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Wilde Vögel Fliegen

Gypsy
von

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Unterwegs

Herbst 1923 Illinois, USA
 

Worauf hatte ich mich da bloß eingelassen!
 

Eigentlich hatte ich Richtung Süden gewollt, auf den Plantagen der Südstaatler gab es stets Arbeit und das war genau wonach ich eigentlich suchte. Doch stattdessen sitze ich jetzt in einem heruntergewirtschafteten Zug Richtung Westen und das ausgerechnet noch mit der seltsamsten und verrücktesten Person, die es vermutlich zwischen Boston und Portland jemals gegeben hat und je geben wird.
 

Getroffen habe ich sie am Bahnhof von Danville, Illinois. Sie war nicht zu übersehen gewesen.

Mit wehendem Rock hatte sie für die Wartenden getanzt, in der Hoffnung, ein paar Dollar dazu zu verdienen. Eine Weile hatte ich sie stumm beobachtet, doch als ich mich wieder abwenden wollte, trafen sich unsere Blicke und sie ließ mich nicht mehr los. Von diesem Moment an war mir klar gewesen, dass sie anders war, etwas besonderes.
 


 

'Cause I'm a gypsy Are you coming with me?

I might steal your clothes and wear them if they fit me

Never made agreements Just like a gypsy

And I won't back down 'cause life's already bit me

And I won't cry I'm too young to die if you're gonna quit me

'Cause I'm gypsy
 


 

Spontan lud ich sie ein und bezahlte ihr Essen, es gab nur eine billige Bohnensuppe, aber sie hatte sich gefreut. Ihr Lachen faszinierte mich mehr als alles andere und das, obwohl alles an ihr außergewöhnlich war. Von ihren vielen, winzigen geflochtenen Zöpfen bis hin zu ihren notdürftig zusammengeflickten Sandalen war sie außergewöhnlich und scheinbar vollkommen losgelöst von all den von der Gesellschaft bestimmten Normen und Regeln, die Unabhängigkeit und die Freiheit in einer Person. Sie sagte, sie hieße Cip und käme aus einem verschlafenen Örtchen in West Virginia um sich die Welt anzusehen. Anfangen wollte sie mit der Westküste, ob ich sie nicht ein Stück begleiten wolle? Völlig überrascht stammelte ich ein „Ja“. Sekunden später lief ich knallrot an und versuchte ihr händeringend und mit wenig Erfolg weiszumachen, dass ich ja eh Richtung Westen wollte. Da ich das ganze Gegenteil eines guten Lügners bin, hätte ich mir das wohl auch sparen können, aber sie hat nur nett gelächelt.

Warum ich so reagierte und weshalb ich überhaupt meine ganzen Pläne über den Haufen gehauen habe, weiß ich bis heute nicht so wirklich. Vielleicht weil ihre ausgelassene, von Verantwortung befreite Art ansteckend auf mich wirkte.

Jedenfalls nahmen wir dann den nächsten Zug Richtung Westküste und es gab kein Umkehren mehr. In der Zwischenzeit habe ich ziemlich viel über sie erfahren, auch wenn ich der festen Überzeugung bin, dass ich bis jetzt nur die Spitze des Eisberges kenne und in ihr noch unzählige Geheimnisse stecken.

Aufgebrochen war Cip nach ihren eigenen Worten als naive Träumerin. Ihr anfänglicher Optimismus hatte aber kräftig gelitten, als ihre Begleitung, ein drei Jahre älterer Möchtegern-Cowboy, in den sie zudem hoffnungslos verliebt gewesen war, sie einfach auf der Straße sitzen ließ. Er wollte Karriere machen und nicht mit einer Verrückten die Welt entdecken, die ihm zudem noch nicht einmal eine Gegenleistung darbot, schließlich war er sich zu fein, um ein billiges Bauernmädchen zu chauffieren. Das Cip ihm Benzingeld zahlte, schien für ihn nicht zu zählen und so fuhr er einfach ohne sie davon, während sie gerade nach dem Weg fragen wollte. Ohne Gepäck und Geld reiste Cipriana fortan allein weiter. Sie sagte, sie würde es ihm nicht übel nehmen und dass das Leben viel zu aufregend sei, um ihm nach zu trauern, aber ich glaube, sie versteckt ihre enttäuschten Gefühle nur hinter ihrer fröhlichen Fassade. Schließlich ist es sicher nicht gerade einfach weiter zu machen, wenn man ganz plötzlich allein und mittellos dasteht, selbst für jemanden wie Cip. Ich bin fest davon überzeugt, dass sie nicht nur einmal daran gedacht hat, der Welt wieder den Rücken zu kehren, um dann mit eingezogenem Kopf und gebrochenem Ego heimzukehren.
 


 

Broke my heart on the road

Spent the weekends sewing the pieces back on
 

Not the homecoming kind

Take the top off and who knows what you might find

Won't confess all my sins

You can bet I'll try it but you can't always win
 


 

Unsere Reise entpuppte sich bereits nach dem ersten Tag als schwieriger als gedacht. Kurz gesagt, wir waren total blank. Cips Geldbeutel war ein Loch ohne Boden, sobald sie ein paar Dollar ergattern konnte, gab sie sie auch schon wieder für Essen aus. Leider sah es bei mir auch nicht viel rosiger aus, denn mein Geld hatte gerade mal für eine Fahrkarte bis nach Missouri gereicht, ein Katzensprung. Ursprünglich hatte ich vorgehabt, mich so durchzuschlagen, unterwegs hie und da ein paar Gelegenheitsarbeiten anzunehmen, um über die Runden zu kommen. Im Gegensatz zu mir schien unsere finanzielle Lage Cip jedoch nicht im geringsten Sorge zu bereiten, in solchen Momenten wünschte ich, ich könnte alles so locker nehmen wie sie. Stattdessen saß ich missmutig im hintersten Wagon und überlegte krampfhaft, wie wir am besten unser weniges Geld einsetzen könnten. Der aufdringliche Gestank nach Ziege und zu vielen Menschen an einem Ort trug nicht gerade zur Beruhigung meiner angespannten Nerven bei. Unruhig rutschte ich auf der harten, ungepolsterten Sitzbank hin und her, um ein halbwegs bequemes Fleckchen zu finden, während ich unablässig das penetrant quengelnde Kind neben mir verfluchte. Irgendwann konnte ich das Stimmenrauschen, das mich ablenkte und meine Gedanken durcheinander brachte, nicht mehr aushalten und gab resignierend meinen Sitzplatz auf, um mich auf die Trittfläche zwischen den Wagons zu verziehen. Ich hoffte dort ein wenig Ruhe zu finden, oder zumindest ein bisschen frische Luft. Als ich jedoch die sperrige Holztür aufstemmte, wehte mir statt einer frischen Briese Ciprianas weiter Flickenrock entgegen. Glücklich lächelte sie mir zu, während sie vergnügt mit einem munteren Tanz ihre Zuschauer aus dem vorderen Waagen unterhielt. Flink zog sie mir meine verblichene Mütze vom Schopf und hielt sie keck den Leuten entgegen, die ihre kleine Vorstellung interessiert beobachtet hatten und teilweise sogar im Takt ihrer Drehungen klatschten. Anscheinend war dieses verrückte Ding doch geschäftstüchtiger, als ich zuvor angenommen hatte. Jedenfalls verdiente sie uns in einer halben Stunde knapp vier Dollar dazu, während ich nur nutzlos vor mich hin gegrübelt hatte. Das versetzte meinem männlichen Stolz dann doch einen Hieb. Nachdem sich schließlich alle Schaulustigen zurückgezogen hatten, saßen wir noch eine ganze Weile nebeneinander auf dem Trittbrett. Schmollend, mit dem Kopf gegen das raue Holz des Zugwagons gelehnt, versuchte ich ein wenig zu dösen, um die lange Fahrzeit zu überbrücken und mich abzulenken. Unterdessen schien mir die Sonne warm ins Gesicht und minderte den frischen Fahrtwind ein wenig ab. Die unzähligen ratternden Geräusche der Eisenbahn störten meine ersehnte Ruhe und so versuchte ich auf das Rascheln von Cips Kleidern zu lauschen, um wenigstens etwas Angenehmes zu hören. Ich muss ein ganzes Stück geschlafen haben, denn als ich aufwachte, war die Sonne verschwunden. Stattdessen überzogen dicke Regenwolken den ganzen Himmel und auch die Temperatur schien es nicht mehr gut mit uns zu meinen. Fröstelnd rieb ich mir meine nackten Arme und zog meine dünne Weste noch etwas fester zu. Erst jetzt merkte ich, dass Cip ebenfalls eingeschlafen war und zwar mit dem Kopf auf meinen Oberschenkel gebettet. Peinlich berührt versuchte ich mich auf die vorbeiziehende Landschaft zu konzentrieren, jedoch konnte ich zu meinem Leidwesen das Gewicht auf meinem Bein nicht mehr ignorieren, geschweige denn das nervöse Flattern in meinem Bauch. Gerade hatte ich beschlossen, meinen Mann zu stehen und sie zu wecken, doch als meine Hand auf ihrer Schulter lag, brachte ich es nicht über mich, sie wach zu rütteln. Da saß ich nun, mit dieser neuen Situation überfordert und unfähig, mich auch nur ein kleines Stück zu bewegen. Cip dagegen schien sich in ihrer Position durchaus wohl zu fühlen, denn sie kuschelte sich nur noch mehr mich. Ergeben seufzte ich auf, worauf hatte ich mich da bloß eingelassen? Verlegen lauschte ich Cips regelmäßigen, tiefen Atemzügen und erwischte mich dabei, wie ich mich leicht vorbeugte, um einen kurzen Blick unter den verrutschten Ausschnitt ihrer Bluse zu werfen. Seit wann hatte ich denn so ein gesteigertes Interesse an Frauen entwickelt? Bevor ich mich zu weiteren sittlichen Ausschreitungen herablassen konnte, spürte ich mit einem Mal, wie etwas kaltes, nasses meine Stirn traf. Kurz darauf folgte ein weiterer, dicker Tropfen und schon prasselte der Regen hart auf uns nieder. Ein Platzregen, das hatte noch gefehlt! Schnell sprang ich auf und zog die schlaftrunkene Cip gleich mit mir hoch. Bevor unsere Kleider völlig durchgeweicht wurden, zwängten wir uns zurück in den stickigen Holzwagon. Cipriana vor mich her schupsend versuchte ich ein freies Fleckchen zu entdecken, ein scheinbar aussichtsloses Unternehmen. Am Ende rutschte ein freundliches älteres Ehepaar ein wenig zur Seite, sodass sich wenigstens abwechselnd immer einer von uns setzen konnte. Ich hatte das dumpfe Gefühl, dass das eine lange und anstrengende Fahrt werden würde.
 

'Cause I'm a gypsy Are you coming with me?

I might steal your clothes and wear them if they fit me

Never made agreements Just like a gypsy

And I won't back down 'cause life's already bit me

And I won't cry I'm too young to die if you're gonna quit me

'Cause I'm gypsy
 


 

„Bist du jetzt endlich mal fertig?“ „Jaja, jetz' hetz mich doch ne. Das is komplizierter als es aussieht!“ „Dann lass es doch einfach ...“ Als Antwort erhielt ich von ihr nur ein genervtes Schnauben. Seit wir heut Morgen aufgebrochen sind, hörte sie mit dieser dummen Idee einfach nicht mehr auf. Irgendwann hatte ich dann entnervt aufgegeben und nun saß ich da und wartete. „Cip!“ „Nicht umdrehen!“ Resignierend stützte ich mein Kinn auf die Handflächen, dieses Weib! In meinem Bauch grummelte es wieder verdächtig. Seit dem gestrigen Abend herrschte eine nicht zu ignorierende Leere in meinem Magen, was mich zusätzlich zu dem Schlafmangel in ausgesprochen miese Laune versetzte. Die restliche Zugfahrt vom Vortag war ereignislos zu Ende gegangen. Kurzerhand hatten wir uns entschlossen, unsere weiteren Pläne bis zum Morgen heraus zu schieben und somit im Bahnhof zu übernachten. Da Cip mich erneut als Kissen missbrauchte und neben uns die Züge pausenlos vorbei ratterten, fand ich auch dementsprechend wenig Schlaf. Auch der nächste Morgen war mir, oder besser uns, nicht sonderlich wohl gesonnen. Die Bahnhofshalle war zwar groß und das Geschehen um uns herum hektisch, doch kein Bäcker in Sicht, bei dem man sich für den folgenden Tag stärken konnte. Zusätzlich fuhr an diesem Tag nur ein einziger Zug, der nicht vollkommen ausgebucht war, Richtung Westen und da kostete allein ein Ticket mehr, als wir hätten aufbringen können. Den abschließenden Höhepunkt dieser frühmorgendlichen Tragödie bildete der Bahnhofswächter, der uns für diebisches Gesindel hielt und uns mit lauten Geschrei und drohend schwingendem Schlagstock davon jagte. Welch viel versprechender Tagesbeginn! Nun war also laufen angesagt, aber da taten sich bei Madame Cipriana auch schon die ersten Probleme auf. „Fertig, tadaa!“ Endlich kam sie hinter dem großen Stein hervor, an dem ich die ganze Zeit gelehnt hatte. „Na, wie seh ich aus?“ Probeweise drehte sie sich vor mir hin und her. „Lächerlich“, war meine ehrliche Antwort und prompt schlug sie mir ihre Faust undamenhaft in den Bauch. Zischend stieß ich die Luft zwischen den Zähnen aus. Reiß dich zusammen, man schlägt keine Frauen, reiß dich zusammen. Schmollend stand sie nun vor mir, die Hände vor der Brust gekreuzt, die Unterlippe beleidigt vorgeschoben. „So is es aber nun mal bequemer!“, um ihre Worte zu unterstreichen, klopfte sie mit der flachen Hand kurz auf ihre Oberschenkel. Da stand sie nun, in meiner Hose. Ein grober Strick hielt als Gürtel umfunktioniert alles an seinem Platz, während die hochgeklappten Hosenbeine um ihre Knöchel schlackerten. Mein Gott, wie dünn und drahtig war dieses eigenartige Mädel nur! Es sah aus, als träge sie einen Sack statt einer Hose. Eigentlich hatte ich die Leinenhose als Arbeitshose mitgenommen, sie war luftig und ideal für die Arbeit im Süden, die ich mir eigentlich erhofft hatte. „Der Stoff ist viel zu dünn, du wirst frieren.“ „Keine Sorge, ich hab meinen Rock noch drunter“ Skeptisch hob ich eine Augenbraue, das sollte bequem sein? Wie kam sie überhaupt darauf eine Hose tragen zu wollen, das gehörte sich nicht mal für ein solches verrücktes Ding wie sie! „Nun schau doch nicht so“, versuchte Cip mich ruhig zustellen. „Ich musste schon mal ein ganzes Stück laufen und glaub mir, im Rock war das kein Zuckerschlecken.“ Sie griff kurz oberhalb den Knien nach den zu weiten Hosenbeinen und hob sie ein Stück hoch. „Siehst du?“ Zum Vorschein kamen erst ihre Knöchel, dann ihre schlanken Schienbeine, beides über und über mit frischen Narben bedeckt. Verblüfft schüttelte ich den Kopf. „Wie hast du das denn hinbekommen, sieht nicht gut aus.“ Teilnahmslos zuckte sie mit den schmalen Schultern. „Das Dornengestrüpp mochte mich nicht besonders. Hab dabei fast meine Sandalen verloren.“ „Cip, weißt du, Wege sind dazu da, damit man sie auch benutzt...“ Sie streckte mir die Zunge raus.
 

Das Ende vom Lied war, dass ich sie den halben Tag auf dem Rücken trug, da nützten die Hosen auch nicht viel. „Mit dir hab ich mir echt was aufgehalst!“ „Ich kann doch nichts dafür, dass du so lange Beine hast und so große Schritte machst, da komm ich einfach nicht nach.“, war ihre beleidigte Antwort. Im Grunde war ich ihr ja noch nicht mal böse, im Moment herrschte für meine Verständnisse nur eindeutig zu viel Körperkontakt zwischen uns, einfach so absetzen konnte ich sie aber auch nicht. Verdammter Stolz! Um das Gefühl ihres weichen Körpers an meinem Rücken zu ignorieren, starrte ich stur gerade aus und versuchte unsere Situation so gut es ging zu ignorieren. Leider hatte sie ihre bloßen Arme auffällig fest um meinen Hals geschlungen und ihre Wange streifte immer wieder die meine. Lenk dich ab, rede mit ihr, mach einfach irgendwas! Ich stieß einen verzweifelten Seufzer aus. „Wie bist du bis jetzt nur allein zurecht gekommen?“ „Es ging schon.“ Ich merkte, wie sie noch etwas näher an mich rückte, ihr Mund an meinem Ohr. „Aber es war sehr einsam.“
 


 

I can't hide what I've done

Scars remind me

Of just how far that I've come

To whom it may concern

Only run with scissors

When you want to get hurt
 


 

Wann immer ich an unsere seltsame Situation denken musste, konnte ich mir ein Lächeln nicht verkneifen. Seit unserem gemeinsamen Aufbruch waren nur vier Tage verstrichen und doch kam es mir so vor, als wären wir bereits vier Monate unterwegs. In so kurzer Zeit kann man so viel erleben.

„Hey, was lächelst du so dumm vor dich hin?“ Cip hatte es sich während der letzten Tage zum Hobby gemacht, meine Gedanken zu unterbrechen. Probeweise öffnete ich ein Auge und blickte zu ihr rüber. Mein Lächeln wurde nur noch breiter. Ihre Haare standen hartnäckig in alle Richtungen ab, seit sie vor zwei Tagen auf die Idee gekommen war, ihre vielen kleinen Zöpfchen zu lösen. Fahrig fuhr sie sich durch ihre wilde Mähne und strich sich die ungebändigten Strähnen aus dem Gesicht, damit sie mir ungehindert einen bösen Blick zusenden konnte.

„Hallooooo! Cip an Brandon, ist dein Hirn im letzten Zug liegen geblieben?“ Ihr spöttisches Kommentar übergehend richtete ich mich auf und streckte meine vom langen Liegen schwer gewordenen Gliedmaßen erst einmal genüsslich.

„Was glaubst du, wie lange wird es dauern, bis sie uns bemerken?“

„Weiß nicht, müssen halt eher aussteigen.“ Sie war einfach eine unverbesserliche Optimistin.

Am frühen Morgen hatten wir es geschafft, uns unbemerkt in einen Güterzug einzuschleichen. Das Glück war uns hold gewesen, niemand hatte uns vor der Abfahrt bemerkt und jetzt hockten wir zwischen Getreidesäcken und Holzpaletten, weshalb unser sowieso schon schmaler Geldbeutel endlich etwas Erholung bekam. Ganz wohl war mir anfangs nicht gewesen, aber nun, nach fünf Stunden ereignisloser Fahrt, verschwendete ich nur noch gelegentlich einen kurzen Gedanken an unsere gewagte Situation. Während meine Gedanken wieder abgeschweift waren, war Cipriana auf Knien zur Wagontür gekrochen, welche sie gerade mit einigem Kraftaufwand aufstemmte. Das Aufkrachen der aufschwingenden Tür gegen die hölzerne Wand des Wagons riss mich unvermittelt wieder aus meiner Gedankenwelt.

„Verdammt, was machst du denn da?!“ Ohne sich zu mir umzudrehen, winkte sie mir kurz auffordernd zu. Mit gerunzelter Stirn trat ich hinter die am Boden kauernde Cip.

„Da.“ Ich blickte in die Richtung, die mir ihr ausgestreckter Arm wies.

„Eine Brücke?“ Mit gerunzelten Brauen musterte ich die schmale Konstruktion aus Holz und Stahl.

„Genau, eine Brücke!“, triumphierend lächelte Cip mich an, während mir mein aufkommender Zweifel an ihrem funktionierenden Verstand wohl überdeutlich ins Gesicht geschrieben war. Verärgert rollte sie mit ihren großen Kulleraugen.

„Trägst du deinen Kopf nur als Dekoration mit dir herum oder wie?! Was bedeutet eine Brücke für einen Zug? Genau, er muss langsamer werden! Das ist unsere Chance abzuspringen.“

„Abspringen? Du willst abspringen?! Cip, bist du jetzt nicht nur verrückt sondern auch lebensmüde?“ „Mein Gott, jetzt hab dich doch ne so. Wie willst du sonst von einem fahrenden Zug unbemerkt verschwinden?“ Ich starrte sie immer noch völlig entgeistert an.

„Du -“, sie holte einmal tief Luft. „Du musst ja nicht mitkommen. Sie kaufen dir auf dem Bahnhof bestimmt ab, dass du ein Hilfsarbeiter bist.“ Peinlich berührt starrte sie immer noch auf die sich rasch nähernde Brücke, um einen Blickkontakt zwischen uns zu vermeiden.

„Cip, was soll das denn jetzt?“

„Naja, du bist ja eigentlich nur mitgekommen, weil ich dich gefragt hatte. Deine ganzen Pläne, vom Süden und dem Geld verdienen, du weißt schon, die hab ich einfach so über den Haufen gehauen.“ Endlich drehte sie ihren Kopf in meine Richtung, ihre wehleidigen Augen trafen die meinen.

„Ich möchte einfach nicht, dass du dir wegen mir deine Zukunft versaust, nur weil du das Gefühl hast, auf mich aufpassen zu müssen. Bitte, ich möchte kein Mitleid. Mich würde für den Rest meines Lebens ein schlechtes Gewissen plagen, wenn du mich nur deswegen begleitest.“

Der Zug begann abzubremsen, das Fahrttempo wurde stetig langsamer, die Brücke lag hinter der nächsten Kurve und trotzdem konnte ich nur dastehen und sie anstarren. Was sollte das jetzt?!

Cip schenkte mir ein letztes gepresstes Lächeln, dann sah ich sie langsam nach vorn kippen. Ihre Füße drückten sich vom Boden ab, sie flog ein Stück, dann verschwand ihr Körper zwischen dem hohen Gras.
 


 

I say hey you

You're no fool if you say 'no'

Ain't it just the way life goes?

People fear what they don't know

Come along for the ride, oh yeah
 


 

Vollkommen überrumpelt stand ich noch immer stumm da und starrte benommen zu der Stelle zurück, wo Cip aus meinem Blickfeld verschwunden war. Das quälende Geräusch der laut quietschenden Bremsen des Zuges schlich sich in meinen Verstand. Ich drehte mich zur Seite und blickte in Fahrtrichtung. Der Zug hatte aufgehört seine Geschwindigkeit zu verringern, die Brücke war noch einen Herzschlag weit weg. Gleich würde ich so weit von Cip entfernt sein wie noch nie, so unmittelbar wie mein Abenteuer mit ihr begonnen hatte, würde es auch enden.

Nein, nicht so!

Ich spürte, wie ich den Boden unter den Füßen verlor, der Gegenwind schlug mir heftig entgegen, dann folgte die unsanfte Landung. Hart traf ich auf der Erde auf, rollte mich über meine vom Aufprall schmerzende Schulter ab und rollte Hals über Kopf noch ein ganzes Stück den Hang hinunter, bis ich endlich ausgestreckt im Gras liegen blieb. Über mir zogen die Wolken vorbei und ich hörte das leise Zirpen der Grillen um mich herum. Ein leises Rascheln kam immer näher, Cip kämpfte sich durch die hüfthohen Gräser zu mir. Schwer atmend ließ sie sich neben mir auf die Knie fallen.

„Brandon, ist alles - , alles in Ordnung bei dir?“, ihr Blick lag sorgenvoll auf mir.

„Nein.“ Mühsam setzte ich mich auf. „Das hat verdammt weh getan, beides, der Aufprall und zurückgelassen zu werden.“ Vorsichtig rieb ich meine Schulter, es schmerzte höllisch.

„Mach das nie wieder, klar?“ Ich richtete meine Augen fest auf ihre. Cipriana sah vermutlich auch nicht viel besser aus als ich gerade. Auf ihren Armen deuteten sich bereits die ersten blauen Flecke an, ihre freie Haut war von den Schnitten der scharfen Gräser übersät und einzelne Halme hingen ihr verstreut in den Haaren. Sie biss sich fest auf die Unterlippe, in ihren Augen standen die ersten Tränen. Vorsichtig nahm ich ihr Gesicht zwischen meine Hände.

„Mach das nicht nochmal, okay?“, diesmal sprach ich einfühlsamer.

Als Antwort bekam ich ein schwaches Nicken von ihr.

„Wenn ich dich nicht mehr begleiten will, dann tue ich das auch nicht. Die Verantwortung für dich trägst du allein, ich bin dir gefolgt, weil ich neugierig war, aber es hat mir gefallen und ich habe nicht vor, es schon hier enden zu lassen, ja?“ Wieder ein Nicken. Mit einem Seufzer ließ ich mich nach hinten fallen, kurz darauf streckte Cip sich neben mir aus. Zusammen beobachteten wir die vorüberziehenden Wolken, welche so frei waren, wie wir es gern sein wollten.

„Und was jetzt?“

„Nach Westen?“

„Ja, nach Westen.“
 


 

Walking gets too boring

When you learn how to fly
 


 

So, das war ne schwere Geburt, aber ich bin eigentlich sehr zufrieden mit. :D

Ich hatte mich total in der Zeit verschätzt, so dass ich voll in die Prüfungszeit reingerutscht bin, was nen totalen Stillstand mit sich brachte...dem entsprechend musste ich es in den letzten Tagen schnell fertig stellen. dafür ist es aber auch mehr geworden, als anfangs gedacht. Ô.o Nunja, ich hoffe, es gefällt.^^
 

P.S.: Alle historischem Fehlerchen bitte großzügig übersehen. Danke! ;)
 

*Keksdose aufmach*
 

Kommi?



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von:  nufan2039
2010-07-05T11:39:57+00:00 05.07.2010 13:39
Ich versuch mich mal weiter zu arbeiten beim Durchlesen der Geschichte, trotz der Wärme! ;)

- schöne Idee mit dem Tagebuchstil
- schöne Beschreibungen, man kann sich gut ein Bild machen
- schöne Gegenüberstellung von der Sorglosigkeit Cips und des Verantwortungsbewusstseins des Erzählers (erinnert mich ein wenig an Dharma und Greg ^^)
- ich mag deinen Stil
- nur wenig Schusselfehler
- schönes Ende

Fazit: Anfangs dachte ich: Ist ja doch viel, aber es hat sich flüssig und gut runter gelesen und hat auch Spaß gemacht. Mir gefallen die beiden Charaktere wirklich gut! Ehrlich! Dein Stil ist richtig gut und die Story gefällt mir auch sehr. Sie passt wirklich gut zu dem Song.



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