, vielleicht bot sich ihm ja eine Gelegenheit ihn flüchtig zu berühren, zu fühlen, wie warm sein Bruder war? Seine Gedanken von vorhin aufgreifend, hob Al langsam seine Hände und fuhr nun seinerseits durch seines Bruders Haare, wie dieser schon zuvor bei ihm. Seufzend entspannte sich Edward augenblicklich und versuchte auszublenden, was für äußerst merkwürdige Gedanken sich in seinem Kopf abspielten. Irgendetwas, dachte er, war doch seltsam daran, wie er sich fühlte, wenn sein Bruder nichts weiter tat, als ihm einzig und allein durch die Haare zu streichen. Irgendetwas, dachte er, war doch falsch daran, wie sich wohlige Wärme in ihm ausbreitete, dass ihm fast schwindelig wurde, dass sein Herz fast zerbarst. Irgendetwas war hier ganz und gar falsch.

Doch von all diesen erdrückenden Gedanken, die seinen Bruder beschäftigten, bekam Al nichts mit. Er war viel zu versunken in seinem „Spiel“ mit den seidenen Haarsträhnen und dem Gefühl zwischen seinen Fingern. Hätte er den bloßen Gedanken daran nicht so irritierend gefunden, würde er meinen, dass er nach diesem Gefühl süchtig werden könnte. Langsam richtete er sich etwas aus seiner sitzenden Position auf, um wortwörtlich noch mehr von dieser Versuchung in die Finger zu bekommen, dabei bemerkte er, dass Edward seine Augen geschlossen hatte und ein ruhiger Ausdruck auf seinem Gesicht lag. Allen Anschein nach empfand er es als entspannend, wenn ihm durch die Haare gewuselt wurde, schlussfolgerte Alphonse. Andernfalls war Ed einfach nur vor Langeweile eingeschlafen. Interessiert beobachtete Al das Gesicht des Älteren. Diesem schien warm zu sein oder warum waren seine Wangen so sehr gerötet? >Warm<, schoss es Alphonse durch den Kopf. Genau das war es doch, was er herausfinden wollte? Ein wenig unsicher und unbeholfen hob er seine rechte Hand nah an das Gesicht seines Bruders. Konnte er es wagen?
 

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So da wären wir nach dem ersten Kapitel! Würd mich freuen, wenn ich erfahren dürfte, was ihr davon haltet, vorallem weil ich ja noch recht unerfahren bin ;)

Schneesturm

Ein tosender, rasender Sturmwind heulte pfeifend um das Haus. Enthusiastisch peitschte er die Fenster und Türen, schlug heftig auf sie ein bis sie aufschrien, als wolle der Sturm das gesamte Gebäude ganz und gar in Eis und Schnee, die er mit sich brachte, einfrieren und begraben. Das Haus, welches einsam, aber eisern auf einem Hügel stand, bot diesem eisigen Orkan genügend Angriffsfläche und es erzitterte bis in die Grundmauern. Jedoch hatte es nicht vor, diesem hartnäckigen Störenfried nachzugeben, geschweige denn, ihm Einlass zu gewähren.
 

Und während die wehrlose Welt außerhalb dieser besagten vier Mauern in einem ungestümen, gnadenlosen Schneesturm ertrank, herrschte im Inneren eine fast konträre Atmosphäre. Neben dem Ächzen des Holzes und dem Pfeifen der Böen, war nur das leise Atmen zweier Menschen zu hören.
 

Alphonse hielt in seiner Bewegung inne, kurz bevor er sein Vorhaben in die Tat umsetzte. Schlief sein Bruder wirklich? Bei genauer Betrachtung sah es sehr wohl danach aus, doch was, wenn dem nicht so war? Sollte Al seine Stimme erheben und den Anderen einfach fragen, ob er wach war – und wenn ja, ob er testen durfte, wie warm seine Haut wirklich war? Doch klang diese Frage allein nicht schon sehr viel alberner, als wenn er es einfach tun und sich danach entschuldigen würde, mit der Ausrede, sollte Edward in irgendeiner Weise doch etwas dagegen haben, er hätte nur eine Fliege verscheucht oder dergleichen? Alphonse seufzte leise hin sich hinein. Warum kam ihm das überhaupt komisch vor? Es war doch nicht verboten seine eigenen Familienmitglieder anzufassen oder? Und ihm war es doch erst recht nicht verboten, nach allem was passiert war, nach jahrelanger Gefühlslosigkeit, seinen eigenen Bruder, bedingt durch seine Bedürftigkeit nach Nähe, zu berühren oder? Früher, als sie klein waren, haben sie sich oft umarmt, wenn sie sich freuten, haben herumgetollt, miteinander gestritten und gekämpft und damals war es ihm nie lächerlich vorgekommen. Lag es daran, dass sie älter wurden und so etwas, würden sie es beibehalten, kindisch aussah? Vielleicht wollte Al auch nicht, dass Edward irgendetwas Komisches von ihm dachte, wenn er solche Fragen oder Wünsche ihm gegenüber äußerte. Immerhin war es ja nicht der Fall, dass er gewisse Gedanken oder Gefühle in Bezug auf seinen Bruder hegte. Nein, absolut nicht!
 

Energisch schüttelte Alphonse seinen Kopf. Dieser Bewegung wurde Edward hinter seinen geschlossenen Lidern gewahr und blinzelte kurz, ehe er in Als nachdenkliche Augen blickte. Ed hatte also doch nicht geschlafen.

„Worüber denkst du denn nach, Al? Deinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen, würde ich meinen, du hättest etwas an meinen Haaren auszusetzen?“, kommentierte Edward das Innehalten seines kleinen Bruders, der damit aufgehört hatte, sich an seinen Haaren zu schaffen zu machen. Der Angesprochene sah Ed etwas verwirrt und gleichzeitig überrascht an, hatte dieser noch nicht bemerkt, dass der Ältere zu ihm emporblickte.

„Ich...äh, also…nein! Deine Haare sind völlig in Ordnung so, Bruder!“, entgegnete Alphonse nervös, als er darüber nachdachte, ob er ihn jetzt einfach fragen sollte. Sein großer Bruder kam doch sonst jeder Bitte seinerseits nach und es war nichts Schlimmes daran, ihn bezüglich dieser Sache zu fragen.

Doch Ed kam ihm zuvor.

„Okay. Was hast du dann?“, fragte er ihn ernst und richtete sich auf, um ihn besser ansehen zu können, wusste er doch, dass irgendetwas nicht stimmen konnte, wenn Alphonse so nachdenklich blickte. Und oh wie er diesen Ausdruck nicht ausstehen konnte, es war für ihn unerträglich, wenn Al irgendwas bedrückte. So unerträglich wie der Gedanke, dass sich all seine Gedanken, diesen mit eingeschlossen, in letzter Zeit nur um den Jüngeren drehten und er sich absolut nicht dagegen wehren konnte. Edward fragte sich langsam, ob er vielleicht krank war.

Derweil wusste Al noch nicht so recht, wie er auf diese Frage antworten sollte, weil ihm die Wahrheit immer noch recht absurd vorkam.

„Ich…würde gerne…wenn es, wenn es dir..“, weiter kam er nicht, als plötzlich und ohne jede Vorwarnung die Haustür mit einem markerschütternden Krachen aufflog und gegen die Hauswand schmetterte. Beide Jungen, gleichermaßen zutiefst erschrocken, sprangen zeitgleich mit einem völlig geschockten Aufschrei, regelrecht in die Luft bei diesem Knall.
 

Die nun offene Tür gewährte all der tobenden, schneidenden Kälte Einlass in die warmen Gefilde des Hauses, welches nun anscheinend vergebens so stur gegen den wütenden Sturmwind angekämpft hatte, um diesen auszusperren.

Wieder einigermaßen bei Sinnen setzte sich Edward eilig in Bewegung, mit der Absicht, die Tür wieder verschließen zu wollen. Dies gestaltete sich jedoch als schwieriger als angenommen, da das aufgebrachte Unwetter ihm mit aller Gewalt die Tür gleichermaßen entgegendrückte. Und nicht nur diese. Zu dem schrecklichen Schneesturm gesellten sich nun auch mittelgroße Hagelkörner, die unsanft in Edwards Gesicht landeten und sich in seinen Haaren verfingen.

„Au! Verdammt Al, komm her und hilf mir mal! Allein krieg ich die Tür nicht zu!“, schrie er über den tosenden Lärm hinweg seinem Bruder zu. Jener hatte die ganze Zeit über ungläubig zur Tür gestarrt und nur noch das unbeschreibliche Gefühl des eisigen Luftzugs, der unaufhörlich hereinströmte, auf seinem Gesicht wahrgenommen. Ihm war, als hätte der Wind ihn zur Begrüßung umarmt und ihm den Atem geraubt.
 

Jetzt löste Al sich langsam aus seiner Trance und stürzte regelrecht zu dem Älteren hin, um ihm zu Hilfe zu kommen. Wo war er nur mit seinen Gedanken? Gemeinsam drückten sie gegen das Stück Holz, welches sich jetzt endlich auch bewegen ließ. Mit deutlich hörbarem Lärm landete die Tür wieder im Schloss. Mit dem Rücken lehnten sich beide gegen diese und atmeten erst einmal durch.

„Al, tu irgendwas, versiegel das Ding oder was auch immer, aber tu es schnell.“, verlangte Edward von ihm, unfähig, die Sache selbst in die Hand zu nehmen. Es war ein sonderbares Gefühl auf seinen kleinen Bruder angewiesen zu sein, wenn es um so etwas ging, wie das Haus vor einem Sturm zu schützen.
 

Der Jüngere fackelte auch nicht lange, nickte und tat wie ihm geheißen, indem er kurz in die Hände klatschte und sie dann an die hölzerne Tür legte. Helles, blaues Licht flackerte kurz auf und verschwand wieder.

„Erledigt.“, sprach Al, relativ zufrieden mit seiner Arbeit, lächelte aber etwas unsicher in Richtung Ed. „Allerdings haben wir jetzt erstmal keine Türklinke, befürchte ich.“

Argwöhnisch zog der Ältere eine Augenbraue nach oben, betrachtete die Tür aus dem Augenwinkel und musterte sie abschätzig, ehe er verstand.

„Du hast das Metall der Klinke geschmolzen, um die Tür am Rahmen fest zu schweißen?“, fragte er mit großen Augen. „Ja, das ist mir gerade als einziges eingefallen. Ist es nicht gut?“, fragte Alphonse mit noch immer etwas unsicherer Miene, als er zwischen der Tür und seinem Bruder hin und her blickte. Prüfend klopfte Edward gegen die Tür und stemmte sich dann mit aller Macht gegen diese und drückte und schob. Sie schien allerdings recht unbeeindruckt von seinen Aktionen zu sein, da sich die Tür weder den kleinsten Millimeter bewegte, noch das leiseste Knarzen von sich gab. Etwas außer Atem drehte er sich wieder zu Al und grinste diesen erfreut an. „Doch, das ist perfekt! Besser hätte nicht einmal ich es hinbekommen.“, lobte er seinen kleinen Bruder und klopfte ihm im Vorbeigehen, auf dem Weg zurück ins Wohnzimmer, auf die Schulter.

„Was wolltest du mich eben eigentlich fragen, Al?“, fiel Edward soeben wieder ein, dass sie mitten im Gespräch unterbrochen wurden waren und er hielt abrupt in seiner Bewegung inne. Überrascht atmete Alphonse die nun kühlere Zimmerluft ein, hatte er doch tatsächlich fast vergessen, was er fragen wollte. Es war schon eigenartig. Noch vor wenigen Minuten wollte er nichts mehr, als angenehm warme Haut an seiner eigenen spüren und nun war es ihm, als würde sein Herz fast schreien vor Sehnsucht nach dieser allesumfangenden Kälte des Winters.

„Ach, ich…“, begann Al wieder stockend, war er sich noch unschlüssig, was er im Moment eigentlich wollte.

„…wollte nur fragen, ob ich dir deine Haare flechten soll?“, war Als Antwort, welche von der eigentlich beabsichtigen Frage ein wenig abwich. Doch nichts desto trotz war dies auch etwas, was er für seinen Bruder tun wollte. „Sozusagen als Gegenleistung für das hier.“, lächelte er Ed fröhlich an, als er an seinem Haarband zupfte und mit dieser Aussage mehr meinte, als nur diese nett gemeinte Geste seines Bruders. Denn es war eine unsinnig kleine Gegenleistung in Anbetracht dessen, was Edward noch alles für ihn getan hatte. So war es freilich nicht allein die Schuld seines Bruders gewesen, durch die er seinen Körper verloren hatte, doch war es ganz und gar allein sein Verdienst, dass Alphonse nun wieder hier war.
 

Erheitert und auch fast etwas belustigt, sah Edward den Jüngeren an. „Das war wirklich, was du fragen wolltest? Im Ernst Al, für so etwas erwarte ich keine ‚Gegenleistung‘. Und fragen brauchst du deswegen auch nicht. Ehrlich, ich würde dich nicht einmal schräg anschauen, wenn du mir wie aus heiterem Himmel eins mit der Faust überziehen oder mich umarmen würdest.“, und nichts anderes hatte Edward von Al erwartet, als das genau eines dieser Dinge nun eintraf, kannte er ihn doch gar zu gut.
 

Ungestüm, mit fast hilfloser und tiefster Bewegtheit ob dieser Worte, umklammerte Alphonse den Älteren schlagartig, vergrub sein Gesicht an dessen Schulter und seine Finger in den Stoff des schwarzen Pullovers und schloss seine Augen. Er fühlte sich, als könnte er Lachen und Weinen zugleich. Wie töricht war er, wirklich zu glauben, dass sein Bruder ihn in irgendeiner Weise jemals ablehnen würde oder schlecht von ihm dachte? Wie ein Rettungsanker war er in seinem Leben, baute ihn immer wieder auf, wenn der Weg vor ihnen auch noch so aussichtslos erschien, machte ihm Mut. Niemals würde er seine Schuld ihm gegenüber ausgleichen können, dafür konnte es keinen äquivalenten Austausch geben.
 

Al spürte, wie nun sein Bruder gleichsam seine Arme um ihn legte. In diesem Moment fühlte er sich so schön warm und geborgen, wie in seinem ganzen Leben nicht. Ganz so, als würde sich diese Wärme in ihm einnisten wollen, ihr Lager errichten und nie wieder fortgehen. Und nun hatte er seine Antwort: Ja, Edward fühlte sich genau so wunderbar warm an, wie auch ihre Mutter sich anfühlte, als sie ihn umarmt oder ihn an der Hand gehalten hatte. Das war genau die Art menschlicher Wärme, die er sich ersehnte…
 

„Danke.“, kam es erstickt und leise über Als Lippen. „Für alles, meine ich!“

Fürsorglich strich Edward ihm über den Rücken, als er hörte, wie brüchig Als Stimme eigentlich klang. „Da gibt es nichts zu danken.“, erklärte er ihm sanft. „Das ist selbstverständlich, Al. Wir sind schließlich Brüder, schon vergessen?“, fragte er mit leichtem Wehmut in der Stimme, welcher auch sein Gesicht erreichte, jedoch von Al unbemerkt blieb. Und oh wie sehr sich Edward in diesem Augenblick wünschte er könnte vergessen, dass sie Brüder waren, denn dann würde sich diese Glückseligkeit, als Alphonse sich an ihn klammerte, dieses Gefühl in seinem Inneren, dieses Kribbeln und diese Hitze in seinem Herzen, sich nicht so verdammt abartig und falsch anfühlen.
 

Ed biss sich gewaltsam auf die Unterlippe und versuchte wieder Herr seines Körpers zu werden, der ihn in letzter Zeit regelrecht zu bestrafen schien für ein Vergehen, dessen er sich nicht bewusst war.

Sanft berührten Als Haare seine Wange, als ebendieser seinen Kopf leicht von links nach rechts drehte. „Nein, habe ich nicht vergessen, Bruder. Das werde ich auch niemals.“, machte er seinem Bruder klar, als er sich langsam wieder aus der Umarmung löste und ihn freigab. Irgendwie befreit und erleichtert, sah er Edward in die Augen, in denen sich etwas verbarg, was Al nicht so recht deuten konnte. Was er aber wusste war, dass auch ihn etwas zu bedrücken schien und ebenso wusste er, dass Ed es ihm jetzt wohl nicht so einfach preisgeben würde, dafür war er einfach zu stur. Einen Versuch war es immerhin dennoch wert.

„Und was bedrückt dich?“, fragte er Edward also und seine Frage wurde, wie erwartet, abgeschmettert. „Gar nichts! Mir geht es bestens.“, winkte Ed ab. Und wahrlich, wie sollte Al bei dieser Äußerung glauben, dass wirklich alles bestens war? Doch diese Charaktereigenschaft, einfach alles was ihn in negativer Weise betraf als Nichtigkeit abzutun, war dem Älteren nun einmal eigen. So versuchte Alphonse diese Tatsache vorerst beiseite zu schieben.

„Los komm, ich mach dir deine Haare!“, erfreut ergriff Alphonse die Hand seines Bruders und zog ihn mit sich wieder in Richtung des Wohnzimmers. Vielleicht konnte er ihn ja irgendwie aufheitern?

Wie als hätte er auf eine viel zu heiße Herdplatte gegriffen, zuckte Ed bei der Berührung ihrer beider Hände unmerklich zusammen und wollte seine Hand fast schon aus diesem Klammergriff, so kam es ihm jedenfalls vor, lösen. Er hielt sich jedoch zurück, hätte er sich doch andernfalls dafür erklären müssen. Kräftig und hörbar stieß Edward die Luft aus seinen Lungen, die er bis eben angehalten hatte. Was nur hatte er getan? Was nur war geschehen, dass ihn solch ein Orkan an unerklärlichen Emotionen erfasste? Was nur war, um Himmels willen, anders als all die Jahre zuvor? So sehr er sich auch den Kopf darüber zerbrach, ihm wollte einfach keine logische Erklärung einfallen, die ihm begreiflich machte, was genau sich zwischen ihm und seinem Bruder verändert hatte, dass ihm so komisch wurde in seiner Gegenwart. Oder vielmehr, was sich an ihm selbst verändert hatte, dass ihn solche kleinen Berührungen fast schon wahnsinnig machten? Und wie bei aller Liebe, sollte er das alles seinem kleinen Bruder erklären? Langsam, aber allmählich wurde sich Edward mehr und mehr bewusst, was genau hier vor sich ging. Doch diesen Gedanken, der sich unweigerlich einschlich, wollte und konnte er nicht weiterführen.

Zögernd setzte sich Ed wieder auf das Sofa, so dass Alphonse noch genügend Platz hatte sich hinter ihn zu setzen, um seine blonden Strähnen in einem Zopf zu verflechten. Und genau das tat dieser, nachdem er sich auf der Couch niedergelassen hatte, auch in diesem Augenblick. Mit einem seligen Lächeln auf den Lippen sammelte Al Edwards Haare ein und während er mit dem Flechten begann, schlug eine kräftige Windböe, einer Druckwelle gleich, auf das Haus ein, die es zum Beben brachte. Unbehaglich musste Alphonse schlucken. „Das kann kein gewöhnlicher Sturm sein. Soweit ich mich erinnern kann, gab es hier in Resembool noch nie derartig heftige Unwetter.“, flüsterte er. Zustimmend nickte Ed ihm zu. „Du hast Recht. Die Winter waren immer sehr mild und nichts im Vergleich zu dieser abnormalen Kälte.“, dabei rief er sich ungewollt die Kälte des Eiswindes von vorhin ins Gedächtnis zurück und ein Zittern durchlief ihn. „Hoffen wir mal, dass sich der Sturm bis morgen wieder legt. Ich habe keine Lust den gesamten Tag hier drinnen zu vergeuden.“, schmollend verschränkte Ed die Arme vor der Brust bei dem Gedanken daran. Nichts mochte er weniger als tatenlos herum zu sitzen und doch wollte er diesem Haus auch noch aus einem ganz anderen Grund entfliehen.

„Was hältst du davon, wenn wir morgen bei Winry und Pinako vorbeischauen?“, entgegnete ihm der Jüngere daraufhin, wohl wissend, dass Edward Langeweile fast schon hasste. Nur wusste er auch, dass zwischen seinem Bruder und Winry eine etwas angespannte Stimmung herrschte, seitdem die Beiden in einem Streit auseinander gegangen waren. Seufzend ließ Ed den Kopf hängen. „Das wäre keine schlechte Idee, aber dann musst du mich wohl mit mehreren Schraubenschlüssel und diversen anderen Sachen im Kopf wieder nach Hause schleifen müssen, wenn ich nicht vorher schon an Blutverlust verende.“, kommentierte er die momentane Situation zwischen ihm und dem blondhaarigen Mädchen.
 

Und nun musste er zum ersten Mal nach einigen Tagen wieder an sie denken und daran, was eigentlich geschehen war. Damals war genau genommen alles wunderbar verlaufen. Edward hatte ihr, zwar etwas umständlich, seine Liebe erklärt und Winry hatte ebenfalls so empfunden; sie tat es wahrscheinlich auch jetzt noch. Doch nach einigen glücklichen, freudevollen Wochen musste irgendetwas geschehen sein, Edward wusste selbst nicht genau was, dass seine Gefühle für dieses Mädchen veränderte, bis sie gar ganz verschwunden waren. Es war fast unerträglich für ihn gewesen, der Wahrheit ins Gesicht zu sehen und noch schmerzvoller, ihr diese Tatsache zu unterbreiten. Seine Gefühle waren echt gewesen, dass wusste er mit absoluter Bestimmtheit und genau dies versicherte er Winry auch immer und immer wieder. Doch es änderte nichts. Das Mädchen machte ihm unmissverständlich klar, in nächster Zeit nichts mehr mit ihm zu tun haben zu wollen und seither hatte Edward sie nicht mehr gesehen.
 

Nachdenklich ließ der Ältere seinen Blick durch den Raum streifen als er versuchte, sich die Gefühle und Empfindungen, die er einst für seine Freundin aus Kindertagen hegte, wieder ins Gedächtnis zu rufen. Warm war dieses Gefühl gewesen, leicht, als würde man schweben und alles schaffen, was man sich vornahm. Ein Kribbeln war da, wie eine wohlige Umarmung. Befreiend war es gewesen und doch gleichzeitig so erdrückend. Im Grunde unterschieden sich die Gefühle von damals gar nicht so sehr von denen, die ihn jetzt heimsuchten, oder?
 

Grübelnd runzelte Edward seine Stirn. In seine Gedanken vertieft, bemerkte er gar nicht, dass Al bereits mit dem Flechten fertig war und ihm nun sachte und etwas besorgt eine warme Hand auf die Schulter legte. „Alles in Ordnung, Bruder? Du wirkst wirklich etwas abwesend.“, bemerkte Alphonse, nachdem er nun schon zum zweiten Mal versuchte seinen Bruder anzusprechen. Und ebendieser zuckte kurz ob dieser Worte und der Berührung auf und drehte seinen Kopf zu Al nach hinten. Mit etwas verwirrtem und immer noch nachdenklichem Ausdruck sah er seinem kleinen Bruder in die goldenen Augen, welche ihm ein Gefühl von Wohlbehagen bescherten.

„Ja…danke, Al.“, antwortete er leise und matt, griff nach seinem nun geflochtenen Zopf und legte ihn sich nach vorn über die Schulter, wobei er geistesabwesend mit den Strähnen am unteren Ende spielte.
 

Dieses ganze Bild, welches sein großer Bruder in diesem Moment abgab, wollte so gar nicht zu diesem passen, dachte sich Alphonse. Was war nur heute mit Edward los? Diese ganze Grübelei in welcher Ed steckte, brachte ihn selbst zum Grübeln. „Vielleicht gehen wir für heute erst einmal schlafen? Dir scheint es nicht gut zu gehen, nicht, dass du dir noch eine Erkältung zuziehst, denn dann musst du leider wirklich deinen ganzen Tag im Haus verbringen.“, sagte Al als er daran dachte, dass Edward ja vorhin mit nassen Haaren versucht hatte, die offenen Tür zu schließen und einen heftigen Schwall eiskalter Luft abbekommen haben musste. Demnach erschien ihm die Theorie einer angehenden Erkältung gar nicht so unlogisch. Auf diese Worte hin nickte Edward nur und stand auf.
 

Zusammen gingen sie die Stufen nach oben in ihr geteiltes Schlafzimmer. Sie behielten es bei zusammen in einem Raum zu schlafen, denn immerhin war es nie anders gewesen und warum sollten sie auch in getrennten Zimmern leben? Alphonse jedenfalls freute sich jeden Abend auf ein Neues, in einem wunderbar weichen Bett mit seinem Bruder an seiner Seite einschlafen zu dürfen, nach all den Nächten, die er nur über ihn wachen konnte.
 

Oben angekommen, verschwand Al nun seinerseits erst einmal im Badezimmer, während sich Edward bereits umzog und schwermütig auf sein Bett, welches am Fenster stand, fallen ließ. Sein Kopf war seltsam leer oder vielmehr zu voll, als das er einen klaren Gedanken fassen konnte. Noch immer grübelte er über seine Gefühle nach und starrte dabei Löcher in die Luft. Aus dem Badezimmer war leises Wasserrauschen zu vernehmen, was seinen Verstand noch weiter abdriften ließ. Edward schloss seine Augen, legte seinen Arm über diese und biss sich unsicher und verzweifelt in die Unterlippe. Nein, dieses Gefühl von damals unterschied sich in Wahrheit tatsächlich nur in einer Sache von jenem Gefühl, welches ihn heimsuchte, wenn er in Als Nähe war; ihn regelrecht quälte, wenn er ihn berührte. Die Intensität mit der dieses Gefühl zuschlug, seine Krallen nach ihm ausstreckte, war so unendlich viel höher und diese Tatsache machte Edward regelrecht krank.

War es damals bei Winry warm und herzlich gewesen, so war es nun brennend heiß und unbarmherzig, gar unerträglich und dennoch unwiderstehlich, sodass es einen süchtig werden ließ und das Verlangen nach mehr weckte. Ihm wurde schlecht.

Bei diesem Gedanken, der Erkenntnis und Unverständnis vereinte, krallte sich Edwards rechte Hand regelrecht krampfhaft in das Laken unter ihm, als könnte es ihm helfen, als könnte es diese Empfindungen rechtfertigen, während sich seine Linke instinktiv gegen seinen Mund presste, um die Übelkeit zu unterdrücken, die in ihm aufstieg und sich nicht zu übergeben.
 

In diesem Moment wurde die Klinke zum Badezimmer betätigt, die Tür geöffnet und wieder geschlossen. Alphonse trat in ihr Schlafzimmer und warf seinem Bruder einen kurzen Blick zu. Al konnte Ed in dem schummrigen Licht des Zimmers zwar nicht sehr genau erkennen, doch schien er noch nicht zu schlafen, da seine gesamte Haltung in gewisser Weise angespannt wirkte. Jedoch wollte der Jüngere ihn jetzt nicht ansprechen und lieber bis morgen warten, um ihn erneut nach seinem Befinden zu fragen. Also machte Alphonse es sich in seinem eigenen Bett bequem und hoffte darauf, dass es seinem Bruder morgen wirklich besser ging, denn ansonsten müsste er sich wohl wahrhaftig Sorgen machen. Leise seufzend schloss Al nun auch seine Augen und es dauerte nicht lange, bis er in einen angenehmen Schlaf driftete.
 

Doch Edward hingegen konnte keinen erholsamen Schlaf finden. Er atmete schwer und ungleichmäßig hinter vorgehaltener Hand. Wie konnte das nur sein? Wie konnte er nur solch absurde Gefühle für seinen eigenen Bruder empfinden? Sicherlich hatte er ihn schon immer geliebt als seinen Bruder, aber nicht mehr und auch nicht weniger. Krampfhaft versuchte er sich vor sich selbst zu rechtfertigen, nach einem Grund zu suchen, der plausibel klang oder einer Möglichkeit, es zu ändern. Schwer schluckte er den Kloß, der sich in seinem Hals gebildet hatte, herunter. Konnte er es überhaupt ändern? Diese unruhige Hitze, die mit heißen Flammenspitzen über seine Haut züngelte, dieses bestimmte Verlangen in seinem Inneren sagte eindeutig: Nein. Und je mehr Edward sich der Tatsache bewusst wurde, dass es nicht zu ändern war, nein, dass er es nicht ändern konnte, desto abscheulicher und dreckiger fühlte er sich, desto unerträglicher wurde diese Scham in ihm. Gleichsam wie der Schneesturm, der die Welt außerhalb des Hauses peinigte und mit Eiseskälte strafte, so wütete in seinem Innersten ein Feuerwirbel, der alles in ihm verbrannte und versengte, bis zum aller letzten Funken seines Verstandes. Würde er dem Feuer nachgeben, so wie die Türen dieses Hauses dem Schneesturm nachgaben? Würde er diesem Brand gewähren auch seinen Bruder in Flammen zu hüllen, so wie der Sturmwind dieses Haus unter Schnee begrub?

Festgefroren

Eisig, unerbittlich kalt und ohne jedes Erbarmen überzog der Winter noch immer unnachgiebig das Land. Alles was er hinterließ, wenngleich auch das Einzige, war klirrende Kälte und ein erdrückender, gefrierender Mantel aus Eis und Schnee, der sich wie ein Würgegriff um alles wand und mit jeder Sekunde seine Schlinge enger zog.

Die Welt erstarrte.
 

Alphonse öffnete langsam seine müden Augen, rieb mit einer zur Faust geballten Hand über diese, um den Schlaf zu vertreiben und sah sich daraufhin etwas murrend im Zimmer um. Er stutzte. Al war sich sicher, die Augen geöffnet zu haben, folglich wirkte die absolute Dunkelheit, die den gesamten Raum für sich einnahm und gar undurchdringlich schien, für ihn vollkommen fehl am Platz. Seinem Zeitgefühl nach zu urteilen, dieses besaß er zweifelsohne, müsste die Sonne den Himmel bereits hell erleuchten. Das Heulen des aufbrausenden Windes, welches nur gedämpft durch die Wände des Hauses an seine Ohren drang, erinnerte den Jungen allmählich wieder daran, welch Sturmböen schon gestern um diese vier Mauern fegten. So schlich sich nun ein betrübter Ausdruck in sein Gesicht, als ihm klar wurde, dass sich weder der Sturm, noch die beharrliche Wolkendecke geschlagen gaben. Kaum hörbar seufzte Alphonse in diese dunkle Leere hinein. Nach dieser unerfreulichen Erkenntnis wäre er am liebsten wieder unter seine warme Decke gekrochen, doch schien auch seine Neugier geweckt. Warum nur war es am Morgen so unnatürlich dunkel? Sein Blick wanderte nach oben zum Dachfenster, von dem er allerdings nicht einmal die Umrisse ausmachen konnte und ihm wurde unbehaglich. Kein einziger Stern leuchtete in dieser Nacht. Doch was hatte er auch anderes erwartet? Kein Lichtschein würde sich je in diesem Sturm behaupten können.
 

Vorsichtig und lautlos versuchte Alphonse aufzustehen, um seinen Bruder nicht zu wecken - da er wusste wie unausstehlicher dieser am Morgen war - und schlich sich langsam Richtung Tür, um daraufhin ebenso leise durch diese zu verschwinden. Ein leises Knarzen war zu hören, als sich die Zimmertür hinter Als Rücken schloss. Tastend suchte Al nach dem Lichtschalter an der Wand zu seiner Linken, da es im Flur nicht einen Deut heller war und sobald er ihn fand, musste er seine Augen mit einer Hand vor der plötzlich aufkommenden Helligkeit abschirmen, die ihn förmlich zu durchstechen schien. Dies war auch etwas, was er sich wieder angewöhnen musste, nachdem er jahrelang durch unmenschliche Augen hatte sehen müssen. Langsam gewöhnten sich seine Pupillen jedoch an das Licht und Alphonse konnte wieder klar sehen, die Treppe vor sich wahrnehmen, welche ihn nach unten in den ersten Stock brachte. Etwas verwirrt über seinen seltsamen, aufkommenden Unmut wirklich wissen zu wollen, was überhaupt los war, diese Treppenstufen nach unten zu steigen und jenen albernen Verdacht, der langsam in der hintersten Ecke seines Kopfes Gestalt annahm, bestätigt zu sehen, ging er langsam hinunter. Innerlich schmunzelte Al etwas über diese unsinnige Beklommenheit, die ihm die Dunkelheit im Haus bescherte. Sie hatten wahrhaftig schon Schlimmeres erlebt und auch bewältigt und plötzlich war da ein ganz anderer Gedanke:

„Eine Sonnenfinsternis!“, flüsterte Alphonse zu sich selbst in einem Ton, als wäre er gerade auf das größte Geheimnis der Menschheit selbst gestoßen. Hastigen Schrittes und dennoch darauf bedacht leise zu sein, stürmte er die letzten Stufen nach unten und in die Küche zum Fenster. Doch da waren keine Umrisse der Sträucher und Bäume im Garten zu sehen. Da war keine schemenhafte gezackte Linie des Gartenzaunes in der Dunkelheit. Aber am aller Wenigsten waren dort auch nur die leisesten Anzeichen auf eine Sonnenfinsternis zu erkennen. Wütend über seine eigene Torheit, zu glauben, dass genau hier und jetzt dieses Naturschauspiel stattfinden würde, ballte Al seine Hände leicht zu Fäusten. Manchmal war er wirklich leichtgläubig. Doch lange hielt dieser Gemütszustand nicht an. Wie gebannt starrte Alphonse auf das Fenster oder vielmehr auf das, was dahinter lag. Der erste Gedanke, der ihm oben im Zimmer gekommen war, hatte sich bewahrheitet und er hatte sich nicht getäuscht – es war tatsächlich Tag. Obgleich er die Sonnenstrahlen nicht sehen konnte, die vermutlich mit aller Kraft versuchten durch die Wolken zu brechen, wusste Al, dass sie da sein mussten. Sie mussten einfach. Aber je länger er nun auf das Fenster blickte, welches ihm keinen Ausblick nach draußen gewährte, sondern nur die Sicht auf eine blass blau schimmernde ans Fenster gedrückte Schneemasse preisgab, wurde Al langsam klar, dass nicht nur die erste Etage, sondern gar das gesamte Haus…

„Zugeschneit.“, kam es von Al und diesmal war es kein Flüstern, sondern eine nüchterne, halblaute Feststellung als ihm langsam dämmerte, dass die Dunkelheit oben im Zimmer nicht von ungefähr kam. Aus seiner Starre erwacht, durchschritt er eilig das Wohnzimmer auf der anderen Seite des Hauses und überprüfte auch dort die Fenster. Leider musste Alphonse auch hier resignierend feststellen, dass die Schneemassen das Haus anscheinend von allen Seiten fest umschlossen hatten. Ein leichter Anflug von Panik machte sich in ihm breit. Wie viele Tonnen Schnee und Eis lagen wirklich über ihnen? Während Al die verschiedensten Vermutungen und Annahmen durch den Kopf flogen, trugen ihn seine Beine wie automatisch geschwind wieder die Treppe nach oben zu seinem Bruder. Er musste ihm unbedingt von dieser „Entdeckung“ berichten und dieser wüsste sicher, was zu tun sei; er hatte doch fast immer irgendeine Idee. Auf seinem Weg in das obere Geschoss gab sich Al in seiner Eile überhaupt keine Mühe mehr leise zu sein und folglich polterte er lautstark über die Stufen und flog regelrecht mit der Tür in ihr gemeinsames Zimmer und zu Edwards Bettrand, wo er nieder kniete und seinen großen Bruder am Arm rüttelte. „Bruder wach auf! Los aufwachen, aufwachen!“

Leise murrte Edward und schien mehr als nur müde zu sein, hatte er doch in dieser Nacht aufgrund plagender Gedanken und Zweifel nicht so leicht einschlafen können wie Alphonse. Als Ed schwach seine Augen einen Spalt breit öffnete und in das besorgte Gesicht seines Bruders blickte, welches von einem Lichtkegel, der aus dem Flur zu kommen schien, erhellt wurde und seinem eigenen Gesicht so nah war, wirkte sein Blick einen Moment lang glasig. Träumte er? Alles fühlte sich so unwirklich an. Die Wärme seiner Decke, das schummrige Licht, der fremde Atem an seiner Wange, sogar die zarten blonden Strähnen, die ihn kitzelten. „Bruder? Alles in Ordnung?“, fragte nun Al noch einmal eindringlich, der den seltsamen Blick des Älteren bemerkt hatte und aufgrund der gestrigen Ereignisse nun mit dem Verdacht auf eine ernsthafte Krankheit dessen Stirn auf Fieber befühlte.
 

Schlagartig nahm alles um Edward Gestalt an. Er lag in seinem Bett, in ihrem Haus und plötzlich war auch die Hand, die ihn zuvor am Arm berührte hatte, die ihn geschüttelt hatte und jetzt auf seiner Stirn lag, mehr als nur real. Nein, die Stellen wo sie ihre Haut berührten, brannten förmlich und so auch seine Stirn. Leicht zitternd und von Angst gepackt, drehte Edward sich fast panisch in seinem Bett herum zur Wand, schüttelte somit Als Hand ab und brach ihren Blickkontakt. Er starrte die Wand an, kniff dann die Augen zusammen. Alles war besser, als dieses Gesicht zu sehen, dass dem Seinen eigentlich so ähnlich war. Edward konnte spüren, wie all die Gedanken von Gestern wieder in ihm hochkamen und mit ebendiesen kam auch die Übelkeit zurück. Alphonse, dem die kurze Berührung an Eds wirklich heißer Stirn mehr als genug über seinen momentanen Gesundheitszustand gesagt hatte, deutete dessen Reaktion als verständlich, wenn es ihm wirklich so schlecht ging, wie er befürchtete. Sorgenvoll betrachtete er seinen Bruder, der leicht zitternd und von ihm abgewandt in seinem Bett lag. Plötzlich ging es Al durch den Kopf, dass sie, sollte Ed wirklich krank sein, es zunächst erst mal irgendwie aus dem Haus schaffen mussten, um einen Arzt zu besuchen. Über all den kalten Schnee wollte Alphonse erst gar nicht nachdenken. Über was er aber nachdachte war, was er Edward Gutes tun konnte, damit er sich besser fühlte.

„Bruder? Ich mach dir einen warmen Tee, der gegen Erkältung hilft, okay? Danach geht es dir bestimmt schon besser.“, so hoffte Al jedenfalls und machte sich, ohne auf eine Reaktion des Anderen zu warten, auf den Weg in die Küche.

Als dessen Schritte immer leiser wurden, entspannte sich Edward augenblicklich ein wenig und neigte seinen Kopf nachdenklich in Richtung Tür, aus der wenige Sekunden zuvor sein Bruder verschwunden war. Er konnte hören, wie Alphonse in der Küche im Schrank nach einer Tasse suchte. Ein warmer Tee war so ziemlich das Letzte, was er momentan brauchte. Edward seufzte und ließ dann träge seinen Blick von der Tür durch das Zimmer schweifen. Erst jetzt fiel ihm auf, dass es mitten in der Nacht zu sein schien, da er nur vage Schemen als Schrank oder Tisch ausmachen konnte. Natürlich war es Nacht. Warum sonst war es stockdunkel? Doch warum weckte Al ihn dann auf? Verwirrt und, wie er jetzt feststellte, auch leicht verschwitzt, schlug Edward die Decke zurück. Ihm war in der Tat unglaublich warm und diese Begebenheit konnte doch wirklich nicht nur auf seine merkwürdigen Gedanken zurückzuführen sein, dachte er. Während Ed sich aufsetzte, wobei er bemerkte, dass sich alles vor seinen Augen ein wenig drehte, atmete er schwer. Die Luft in diesem Raum erschien ihm mit einem Mal erdrückend und stickig. Mit dem Vorhaben das Fenster zu öffnen und frische Nachtluft herein zu lassen, die seinen Verstand sowie seinen erhitzten Körper etwas abzukühlen vermochte, stand Edward nun auf. Sein Arm streckte sich zum Fenster, welches genau über seinem Bett war, nach oben, seine Finger berührten leicht das vom Schnee gekühlte Glas, ehe er es aufschob.

In genau diesem Augenblick kam Alphonse die Treppe wieder nach oben, eine dampfende Tasse Tee in der Rechten haltend. Das Einzige was er noch sah, bevor er auch nur ein Wort hätte sagen können, war, wie ein gewaltiger Schwall Schnee zum Fenster herein und auf direktem Weg auf Ed hernieder rauschte. „Bruder!“, rief Al vor Schreck und Besorgnis. Schnell stellte er die Tasse auf dem nächsten Tisch ab und rannte zu Edward. Hastig zog er seinen Bruder am Arm wieder auf die Beine, da ihn die Schneemassen umgeworfen hatten und putzte ihn vom restlichen Schnee frei. „Was machst du denn wieder? Dich kann man wirklich nicht mal kurz alleine lassen! Du bist krank, du musst im Bett bleiben!“, schimpfte er den Älteren leicht tadelnd, aber dennoch besorgt. Als Blick fiel auf den ganzen Haufen Schnee, den sie nun im Zimmer hatten und zu Eds Bett, in welchem sich noch mehr der kalten, weißen Masse niedergelassen hatte. Nachdenklich sah er Ed an, der noch kein einziges Wort gesagt hatte, seitdem er überhaupt wach war. Edwards Blick war von ihm abgewandt und zu Boden gerichtet und nun schien er noch mehr zu zittern als zuvor schon. Innerlich gab sich Alphonse dafür selbst die Schuld. Er hätte Edward vorhin schon sagen sollen, was er ihm eigentlich auch hatte sagen wollen, weswegen er ihn geweckt hatte, dann würde dieser jetzt nicht so frieren. Ohne weiter darüber nachzudenken, zog Al seinen großen Bruder zu seinem eigenen Bett, welches vom Schnee unversehrt geblieben war und machte ihm deutlich, sich hinein zu legen.

Noch immer vor beißender Kälte erstarrt, durch den Schnee, der über ihn hereingebrochen war und gleichzeitig atemlos vor sengender Hitze, die durch seine Adern schoss, als Alphonse ihn am Arm bis zu seinem Bett gezogen hatte, leistete Edward stillschweigend Als Anweisungen folge. Er zog sich die Decke bis unter seine Nasenspitze und wollte sich gerade wieder der Wand zuwenden, als Al, nachdem er das Fenster wieder verschlossen hatte, mit der heißen Teetasse am Bettrand erschien. „Es tut mir leid.“, murmelte Al, doch wusste Edward nicht so recht, wofür dieser sich entschuldigte und musterte ihn fragend. „Wegen dem Schnee eben. Ich wollte dir eigentlich vorhin schon sagen, dass wir eingeschneit sind. Man sieht nur Schnee, wenn man aus dem Fenster schaut. Deswegen ist es auch so dunkel. Ich hab mir gleich gedacht, dass der Schnee wohl auch auf dem Dach liegen geblieben sein muss, da es draußen eigentlich schon hätte hell sein müssen. Ich wusste ja nicht, dass du gleich das Fenster aufreißt, während ich unten bin.“, erklärte Al ihm, der seinen fragenden Blick bemerkte und sich schuldbewusst hinter der Tasse Tee versteckte, die er Ed mit beiden Händen entgegenhielt. Der heiße Dampf strömte kontinuierlich von dem heißen Getränk empor und wirkte fast schon hypnotisch auf Edward, dessen Gedanken ihn erneut zum Schwindeln brachten. Zu tiefst irritiert sah er seinen kleinen Bruder an und hörte ihm nur abwesend zu , der ihm etwas über Schnee erzählte, doch ganz erfassen konnte er den Sinn nicht, da eine Stimme in seinem Kopf ihm unentwegt nur eines zuflüsterte: Nein.

Nein zu seinen absurden Gedanken. Nein zu seinem pochenden Herzen. Nein zu dem flüssigen Feuer, das ihn von innen verbrannte. Doch vor allem Nein zu seinem Verstand, der ihm allmählich abhanden zu kommen schien.

Verzweifelt legte sich Edwards Hand über sein Gesicht und blendete somit das seines Gegenübers aus. Dieser machte sich jedoch aufgrund dieser Geste nur noch mehr Sorgen. „Was hast du denn, Bruder? Halsschmerzen, Kopfschmerzen? Du musst dich wirklich schlimm erkältet haben, wenn du noch kein einziges Wort mit mir gesprochen hast.“, seufzte Al und setzte nun vorsichtig die Tasse auf dem Tisch neben seinem Bett ab, da Edward allen Anschein nach jetzt keinen Tee trinken wollte.

Seufzend nahm Ed seine Hand wieder herunter und sah Al nun doch wieder an. Es kam ihm seltsam vor mit seinem Bruder zu reden, als wäre alles wie immer, als wären diese verstörenden Gedanken nie da gewesen. Edward fühlte sich, als würde er Al belügen, hintergehen, als hätte er ein Geheimnis vor ihm.

„Es…geht mir nicht sonderlich gut, nein.“, überwand sich Edward dann doch, aber im selben Augenblick musste er seinen Blick wieder abwenden. Er konnte es einfach nicht ertragen, doch versuchte er, sich zu konzentrieren und seine unliebsamen Gedanken beiseite zu schieben. „Aber ich glaube, es ist bald wieder gut. Nur eine kleine Erkältung. Mach dir keine Sorgen, Al.“, dabei versuchte Ed wie immer zu klingen und lächelte Al zu. Doch in seinem Inneren wusste er, dass das gelogen war. Nichts würde bald wieder gut sein, nichts konnte jemals wieder gut sein. Wie könnte er auch je rechtfertigen, vor sich selbst und vor allem vor Alphonse, sich zu seinem eigenen Bruder hingezogen zu fühlen und das auf eine Art, die gewiss rein gar nichts mehr mit brüderlicher Liebe zu tun hatte?

Eds Lächeln, welches eben noch auf seinem Gesicht lag, verschwand augenblicklich bei dieser Erkenntnis. Es gab nichts zu rechtfertigen, weil es so etwas nicht geben durfte.
 

Al, der sich soeben noch gefreut hatte, dass es seinem Bruder zumindest so gut ging, dass dieser lächeln konnte, fiel der abrupte Wechsel in Eds Stimmung nur zu deutlich auf. Wissend, dass Edward es nur selten zugab, wenn er Schmerzen hatte, musterte Al ihn. Auch wenn er sich keine Sorgen machen sollte, sorgte er sich dennoch um das einzige Familienmitglied, welches ihm geblieben ist. „Erzähl keinen Mist. Das ist mehr als nur eine kleine Erkältung!“, beschwerte sich Al und hob seine Hand zu Eds Wange, um noch einmal seine Temperatur zu überprüfen. Seine Finger waren kalt und folglich schien es ihm, als hielte er seine Hand ins offene Feuer sobald sie Edward berührte. „Und ich sorge mich nun einmal um dich.“, machte Alphonse dem Älteren nun mit etwas sanfterem Ton in der Stimme klar.

Unfähig sich zu bewegen, starrte Ed in die besorgten, goldenen Augen über ihm. Dass er die Luft anhielt, realisierte er erst, als sich der Sauerstoffmangel als unangenehm stechend in seiner Brust bemerkbar machte. Das einzige, was Ed daneben fühlte, war diese Hand. So wunderbar kühlend. Kurz schloss er die Augen und atmete aus, gewährte seinen Lungen die notwendige Luft.

Dafür, dass Ed es insgeheim mehr als nur genoss von diesen zarten Fingern so sanft berührt zu werden, hätte er sich am liebsten aus dem Fenster gestürzt, würde ihn dann nicht eine weitere Schneelawine niederwalzen und ihn davon abhalten. Auch diesen Gedanken versuchte Edward zu überspielen und von sich zu schieben. Er gab dem Fieber die alleinige Schuld daran, dass er sich Als kalter Hand entgegenlehnte, anders konnte es nicht sein.

Alphonse hingegen betrachtete dies amüsiert. Er konnte sich lebhaft vorstellen, welch eine Wohltat etwas Kaltes an einem fieberheißen Gesicht wohl darstellte. Al selbst war, seitdem er wieder darauf achten musste, noch nicht krank gewesen und an die Zeit, wo er klein war, konnte er sich nicht an eine Krankheit erinnern, geschweige denn, wie es sich angefühlt hatte. Demzufolge konnte Al nicht einmal sagen oder einordnen, ob Edward nun hohes Fieber hatte oder nicht. Doch die Wärme an seinen kalten Fingern ließ ihn lächeln, es fühlte sich angenehm an. Doch allen Annehmlichkeiten zum Trotz musste er Edwards Fieber irgendwie senken. Daher nahm er seine Hand nun von Eds Wange, welcher daraufhin sofort unzufrieden grummelte. „Warte, ich hole ein nasses Tuch, dass sollte dir auch gut tun.“, schmunzelte Alphonse und stand auf, um seine Worte in die Tat umzusetzen. Edward hingegen, so musste er sich doch eingestehen, war Als Hand eindeutig lieber als ein nasser Lappen auf seinem Gesicht. Seufzend und innerlich zerrissen wie er war, setzte Ed sich schwerfällig im Bett auf, ihm stieg in diesem Moment der Geruch des Tees wieder in die Nase und er blickte hinter sich zum Tisch. Dankbar ergriff er letztendlich doch die Tasse, hielt sie sich nah an seine Nase und inhalierte den sanften Duft von Holunder. Vorsichtig nippte Ed an der Tasse und stellte fest, dass der Tee bereits auf eine angenehme Temperatur abgekühlt war. Durstig nahm er einen großen Schluck und als er die Tasse wieder absetzte, stand Al auch schon im Türrahmen, bewaffnet mit Eimer und Handtuch. Erfreut kam der Jüngere auf ihn zu. „Schön dass du den Tee doch noch trinkst.“, sagte Al und stellte den Eimer mit kaltem Wasser neben dem Bett ab und hockte sich daneben. „Immerhin soll er auch gegen Fieber helfen.“, damit tauchte er das Handtuch in den Eimer, wrang es anschließend aus und faltete es. „Das könnte jetzt wirklich kalt sein, Bruder, also nicht erschrecken.“, mit diesen Worten legte er das Tuch vorsichtig auf Eds Stirn, der sich in eine gemütliche Position im Bett gebracht hatte und lediglich kurz zuckte, als der kalte Stoff seine Haut berührte. „Danke, Al.“, murmelte Edward und starrte in seine Teetasse in seinen Händen. Al grinste fröhlich und hoffte, dass diese Maßnahmen erst einmal genügen würden, um Eds Fieber in den Griff zu bekommen.

„So ich geh runter und sehe mal nach, was ich so zu Essen kochen kann. Du ruhst dich heute aus und bleibst im Bett.“, sagte Alphonse entschieden, jedoch wusste er, dass es Ed sicherlich nicht passte. Als er sich erhob, fügte er hinzu: „Momentan kommen wir ohnehin nicht raus, wie es scheint. Da sogar das Dach voller Schnee ist…“, mit einem Finger deutete Al nach oben, „…und die Fenster unten total zugeschneit sind…“, ein Fingerdeut nach unten, „… kann ich mir bildlich ausmalen, wie das Haus von draußen aussieht.“, seufzend legte Al eine Pause ein. „Nämlich nach gar nichts. Man sieht es nicht! Wir sind von oben bis unten praktisch unter einer Lawine begraben!“, schloss Al schließlich seine Erklärung. In Edwards Gesicht machte sich Unglauben und Ratlosigkeit breit. „Aber ich finde schon einen Weg, keine Angst. Lass das mal deinen kleinen Bruder machen. Mit Alchemie kann man doch fast alles lösen!“, versicherte er ihm noch immer grinsend und verließ dann das Zimmer nach unten. Allein zurückgelassen sank Edward wieder tiefer auf das Bett und unter die Decke. Von unten drang leises Klirren und Scheppern an seine Ohren, welches von Al verursacht wurde, der erneut in der Küche hantierte. Mit einer Hand befühlte Ed das feuchte Tuch und ließ es langsam über sein erhitztes Gesicht gleiten. Er hatte das Gefühl, dass es ihm half, dass mit der Hitze auch diese belastenden Selbstzweifel und Selbstekel verschwinden würden. Doch erwartungsgemäß traf diese Begebenheit leider nicht ein und langsam wurde er müde vom vielen Denken und Leugnen, sodass er unbewusst in einen tiefen Schlaf driftete.
 

Ein dunkles und gedämpftes Donnergrollen ließ Edward blinzeln. Verschlafen gähnte er und fühlte, wie das nasse Tuch, welches mittlerweile warm war, von seiner Stirn rutschte, als er sich aufsetzte und sich im Raum umsah. Es war immer noch dunkel und zu allem Überfluss konnte er jetzt auch deutlich hören, wie außerhalb dieses Hauses der Sturm noch immer wütete und obendrein noch ein Gewitter zur Unterstützung mitgebracht hatte. Wieder donnerte es und Edward wurde klar, was ihn geweckt hatte. Allerdings musste er feststellen, dass es ihm sichtlich besser ging, als noch vor einigen Stunden. Zumindest war diese unerträgliche Hitze in ihm nicht mehr allumfassend und der Tee sowie das kühle Handtuch scheinen ihre Wirkung getan zu haben. Jedoch beschlich Ed das ungute Gefühl, dass dies auch mit der Abwesenheit seines Bruders in Verbindung stehen konnte. Energisch schüttelte er den Kopf und stand dann, noch immer etwas wackelig auf den Beinen, auf um sich anzuziehen. Ihm war es zuvor zwar nicht aufgefallen, aber neben dem Donnergrollen und dem Wind, der ums Haus fegte, konnte Edward keine weiteren Geräusche vernehmen. Dabei müsste doch Al im Haus umherstreifen? Doch keine Anzeichen einer weiteren Person waren zu hören, so sehr sich Ed auch anstrengte zu lauschen. Er kam nicht umhin wissen zu wollen, was Al gerade machte, wenn nicht kochen, das Haus putzen, Radio zu hören oder zu telefonieren. So leise wie möglich versuchte er aus dem Zimmer heraus zu schleichen und die Stufen nach unten zu steigen. Ein unangenehmes, metallenes Geräusch, begleitet von einem unterschwelligen Quietschen, als er mit seinem linken Fuß auftrat, ließen ihn innehalten. Entnervt und verärgert heftet sich sein Blick auf das Automail-Bein. Manchmal hasste er es wirklich, dass er nur seinen Arm zurückbekommen hatte. Leise grummelnd versuchte er es zu ignorieren und schlich so gut es ging die Treppe hinab. Unten angekommen spähte er wie ein Spion um die Ecke ins Wohnzimmer und kam sich ziemlich albern vor. Was machte er denn hier gerade? Doch als er im Wohnzimmerzimmer tatsächlich Al vorfand, waren alle anderen Gedanken plötzlich wie weggefegt und in diesem Moment befürchtete Edward, dass Fieber käme mit doppelter Intensität zu ihm zurück.
 

Al lag schlafend auf dem Sofa, mit einem aufgeschlagenen Buch in der Hand auf dem Bauch, welches von seinen leichten Atemzügen sanft auf und ab gehoben wurde. Sein Kopf war leicht zur Seite gefallen, so dass ihm einzelne blonde Strähnen im Gesicht lagen und der Rest seiner Haare sich über dem Sofa ausbreitete. Hätte Ed es nicht besser gewusst, so hätte er mit absoluter Sicherheit geglaubt, dass, verglichen mit dem Universum, Al ohne Zweifel die Sonne war und er nur ein unbedeutender kleiner Planet, der sich um ihn drehte. Nein, nicht drehte, gewaltsam aus der Umlaufbahn gerissen und näher zur Sonne gezogen wurde.

Wie automatisch setzte sich Edward in Bewegung. Einen Fuß vor den anderen, bis er schließlich vor dem Sofa stand und auf seinen Bruder herabblickte. Ganz gewiss musste Al die Sonne sein, nichts anderes wäre dazu fähig, ihn so vor Hitze zu zerreißen, dass nicht einmal der Schneesturm draußen diesen Feuerbrand zu löschen vermochte. Langsam sank Edward erschöpft und kraftlos auf den Boden, seinen Blick niemals von Al abwendend.

„Al.“, vielmehr ein Hauch als ein Wort, dass über seine Lippen kam, die Ed nun schmerzhaft mit seinen Zähnen malträtierte. Wie konnte das nur sein? Wie konnte er nur so empfinden? Was würde Al bloß von ihm denken? Die Gedanken in seinem Kopf überschlugen sich und er spürte, wie etwas Nasses aus seinen Augen und über seine Wangen lief und diesmal konnte er sich nicht vormachen, es wären die Schneeflocken. Seine Augen wanderten über die ruhigen Gesichtszüge seines Bruders und er verspürte das Bedürfnis, ihm die Strähnen aus dem Gesicht zu streichen. Doch ein noch viel größeres, auf unerklärliche Weise ersehntes und zugleich abgrundtief abstoßendes Bedürfnis drängte sich ihm unnachgiebig auf, als sein Blick an Als Lippen haften blieb. Schon lange waren der Schwindel und die Hitze in seinen Verstand heimgekehrt und es wurde mit jeder Sekunde schwerer sich dagegen zu wehren. Edward fehlte eindeutig die Kraft dazu, aufzustehen, wieder nach oben in sein Bett zu gehen, dass einzig Richtige zu tun und sich von Al abzuwenden. Er konnte es nicht. Wie ein Magnet bewegte er sich auf Al zu, immer näher und näher und er wünschte sich, er würde ihn abstoßen statt zu sich zu ziehen. Edward konnte bereits den leichten, warmen Atem seines Bruders auf seinem Gesicht spüren, während er selbst zu atmen schon lange nicht mehr in der Lage war. Das Bedürfnis, welches sich ihm aufzwang, welches ihn näher zu dem anderen Jungen hinzog, so wusste er, war kein Bedürfnis, es war ein Verlangen. Mit ebendiesem Gedanken wurde ihm flau im Magen und er bekam erneute Ekel vor sich selbst.

Nur Millimeter bevor er Al erreicht hatte, hielt er inne. War er sich überhaupt im Klaren darüber, was er im Begriff war zu tun? Noch bevor er einen weiteren Gedanken fassen konnte, wurden all diese augenblicklich von dem Flammenmeer in ihm herausgebrannt, als seine Lippen sanft die seines Bruders streiften. Allein diese flüchtige Berührung, die an sich nicht einmal schlimm gewesen wäre unter Brüdern, schleuderte in Ed alles aus den Bahnen und hin zur Sonne.

Was auch immer jemals wichtig gewesen war, richtig oder falsch, es interessierte ihn in diesem Moment absolut kein Stück, als er seine Lippen mit einer einzigen kleinen Bewegung dazu brachte, die seines Bruders zu berühren.

Seine Welt brannte. Sie brannte und er loderte wahrlich mit ihr, wurde von der Sonne verschlungen, wie sie alle Planeten verschlang, die ihr zu nahe kamen, die ihren Kurs verloren hatten und Edward hatte ihn eindeutig verloren.

Eis und Feuer

Kein Geräusch war zu hören. Nicht das ohrenbetäubende Tosen des Sturmes draußen. Keine einzige Bewegung innerhalb des Hauses. Nicht einmal ein leises Atmen. Edward hörte rein gar nichts. Er hatte nicht einmal bemerkt, dass er seine Augen geschlossen hatte. Wären sie offen gewesen, hätten diese ihm, so dachte er, auch nur ein verschwommenes, unwirkliches Bild gezeigt. Das Gesicht seines Bruders, das seinem so nah war, dass sie sich berührten. Dies war etwas, was er am liebsten gar nicht sehen wollte und doch zur gleichen Zeit so sehr, dass es ihn innerlich fast zerriss. Denn das einzige, wozu sich Edward noch imstande sah, war fühlen. Er fühlte in diesem einen Moment viel zu viel, als das er überhaupt einen klaren Gedanken darüber fassen konnte. Er fühlte eine überwältigende Hitze, die sich in seinem gesamten Körper auszudehnen schien und ihn fast ohnmächtig werden ließ; unerbittliche Kälte, die mit eisigen Fingern nach ihm griff und sich seine Wirbelsäule hinab schlängelte; kribbelnde, wahnwitzige Freude, von der er nicht genau wusste woher sie rührte; zuletzt erdrückender Ekel vor sich selbst und dem, was er gerade tat. Vor allem aus welchen Motiven heraus es geschah.

Auch wenn in Wirklichkeit gerade einmal ein paar Sekunden vergangen waren, kam es Edward vor, als wären es Minuten. Quälend lange Minuten, in denen er sich in seinen widersprüchlichen Empfindungen verlor. Minuten zwischen tiefster Verzweiflung und höchstem Wohlgefallen und langsam konnte Edward die Luft nicht länger anhalten und sein heißer Atem streifte leise zitternd Als Lippen. Unter ihm regte sich sein Bruder im Schlaf und als dieser lautlos seufzte, öffnete sich sein Mund einen fast unsichtbaren Spalt breit und sein Kopf fiel sanft ein klein wenig mehr in Eds Richtung. Komplett verängstigt darüber, dass Alphonse nun aufwachen und ihn mit seinem fragenden Blick durchbohren würde, riss der Ältere die Augen auf, brachte sein Gesicht in sicheren Abstand zu dem seines Bruders und hielt erneut seinen brennenden Atem in seinen Lungen gefangen. Edward starrte den immer noch Schlafenden unentwegt an, konnte seinen Blick einfach nicht abwenden. Nach wie vor war er nur Zentimeter von ihm entfernt. Oder waren es Millimeter? Ed hatte das leise Gefühl, dass ihn seine Sonne nicht mehr freilassen würde, auch wenn er jetzt am liebsten einfach davon rennen, sich in irgendeinem Zimmer einsperren und erst wieder rauskommen würde, wenn diese verdammt verwirrenden und falschen Gefühle endlich verschwunden wären. Doch die Sonne hatte ihn längst lichterloh angezündet und in Feuerketten gelegt. Es gab kein Entkommen mehr, auch wenn er es noch so sehr wollte. Dabei wusste er im Moment selbst nicht mehr, was er eigentlich wollte. Während Edwards Blick sich regelrecht in Als Gesichtszüge hineinbrannte und diese so sanft aussehenden, leicht geöffneten Lippen fast mit den Augen verschlang, wurde Ed sich plötzlich eines noch ganz anderen Gefühls bewusst. Etwas, was er gar nicht fühlen wollte. Ein Gefühl, dem er sich trotz all seiner Willensstärke, die er aufzubringen vermochte, nicht im Stande sah, zu widersetzen. Dazu fehlte ihm eindeutig die Kraft und all seine Gedanken kreisten nur noch um eines: Al. Al. Al. In seinem Kopf hallte nur noch dieser Name wieder und wie unter Hypnose hob Ed seine Hand, wollte diese blonden, weichen Haare, die das Gesicht seines Bruders umrahmten an seiner Haut fühlen und noch einmal diese Lippen an den seinen. Nein, er wollte noch mehr als das. Begierig näherte sich sein Mund wieder dem des Jüngeren, als sich seine Finger bebend in Als Haaren vergruben. Nur stoßweise ging Edwards Atem, sein Blick fiebrig und keinen Gedanken mehr an Zweifel verschwendend, überbrückte er die schmerzliche Distanz zwischen ihnen und…

Das Telefon klingelte. Es riss die Stille auseinander wie ein ohrenbetäubender Donnerknall einen ruhigen Nachthimmel zerriss. Wie mit Eiswasser übergossen und mit rasendem Herzen, sprang Edward schlagartig auf und ging, ohne Alphonse auch nur noch eines Blickes zu würdigen, zum Telefon und nahm wie betäubt den Hörer ab und drehte sich mit dem Rücken zur Couch. Nur weg von ihm.
 

Al erwachte nur langsam aus seinem tiefen Schlaf und blinzelte mehrmals, als er sich zu erinnern versuchte, wer oder was ihn eigentlich gerade aus seinem angenehmen Traum gerissen hatte. Den genauen Inhalt des Traumes konnte er nicht mehr heraufbeschwören, aber er wusste ganz sicher, dass es ein schöner war. Er war warm gewesen. Ja, eine willkommene Wärme hatte ihn umfangen und er hätte sie gerne festhalten, sich ihr entgegenwerfen wollen, doch dann war er aufgewacht. Noch immer etwas schläfrig setzte Al sich auf dem Sofa auf, wobei das Buch über dem er eingeschlafen war, welches noch immer auf seinem Bauch gelegen hatte, herunter rutschte und mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden landete. Im Moment kümmerte es Al nicht sonderlich, denn sein Blick blieb an seinem Bruder hängen, der gerade den Telefonhörer in die Hand nahm und diesen ohne ein Wort und ohne ihn anzusehen in seine Richtung hielt. Etwas, Edwards ganze Körperhaltung, kam ihm merkwürdig anders vor als sonst. Alphonse zog fragend eine Augenbraue nach oben. „Wer ist dran?“, fragte er Ed, der noch immer mit dem Rücken zu ihm stand und keinerlei Regung zeigte. Das kam Al zwar einerseits höchst seltsam vor, aber andererseits konnte er es Edward nicht verdenken, hatte er ihn doch heute Morgen mit ziemlich hohem Fieber wieder ins Bett gesteckt. Ins Bett! „Und warum bist du nicht im Bett? In deinem Zustand solltest du dich ehrlich gesagt nirgendwo anders aufhalten, Bruder! Sonst wird dein Fieber am Ende nur noch schlimmer.“, belehrte er seinen großen Bruder, als er nun aufstand um das Telefon entgegenzunehmen. Wohl darauf bedacht, dass sich ihre Hände nicht berührten, übergab Ed den Hörer und entfernte sich wieder einige Schritte von Al, um Distanz zwischen ihnen aufzubauen. Verwirrt sah Alphonse dem Anderen hinterher und meldet sich am Telefon. „Ja? Hallo?“, ein wenig überrascht über die Stimme am anderen Ende, ging ihm plötzlich ein Licht auf, wieso sein Bruder so merkwürdig reagiert haben könnte. „Ah, Winry! Was? Ihr seid also auch eingeschneit? Wir wollten heute eigentlich zu euch rüberkommen…“, vertieft in sein Gespräch mit dem blonden Mädchen, bemerkte Al nicht, dass Edwards merkwürdiges Verhalten keineswegs an Winry lag.
 

Von seinem Bruder abgewandt stand Ed wie versteinert da. Eine Hand an seinen Mund, die andere an seine bebende Brust gepresst, hinter der sein Herz so sehr hämmerte, dass es schon physisch wehtat und er sich ziemlich sicher war, dass es augenblicklich seinen letzten Schlag tun würde. Doch es schlug weiter, pumpte weiterhin flüssiges Feuer durch Edwards Adern. Was war eben mit ihm geschehen? Seine Gedanken rasten, ebenso sein Atem. Er hatte die Kontrolle über sein eigenes Handeln verloren und seinen verwerflichen Gefühlen und Gedanken nachgegeben. Das durfte er nicht! Wie sollte es denn nur weitergehen, wenn er sich nicht einmal mehr beherrschen konnte, wenn er Al auch nur ansah? Über alle Maßen beunruhigt, versuchte Ed sich dennoch wieder zu fassen und ließ seine Hände langsam wieder sinken. Unruhig starrte er auf den hölzernen Boden. Als Stimme, die sich immer noch mit Winry am Telefon unterhielt, war für ihn nicht mehr als ein dumpfes Rauschen im Hintergrund und etwas begann hinter seinen Augen zu brennen. Fast schon fluchtartig setzte sich Edward auf einmal in Bewegung und stürzte regelrecht die Treppe nach oben und ins Bad, wo die Tür hinter ihm krachend ins Schloss fiel.
 

Im unteren Stockwerk verabschiedete sich ein sehr irritierter Alphonse gerade von dem Nachbarsmädchen. „Ja. Ja, wir melden uns. Bis dann Winry und richte Pinako liebe Grüße aus!“, damit legte er seufzend auf. Was sie ihm gerade erzählt hatte, beunruhigte ihn auf gewisse Weise sehr. Doch worüber er sich im Moment noch mehr Sorgen machte, war das sonderbare Verhalten seines Bruders. Das konnte doch nicht alles nur vom Fieber herrühren, oder doch? Fürsorglich wie Al nun einmal war, wollte er sich vergewissern, dass es dem Älteren auch gut ging. Also stieg er nach oben zur Badezimmertür und klopfte vorsichtig an. „Bruder? Alles klar bei dir? Langsam mache ich mir nämlich wirklich Sorgen wegen deinem Fieber. Du verhältst dich irgendwie anders als sonst.“, das hatte Al ohne Zweifel bemerkt, kannte er seinen großen Bruder doch in und auswendig. Das Thema Winry riss er jetzt lieber nicht an, wusste er doch, dass sein Bruder darauf nicht gut zu sprechen war und das es in seiner jetzigen Situation sicher auch nicht wirklich hilfreich war, wenn er sich nur unnötig aufregte und Energie verbrauchte.
 

Im inneren des Badezimmers stand Edward mit dem Rücken und mit aufgerissenen Augen an die Tür gelehnt da. Da war sie wieder, diese Stimme, die er bis eben noch versucht hatte auszublenden und die sich nun erneut in sein Innerstes fraß. Ed biss sich heftig auf seine zitternde Unterlippe. Nein, dachte er. Nicht nur der bloße Anblick des Jüngeren, schon allein seine Stimme löste chaotische Gefühle in ihm aus, sodass ihm davon regelrecht elend wurde. Er verstand die Welt nicht mehr. Er verstand sich nicht mehr. Ohne Al zu antworten trat Ed langsamen und nur schwachen Schrittes an das Waschbecken und klammerte sich geradezu verzweifelt daran, wie ein Ertrinkender an einen Rettungsreifen und starrte seinem eigenen Abbild im Spiegel über dem Becken finster entgegen. Wie sollte er Alphonse nun je wieder gegenübertreten? Hatte er gemerkt, was sein Bruder getan, was er gedacht hatte, als er friedlich schlafend auf dem Sofa lag? Nein, hoffte Ed. Er konnte es nicht bemerkt haben. Er durfte nicht! Was würde Al denn von ihm denken, wenn er wüsste, was sein Bruder mit ihm machen wollte? Bei diesem Gedanken überkam Edward eine erneute Welle der Übelkeit, der sich jedoch zugleich auch eine kribbelnde, züngelnde Woge aus reinem Feuer anschloss.

Bei einem erneuten Klopfen von draußen, welches diesmal energischer klang, zuckte Ed heftig zusammen. „Hey! Wenn du mir nicht einmal mehr antwortest, habe ich tatsächlich das ungute Gefühl, dass du wirklich furchtbar krank bist, Bruder!“, kam es sehr besorgt von Al, der angestrengt an der Tür lauschte, um irgendein Lebenszeichen von seinem Bruder zu wahrzunehmen. Edward war ob dieser Worte wie erstarrt und das Brennen in seinen Augen, dass er vorhin schon gespürt hatte, kam nun mit doppelter Schärfe zurück und zerrte nun unnachgiebig heiß und kalt zugleich an ihm. Er konnte nicht mehr standhalten. Auf zittrigen Beinen und mit überwältigender Verzweiflung überkam es Edward, der sich so sehr an seinen einzigen Halt klammerte, dass seine Hände davon schmerzten, als er sein Spiegelbild betrachtete, dem leise aber unaufhörlich Tränen über das Gesicht rannen. Was sollte er nur tun? „Ja.“, nur ein Hauch kam über Eds Lippen als er Als Vermutung bestätigte. „Ich bin…wirklich sehr…krank.“, flüsterte er schwach zu sich selbst, Al konnte es unmöglich hören, und er fragte sich, wie ihm auf einmal nur so unsagbar kalt sein konnte, wo er doch vor nur wenigen Sekunden noch lodernd brannte? Es war, als absorbierte die Sonne vor der Tür, die ihm so nah war und doch so fern, sämtliche Energie seines Körpers. Entkräftet sank Edward vom Waschbecken langsam zu Boden. Nie würde er sich verzeihen können für das, was er empfand, denn es erschien ihm einfach nicht richtig, egal wie lange er darüber nachdachte. Er musste diese Gefühle beiseiteschieben. Nein, nicht nur wegschieben, sie würden ihn sicher irgendwann doch wieder einholen. Er musste die gierigen Flammen dieser Empfindungen gewaltsam ersticken; erbarmungslos und mit Eiseskälte ermorden. Er musste einfach! Denn ansonsten würde er nie mehr in der Lage sein, sich seinem Bruder gegenüber wie früher zu verhalten und das würde bedeuten, dass er sich von ihm fernhalten müsste. Doch ohne ihn konnte und wollte er nicht leben! Mittlerweile zitterte Edward am ganzen Körper. Die Kälte kroch seine Gliedmaßen hinauf bis in seine Wirbelsäule und beraubte ihn seiner letzten Kräfte. Sein Kopf dröhnte und noch einmal hörte er ein kräftiges Klopfen an der Zimmertür, ehe die Welt vor seinen Augen in Schwarz gehüllt wurde und jegliche Empfindungen für ihn ausschaltete.
 

Alphonse war nun nicht mehr nur besorgt, sondern höchst alarmiert, da sein großer Bruder bis jetzt keinen einzigen Laut von sich gegeben hatte. Beklommen ergriff Al die Türklinke und öffnete das Badezimmer. Sofort erblickte er den Älteren, der reglos am Boden lag. Scharf zog Al die Luft ein, hastete zu ihm, griff Ed an den Schultern und versuchte ihn wach zu rütteln, was aber nicht von Erfolg gekrönt war. „Bruder, Bruder! Was ist denn los mit dir? Was hast du?“, beinahe panisch und mit flauem Gefühl im Magen untersuchte Alphonse, ob der Andere irgendwelche körperlichen Verletzungen hatte, aber dem war nicht so. Er fühlte hastig nach seinem Puls, der aber gleichmäßig schlug. Dann legte er ihm nervös eine Hand auf die Stirn. „Du brennst ja!“, rief er überrascht. „Ich wusste, du hättest im Bett bleiben sollen. Warum hörst du auch nie auf deinen kleinen Bruder, du Sturkopf?!“, Al schüttelt deprimiert den Kopf über Edward, als er an dessen Wangen etwas Feuchtes bemerkte. Vorsichtig hob er eine Hand an Eds Wange und befühlte die nassen Schlieren. Tränen, dachte Al. Warum hatte sein Bruder geweint? Ging es ihm schon so schlecht durch das Fieber, dass er Schmerzen hatte? Dann war es also mehr als nur eine normale Erkältung. Nachdenklich fuhren Als Finger über die feuchte Wange seines Bruders. Nasse Haut war auch etwas, was er so gut wie noch nie unter seinen Fingerspitzen gefühlt hatte, ausgenommen bei sich selbst natürlich. Aber das hier war etwas anderes. Es war nicht einfach nur das Gefühl Haut zu berühren, sondern die Haut eines anderen Menschen. Plötzlich riss sich Al los. Für so etwas hatte er nun wirklich keine Zeit! Er musste seinem Bruder schnell helfen das Fieber wieder zu senken! Energisch hievte er sich den Älteren, so gut es mit dessen schwerem Automail-Bein eben ging, auf den Rücken und trug ihn huckepack nach unten ins Wohnzimmer. Dort angekommen, legte er ihn behutsam auf der Couch ab und holte eine dicke Wolldecke, um den Kranken darin warm einzupacken. Dann machte sich Al auf den Weg in ihr Schlafzimmer und bemerkte den immer noch recht großen Schneehaufen auf Eds Bett. Bisher hatte er sich noch nicht darum gekümmert das Missgeschick zu beseitigen und daher war es nicht verwunderlich, dass es nun auch recht kalt im Raum war. Eine leichte Gänsehaut bildete sich auf Als Armen. Nicht nur durch die Zimmertemperatur, sondern auch schon beim bloßen Anblick der Schneemassen, die sich zum Fenster hereinschoben. Den Blick abwendend ging Al zielstrebig zu seinem eigenen Bett und schnappte sich den Wassereimer und das Handtuch, mit dem er zuvor schon Eds Fieber hatte senken wollen. Inzwischen war das Wasser jedoch nicht mehr ganz so kalt, wie es sein sollte. Also entschloss Alphonse sich kurzerhand etwas von dem eingedrungenen Schnee als Kühlung mitzunehmen. Doch als seine Finger das kalte Eis berührten, hielt er inne. Es war ein merkwürdiges Gefühl. Seltsam vertraut, doch es war so lange her, dass er es fast schon vergessen hatte. Ein kleines Lächeln breitete sich auf seinem Gesicht aus, als Erinnerungen aus ihrer Kindheit auf ihn einströmten. All die Schneeballschlachten. All das eiskalte Wasser, das seinen Rücken hinunterlief, wenn Ed ihm mal wieder eine volle Ladung Schnee in seinen Nacken warf. Auf einmal hatte Al das urkomische Bedürfnis, sich in den vor ihm auftürmenden Schneehaufen zu werfen und all diese Gefühle von damals noch einmal zu erleben. Die Kälte hätte ihn in diesem Moment nicht einmal sonderlich gestört. Doch wenn sie nicht im eigenen Haus erfrieren wollten, musste sich Al wohl oder übel alsbald darum kümmern, den Schnee zu beseitigen. Doch zuerst hatte sein Bruder Vorrang! Kopfschüttelnd beließ er es bei zwei Handvoll Schnee, die er in den Eimer warf und machte sich dann wieder auf den Weg zum Wohnzimmer.
 

Edward lag noch immer so da, wie er ihn zurückgelassen hatte und jetzt bemerkte Al auch dessen deutlich vom Fieber geröteten Wangen, als er den Eimer mit Eiswasser vor dem Sofa abstellte. Sofort tauchte er das Tuch ins Wasser, wrang es sorgfältig aus und führte es an die erhitzen Wangen seines Bruders. Dabei kam er nicht umhin sich an heute Morgen erinnert zu fühlen. Sachte versuchte er den Kopf des anderen abzukühlen und strich mit seinen Fingern probeweise über Edwards Stirn. Der Kontrast zu dem eiskalten Handtuch war merkwürdig, wie Al bemerkte. Waren seine Finger eben fast taub gewesen von der Kälte, so fühlten sie sich jetzt an, als würden sie brennen. Ein Unterschied wie Eis und Feuer, schoss es ihm durch den Kopf. Al mochte das prickelnde Gefühl dieses Gegensatzes, das durch seine Fingerspitzen fuhr. Noch einmal befeuchtete er das Handtuch und ließ es dann auf Eds Stirn liegen. Mehr konnte Al für seinen Bruder im Moment nicht tun. „Werde schnell wieder gesund, Bruder.“, flüsterte er ihm noch zu, als er sich erhob und daran machte, die halbe Lawine auf Eds Bett zu beseitigen.
 

Edward schwebte. Auf Lava und auf Eis. Ihm war heiß und ihm war kalt. Abwechselnd, zugleich. Er wusste es nicht genau. Alles um ihn herum erschien unwirklich. War er ohnmächtig geworden? Das letzte woran er sich erinnern konnte, war Winrys etwas genervte Stimme, nachdem er das Telefon abgehoben hatte. Nachdem sie sich getrennt hatten, wollte das Mädchen partout nicht mehr mit ihm reden, nicht einmal am Telefon. Daher verlangte sie immer sofort nach Alphonse, wenn Ed ans Telefon ging.

Al. Damit kamen seine Erinnerungen schlagartig zurück und sein Kopf strafte ihn daraufhin mit einem heftigen Schmerz, der von einer heißen Fieberwelle begleitet wurde. Angestrengt versuchte Ed seine Augen leicht zu öffnen, doch alles war verschwommen und drehte sich, was einen leichten Brechreiz in ihm heraufbeschwor. Daraufhin schlug er die Augen gleich wieder nieder. Im gleichen Moment bemerkte Ed etwas Nasses auf seiner Stirn liegen, als sich kleine Wassertropfen ihren Weg sein Gesicht hinab bahnten. Er wollte danach greifen, doch stieß er in seiner Schwäche auf einen Widerstand. Jemand hatte ihn zugedeckt. Schwerfällig wand er einen Arm unter dem Stoff hervor und befühlte das Tuch auf seinem Kopf. Sicherlich war es einmal kalt gewesen, doch jetzt glich seine Temperatur eher der von Edwards Gesicht. Langsam und wie in Trance zog Ed es ungeschickt nach unten bis es kraftlos mitsamt seiner Hand auf seiner Brust landete. Immer wieder öffnete und schloss er seine Augen, doch die Welt um ihn schien nicht stillstehen zu wollen. Doch was er sehen konnte, verriet ihm, dass er alleine war. Al war nicht bei ihm. Normalerweise wäre er über diese Tatsache sehr verwundert gewesen, war es doch überhaupt nicht Als Art seinen Bruder in solch einer Situation auch nur eine Sekunde alleine zurück zu lassen. Doch so wie die Dinge momentan standen, war er doch eher froh darüber, dass der Jüngere jetzt nicht hier war. Edward versuchte seine Gefühlswelt, so gut es ihm möglich war, noch einmal zu ordnen. Kurz bevor er ohnmächtig wurde, hatte er sich entschlossen, all diese falschen Gefühle, die ihn in der Nähe seines Bruders überkamen, zu beseitigen und so mit sich selbst wieder ins Reine zu kommen. Doch wie sollte er das anstellen? Er wurde doch tagtäglich mit Alphonse konfrontiert, also war es so gut wie unmöglich, nicht an ihn zu denken oder mit ihm zu reden. Zudem fände dieser es sicher äußerst suspekt, warum sich der Ältere auf einmal so auffällig anders verhielt und Ed bis aufs Blut mit Fragen löchern. Nein, das hatte doch so alles keinen Sinn. Und wem wollte er damit eigentlich etwas vormachen? Gefühle, so wusste er, waren sie auch noch so schändlich und falsch, ließen sich nicht einfach abstellen. Es gab keinen Schalter, den man schlicht hätte umlegen können. Je mehr Edward sich dieser unumgänglichen Wahrheit bewusst wurde, desto schmutziger fühlte er sich. Und nur noch schlimmer als dieses Gefühl, war das wiederkehrende Gefühl des Feuers in seinem Herzen, welches rein gar nichts mit dem Fieber zu tun hatte, als das Gesicht seines Bruders wieder in seinem Kopf auftauchte. Müde und erdrückt von all der Schwere seiner unmoralischen Gedanken, fuhr er sich mit einer Hand übers Gesicht. „Al…“, murmelte er leise, begleitet von einem erschöpften Laut, hinter seiner Hand. „Ja, Bruder?“ Ed hätte fast gelacht oder vielmehr geweint. Nun hörte er in seinem Fieberwahn schon die Stimme des Jüngeren in seinem Kopf. Wie automatisch zwang sich ihm beim Klang dieser Stimme eine Erinnerung auf. Die sanfte Berührung ihrer Lippen, als Alphonse an Edwards Stelle lag. Er hatte den Augenblick, als sein kleiner Bruder geschlafen hatte, schamlos ausgenutzt. Doch musste er sich trotz seines Selbstekels und seiner Gewissensbisse eingestehen, dass es sich ausgesprochen betörend und befriedigend angefühlt hatte. Edward wusste nicht einmal, ob er überhaupt dazu fähig sein würde, nicht noch mehr von diesem einnehmenden, brennenden Gefühl spüren zu wollen,

sobald er auch nur noch einmal in Als Augen sah. „Bruder?“, da war Als Stimme wieder, die in seinem Kopf wie Donner widerhallte, als gäbe es nichts anderes. Dies, die nagenden Bilder seines schlafenden, wehrlosen Bruders vor seinem inneren Auge sowie die fiebrige Hitze seines Körpers, ließen ihn erneut absurde Gedanken fassen, denen er sich nicht entziehen konnte und die wie von selbst durch seine erhitzten Lippen brachen. „Ich will dich…“, Ed holte tief Luft, doch war es nicht viel mehr als ein gebrochenes Flüstern, als er weitersprach. „…richtig küssen.“, wisperte er hinter seiner Hand, die noch immer auf seinem Gesicht lag, begleitet von einem leisen, gequälten Laut, zerrissen von seinen eigenen Gefühlen. Erneut spürte er, wie sich Tränen in seinen Augen bildeten. Doch er wusste nicht mehr, ob sie hervor brachen, weil er sich so sehr für diesen Wunsch schämte oder weil er es so sehr wollte und doch nicht durfte?

„Hm? Was redest du denn da, Bruder? Das Fieber scheint dir ja wirklich zu Kopf gestiegen zu sein.“, nun hörte der Ältere Als Stimme schon so deutlich, als würde er direkt neben ihm stehen. Edward erschien der Gedanke, dass sein Bruder ihn eventuell gehört haben könnte, fast so irrwitzig, dass er beinahe laut los gelacht hätte. Etwas anderes ließ ihn aber stutzen. Ein Schatten, der sich vor seine geschlossenen Augen schob, der aber definitiv keine Einbildung sein konnte. Al! Entsetzt und von Panik ergriffen, hielt Edward augenblicklich den Atem an. Da war es wieder. Ihn überkam erneut das überwältigende Gefühl von unerbittlicher Kälte, die seinen gesamten Körper vor Furcht und Scham erstarren ließ und zugleich diese brennende Hitze des Verlangens, die jeden rationalen Gedanken zu Asche werden ließ. Zittrig atmete er aus und die Glut fegte das Eis hinfort, nahm seinen Platz ein, brannte es nieder. Ed riss verängstigt seine Augen auf und starrte zwischen seinen Fingern hindurch unmittelbar in ein goldenes Augenpaar, welches ihn anstarrte. Nein. Niemals würde er sich gegen dieses Höllenfeuer seiner Sonne wehren können.

Im Auge des Sturms

Es brannte. Diese Augen, die seine eigenen hätten sein können, brannten sich tief in sein Innerstes. Edward fühlte sich entsetzlich unwohl und ihm war schwindelig. Wie viel hatte der Andere gehört? Er wollte instinktiv aufspringen und wegrennen und doch konnte er sich keinen Millimeter mehr bewegen und war fast starr vor Angst und Zweifel. Ed war sich sicher, dass Al die Furcht in seinen Augen aufblitzen sehen und seine schnellere Atmung hören musste. Er fragte sich, ob sein Bruder die richtigen Schlüsse daraus ziehen würde. Alphonse starrte seinem Bruder unter sich unentwegt und doch ein wenig irritiert entgegen. Hatte er sich verhört? Der Jüngere grübelte angestrengt darüber nach, ob hinter Eds Worten irgendein tieferer Sinn stand oder ob es wirklich einfach nur die verworrenen und zusammenhangslosen Gedanken eines Fieberkranken waren. Das musste es sein, dachte Al. Zuerst hatte sein Bruder von ihm geträumt und im nächsten Moment vielleicht von Winry oder Rosé oder irgendeinem anderen Mädchen. Bei diesem Gedanken erwärmten sich Als Wangen ein klein wenig und ein Lächeln schlich sich unbemerkt auf seine Lippen. Sobald er sich dessen bewusst wurde, löste er seinen Blickkontakt mit dem Älteren, nahm sich das Tuch, welches auf Edwards Brust gelegen hatte und tauchte es wieder ins Eiswasser. „Das ist nicht weiter verwunderlich, wenn man bedenkt, was für hohes Fieber du haben musst. Da würden mir sicher auch alle möglichen Gedanken quer durch den Kopf fliegen.“, kommentierte Al nun die Worte seines Bruders. Edwards Anspannung löste sich daraufhin ein wenig und er ließ seine Hand mit einem hörbaren Entweichen seines unterdrückten Atems von seinem Gesicht gleiten. Sollte er so tun, als wüsste er gar nicht, was er im Halbschlaf gesagt hatte oder sollte er Alphonse in seiner Annahme bekräftigen, dass es am Fieber lag? „Ja, Al. Ich weiß auch nicht. In meinem Kopf dreht sich alles. Entschuldige.“, entschied Ed sich für Letzteres und versuchte krampfhaft nicht in die Richtung seines Bruders zu sehen, was jedoch kläglich fehlschlug, als dieser wieder die Stimme erhob. „Was ich dir noch erzählen wollte, Bruder! Winry hat mir übrigens mitgeteilt, dass der Colonel angerufen hat. Es ging um den Schneesturm.“, gab Al nun sein Wissen weiter und wrang das kalte Handtuch gründlich aus, ehe er es Ed wieder auf den Kopf legte. Dabei streiften seine Finger leicht über dessen Stirn und Alphonse stutzte kurz, ehe er seine Hand wieder zurückzog. War Edwards Stirn gerade kalt gewesen? „Der Colonel? Warum ruft er nicht selbst bei uns an?“, wunderte sich Edward und zitterte ein wenig bei der Berührung des eiskalten Stoffes auf seinem Kopf. „Hat er ja, aber so wie ich es verstanden habe, kam er mit seinem Anruf gar nicht erst zu uns durch.“, erklärte der Jüngere nachdenklich. „Aber bei Winry schon?“, hakte Ed misstrauisch nach und beobachtete seinen kleinen Bruder aus dem Augenwinkel. „Ja. Du weißt doch, dass sie sich mit solchen Dingen auskennt. Mit allem was Schrauben hat und das man auseinanderbauen kann und so. Da wird sie sicher auch das Telefon wieder zum Laufen bekommen haben.“, teilte Al ihm mit und Edward sah ein, dass er dem Anderen in dieser Hinsicht zustimmen musste. „Was hat der Colonel denn zu diesem Schneesturm gesagt?“, erkundigte sich Ed neugierig und richtete nun, entgegen seines eigenen Willens, seine volle Aufmerksamkeit auf seinen Bruder. Dieser schien über etwas nachzudenken, ehe er antwortete. „Bei dem Sturm handelt es sich offenbar nicht um ein gewöhnliches Unwetter natürlichen Ursprungs. Er soll durch eine alchemische Anomalie hervorgerufen worden sein. Ich habe aber keine Ahnung, was genau er damit meint.“ Edward versuchte über das eben Gesagte nachzudenken, was sich aber als äußerst schwierig herausstellte. Er hatte das bedrängende Gefühl, Alphonse würde ihm immer näher kommen. Dabei wusste er sehr wohl, dass dies eine rein subjektive Wahrnehmung war, die durch sein Schwindelgefühl ausgelöst sein musste, denn in Wirklichkeit bewegte sich Al kein Stück. Doch obschon Ed dies wusste, beeinflusste es ihn ungeachtet dessen in seinem Handeln, als er unwillkürlich ein Stück zurückwich. Diese, wenn auch nur sehr kleine Bewegung, fiel Alphonse auf und er hob seine Hand vorsichtig mit der Absicht, noch einmal Edwards Temperatur zu überprüfen. „Jedenfalls sagte er auch, dass wir uns das mal ansehen sollen.“, erklärte Al weiterhin, als er die Wange seines Bruders sacht berührte.

Dieser geringe Kontakt genügte schon und Ed fühlte sich, als hätte man ihn mit Benzin übergossen und anschließend angezündet. Heiß, dachte Edward, den erneut der Drang überkam zurückzuweichen und Al von sich zu stoßen. Doch dazu kam er nicht, da sein Bruder ihm im gleichen Augenblick das nasse Tuch förmlich vom Kopf riss und ihm seine glühende Hand auf die Stirn legte. Edward spürte nur noch diese Hitze die von dem Anderen ausging und gleichzeitig durchfuhr ihn ein Zittern. Hitze und Kälte schienen einen unerbittlichen Kampf in seinem Innern auszutragen. Ed hätte fast nicht mitbekommen, was Al zu ihm sagte. „Du bist eiskalt! Außerdem zitterst du fürchterlich, Bruder. Dabei warst du vorhin fast am Verbrennen!“, brachte der Jüngere mit besorgter Stimme hervor und im selben Moment wurde es ihm bewusst: „Du hast Schüttelfrost. Das ist nicht gut. Ich lasse dir sofort ein heißes Bad ein, das sollte dir helfen dich wieder aufzuwärmen.“

Alphonse sprang sofort auf und wollte eben Gesagtes sogleich in die Tat umsetzen, als er von einer schwachen Hand, die nach seinem Ärmel griff, aufgehalten wurde. Fragend blickte er zu dem Kranken hinab, der ihm mit halb geschlossenen Augen und immer noch zitternd entgegensah. „Nein, ich…ich will nicht baden.“, sagte Ed mit leiser Stimme und sein Griff um Als Handgelenk, welches gegen seine frostigen Finger selbst durch den Stoff wie Feuer brannte, wurde etwas bestimmter. Welche Entspannung ein Bad manchmal auch bringen konnte, war es momentan das Letzte was der Ältere wollte. Vielmehr wollte er etwas ganz anderes.

„Kannst nicht du mich wärmen?“, kam es geflüstert und zerknirscht aus Edwards Richtung. Stutzend, aber in seinem Vorhaben innehaltend, betrachtete der Jüngere seinen Bruder auf dem Sofa mit abschätzender Neugier und dachte über seine Worte nach. Edward konnte diesen goldenen Augen nicht lange standhalten und wandte seinen Blick beschämt ab. Was hatte er nun schon wieder gesagt? Hätte er Alphonse nicht einfach gehen lassen, sich in die mit heißem Badewasser gefüllte Wanne setzen und seinen Mund halten können? Was machte das Fieber nur mit ihm? Was machte sein Bruder mit ihm? Ehe Edward groß darüber nachdenken konnte, was ihm in seiner jetzigen Situation ohnehin schwerfiel, bewegten sich seine Lippen erneut ohne sein Zutun. „Bitte, Al.“, wisperte Ed und hätte sich für seinen beinahe flehenden Tonfall fast auf die Zunge gebissen. Doch entgegen all seinen Erwartungen willigte Al ihm ein. „Das kann ich natürlich tun, auch wenn ich es lieber hätte, wenn du wenigsten einmal auf mich hören würdest.“, scherzte Alphonse und gab dem Anderen lächelnd mit einer Geste zu verstehen, ihm auf dem Sofa etwas Platz zu machen. Perplex blinzelte Ed ihm entgegen, ehe die Worte zu ihm durchsickerten und er sich mit pochendem Herzen noch dichter nach hinten an die Couchlehne drückte. Mühevoll versuchte Edward seinen Herzschlag unter Kontrolle zu bekommen, versagte aber kläglich, als sich sein Bruder neben ihm niederlies und ihn in seine Arme schloss. „Ich hoffe nur, ich werde dadurch nicht auch noch krank.“, überlegte Al kurz nachdenklich, schüttelte dann jedoch energisch den Kopf. „Ach was, selbst wenn, immerhin habe ich dir dann ein wenig geholfen.“, sprach er, als er den frierenden Körper des Anderen, der seltsam still geworden war, an sich drückte und feststellen musste, dass dies ebenso eine neue Erfahrung für seinen eigenen Körper war. Früher waren sich die Brüder oft sehr nahe gewesen, aber seitdem Als Seele in seine richtige Hülle wiedergekehrt war, war dies das erste Mal, dass er den Älteren so nah bei sich spürte. Es war ein schönes Gefühl. Alphonse lächelte bei diesem Gedanken leise in sich hinein. Es war wirklich ein schönes Gefühl gebraucht zu werden und, was er sich zusätzlich eingestehen musste, es war ein wunderbares Gefühl körperliche Nähe zu spüren.

Edward hingegen verschlug es wortwörtlich die Sprache. Er hatte einfach nicht damit gerechnet, dass Al so bereitwillig seiner albernen Bitte nachkommen würde. Doch dieser, so wusste Ed, war einfach viel zu gutmütig und wollte nur das Beste für seinen kranken Bruder. Al hatte keine perfiden Hintergedanken wie er selbst. Doch von ebensolchen Gedanken geleitet, schlang nun auch Edward seine Arme fest um den warmen Körper des Jüngeren, als wolle er ihn nie mehr gehen lassen. Er konnte sich nicht dagegen wehren. In diesem Moment wollte Edward das auch gar nicht mehr. Er wollte einfach nur Als Nähe spüren ohne sich dabei schlecht fühlen zu müssen. Ja, er wollte diese Hitze spüren, die ihn immer wieder mit sich riss und drohte ihn absolut wahnsinnig werden zu lassen! Genau mit diesem Wahnsinn schien auch die Kühnheit Edwards überhand zu nehmen, als er seine zitternden, kalten Finger forsch unter Als Pullover an dessen warme Haut schob. Alphonse erschrak ob der plötzlichen eiskalten Berührung und zuckte merklich zusammen, versuchte aber sich daraufhin wieder zu entspannen, war es doch nur logisch, dass Edward seine kalten Hände an ihm wärmen wollte. Obwohl Al allerdings nicht genau wusste, was es zu bedeuten hatte, dass Edwards Finger nun fast sanft über seinen Rücken strichen. Lag dieses merkwürdige Verhalten wirklich nur am Fieber und am Schüttelfrost? Auch wenn es dem Jüngeren äußerst merkwürdig vorkam, was sein Bruder da tat, gefiel ihm das Gefühl an sich, dass es in ihm auslöste, da es ihm völlig unbekannt war.

Während sich Alphonse bei dieser Berührung nichts weiter dachte, rasten in Eds Kopf hingegen tausende Gedanken wild umher. Er hatte alle Mühe ihnen standzuhalten, diesen schrecklich widerwärtigen Verlockungen, die sein Gehirn ihm farbenprächtig präsentierte. Es zeigte ihm vor seinem inneren Auge alle nur erdenklichen Dinge, die er mit seinem ach so naiven und leichtgläubigen kleinen Bruder jetzt gerne tun würde. Al war so nah bei ihm, dass dieser nicht einmal die Chance hätte wegzulaufen oder sich zu wehren, wenn Edward ihn jetzt hier und gleich...

Nein! Innerlich zerrissen erschrak Edward entsetzlich vor seinen eigenen bösartigen Gedanken. Wie konnte er nur so schlecht von Al denken? Mit enormer Willenskraft schaffte Ed es seine Finger von Al zu lösen. Nein. Er durfte und er würde diesem grauenhaften Verlangen nicht nachgeben. Er würde Alphonse niemals wehtun. Niemals. Müde und erschöpft von seinen innerlichen Konflikten sank Edward langsam aber immer tiefer in einen traumlosen Schlaf.

Als Ed schließlich eingeschlafen war, wand Alphonse sich vorsichtig, bedacht darauf den Älteren nicht aufzuwecken, aus der Umarmung und musterte sein friedliches Gesicht. Er schien wirklich zu schlafen, denn sein Zittern hatte nachgelassen und auch seine Stirn fühlte sich nicht mehr so eisig an. Dennoch kam Al nicht umhin immer noch besorgt um seinen Bruder zu sein und hoffte, dass dieser einen erholsamen Schlaf haben würde. Mit einem kleinen Seufzer wandte sich Alphonse zum Gehen und machte sich daran, die Schneemassen im oberen Stockwerk zu beseitigen.
 

Mit einem kleinen Murren erwachte Ed einige Stunde später wieder aus seinem Schlaf. Diesmal war dieser sehr angenehm gewesen, denn Edward fühlte sich schon wesentlich besser und das Gefühl verstärkte sich sogar noch, sobald ihm ein sehr appetitlicher Duft in die Nase gelangte. Neugierig öffnete er seine Augen und erblickte sogleich eine dampfende Suppenschale sowie eine ebenfalls heiße Teetasse. Grinsend und mit knurrendem Magen setzte der Blonde sich langsam auf und bemerkte zufrieden, dass auch sein Schwindelgefühl endlich vorüber war. Hatte er seine Krankheit endlich auskuriert? Ohne vorerst einen weiteren Gedanken daran verschwenden zu wollen, nahm Ed die Schüssel voll mit lecker duftender Suppe hungrig in die Hände. Es war Hühnersuppe, stellte er lächelnd fest. Ja, das sah Al mal wieder ähnlich, wenn er einem Kranken Hühnerbrühe servierte, dachte Edward. Sein Bruder war immer so darauf bedacht, es allen um ihn herum recht zu machen und immer das Richtige zu tun, dass er dabei nur selten an sich selbst dachte. Wieder in Gedanken versunken, aß Ed langsam seine Suppe und nippte vorsichtig an seinem Tee. Ja, sein kleiner Bruder war so selbstlos und uneigennützig, dass dieser die Intentionen des Älteren nicht einmal in seinen schlimmsten Träumen erahnen würde können. Wie sollte er auch? Das gab Edward aber noch lange nicht das Recht ihn auszunutzen. Nachdem er seine Tasse geleert hatte, stellte Ed sie zurück auf den kleinen Tisch vor ihm und in genau diesem Augenblick hörte er auch etwas vom oberen Stockwerk die Treppen herunterkommen. Innerlich wappnete Ed sich und atmete tief durch. Er musste unbedingt versuchen in Als Gegenwart die Ruhe zu bewahren und sich wie immer zu benehmen. Das Fieber konnte er jetzt nicht mehr als Grund vorschieben.

Im Wohnzimmer angekommen begrüßte Alphonse den Anderen. „Dir scheint es endlich besser zu gehen, Bruder. Das freut mich und mein Essen scheint dir auch geschmeckt zu haben.“, stellte Al vergnügt mit einem Blick auf das leere Geschirr fest und lächelte Ed entgegen. „Ja, danke. Ich fühle mich auch wieder besser.“, bedankte Ed sich bei dem Jüngeren, der nun die Couch umrundete, vor ihm zum Stehen kam und ihn ansah. „Ich werde jetzt losgehen, um die Quelle dieses Schneesturms ausfindig zu machen. Wenn es etwas mit Alchemie zu tun hat, wie der Colonel sagte, werde ich das sicherlich beheben können und dann hat das Frieren ein Ende.“, erklärte er jetzt seinem älteren Bruder. Dieser erinnerte sich schlagartig wieder daran, was der Andere ihm über den Sturm erzählt hatte, hatte er es in diesem Moment auch nicht wirklich wahr genommen, da seine Gedanken mit anderen Dingen beschäftigt gewesen waren. Reuevoll schluckte Edward schwer bei der Erinnerung daran. Es hinderte Ed aber nicht daran nun voller Tatendrang aufzuspringen. „Also gut! Dann lass uns losgehen! Mich interessiert es ungemein, was das alles mit Alchemie zu tun hat!“, freute Ed sich schon endlich eine sinnvolle Ablenkung gefunden zu haben, doch machte ihm Al einen Strich durch die Rechnung. „Nein, du bleibst hier, Bruder. Du bist gerade erst wieder genesen und ich lasse dich jetzt sicher nicht nach draußen in diesen Schneesturm, nur damit du anschließend wieder krank im Bett liegst.“, erklärte ihm Alphonse und legte dem Anderen beschwichtigend die Hände auf die Schultern. „Außerdem wirst du, wenn es um Alchemie geht, mir leider eh nicht viel helfen können. Tut mir leid.“, entkräftete Al Edwards Elan und schenkte ihm ein entschuldigendes Lächeln. Das nahm Ed tatsächlich den Wind aus den Segeln und er ließ sich beleidigt wieder auf das Sofa fallen. „Du hast vermutlich Recht, aber es interessiert mich trotzdem. Außerdem mache ich mir Sorgen, wenn du ganz alleine gehst. Also lass mich mitkommen!“, bettelte Ed seinen Bruder ein wenig an. Al ließ sich seufzend vor ihm in die Hocke sinken und legte ihm seine Hände auf die Knie. Dabei spürte er deutlich warme Haut an seiner rechten und hartes, kaltes Metall an seiner linken Hand. Es war für ihn erstaunlich, wie sich zwei Knie, die sich normalerweise gleich anfühlen sollten, sich bei seinem Bruder so merkwürdig unterschiedlich anfühlten. „Sei bitte nicht schon wieder so stur, Bruder. Ich komme schon alleine klar. Hör bitte nur dieses eine Mal auf mich, ja?“, versuchte Al dem Älteren mit Nachdruck begreiflich zu machen und dass er sich um ihn sorgte und er ihn lieber hier im Haus als draußen im Schnee wusste. Seufzend ergab sich Edward schließlich. „Also wenn es dir so wichtig ist, dann bleibe ich hier.“, versprach er Alphonse und lehnte sich in der Couch zurück. „Danke.“, flüsterte Al ihm entgegen, als dieser sich wieder erhob und seinem Bruder dankbar einen kleinen unschuldigen Kuss auf den Kopf hauchte. Edward hätte es fast nicht bemerkt, so leicht und vage war die Berührung. Doch sobald es durch seinen müden Geist hindurchdrang, wusste er, dass die Sonne abermals Feuer nach ihm spie. Alphonse machte es ihm wahrlich nicht einfach sich zu kontrollieren. Doch ehe er noch weiter darüber nachdenken konnte, war Al schon wieder ins Obergeschoss verschwunden und bahnte sich einen Weg über die Dachfenster nach draußen und machte sich auf den Weg. Ed blieb mit seinen Gedanken allein zurück.
 

Al musste schwer gegen den wehenden Sturm ankämpfen, der zwar etwas an Stärke verloren hatte, nicht aber seine schneidende Kälte. Einige Schritte vom Haus entfernt versuchte er sich zu orientieren. Alles sah so unwirklich aus. Überall türmten sich Hügel auf wo keine hätten sein sollen und die Umgebung glich eher einer Wüste aus Eis und Schnee als einer grünen Hügellandschaft. Schützend zog Alphonse sich seine Kapuze noch tiefer und hielt sich schützend den Am vor das Gesicht. Dem Wind nach zu urteilen, musste der Sturm seinen Ursprung im Norden haben und Al erschien es logisch, sich dem Wind zu stellen und diese Richtung einzuschlagen.

Langsam aber stetig trotzte er der eisigen Witterung. Es war schwierig für Al in diesem Schneetreiben voran zukommen, da er mit jedem Schritt fast bis zum Oberschenkel im Schnee einsank und ihm die schlechte Sicht zu allem Überfluss auch die Orientierung erschwerte. Da Alphonse aber nicht umkehren würde, bis er die Ursache für all das gefunden hatte, kämpfte er sich mühselig weiter bis er auf einmal ein merkwürdiges Tosen vernahm, dass er so noch nie zuvor gehört hatte. Neugierig erhob er seinen Blick und hätte Al nicht Bein tief im Schnee gesteckt, wäre er wohl vor atemlosem Erstaunen geradewegs umgekippt. In einigen hundert Metern Entfernung türmte sich vor ihm dröhnend ein wahrhaft mächtiger Tornado auf, der Eis und Hagel mit sich riss. Mit großen Augen starrte Al auf das Naturschauspiel, das sich ihm hier bot. Es war auf seine ganz eigene Weise faszinierend und zugleich auch sehr beängstigend. Vorsichtig versuchte der Blonde sich zu nähern. So viel er über Tornados wusste, bewegten sie sich mit rasender Geschwindigkeit und verschlangen auf ihrem Weg ausnahmslos alles, was ihnen in die Quere kam und rissen es mit sich, bis sie es irgendwann wieder ausspien und es irgendwo hart zu Boden ging. Ein Mensch würde so etwas auf keinen Fall überleben. Doch war das hier wirklich ein normaler Tornado? Alphonse bezweifelte es, denn dieser hier bewegte sich kein Stück vom Fleck und er spürte auch nicht, dass er in sein Innerstes gesogen wurde. Immer näher kam er jetzt der tosenden Gefahr und plötzlich fiel ihm noch etwas anderes ins Auge. Dort wo der Wirbelsturm den Boden berührte, befand sich keine dichte Schneedecke. Al runzelte die Stirn. Für dieses Phänomen hatte er keine plausible Erklärung. Verwundert und über alle Maßen interessiert überquerte er die letzte Distanz zwischen ihm und dem Tornado und stapfte aus dem Schnee heraus und auf das freie Feld vor ihm. Sofort bemerkte Al auch, dass die Temperatur um ihn herum deutlich anstieg. Stand er wirklich inmitten eines Wirbelsturms? Verwirrt richtete Al seinen Blick nach oben und musste, als er die wirbelnde Luft aus Eis und Schnee sich spiralförmig nach oben winden sah, ehrfürchtig feststellen, dass er sich tatsächlich und im wahrsten Sinne des Wortes im Auge des Sturms befand. Al fand, dass dieser Anblick bizarrer Weise sehr beruhigend auf ihn wirkte. Sich von diesem bemerkenswerten Gebilde losreißend, sah er sich nun im Innern des Sturms nach einem Hinweis auf die Beteiligung von Alchemie um. Seine Augen streiften über umgestürzte Bäume, entwurzelte Sträucher und…

Alphonse hielt den Atem an. Waren das etwa Menschen? Bestürzt eilte er zu den reglosen Körpern am Boden, die er in einiger Entfernung ausmachen konnte. Ängstlich kniete Al sich auf den Boden, streckte seine Hand nach dem Hals eines jungen Mannes aus in der Hoffnung, irgendein Lebenszeichen zu spüren. Doch Al spürte nichts. Da war kein Puls an seinen Fingern, der lebendig unter der Haut zuckte, sondern nur Kälte. Nie zuvor hatte Alphonse einen toten Menschen berührt und das Gefühl, dass ihn dabei überkam, war sehr bedrückend, legte sich schwer auf sein Herz und schnürte ihm die Brust zu. Er konnte nichts mehr für diese Menschen tun. Doch warum waren sie überhaupt hier? Hatten sie etwas mit dem Schneesturm und dem Tornado zu tun oder waren sie nur zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen? Al wusste es nicht und noch weniger wusste er, was er nun tun sollte. Er konnte nichts finden was im Zusammenhang mit einer Transmutation stand und somit hatte er auch keine Ahnung, wie er das Problem beheben konnte. Vielleicht sollte er seinen Bruder diesbezüglich um Rat fragen. Frustriert und mit schlechtem Gewissen diese unglücklichen Menschen hier zurückzulassen, machte Al sich auf den Rückweg. Er folgte seinen eigenen Fußspuren, die zum Großteil bereits wieder zugeschneit waren, zurück nach Hause.
 

Edward war gerade dabei ihre Betten frisch zu beziehen, als er hörte, wie das Dachfenster geöffnet wurde und Al mit einem lauten Rumpeln heruntersprang und das Fenster hinter sich wieder schloss. Innerlich wappnete sich Ed erneut Al gegenüberzutreten, als er sich nach ihm umdrehte und fragen wollte, wie es gelaufen war. Er hielt jedoch inne, als er in Als betrübtes Gesicht blickte. „Al! Was ist denn passiert?“, fragte der Ältere ernsthaft besorgt, schmerzte es ihn doch sehr den Anderen so traurig zu sehen. Da sein Gegenüber ihm nicht antwortete und nur leeren Blickes zu Boden starrte, entschied Ed sich mutig etwas näher zu treten, bis er direkt vor dem Jüngeren stand. „Du weißt, dass du mir alles erzählen kannst.“, ermutigte Ed ihn und warf einen kurzen Blick aus dem Fenster. Der Sturm hatte sich noch nicht gelegt und so musste Edward davon ausgehen, dass Al die Ursache nicht gefunden hatte oder zumindest nichts dagegen hatte tun können. Vorsichtig zog Ed seinen Bruder in einer sanfte Umarmung, auch wenn er sich dabei sehr unwohl fühlte und es ihn enorme Anstrengung kostete ruhig zu bleiben, so wollte er Al doch Trost spenden. Al zögerte auch nicht lange und drückte Ed an sich. Es war so gut jemanden zu haben, an den man sich anlehnen konnte und der für einen da war. „Ich habe…“, begann Al zittrig zu erzählen, korrigierte dann aber seinen Satz. „Ich meine ich war…im Sturm. Es ist eigentlich eher ein Tornado aus Eis.“, flüsterte Al und Ed hörte ihm aufmerksam zu. „Ich konnte die Ursache für dieses Phänomen nicht finden, aber da waren…Menschen. Sie waren alle tot.“, beim letzten Wort biss sich Al auf die Lippen und kleine Tränen bildeten sich in seinen Augen, die seine Wangen leise hinabrollten, als er blinzelte. Dies blieb von Edward nicht unbemerkt und er schloss seinen kleinen Bruder noch fester in seine Arme, da er wusste, wie sehr solche Geschehnisse dem Jüngeren zusetzten. Wie automatisch drückte Ed sein Gesicht an Als Hals. „Das ist schrecklich, Al. Es tut mir so leid, dass du das sehen musstest.“, versuchte er ihn zu beruhigen, wobei er selbst immer unruhiger wurde, als seine Lippen die zarte Haut an Als Hals streiften. Er spürte deutlich dessen Pulsschlag und wie einige Haarsträhnen seine Wange kitzelten. Edward musste schwer schlucken und ohrfeigte sich gedanklich selbst dafür, wie er sich dabei erwischte, diese eigentlich tröstend gemeinte Geste schamlos auszunutzen.

Alphonse spürte die leichte Berührung seines Halses und dachte kurz daran, dass Ed so etwas zuvor noch nie getan hatte, nahm aber an, dass er es mit der Absicht tat, dem Jüngeren Trost zu spenden. Unter dieser Berührung fühlte Al auch seinen eigenen Puls schlagen und seine Gedanken sprangen zurück zu den leblosen Menschen, bei denen er diesen nicht mehr gespürt hatte. Warum hatten sie sterben müssen? Hätte Alphonse sie retten können, wenn er da gewesen wäre? So in seinen Gedanken versunken, bemerkte Al nur vage, als sein Bruder wieder zu zittern begann und schlagartig waren all seine Gedanken wieder bei ihm. „Du zitterst ja immer noch, Bruder! Diesmal stecke ich dich aber in ein heißes Bad und keine Widerrede!“, befahl Al und drückte den Älteren bestimmt von sich, der ihn etwas perplex und wie aus seinem eigenen Traum gerissen, ansah. Er hatte gezittert? Dabei war er sich sicher, dass sein Fieber längst zurückgegangen war. Zumindest das krankheitsbedingte Fieber, dachte Ed.
 

Im Bad erklärte Al seinem Bruder genau, was er in dem Tornado gesehen hatte und ließ ihm nebenbei das Wasser ein, welches, wie er bemerkte, eher kalt als heiß war. Dieses Problem behob er allerdings mit einem kurzen Handschlag und grellblauen Blitzen und kurz darauf stieg heißer Dampf aus der Badewanne empor. Gedankenverloren beobachtete Edward ihn dabei und erinnert sich zurück, als er selbst kaltes Wasser unbeabsichtigt zum Kochen gebracht hatte. Solche Dinge musste er nun Al überlassen. „Und da waren absolut keine Hinweise auf Alchemie zu finden? Nur die…Menschen und sonst nichts?“, hakte der Ältere noch einmal genau nach. „Nein, nichts. Naja, es war sehr warm im Inneren des Wirbels, aber ich wüsste nicht in welchem Zusammenhang das stehen sollte.“, fügte Al noch zu seinen Erläuterungen hinzu. „Warm also…“, grübelte Edward vor sich hin und betrachtete dabei das warme Wasser vor sich. Es musste eine Erklärung dafür geben. „Ich lasse dich dann mal alleine, Bruder.“, verabschiedete sich Al aus dem Badezimmer, als Ed sich gedankenverloren begann auszuziehen und in die Wanne stieg. Das heiße Wasser vermochte jedoch in keiner Weise sein erhitztes Gemüt zu kühlen. Ed versuchte sich auf die Lösung des Schneesturm-Problems zu konzentrieren, konnte es aber nicht verhindern, dass seine Gedanken immer wieder zu seinem Bruder abschweiften. Warm. Das Wasser in dem er saß, war durch Schwingungen erhitzt wurden, durch Bewegungen. „Luftbewegungen…“, dachte Ed laut nach und versuchte sich zu erinnern, was er einmal über Wetterentstehung und Luftbewegungen gelesen hatte. „Wenn warme Luft auf kalte Umgebungsluft prallt, kondensiert diese zu Schnee…“, erinnerte er sich plötzlich. Was hatte Al gesagt? Er hat im Auge des Sturms tote Menschen gefunden, die eiskalt waren und doch war die Temperatur im Inneren höher als außerhalb des Tornados gewesen. Schlagartig wurde Edward etwas bewusst. „Die haben ihre Körpertemperatur genutzt und die Umgebung erhitzt. Dadurch entstand ein starkes Hochdruckgebiet, dass mit der umgebenden kalten Luft zusammenprallte und diesen Sturm entstehen ließ!“, prasselte die Erkenntnis nur so auf ihn hernieder. Wie vom Blitz getroffen, sprang Ed aus der Wanne und war schon auf halben Weg durchs Zimmer, als er bemerkte, dass er sich doch lieber etwas anziehen sollte.
 

Edward fand Al auf seinem Bett sitzend und mit der Decke über dem Kopf in ihrem Schlafzimmer. Verwundert darüber, was dieses Verhalten zu bedeuten hatte, durchquerte Ed das Zimmer, um seinem Bruder die Neuigkeiten zu überbringen. In dem Moment, als er vor Al stand, erhellte ein greller Lichtblitz den Raum und kurz darauf ertönte ein ohrenbetäubendes Donnern. Gleichzeitig durchfuhr auch Alphonse ein starkes Zucken. Edward hingegen musste lächeln und setzte sich neben seinen kleinen Bruder, der auf Gewitter nicht sonderlich gut zu sprechen war. „Hör mal Al. Ich habe nachgedacht und habe eine Idee, wie wir diesen Sturm kleinkriegen könnten.“, fing Edward leise an zu erzählen und berichtete Al von seinen Schlussfolgerungen, der ihm aufmerksam zuhörte. „Das heißt, ich muss die Luft im Inneren nur abkühlen? Also genau das Gegenteil von dem, was ich mache, wenn ich Wasser erwärme?“, fragte Al noch einmal nach, nachdem er den Gedanken seines Bruder zu Ende gehört hatte. Dieser bestätigte dies mit einem Nicken. „Genau. Dann sollte sich der Sturm von allein wieder legen.“, diese Worte ließen ein Lächeln auf Als Gesicht erscheinen, hatte er doch gewusst, dass sein Bruder sicher auf eine Lösung kommen würde. Doch so sehr er sich auch darüber freute, machte ihm das Gewitter seinen Plan, sofort loszugehen und eben Gesagtes in die Tat umzusetzen, zunichte. Ein erneutes lautes Donnergrollen veranlasste Al näher zu Edward zu rücken und diesen auch unter seine Decke zu lassen. Beschützend legte der Ältere ihm einen Arm um den Rücken und Edward versuchte ruhig zu bleiben indem er sich wirsch auf der Unterlippe herumbiss.

Alphonse lehnte sich dankend an den Älteren an. Gewitter machten ihm manchmal einfach Angst, doch Edward machte sich deswegen nicht lustig über ihn, nein, er tat genau das, was ein älterer Bruder nun einmal tun sollte. Nachdenklich ging Al den heutigen Tag noch einmal durch und unwillkürlich blieben seine Erinnerungen an den zwei Ereignissen hängen, als sich die Brüder umarmten. Unten auf dem Sofa und erst vorhin hier oben im Zimmer. Beide Male schien ihm der Ältere ein verändertes Verhalten aufzuweisen. Er hätte ihn gerne direkt darauf angesprochen, wusste aber, dass Ed ihm dann vermutlich erst recht nichts erzählt hätte. Als Hand fand ihren Weg zu seinem Hals, dort, wo er heute die Lippen des Anderen ganz flüchtig gespürt hatte. Insgeheim drängte sich ihm die Frage auf, wie sich wohl ein richtiger Kuss anfühlte. Alphonse hatte bereits bei einigen Menschen gesehen, wie diese sich geküsst hatten, hinzu kamen die seltsamen Worte seines Bruders als er mit Fieber auf dem Sofa gelegen hatte. All das formte sich in Als Kopf zu einer Frage. „Bruder? Wie…wie fühlt sich ein Kuss eigentlich an?“, kam es nun schüchtern über Als Lippen und ehe Edward etwas hätte sagen können, fügte er hinzu: „Ich meine, ich frage dich das, weil du und Winry…naja ihr habt euch ja immerhin öfters geküsst. Ich dachte, dass du mir dann ja am ehesten erklären könntest, wie sich das wohl anfühlt. Ich versuche ja so viele Erfahrungen wie möglich in Sachen Gefühle zu sammeln seitdem ich das wieder kann. Das verstehst du sicher.“, versuchte Al seine so plötzliche Frage zu erklären und hoffte, dass Edward es nicht falsch verstand.

Alphonse bekam allerdings nicht mit, wie Ed sich zunehmend anspannte. Mit so einer Frage hatte er in diesem Moment überhaupt nicht gerechnet und sie kam ihm aufgrund ihrer Nähe gar nicht so unschuldig vor, wie Al es beabsichtigt hatte. „Ich weiß nicht…das…das ist eine schwierige Frage.“, begann Ed sehr nervös und wusste gar nicht so recht, was er seinem Bruder nun erzählen sollte. Er wusste, dass Al solche Erfahrungen noch nicht gemacht hatte und kam sich angesichts dieser Tatsache entsetzlich schuldig vor, da er den Frevel begangen hatte, Als Lippen ohne dessen Wissen zu entweihen. „Ja, das glaube ich. Ich verstehe, wenn man das schlecht beschreiben kann. Man wird es wahrscheinlich ohnehin erst richtig verstehen können, wenn man es selbst erlebt.“, stimmte Alphonse seinem Bruder zu, als er merkte, dass dieser nicht so recht wusste, wie er es ihm erklären sollte. Edward lächelte gequält und wusste durch seine ganzen wirren Gefühle hindurch nicht mehr, was er noch dagegen tun sollte. Er wusste was er wollte und nicht durfte. Er kannte die Grenzen zwischen Regeln und Verboten; zwischen Richtig und Falsch. Doch was nützte es ihm in diesem Moment? Was nützte die Stimme in seinem Kopf, die immerzu Nein schrie, wenn sein Herz ihn mit aller Gewalt vom Gegenteil zu überzeugen versuchte? Jenes Herz, das auch jetzt wie wild in seinem Inneren tobte und ihn zu Dingen trieb, die völlig irrational waren. „Al.“, flüsterte der Ältere bedächtig, woraufhin der Angesprochene neugierig zu Ed aufsah und ihm die Decke vom Kopf rutschte, unter der er sich verkrochen hatte. Ein weiterer Blitz erhellte Eds Gesicht und reflektierte in seinen Augen, welche mit Leidenschaft brannten, als er seine Hand zu Als Wange hob, mit seinem Daumen vorsichtig einige Haarsträhnen beiseiteschob und sanft darüberstrich. So hartnäckig die Stimme in seinem Kopf auch an ihm nagte, sie hatte keine Macht mehr über ihn. Langsam senkten sich seine Augenlider ein wenig während die Distanz zwischen den beiden Brüdern immer mehr dahinschmolz. Edwards Herz schlug unaufhörlich und in ungesundem Tempo in seiner Brust, als es jäh für einen unendlich langen Augenblick auszusetzen schien, als sich sein Mund auf die süßen Lippen seines jüngeren Bruders legten und er mit fiebrigem Blick Als goldene Augen fixierte. Auch wenn Ed die Luft anhielt, war er sich sicher, dass er selbst dann nicht mehr hätte atmen können, wenn er es gewollt hätte. Es war überaus anstrengend für Edward sein letztes bisschen Verstand zusammen zu kratzen und sich davon abzuhalten noch Schlimmeres zu tun. Er durfte sich nicht von diesem Feuersturm verführen und mitreißen lassen. Doch Edward war bereits verloren. Er befand sich längst im Auge des Sturms.



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Kommentare zu dieser Fanfic (8)

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Von:  Black_Star
2013-03-02T02:09:40+00:00 02.03.2013 03:09
Die erste FF die sich sied fast 10 jahren Animexx wirklich aufmerksam duch gelesen hab, die ertste die ich so gleich auch gefavt habe und letze Altivität is von 2011 T_T

Die FF ist so unglaublich gut geschrieben man versinkt richtig in der Tiefe der Erzählweise, ich würde echt unglaublich gerne weiter lesen.
Von: abgemeldet
2012-09-30T18:25:55+00:00 30.09.2012 20:25
Es ist nich einfach einen Charakter wirklich realistisch zu umschreiben, doch das hast du super gemacht. Ich habe nicht einen einzigen Gedanken daran verschwendet, das das nicht Al, oder Ed ist, man könnte denken man liest etwas, was aus den Gedanken der Autorin selbst entsprungen ist. Und doch hat diese Geschichte etwas sehr persönliches, individuelles. Das ist meine erste FF zu den Pairing und es ist sehr erfreulich, das es auch gleich so eine tolle ist. Ich freue mich schon auf das nächste Kapitel.

Lg riko-chan
Von: abgemeldet
2012-09-30T17:42:38+00:00 30.09.2012 19:42
Mh irgendwie habe ich das Gefühl, die FF wird immer besser.
MARSH hat recht, ich mag es auch das Al lange Haare hat, so finde ich es besser. Es passt auch viel mehr, als wenn er kurze Haare hätte. Ein paar kleine Rechtschreibfehler, aber ohne geht wohl einfach nicht, was?, denn ich habe noch nie eine FF gesehen die vollkommen ohne Fehler war, es ist einfach unmöglich und deswegen nicht schlimm.
Auch hat MARSH dabei recht, das es einfach OOC wirken würde, wenn Ed sich null Gedanken darüber machen würde, was für Gefühle er für seinen Bruder empfindet. Wenn ich das so lese, das ist irgendwie wie in einer kleinen Welt, man kann sich alles so gut vorstellen, als wenn man tatsächlich dabei ist. Ich kann mich auch in beide recht gut hineinversetzten, du triffst sie wirklich super und jetzt schluss mit dem Gelaber, ich les dann mal weiter.

Lg riko-chan
Von: abgemeldet
2012-09-30T16:44:36+00:00 30.09.2012 18:44
Also ich finde, du schreibst recht flüssig, auch beschreibst du die verschiedenen Situationen sehr gut.
Für deine Unerfahrenheit, wie du selbst sagtest, finde ich das das ganze eher von Erfahrung zeugt. Ich hatte das Gefühl, du schreibst schon ewig.
Rechtschreibfehler gab es auch kaum.
Auch finde ich, das es nicht zu kitschig wirkt, es ist also ob das Gefühl sich langsam heranschleicht und genau so sollte es sein. Ich bin zurzeit rundum zufrieden, mach weiter so, das ganze kann sich nur ins positive entwickeln.

Lg riko-chan
Von:  ChailaMing
2011-07-30T20:29:49+00:00 30.07.2011 22:29
Was für eine tolle Fanfic!
Richtig schön geschrieben!
Ich hoffe, dass sie irgendwann weiter geht!!
Von: abgemeldet
2011-05-05T17:59:40+00:00 05.05.2011 19:59
Konban wa !!!!!!
Huch, warum gibts noch keinen Kommi zu dem Kapitel? o.O Ich habe mir die Kapitel jetzt hintereinander reingezogen und ich muss sagen: Ich will mehr! xD Du besitzt einen wundeschönen Schreibstil und bringst die Gefühle und Zweifel von Edward wunderbar hervor. Es ist gut nachzuvollziehen wie schwer es für Ed sein muss und auch, dass sich Al um ihn sorgt. Ich könnte mir gut vorstellen das es wirklich so sein könnte <3 Ich freue mich schon auf Kapitel vier und hoffe das du bald weiter schreibst. *ab auf die Favo mit dir*

PS: Ich hatte mich bisher noch nicht auf ein Pairing festgelegt, doch scheine ich jetzt eins gefunden zu haben ;) *Ed xAl Fähnchen schwenk*

Ganz liebe Grüße
Angelstar

Von:  Sehun
2010-12-31T13:29:20+00:00 31.12.2010 14:29
ich wollte schon ein Kommi schreiben, seit ich das erste Kapitel gelesen habe, aber irgendwie bin ich bis jetzt nie dazu gekommen D:
..
ich muss sagen, die FF ist klasse.
zwar bin ich nicht mehr so ein großer Elricest-Fan wie früher - was ich grade irgendwie schade finde xD - aber ich mags trotzdem noch gerne und ich befürchte, dass deine Geschichte mir die Liebe wieder zurück geben wird.
so nebenbei bin ich total in deinen Schreibstil verschossen.. aahh, du beschreibst alles so schön detailreich, was ich total mag *___*
und dazu finde ich es toll, dass Al bei dir lange Haare hat.. so ist er wirklich total Liebe ♥.
.. jedenfalls werde ich mit Freude an der FF dran bleiben und bin schon gespannt aufs nächste Kapitel (:

ganz liebe Grüße, aka (:
Von:  Ayenae
2010-12-19T18:46:47+00:00 19.12.2010 19:46
Ed + Al <3 <3 <3
Wieso gibts eigentlich noch keine Kommis?

Habs bis hier hin mit viel Freude gelesen. Gut gefällt mir vorallem dein malerischer Schreibstil. Es fällt auch auf, dass du deine Wortwahl so abwechslungsreich wie möglich gestaltest (z.B. Ed - Edward - Bruder - der Ältere). Da kann ich nur sagen: Keine Angst vor Wiederholungen, es ist auch so sehr angenehm zu lesen.
Inhaltlich find ich es gut, dass Ed ernsthafte Bedenken hat, weil die beiden Brüder sind - damit hast du OOC auf jeden Fall gut vermieden.
Finde auch die Verweise auf die Brotherhood Story gut, so fügt sich deine Geschichte super ein. ^^


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