First and Last
Es war ein ganz normaler Abend. Draußen dämmerte es bereits. Die Tage wurden wieder kürzer. Verträumt blickte Ryou aus dem Fenster in seiner Küche, während er mit mechanischen Bewegungen das Geschirr spülte. In letzter Zeit war es wirklich erstaunlich ruhig gewesen. Er konnte sich nicht daran erinnern, dass er im Verlaufe der letzten drei Jahres so friedvoll gelebt hatte. Vor allem nicht seit Bakura bei ihm wohnte. Mit einem Klirren stellte er den frisch gespülten Teller auf den Stapel und griff sich ein neues Objekt zum abtrocknen. Er hatte ja schon anfangs gewusst, dass die ersten Monate schwierig werden würden, aber manchmal hatte ihn das Chaos, das sein Yami mit sich brachte, schon fast in den Wahnsinn getrieben. Umso erstaunlicher war die Tatsache, dass in den vergangenen vier Monaten weder etwas zu Bruch gegangen war noch hatte die Polizei sie besucht und von Nachsitzen war auch nichts zu hören. Ryou hatte die Befürchtung, dass das sozusagen die Ruhe vor dem Sturm war. Und dieser Sturm entwickelte sich wahrscheinlich zu einem wahren Hurrikan.
Hinter ihm ging knarrend die Tür auf und er hörte, wie sich jemand auf den Esstisch direkt hinter ihm setzte. Er konnte die Blicke auf seinem Rücken spüren, rieb jedoch weiter über das Geschirr.
Entspannt wartete er darauf, dass sein Yami endlich den Grund für sein Erscheinen ankündigte.
„Ryou, ich bräuchte da bei etwas deine…Hilfe.“
So etwas in der Art hatte er befürchtet. Sein Yami sprach ihn hauptsächlich nur an, um seine Hilfe für etwaige Hausaufgaben zu bekommen. Die Dinge im Haushalt überließ er ganz Ryou und bei dem immer wiederkehrenden hoffnungslosen Versuch, ihm endlich auch einmal für die Hausarbeit einzuteilen, hatte sein Apartment schon einiges einstecken müssen. Da wäre zum Beispiel der Kleinbrand am Herd, die Überschwemmung mit der Spülmaschine, Löcher in seinem Parkett wegen den falschen Putzmitteln, Wüstenbildung durch die Verwendung des Staubsaugers und nicht zuletzt Essen, das eigentlich tot sein müsste, leider aber noch sehr lebendig aussah. Und das waren nur einige wenige Beispiele. Es war ihm von Anfang an klar gewesen, dass es nicht einfach werden würde, einem 5000 Jahre altem Grabräuber die moderne Technik beizubringen, aber das war damals noch im Bereich des Möglichen gelegen. Heute sah die Sache schon ganz anders aus.
Erstaunlicherweise hatte sich Bakura –bis auf die Sache mit der Technik- recht schnell mit der Zukunft angefreundet. Nun, da tat der Alkohol, die Partys und die Vergnügungsmöglichkeiten natürlich auch ihr übriges.
Mit einem resignierten Seufzen fischte Ryou ein paar Besteckteile aus dem schmutzigen Spülwasser und fragte Bakura was es denn diesmal wäre.
„Mathe? Chemie? Oder eher wieder Soziologie?“
„Nun ja, die Sache ist eigentlich nicht schulisch.“ Einigermaßen überrascht hielt Ryou in seinem Trockenritual kurz inne, bevor er mit einem mentalen Schulterzucken antwortete.
„Oh. Okey. Mit was dann?“ Der Hikari wartete gespannt auf eine Antwort, aber es herrschte Stille. Argwöhnisch runzelte er die Stirn. Irgendetwas war in der Luft.
„Bakura?“ Es folgte erst ein zögerliches „Nun“ und weiteres nicht verständliches Gemurmel, bis der Yami schließlich eine Antwort gab, die aber keineswegs weiterhalf.
„Die Sache ist ein wenig komplizierter.“ Nun war Ryous Neugier und natürlich auch Misstrauen gänzlich geweckt. Mit einem Ruck drehte er sich um und beäugte seinen sonst so mürrischen Mitbewohner mit hochgezogenen Augenbrauen. Wie er da saß, die Beine baumelnd, so als wäre er nervös und seine Arme hinter dem Kopf verschränkt schien er fast…unsicher, verlegen. Aber Ryou konnte sich nicht völlig sicher sein, immerhin hatte er Bakura noch nie in solch einem Zustand gesehen und er hätte auch nie gedacht, dass das mal passieren könnte.
Den noch tropfenden Teller in der Hand verschränkte Ryou die Arme und zog ungeduldig die Brauen hoch. Normalerweise konnte er unheimlich geduldig sein, aber von seinem Yami war er so etwas einfach nicht gewohnt.
„Ich möchte etwas kaufen.“ Der Kleinere legte ungläubig den Kopf schief. Bakura warf ihm anscheinend einen vielsagenden Blick zu, den Ryou aber in keinster Weise verstand. „Und was hält dich davon ab?“
„Es soll ein Geschenk sein.“ Langsam kam er sich wie in einer Ratestunde vor. Er hatte keinen Schimmer, was das Problem sein sollte. „Dann kauf doch einfach eine Flasche Sekt, wie du es an Maliks Geburtstag gemacht hast.“ Mit seinen Andeutungen schien Bakura schon in Erklärungsnöten zu geraten, also untermalte er seine Worte mit wilden Handbewegungen, die Ryou aber nur klar machten, dass da irgendetwas Größeres dahintersteckte. Denn es geschah nur selten, dass seine dunklere Hälfte seine Lässigkeit und Unnahbarkeit zu Gunsten von Menschlichkeit aufgab.
„Nicht so ein Geschenk. Eher etwas…äh…“, Bakura suchte verzweifelt nach einem Wort, dass seine Absicht erklärte, sich aber trotzdem noch seriös anhörte. Sein Gesicht hellte sich auf, als er etwas gefunden hatte. „…stilvolleres.“ Ryou hob nun völlig verunsichert seine Brauen, blickte seinen Yami kritisch an und fragte zur Sicherheit doch noch einmal nach. „Stilvoll?“ Dieser nickte und wartete mit angespanntem Gesichtsausdruck auf seine Antwort.
Und da dämmerte es Ryou langsam. Innerhalb zwei Sekunden steigerte sich sein anfängliches Kichern in schallendes Gelächter.
„Du-Du bist verliebt!“ Bakuras einzige Reaktion bestand zuerst aus perplexem Blinzeln, bis er mit Schwung die Arme vor der Brust verschränkte und diese Behauptung entrüstet abstritt.
Allerdings verriet ihn der rote Schimmer um seine Nase und Ryou konnte sich spätestens jetzt nicht mehr vor Lachen halten. Dass Bakura selbst nach fünf Minuten noch nicht grummelnd aus der Küche verschwunden war, ließen Ryou jedoch –mit leichtem Entsetzen, wie er zugeben musste- vermuten, dass es ihn wirklich schwer erwischt hatte. Mit einem letzten belustigten Glucksen wischte sich der Hikari die Lachtränen aus den Augen und versuchte beim Anblick des rot angelaufenen Bakuras nicht wieder zu lachen, was sich als relativ schwer herausstellte. Ein Grinsen konnte er sich dennoch nicht verkneifen.
„Nun gut.“ Mit scheinbar ernster Mine räusperte sich Ryou und überlegte sich im Geiste, wie er seinem Yami helfen konnte. Er fragte sich erst gar nicht, wer die Angebetete sein sollte, etwas ließ ihn ahnen, dass er es schon bald genug herausfinden würde.
„Also…“ Und schon bei den ersten Worten hing ihm Bakura regelrecht an den Lippen. „…Standard in solchen Fragen sind natürlich Rosen oder Pralinen.“
„Blumen und Schokolade?“ Mit zusammengezogenen Augenbrauen starrte der Yami seine andere Hälfte an. Sein typisches Misstrauen spiegelte sich in seiner ungläubigen Mine wider. „Und das wars schon?“ „Ja.“ Mit einem breiten Grinsen lehnte sich Ryou an die Anrichte der Küche, und trocknete den nächsten Teller ab. Hinter ihm konnte er Bakura grübeln hören. Er ließ einige Sekunden verstreichen, bevor er sich mit einer denkenden Pose wieder herumdrehte und mit verschwörerischer Stimme das Wort ergriff.
„Allerdings…“
„Was?“ „Hmm…“ Ryou unterbrach seine Schauspielerei und fixierte den Grabräuber mit einem ernsten Blick.
„Wie wichtig ist sie dir?“ Bakura blickte seinen Hikari zuerst mit gerunzelter Stirn an, bevor er den Kopf senkte und etwas in seinen nicht vorhandenen Bart murmelte. Dem Kleineren schlich sich ein leichtes Lächeln auf die Lippen, als er –hartnäckig wie er nun mal war- nochmals nachfragte.
„Tut mir Leid, ich konnte dich nicht verstehen.“
Bakura hob wieder den Kopf und holte tief Luft, bevor er den Kopf wandte und ihm direkt in die Augen sah. Ryou sog unwillkürlich die Luft ein. Da hatte es jemanden aber ganz schön erwischt.
Mit einem leichten Nicken legte er den Trockenlappen auf den Tisch, holte einen Schlüssel aus seiner Hosentasche und sperrte damit eine schmale Schublade in der Anrichte auf. Ein ergebener Seufzer entkam ihm, als er das Plastikstück herausnahm und es Bakura in die Hand drückte.
Mit unfassbarer Mine blickte dieser auf die Kreditkarte in seiner Hand, dann hob er den Kopf und sah seinen Hikari unsicher an.
„Jetzt geh schon und kauf ihr etwas, bevor ich es mir anders überlege.“ Mit einem nachsichtigen Kopfschütteln sah Ryou seinem Yami nach, wie er mit eiligen Schritten aus der Küche verschwand und wenige Augenblicke später hörte er die Haustür ins Schloss fallen. Dann nahm er erneut das Tuch und fischte sich einen weiterer Teller aus dem inzwischen kalt gewordenen Wasser und rieb mit den üblichen automatischen Handbewegungen über das Porzellan. Seine Gedanken waren jedoch woanders.
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Mit einem breiten Gähnen betrat Ryou die Klasse und ließ sich mit einem Seufzer auf seinen Platz am Fenster fallen.
„Na, Ryou, schlecht geschlafen?“ Mit einem weiteren Gähnen antwortete er der breit grinsenden Anzu, die sich mit Schwung zu ihm umgedreht hatte.
„Im Gegenteil. Ich denke ich habe zu gut geschlafen.“ „Ach, was musst du den Anstrengendes unternommen haben, dass du so fertig warst?“ Ihr Lächeln verbreiterte sich und ihn ihren Augen konnte Ryou deutlich dieses amüsierte Funkeln erkennen, wenn sie Spaß an ihrer Sache hatte.
„Glaub mir, Anzu, wärst du an meiner Stelle gewesen, hättest du dasselbe getan.“ Nur mit Unwillen erinnerte sich Ryou an die Strapazen, die ihm Bakura mit seiner begrenzten Geschenkverpack Kunst beschert hatte. Ein leises Lachen entfuhr dem Mädchen, doch bevor sie näher nachfragen konnte, betrat der Lehrer die Klasse und rief zum Morgengebet auf. Just in dem Augenblick, in dem sich Ryou erhob, nahm ihm ein heller Lichtstreif die Sicht.
Blinzelnd suchte Ryou das Objekt, das ihn geblendet hatte, bis sein Blick an Anzus Hals hängen blieb. Ein leises Lächeln schlich sich auf sein Gesicht, als er sie flüsternd fragte, wo sie denn dieses Stück herhätte. Mit einem strahlenden Lächeln hielt Anzu den Anhänger in die Sonne, und das Licht brach sich in dem kleinen Edelstein, der in der Mitte der Balletttänzerin eingelassen war.
„Er ist wunderschön, nicht? Jemand hat ihn in meine Tasche gesteckt, aber leider weiß ich nicht wer.“
Mit einem traurigen Seufzer strich sie über die zarten Ränder. „Ich würde mich gerne bedanken.“
„Keine Sorge, Anzu. Ich denke, du wirst bald herausfinden, wer es war.“
„Meinst du wirklich?“ Ein kleines Lächeln schlich sich auf ihr Gesicht, als sie den silbernen Anhänger wieder betrachte. Das breite Grinsen von Ryou bemerkte sie schon gar nicht mehr.