Shizuo vs. Prinzenrolle
„Willst du wirklich nur hier herumsitzen?“, fragte Shizuo etwas missmutig seinen kleinen Bruder, der mit gleichgültigem Gesichtsausdruck auf der rechten der beiden Schaukeln saß, ein wenig vor und zurück schwang und nun seinen zweiten Keks hinunterschluckte.
„Jup.“
Shizuo, zu diesem Zeitpunkt stolze zehn Jahre alt, seufzte und kratzte sich am Hinterkopf. „Na gut... Krieg ich 'nen Keks?“
Kasuka hielt ihm wortlos die Packung mit der Aufschrift 'Prinzenrolle' hin. Shizuo steckte die Hand hinein, mühte sich ab, zumindest einen Finger zwischen die Kekskante und das Innere der Verpackung geschoben zu kriegen – scheiterte jedoch kläglich. Als er es schließlich schaffte, den runden Keks herauszuholen, war er in mehrere Teile zerbrochen. Kasuka sagte nichts, während sein Bruder das Gebäck finster anstarrte, als hätte es ihm persönlich Leid zugefügt.
„Ich bin dann im Sandkasten“, erklärte der Ältere, nachdem er einmal tief durchgeatmet hatte.
„Okay.“
Seit 'der Sache mit dem Kühlschrank', wie es von allen in Shizuos Umfeld nur noch genannt wurde, war es ihm umso wichtiger geworden, nicht allzu schnell die Beherrschung zu verlieren. Er wollte niemanden verletzen.
Es kostete ihn einiges an Konzentration und Anstrengung, mithilfe eines knallroten Plastikeimers und einer dazu passenden Schaufel eine Sandburg in der etwa zwei Quadratmeter großen Kiste zu bauen, ohne sie aus Versehen selbst wieder einzureißen.
Manchmal schaute er zu den Schaukeln hinüber, um zu überprüfen, ob Kasuka noch dort war. Doch dieser schien nicht die geringste Absicht zu haben, sich auch nur einen Millimeter von seinem Platz wegzubewegen.
Die anderen Kinder ignorierten sie beide vollkommen. Kasuka tat dies, weil er von Natur aus nicht sehr kommunikativ war und Shizuo... eigentlich aus dem gleichen Grund.
Nach etwa einer Stunde erhob sich Shizuo, klopfte sich den Sand von der Hose und betrachtete mit wachsendem Stolz sein Bauwerk. Die Burg aus Sand, ein paar Ästen und Steinen reichte ihm an ihrem höchsten Punkt, einem Ast mit einem grünen Blatt daran, fast bis ans Kinn.
Er ging zu Kasuka zurück. „Willst du nicht doch mitmachen?“
„Nein, danke.“
„Na gut. Darf ich noch einen?“ Er wies auf die Kekspackung.
„Klar.“
Auch Shizuos zweiter Versuch, einen Keks heil aus dieser blöden Packung zu holen, scheiterte. Verstimmt stopfte er ihn sich in seinen Einzelteilen in den Mund und sah dann erstaunt zu, wie Kasuka ohne große Mühe die Hand hineinsteckte und einen runden, heilen Keks hervorzog.
Shizuo blinzelte verwirrt. „Wie mascht du dasch?“ Er schluckte erst runter, nachdem er die Frage gestellt hatte.
Sein Bruder zuckte nur mit den Schultern. Eine Weile sah der andere ihn prüfend an, dann wandte er sich abrupt ab und marschierte zurück zu seinem Meisterwerk.
Er hob die Schaufel auf, hörte ein kreischendes Lachen, hob den Kopf – und erstarrte, als ein kleiner Junge von vielleicht vier oder fünf Jahren sich mit einem Jauchzen auf die Burg stürzte. Diese Aktion hatte in etwa den Effekt eines – dem Maßstab der Burg entsprechenden – Meteoriten, der auf sie niedersauste.
Shizuos Augen wurden schmal. Er biss die Zähne zusammen und ballte die Hände zu Fäusten. Ihm fiel gar nicht auf, dass er den Griff der Plastikschaufel in seiner Hand vollkommen zerdrückte.
Zwei, drei Sekunden verstrichen, in denen Shizuo all seine Willensstärke aufbrachte, um sich schließlich mit einem unterdrückten Knurren abzuwenden und zu Kasuka zurück zu gehen, bevor er etwas... Nicht-so-Gutes tat.
Auf dem Weg rannte ein Kind, das es offenbar für unnötig hielt, beim Rennen nach vorne zu schauen, in ihn hinein und warf ihn fast um.
Shizuo warf besagtem Kind einen mörderischen Blick zu, woraufhin dieses zurückstolperte, sich umwandte und flüchtete. Dann ging er weiter, bevor er noch die jetzt nutzlose Schaufel nach ihm warf.
Nur wenige Meter vor Kasukas Schaukel stolperte er über einen dicken Ast am Boden und wäre abermals fast hingefallen.
Spätestens an diesem Punkt war bereits alles verloren.
Als Shizuo letztendlich bei seinem Bruder ankam, spiegelte sein Gesichtsausdruck einen Gemütszustand wider, den man gemeinhin als angepisst bezeichnen würde.
„Ich... möchte... noch einen Keks“, brachte er bemüht ruhig hervor. Kekse essen war gut. Es würde ihn ablenken. Es würde ihn beruhigen.
Diese Rechnung ging allerdings nicht auf. Vielleicht hätte Kasuka einfach für ihn einen Keks herausholen und ihn seinem großen Bruder geben sollen, doch das tat er aus irgendeinem Grund nicht.
Shizuo widmete sich jetzt jedenfalls seinem dritten Anlauf, einen heilen Keks aus der Packung zu bekommen. Er tat es quälend langsam, war so vorsichtig, als würde er eine Bombe entschärfen...
Kasuka hörte das Knacken und wusste, dass Shizuo erneut versagt hatte.
„ARGH, VERDAMMT!!“
Mit einem wütenden Aufschrei schmiss Shizuo die Packung auf den Boden, lief zur nächsten Bank, riss den Mülleimer daneben aus seiner Verankerung im Boden und warf ihn auf die Packung, als könne er ihr damit Schmerzen zufügen.
Die verängstigt durcheinander redenden Eltern, die hastig ihre Kinder zum Ausgang zerrten, entzogen sich gänzlich seiner Wahrnehmung. Mit einem letzten hasserfüllten Blick auf die 'Prinzenrolle'-Packung wandte er sich ab, hob nun auch ungestüm die Bank in die Höhe und warf sie zum Sandkasten.
„Ich hab mir solche Mühe mit der Burg gegeben!!“
Kasuka schaute mit gehobenen Augenbrauen stumm zu, wie sein Bruder weiter randalierte, bis fast nichts auf dem Spielplatz sich mehr an seinem angestammten Platz befand. Ab und zu schaute er mit etwas, das beinahe an Wehmut erinnerte, zu dem hinunter, was unter dem Mülleimer noch von der Kekspackung zu sehen war.
Schließlich ließ sich Shizuo schnaubend auf der Schaukel neben seinem Bruder nieder – der einzigen Anlage, die er stehen lassen hatte.
„... Fertig?“, fragte Kasuka und gähnte.
Shizuo sah zu Boden und nickte. Dann stand er auf. „Lass uns gehen, bevor jemand kommt.“
„Okay.“
Später, als sie fast zu Hause waren, räusperte sich Shizuo und sprach seinen Bruder an, ohne ihn anzuschauen.
„Kasuka?“
„Hm?“
„Tut mir leid, dass ich deine Kekse auf den Boden geworfen habe.“