Prolog
Seit Jahrzehnten hatte es ihm Haus des Herren Conrad von Lorne keine Fremden gegeben, weshalb sich die Hausmädchen, Köche und Dienstboten auf der Treppe zur Eingangshalle drängten. Jeder wollte einen Blick auf die neue Hausherrin erhaschen. Bisher hatte sie noch niemand gesehen, nicht einmal ihr Name war bekannt. Alles, was der Herr hatte verlauten lassen, war, dass er am Abend mit einer Dame, die von nun an bei ihnen hausen würde, heimkommen würde.
Die Turmuhr schlug bereits 8 und noch war nichts von ihm zu vernehmen. Die Unruhe wuchs stetig. Vermutungen wurden aufgestellt und wieder verworfen, doch die wichtigste und umstrittenste Frage blieb: War sie eine von ihnen?
In diesem Moment schlug die hohe Eichenholztür auf und der Hausherr, in Begleitung einer jungen, aschfahlen Frau, mit roten, hochgesteckten Haaren, trat ein. Mager wie sie war, wirkte sie zerbrechlich neben dem großen Conrad. Sie sah sich unsicher um. Als sie bemerkte, dass etwa zwei dutzend Augenpaare auf sie gerichtet waren, wandte sie ihren Blick schnell ab.
Mit einer kurzen Handbewegung bedeutete Conrad seinen Angestellten zu verschwinden.
„Mach dir keine Sorgen.“
Seine Begleiterin sah ihn wehmütig an. Er schenkte ihr ein aufmunterndes Lächeln und führte sie die Treppe hinauf, in den Wohnbereich.
Sie liefen durch einen in schwummriges Kerzenlicht getauchten Flur, bis Conrad vor einer Tür hielt.
„Tritt ein, Lilia“, sagte er feierlich.
Obwohl ihr etwas unbehaglich zu Mute war, versuchte sie zu lächeln, als sie den großen Raum betrat. Im vorderen Teil säumten hohe Bücherregale die Wände. Auf einer Erhöhung im hinteren Teil stand ein Himmelbett, mit schweren, dunklen Verhängen, dahinter sah sie eine verglaste Wand und eine Tür, die auf einen Balkon oder eine Terrasse zu führen schien.
Zweifelnd blieb sie stehen, ließ ihren Koffer neben sich zu Boden fallen.
Conrad trat von hinten an die heran und schloss sie in seine Arme.
„Ich muss noch einmal weg“, murmelte er, „Aber keine Sorge, ich bin bald wieder da. Sieh dich einfach etwas im Haus um. Es wird dir gefallen.“
Noch ehe sie etwas erwidern konnte, war er verschwunden.
Sie beschloss seinem Rat zu befolgen, doch schon bald musste sie feststellen, dass sich hinter den meisten Türen nur Gästeschlafzimmer oder Badezimmer befanden und kehrte in ihr neues Schlafzimmer zurück.
‚Wenigstens bin ich nicht ganz allein hier’, dachte sie, doch auch dieser Gedanke war nur wenig tröstlich, denn keines der Hausmädchen, die anfangs großes Interesse an ihr gezeigt hatten, schien nun mehr Notiz von ihr zu nehmen.
Dass Conrad das Hauspersonal angewiesen hatte, sie in Ruhe zu lassen, wusste sie nicht.
Sie sehnte sich eine Beschäftigung herbei. Zwecklos, wie es schien. Der Koffer war ausgeräumt, ihre Sache verstaut und das Haus erkundet. Gerne hätte sie sich mit jemandem unterhalten. Stattdessen durchquerte sie den großen Raum, den sie nun ihr Schlafzimmer nennen durfte. Sie strich mit der flachen Hand über die kühle Tagesdecke des Bettes, das sie sich ab dem heutigen Tag mit Conrad teilen würde.
Conrad, der sie die gesamte Fahrt über mit unwichtigen Dingen belangt hatte. Sie wusste, dass sie ihm dankbar sein sollte, denn er hatte sie nur ablenken wollen, doch sie hatte sein ständiges Geplapper nur als störend empfunden. Viel lieber hätte sie nach draußen gesehen und sich den Weg eingeprägt.
Nun war es zu spät. Sie war hier und würde den Rückweg niemals antreten. Ein seltsames Gefühl beschlich sie. Sie war nicht traurig darüber.
‚Vermutlich ist ein glatter Schnitt besser’, dachte sie.
Ein neues Kapitel begann. Ein neues Leben.
Leben! Sie musste unweigerlich lachen. Es klang falsch. Zu hoch. Nervös.
‚Aber das ändert sich schon’, sagte sie sich. Bald hätte sie sich eingelebt. So schlecht sah es hier noch nicht einmal aus. Sie hatte sich eine finstere Gruft vorgestellt, keine schönen, Licht durchfluteten Zimmer. So war es ihr allerdings auch um einige lieber. Hier konnte sie sich wenigstens einigermaßen normal fühlen. Vielleicht sogar leben.
In Gedanken versunken trat sie auf die gläserne Tür zu, die zur Terrasse hinaus führte. Sie war nicht verschlossen. Klack
Warme Frühjahrsluft schlug ihr entgegen und brachte den Duft von Rosen mit sich. Sie atmete tief ein, während sie hinaus ins Dämmerlicht trat und ließ die abendliche Atmosphäre auf sich wirken. Die letzten Strahlen der Frühlingssonne, die zu dieser Tageszeit nicht mehr, als ein roter Ball am Himmel war, tauchten die Spitzen der umstehenden Häuser in gleißendes Licht. Der schwarze Schatten einer Katze zeichnete sich ab und sprang mühelos, so wie es aussah, von einem Dach zum anderen. Keine Schwierigkeit. Die Häuser standen so dicht beisammen, dass sie untersten Dachschindeln sich fast berührten.
Langsam schlenderte sie auf das steinerne Geländer zu. Die Marmorfliesen fühlten sich kalt unter ihren nackten Füßen an. Trotz der warmen Luft, begann sie zu frösteln.
Sie überlegte, ob sie hinein gehen und sich etwas überziehen sollte, beschloss aber erst einmal nach zu sehen, was unter ihrer Terrasse lag