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Der Pfau

Deutschland, das sind wir selber
von

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29 - Der Sturm

Die See lag ruhig. Keine einzige Welle kräuselte die Oberfläche. Die Spiegelung der grellen Sonne auf dem Wasser war kreisrund, als wäre die gesamte Nordsee ein einziger, riesiger und akkurater Spiegel des wolkenlosen Himmels. Schwül lastete die Luft auf den Gebäuden und zog in die Straßenschluchten ein. Der Wind, der der Stadt sonst Erfrischung und eine Abkühlung schenkte, lag ermattet und tot in Winkeln, aus denen er nicht fliehen konnte.
 

Der beißende Geruch von Schweiß. Hein wusste nicht, warum er schwitzte. Das einzige, was er den gesamten Vormittag über getan hatte, war, im Hafen zu sitzen und auf die wenigen Fußgänger zu blicken, die mit großen Augen und noch größeren Sonnenbrillen auf die Sportboote – 'pleasure crafts', und Heins Ton war ironisch – glotzten, die streng gesichert am Kai lagen. Er wollte nicht wissen, mit welcher Temperatur seine Leute gequält wurden, sicherlich über vierzig Grad im Schatten, und man konnte kaum atmen.

Die Klamotten klebten an seinem Körper. Ein kleines Mädchen blickte zu ihm hoch, vielleicht fünf oder sechs Jahre alt, mit zwei dunkelbraunen Zöpfen, an der Hand ihrer Mutter. Hein nickte ihr zu. Die Kleine vergrub das Gesicht im Sommerkleid ihrer Mutter und schien zu schluchzen.
 

Heins Mimik blieb unverändert. Als sie wieder aufsah, merkte er, dass sie nicht weinte, sondern lachte.

Sie lachte ihn aus.
 

„Hey Brüderchen!“, war das letzte, was Hein hörte, bevor salziges Wasser seine Haut benetzte, in seine Ohren eindrang und ihn vollkommen umschloss. Er öffnete die reflexartig geschlossenen Augen, während er langsam in die Tiefe sank, in die Tiefe seines Hafens. Kein Fisch blinzelte ihn an, es war völlig still, oder hörte er einfach nichts hier unten? Von oben drang Sonnenschein zu ihm hinunter, an der Wasseroberfläche gebrochen, und das Wasser schillerte in allen Farben des Regenbogens.
 

Es war bezaubernd.
 

Dann erinnerte er sich daran, dass er atmen musste, und tauchte trotz seiner mit Wasser vollgesogenen Klamotten prustend auf. Sofort fand sein Blick den Anblick seines Bruders, der triumphierend auf dem Steg thronte und zu ihm hinunter blickte. Das dunkelhaarige Mädchen konnte Hein von dieser Position aus nicht mehr sehen. Vielleicht war sie auch schon weg, an der unbarmherzigen Hand der Mutter fortgezogen worden.

Luft drang in seine Lungen ein wie eine scharf schneidende Rasierklinge und schien ihn zu verstümmeln. Er schnappte nach Sauerstoff, versuchte, die Wunden zu vertiefen, sie einzureißen, bluten zu lassen; und dann plötzlich ging es ihm wieder gut, hatte das Gasgemisch in der Atmosphäre ihn wieder geheilt.
 

„Warum hast du das gemacht?“ In Heins Stimme lag weder ein Vorwurf noch irgendeine andere Emotion, es war die Neugier, die ihn trieb. Wie konnte er ahnen, weswegen sein Bruder aus dem Nichts auftauchte und ihn in das brackige Hafenwasser schmiss, Wasser, das sich immer mehr wie die kalte Realität und weniger wie der sanft gewebte Traum von eben anfühlte?

Roland zuckte mit den Schultern, und ehe Hein auch nur einen Ansatz machen konnte, die steile Mauer hinauf zu klettern und den feuchten Fingern des Wassers zu entkommen, landete sein Bruder neben ihm, mit einem lauten, ohrenbetäubenden Platschen, das Heins Ohren wieder mit Wasser füllte. Als der Jüngere zur Seite blickte, sah er, wie die blendend weißen Zähne die Sonne, die Wolken und ihn widerspiegelten, wie sie geradezu blitzten und blinkten.

Er wandte den Blick ab.
 

„Warum hast du's nicht gemacht?“ konterte Roland. Hein zuckte treibend mit den Schultern. Je mehr Zeit er in diesem Wasser verbrachte, desto schmutziger erschien es ihm. Oder hing das damit zusammen, dass Roland alle Aufmerksamkeit auf seine von innen strahlende Erscheinung zog? Er konnte es nicht sagen. Aber er fing an, sich unwohl zu fühlen in seinem eigenen Hafenbecken. Ihm wurde bewusst, dass das hier nicht der offene, freie Ozean war, dass hier keine gesunden Fische mehr lebten, dass der Dreck das Becken bis zum Rande auffüllte. Vermutlich drang das Sonnenlicht nicht einmal wirklich durch die Wasseroberfläche, vermutlich war jegliche Impression, dort unten etwas zu sehen, nur Einbildung. Würde er weiter hinabtauchen, würde er einen von Algen überzogenen Seeboden spüren, dunkelgrüne, alles Leben erstickende Algen.
 

Hein fühlte sich, als würde auch er ersticken. Der Anblick von Roland, fröhlich und frisch im toten Wasser, schnürte ihm die Kehle zu.
 

-
 

Der Weg in seine Heimat war schrecklich. Roland gestand, er war ihn besuchen gekommen, weil er keine Lust hatte auf die Arbeit, die vor ihm lag. Also, wie er genauer ausführte, indem er sich wiederholte, hatte er beschlossen, seinem kleinen Bruder einen Besuch abzustatten. Und er hatte genug Beck's mitgebracht, um eine Elefantenherde ins Koma zu saufen. Das konnten sie ja heute Abend zusammen trinken, schlug er vor.
 

Die Sonne war ihnen auf die Haut gebrannt und hatte die durchnässten Klamotten mir nichts, dir nichts getrocknet, bis sie ihnen nicht mehr klitschnass an der Haut klebten, sondern mit einem feinen Salzüberzug wieder glatt und leicht lagen. Die Schwüle drückte Hein aufs Gemüt, Roland schien sich davon nicht stören zu lassen, er redete über dies und das und jenes und sell, und nichts schien ihn stoppen zu können, und Hein hörte zu und hörte ihn nicht und es beruhigte ihn.
 

Nachdem sie ein paar Mal anhalten mussten, damit Roland sich die eine oder andere bremerhaveranische Spezialität an Straßenimbissen kaufen konnte, zogen Wolken am Himmel auf. Die Luft drückte schwerer und schwerer. Katzen verschwanden von den Straßen, suchten laut mauzend bei ihren Besitzern Einlass oder verkrochen sich hinter Mülltonnen in abgelegenen, verwinkelten Gassen. Hunde wurden nervös und zogen an den Leinen, wollten in die Sicherheit ihrer Häuser zurück.
 

Ein Sturm zog auf.
 

Bremen und Bremerhaven kamen rennend an Heins Haus an, aber sie waren nicht schnell genug gewesen, und waren wieder völlig durchnässt, dass ihnen die Klamotten am Leibe klebten und die Haare nass und traurig hinabhingen. Die blau gestrichene, schon lang verblasste Holztür fiel mit einem lauten Klappern ins Schloss, während der Wind den Regen gegen die Backsteinmauern schlug.
 

„Ich hol uns neue Kleidung.“, murmelte Hein und huschte die gewundene Treppe in den ersten Stock hinauf. Oben sah er sich um, als würde er die Zimmer zum ersten Mal sehen. Seit wann hatte er Roland schon nicht mehr gesehen? Nein, das war leicht, vor einer Woche und zwei Tagen. Besser: seit wann wollte er Roland nicht sehen und wollte ihn sehen und wusste nicht, was er wollte?

Er blieb völlig ruhig, nur die Fingerspitzen mit abgeknabberten Fingernägeln zitterten. Laut war der Sturm draußen zu hören. Hein selbst fühlte sich wie ein einziger Sturm, ein Sturm in einer Glasglocke, der nichts in der Welt draußen verändern konnte, sondern auf ewig in seinem Inneren wüten musste. Er wandte sich zu dem großen, hellen Buchenholzschrank und beobachtete genau, was seine Hände ohne sein Zutun hinauszogen. Für sich ein beiges Shirt, nichtssagend und fahl, und für seinen Bruder ein altes Hemd aus seiner Jugend, das ihm inzwischen zu klein war. Hoffentlich passte es Roland. Es war hellgrün mit roten Streifen. Hein wusste nicht mehr, woher er es hatte, er wusste nur, dass er es nie getragen hatte. Für beide hatte er helle Stoffhosen. Der Gedanke, an dieser Stelle, hier oben aus seinen Klamotten zu gleiten und in die neue Kleidung zu schlüpfen, kreuzte seine Gedanken, aber er tat nichts, sondern er nahm den Stoff fest in die Hand und kehrte zurück nach unten.
 

„Hier.“

Er legte das Hemd ordentlich zusammen, mit der Hose obenauf. Dann wandte er Roland den Rücken zu. Sein Blick streifte den gekachelten Kamin, der seit Jahren nicht mehr benutzt wurde. In den Fliesen spiegelte sich Roland, der sein nasses T-Shirt auf den Boden fallen ließ und aus der Hose stieg.
 

„Hey, ziehst du dich nicht um?“ Das Lächeln schwang in Rolands Stimme mit. Hein war wie paralysiert, dann schüttelte er den Kopf.
 

„Hä? Na klar ziehst du dich auch um!“ Nasse Hände legten sich an Heins Nacken, auf seine Schultern. Er konnte geradezu vor sich sehen, wie die Regentropfen auf dem Handrücken lagen, wie Roland sich auf die Zehenspitzen stellen musste, um die Hände auf seine Schultern legen zu können.
 

„Ich kann dir helfen!“, bot er selbstlos an und langte nach vorne, um Heins Hemdsaum zu fassen. Panik stieg in ihm auf, intensivierte den Sturm, aber an der Oberfläche blieb er ruhig, ungestört, still wie ein gefrorener See. Rolands Finger waren kurz und dünn, wie ein Tau, das sich unbarmherzig um seine Hüfte schlang. Wieder blieb ihm die Luft weg, Adrenalin stieg auf, sein Kopf wollte zerplatzen, es war heiß und stickig, er wusste nicht, wie lange er das ertragen konnte.

Sein Shirt landete neben dem von Roland auf dem Boden. Hein kniff die Augen zu. Er wollte sich nicht sehen, er wollte nicht sehen, was hier geschah, mit ihm, mit Roland, mit ihnen.
 

„Mann, Hein. Dass du das immer noch nicht allein kannst, Kleiner, he?“, stichelte Roland den kleinen Bruder ein wenig, mit liebevollem Ton in der Stimme.

Hein drehte sich um und öffnete Augen wie Mund, aber kein Ton entfloh ihm, er starrte.

Das war nicht das erste Mal, dass er Roland halbnackt sah, mit Haaren, die sich elegant um seinen Hals schlangen und Regentropfen, die langsam die helle Haut hinabtröpfelten. Draußen waren orkanartige Böen zu hören.

Es war nicht das erste Mal, aber es war das erste Mal, seit Hein erwachsen war, wie er es zumindest selbst von sich behauptete.
 

Er schloss den Mund. Dann öffnete er ihn wieder. Er war sprachlos und verhielt sich wie ein Fisch auf dem Land. Luft. Er brauchte Sauerstoff oder er würde ersticken.
 

„Ich kann das allein.“, behauptete Hein atemlos der Realität widersprechend, und verschränkte die Arme vor der Brust. Er konnte gegen seine nackten Schulterblätter fühlen, wie Roland lachte. Passiv stand er da, passiv wollte, konnte er sich nicht wehren. Das Gewitter fegte einen Ziegel vom Haus gegenüber auf die Straße. Heins Reetdach blieb unberührt.

Das Lachen verstummte nicht, und es hallte schrill und gleichzeitig angenehm in Heins Ohren nach. Er wollte im Erdboden versinken, denn er konnte nichts tun, er konnte sich nicht wehren, er konnte nicht, weil er nicht wollte.
 

„Na dann mach doch.“, forderte Roland ihn auf.
 

„Ja. Ich mach.“, erwiderte Hein.
 

„Und?“, fragte Roland nach.
 

„Ja. Ich zieh mich um.“, antwortete Hein.
 

Stille.
 

„Brauchst du noch Hilfe?“, hakte Roland nach.
 

„Nein!“, kam hastig die Antwort von Hein.
 

Stille.
 

Hein hob die Hände zur Hose. Nass klebte sie an seinen Schenkeln, und mit einem Mal waren zwei raue, zahnstocherartige Beine entblößt.

Roland schien zufrieden zu sein. Er ließ von ihm ab.

„Jetzt erkältest du dich nicht.“, teilte er ihm mit und reichte ihm die trockene Hose.
 

Die Worte hingen auf Heins Lippen, sie wollten entkommen, wollten sich Roland vor die Füße werfen und sich ihm hingeben. Sie hingen an seinen Lippen wie süße, zähe Honigtropfen, kurz davor, hinab zu tropfen und Roland endlich die Wahrheit zu sagen, die Wahrheit, die tief in seinem Herzen pochte.
 

Aber er sagte nichts. Er nahm die Hose, zog sie sich an, schlüpfte in sein neues Shirt und beobachtete dann seinen Bruder, wie er es ihm gleichtat. Dann setzten sich die beiden vor den Fernseher und sahen sich eine Vorabendsendung an, über die Roland laut lachte und die an Hein vorbeizog.
 

Der Sturm war vorüber. Auf der Straße lagen zerbrochene Ziegelsteinstücke. Bäume waren in Richtung Erdboden verbogen.

Der Sonne schien dumpf, die See lag ruhig und Hein Mück war feige.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  moi_seize_ans
2011-06-13T16:23:31+00:00 13.06.2011 18:23
DDDDDDDDDDDDDD:

Le SCHOCK!
Ich bin mal wieder voll am Verpennen und voll am ALLES Verpassen.
Shame on me.
Aber dafür war das ein Super Einstieg (wie alles, was du schreibst) für meinen Lesemarathon.

Und... man, du bist cool.
Mir gefällt der letzte Satz ja auch wahnsinnig.
Von:  JJasper
2010-11-06T16:16:15+00:00 06.11.2010 17:16
Okay okay.
Ich darf jetzt nicht ausrasten >:I Weil.
Einfach.
Doodal guhl. ;Ä; Und so ..baww. süß. Ja, keine Ahnung was ich dazu sagen soll.
Das ist alles unterdrückte Freude, oke. :I


dreifach schwul.


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