Lie
In ein weißes Nachthemd gehüllt und mit einem kleinen Kerzenhalter in den Händen sah sie ihn an, nun schweigend, als wären sie sich noch nie begegnet.
Ganz gleich wie wütend Ciel bis eben noch gewesen war, sie war es, die er gesucht hatte.
Nun hatte er eine Möglichkeit mit ihr zu sprechen.
Kelly legte den Kopf etwas schräg und schien auf eine Antwort zu warten, die der junge Earl ihr nicht geben konnte. Nun, er hatte sich verlaufen, doch welche Gründe sollte er nennen?
Er war vor seinem Butler davongelaufen?
Gewiss nicht!
„Verzeih, ich wollte eigentlich nur etwas frische Luft an einem der Balkone schnappen, doch ich muss falsch abgebogen sein“, erklärte er ihr lächelnd, worauf sie kurz schmunzelte und sich dann kurz am Kopf kratzte.
„Oh, dann haben wir uns wohl beide verlaufen“, lachte sie verlegen und sah sich im dunklen Gang um.
Kurz blinzelte Ciel, als sie schon weiter sprach.
„Weißt du, ich verlaufe mich noch heute oft bei Nacht, wenn ich Henry geholfen habe einzuschlafen. Er hat große Probleme mit dem schlafen, musst du wissen, deswegen singe ich immer für ihn“, erklärte sie und seufzte.
Ciel nickte langsam und sah sie kurz durchdringend an, ehe er lächelte.
„Nun, demnach wissen wir beide nicht genau, wie wir zurück zu unserem Zimmer kommen“, meinte er, worauf sie lachte.
„Ja, aber ich glaube, wenn wir geradeaus gehen, kommen wir wenigstens zu einem Balkon. Möchtest du mir nicht etwas Gesellschaft leisten? Diese Nacht ist wirklich angenehm“, sprach sie und wies Ciel an ihr zu folgen.
Was sollte er großartig tun? Nun hatte er die Möglichkeit mit Kelly in Ruhe zu sprechen und vielleicht bekam er die eine oder andere Information für Henrys Verhalten.
„Verzeih das ich dich duze, ich weiß nicht ob es mir zusteht“, lächelte Kelly nach einer Weile, in der sie beinahe stumm nebeneinander hergelaufen waren. Sie befanden sich bereits an der Fensterfront des Hauses und waren gewiss nicht mehr weit von den Doppeltüren des großen Balkons entfernt.
„Es ist in Ordnung“, war alles was er dazu sagte, während er beobachtete wie Kelly die Glastüren öffnete und zusammen mit dem Earl ins Freie trat.
Der Himmel war weit über ihnen geöffnet und Sterne halfen dem Mond den kargen Platz zu erleuchten, auf dem die beiden jungen Adligen standen.
Was auch immer Ciel bewogen hatte mit ihr an diesen Ort zu kommen, es war die Neugier und gleichermaßen die Furcht zurück zu Sebastian zu gehen.
Verwirrt beobachtete er Kelly, wie sie sich mit merkwürdiger Leichtigkeit auf die Abgrenzung des Balkons setzte und Ciel lächelnd ansah.
„Ich bin so gern hier. Gerade um zu dieser späten Stunde, ist es wahnsinnig beruhigend einfach nur hier zu sitzen und sich die Sterne zu betrachten“, erklärte sie und überschlug die Beine während sie sicher auf der Brüstung saß und in den Himmel blickte. Den Kerzenhalter hatte sie zuvor auf dem Boden abgestellt.
Der junge Adlige nickte langsam und seufzte.
Warum erfüllt ihn eine so greifbare Sehnsucht in dem Moment in dem er den Mond betrachtete? War es, weil Sebastian und er sich in mondvollen Nächten viel deutlicher und länger begehrten als in allen anderen?
Begehren...
Womöglich tat der Dämon dies nicht. Er war wohl seit Anbeginn der Zeit nur an der Seele des Jungen interessiert gewesen. Es war keine Gutartigkeit die ihn bewogen hatte, Ciel diese Nächte so hingebungsvoll zu schenken.
Er sah erneut in Kelly Richtung und seufzte, als er ihren verwirrten Blick bemerkte.
„Ist etwas nicht in Ordnung? Du wirkst etwas gedankenverloren“, wollte sie leise wissen.
Langsam kam Ciel auf sie zu und lehnte sich mit dem Rücken an die Brüstung um die Sterne ebenfalls zu betrachten.
„Ich würde gern wissen, was mit deinem Bruder nicht stimmt“, meinte er und sah sie an, worauf ihr ein kurzer bestürzter Blick abzulesen war. Dann senkte sie den Kopf.
„Das ist nicht einfach zu erklären, er ist etwas – ich nenne es gern gedankenlos und traurig. Meine Eltern haben dir bestimmt von seiner Krankheit erzählt, nehme ich an“, mutmaßte sie, worauf Ciel langsam nickte.
„Ich habe es geahnt.“
Damit erhob sie sich und stand nun auf der Brüstung um die Arme auszubreiten und sich den Wind durch die Haare fahren zu lassen. Kurz erschrak Ciel vor dieser Sicherheit, mit der sie über den schmalen Bogen balancierte, war sich andererseits sicher, dass die junge Oswald Ballettunterricht gehabt haben musste.
Dennoch war diese Sicherheit, mit der sie in beinahe fünf Meter Höhe umher stolzierte merkwürdig. Tat sie das öfter, wenn sie hier allein war. Schließlich sah sie niemand so spät in der Nacht. Es war gewiss nach eins und das gesamte Haus schlief bereits. Gefährlich war es doch allemal.
Ein merkwürdiger Gedanke ereilte ihn, der abzuschütteln unmöglich war.
„Ich habe eine Frage“, setzte Ciel an und sogleich stoppte Kelly in ihrer Bewegung. „Warum kennst du dich in deinem eigenen Haus nicht aus?“
Langsam drehte sie sich auf einem Fuß um die eigene Achse und lief wieder zurück, da sie sich etwas von Ciel entfernt hatte.
„Weißt du wer ich bin?“, fragte sie plötzlich leise, während lange Haarsträhnen begann ihre Augen zu verdecken und ein sichelförmiges Grinsen sich auf ihrem Gesicht ausbreitete.
Verwirrt blinzelte der junge Earl, als sie sich hinabhockte und ihm somit in die Augen sehen konnte. Das sanfte rehbraun ihrer Augen begann zu brennen und züngelnde Flammen wanderten durch ihre Pupille, bereit sie gänzlich rot zu färben.
Ciel sah sein eigenes, misstrauisches Gesicht in ihren Augen, war aber nicht bereit einen Schritt zurück zu machen. Er ahnte längst, was sich ihm dort zu offenbaren versuchte. Doch Angst empfand er nicht.
„Jemand mit viel Phantasie“, zischte er leise, als er erkannte, wie sie anfing schrill zu lachen. Ihr Kichern durchdrang die Stille der Nacht, schien das innere des Hauses allerdings nicht zu erreichen, als die Balkontür klappend in die Angeln fiel und kühler Wind ihre blonden Haare aufwehte.
„Womöglich, Mensch“, lachte sie und erhob sich wieder, um mit einem kurzen Schnippen ihrer Finger die weiße Kleidung vergehen zu lassen. Schwarze Federn umschmeichelten ihren Leib, als jener in lange schwarze Gewänder getaucht wurde und ihre Haare sich lang und schwer auf ihrem Körper niederließen.
Ihr Gesicht nahm schärfere Züge an und die blonden Haare wichen einem tiefen Schwarzton, während sich zartes Leder über ihrem Körper verteilte und lediglich an Armen und Hals stoppte.
Lange schwarze Fingernägel berührten den Wind, während lange Stiefel ihr eine merkwürdig, anmutige Erscheinung verliehen.
Sie überschlug die Beine, nachdem sie sich wieder auf der Brüstung niederließ und ihn belustigt ansah, als sich ihr Kinn auf ihrer Hand abstützte.
„Erkennst du mich nun, Ciel Phantomhive?“, wollte sie wissen und brachte ihn dazu etwas genervt zu seufzen.
„Akasha, nehme ich an“, grummelte er, worauf sie lachte und kurz nickte, bevor sie sich streckte.
„Herrje, wer hätte dich und diesen Versager hier erwartet? Ich ging davon aus, man würde mich endlich in Frieden lassen“, jammerte sie gespielt und gähnte sichtlich gelangweilt, während Ciel sich mit den Fingern die Schläfe massierte.
„Und was verschlägt dich an Orte wie diesen hier?“, stellte er genervt eine Gegenfrage, worauf sie kurz sichtbar überlegte.
„Es wäre langweilig, würde ich dir das verraten“, sprach sie und zuckte belustigt zurück, als Ciel ihr einen deutlich drohenden Blick schenkte.
„Ich habe langsam keine Lust mehr, auf die dreisten Spielchen von euch elenden Dämonen!“, knurrte er und nun schien er Akashas Interesse gewonnen zu haben. Sie hob interessiert eine ihrer schmalen Augenbrauen und lächelte.
„Na siehe da, du scheinst dir mit deinem „Butler“ im Augenblick nicht ganz einig zu sein“, lachte sie und brachte den jungen Adligen wütend zum schnaufen. „Demnach habe ich recht“, meinte sie und wedelte mit ihrer Hand, worauf Ciel verwirrt zu ihr auf die Brüstung gezogen wurde, um in leichtem Abstand zu ihr sitzen zu bleiben.
„Was erlaubst du dir?“, zischte er, worauf sie lachte.
„Erdreiste dich nicht so, Mensch. Schließlich haben wir keinen Vertrag“, kicherte sie und gähnte erneut sichtlich gelangweilt, ehe sie ihn ansah.
„Nun denn, dein Interesse galt doch Henry, habe ich recht?“
Ein Blinzeln, denn grummelte Ciel erneut.
Er würde diese Frau niemals nachvollziehen können und wenn er ehrlich war, lag das auch außerhalb seines Interesses.
„Was hast du mit ihm zutun?“, wollte er mit scheinbarem Dessintresse in der Stimme wissen, worauf sie nur schmunzelte.
„Eigentlich nichts“, meinte sie und zuckte mit den Schultern, ehe sie ihren Blick erneut den Sternen zuwandte. Es war merkwürdig, einen Dämon dabei zu beobachten, wie er beinahe wehmütig gen Himmel blickte. „Er ist mir sozusagen zugelaufen.“
Ihr Lachen war kühl, als sie ein Seufzen verlor und ihren Blick dann wieder auf Ciel fallen ließ.
„Mach dich nicht lächerlich“, zischte der, doch Akasha zuckte lediglich mit den Schultern. Sie wirkte gelangweilt und dennoch schien sie innerlich etwas aufzuwühlen. Wenngleich sie ihm genau das auch offenkundig zeigen wollte. Es kam dem jungen Mann zuminderst genauso vor.
War das wahrhaftig die Akasha, die ihm mit dem Tod gedroht und sich so selbstgefällig in seinem Haus niedergelassen hatte um Tee zu trinken, als wäre es nichts? Sie schien zwar noch dieselbe Person zu sein, gleichzeitig wirkte sie wenig so, als wolle sie Ciel wahrhaftig etwas anhaben.
„Ich meine es ernst“, sprach sie und sah dem jungen Adligen tief in sein verbliebenes blaues Auge.
„Dann hast du etwas mit seiner Krankheit zu tun?“, mutmaßte der leise weiter, doch Akasha schüttelte belustigt den Kopf.
„Nein, aber seine Krankheit ist dafür verantwortlich, dass ich ihm begegnet bin“, meinte sie und strich sich durch die blonden Haare. „Ich habe ihn zufällig gefunden, während ich gelangweilt durch diese Stadt streifte und überlegte, ob ich deinen Abschaum von Dämon noch einmal wieder finde. Daraufhin ließ dieser Junge mir geschwächt und ausgebrannt in die Arme. Er muss davon gelaufen sein, denn er schrie mich an, ich sollte ihn nicht zurück zu seiner Familie bringen.“
Ihre Erklärung klang für einen Moment etwas abenteuerlich. War sie eine so schlechte Verliererin, dass sie wahrhaftig zurück an den Ort ihrer Schande kehrte? Womöglich.
„Mir war, als sagtest du einmal, es würde dich nicht Reizen einen Pakt mit einem Menschen einzugehen“, seufzte Ciel und verschränkte die Arme vor seiner Brust, doch sie winkte nur ab.
„Und dessen bleibe ich treu“, sprach sie und lachte. „Ich habe mit ihm keinen Vertrag geschlossen. Dennoch helfe ich ihm.“
Ein Blinzeln antwortete ihr und brachte sie spitzbübisch zum Grinsen.
„Das überrascht dich scheinbar.“
Langsam senkte Ciel den Blick, um ihn dann ebenso gen Himmel wandern zu lassen. Die Sterne schienen sich ihnen zugewandt zu haben. Zumindest leuchteten sie so als wären sie wage interessiert an ihrem Gespräch.
„Nun, ich war der Meinung, ihr tut nichts ohne einen Austausch“, wisperte er und musste schmerzlich an Sebastian denken. Der Dämon hatte ihm gegenüber diese Dinge oft genug erklärt, wenngleich noch nie so deutlich wie in der heutigen Nacht.
Akasha sah ihn an, das spürte er und ihr Blick schien Erstaunen zu zeigen. Ganz so, als hätte sie mit dieser Antwort nicht gerechnet.
„Glaubst du das?“, fragte sie leise, worauf Ciel verwirrt seinen Kopf zu ihr drehte und beobachtete wie sie ihn interessiert musterte. „Er hat mich gebeten, ihm zu helfen, nachdem ich seine Wunden versorgt hatte. Dachte scheinbar ich wäre eine Hexe und könne ihm seinen Wunsch erfüllen. Menschenkinder sind wahrlich fantasievoll“, sie lachte kurz, „Doch seine Bitte verwirrte mich. Er wollte, dass ich ihm dabei helfe, seine Familie dazu zu bringen ihn zu verachtet oder wenigstens zu vergessen. Es war ihm wichtig, dass sie nicht leiden, wenn er früh sterben müsse.“
Erneut kicherte sie, doch nun klang es merkwürdig ehrfürchtig. Es war, als wäre sie noch immer überrascht von Henrys Bitte und wahrscheinlich war es auch verständlich.
Selbst für Ciel klangen diese Worte unglaubwürdig, doch welchen Grund sollte es sonst haben, dass er nur mit Kelly – nein – mit Akasha sprach? Es schien, als wolle er seiner Familie das Leid seines bevorstehenden Todes ersparen. Doch Ciel zweifelte daran.
Doch wenn es tatsächlich so war, konnte er nicht viel für diese Familie tun. Wenn Henry sich bereits seinem jungen Alter so entschieden hatte, war wohl jede Hoffnung dahin.
„Also nahm ich die Rolle seiner Schwester ein, um ihn zu umsorgen, wenn er sich schon von allen anderen Menschen zurückziehen wollte. Dennoch hätte er längst sterben sollen. In dieser einen Nacht traf ich, nachdem ich ihn versorgt hatte, einen Shinigami der mir die Todesliste vorlegte. Ich solle mich nicht einmischen, doch ich weigerte mich ihn gehen zu lassen und gab ihm einen Teil meiner Kraft. Er lebt und gleichzeitig lässt er sich seinen innigsten Wunsch erfüllen.“
Sie sah Ciel lange in die Augen, nachdem sie ihre Erklärung beendet hatte und schmunzelte, als er sich auf die Unterlippe biss.
„Du verstehst nicht, was ich davon habe, richtig?“, fragte sie leise, worauf er verwirrt den Blick hob und seufzend den Kopf schüttelte.
Nein, er verstand es nicht. Schließlich hatte Sebastian ihm immer gesagt, dass Dämonen nur für ihre eigenen Ziele lebten und auch über Akasha wusste er, dass sie sich keinen Deut aus Menschen machte. Warum dann aus diesem einen? Warum aus diesem Jungen? Er war doch ebenso wenig etwas besonders, wie all die anderen Menschen.
Langsam sprang sie von der Brüstung, lehnte sich vor und strich mit ihren kühlen Fingern über Ciels Wange.
„Nun denn, möchtest du, dass ich dir ein paar Geheimnise über uns so elende Dämonen anvertraue?“