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Anime Evolution: Nami

Vierte Staffel
von

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Leben und sterben

1.

Als Doitsu Ataka in den Vorraum der Intensivstation der UEMF-Hospitalanlage gestürmt kam, lief er dabei fast zwei Schwestern und einen Pfleger um, aber das war ihm egal.

Sein Atem ging schnell, fast panisch, als er die kleine Gruppe Wartender erreichte, die durch ein Sichtfenster in den Intensiv-Bereich hineinsah.

„Wie steht es um sie?“, rief er aus und stürzte zum Zuverlässigsten aus der Gruppe, Makoto.

Der junge Mann sah ihn aus vor Tränen schwimmenden Augen an. „Yohko wird… Yohko wird…“ Seine Augen verschwammen vollends in Tränen.

Doitsu erstarrte. „Nein…“ Er sah zu seiner Freundin Hina Yamada, die vollkommen aufgelöst neben Mamoru Hatake stand. Der große Mann versuchte sie zu beruhigen, aber es war offensichtlich, dass er selbst eine tröstende Hand gebraucht hätte.

Akane, Mamorus Freundin, bemühte sich um Yoshi Futabe, der auf einem Stuhl saß und fassungslos mit der Welt haderte. Sakura Ino diskutierte mit einem Arzt, und jedes zweite Wort war ein derber Fluch.

„Kann mir einer sagen, was überhaupt passiert ist?“, rief Doitsu, um Fassung ringend.

„Wende dich an diesen Quacksalber!“, rief Sakura grimmig, wandte sich von dem harsch protestierenden Mediziner ab und klappte ihr Handy auf. „Admiral Ino hier. Wie lange noch, bis Admiral Acati eintrifft? Zu lang! Er hat in jedem Bereich absolute Priorität!“

„Sagen Sie mir die Details“, forderte Doitsu vom Mediziner. „Doktor Schneider, ich will alles wissen!“

Der Internist war von der Titanen-Station eingeflogen worden als ersichtlich wurde, dass die hiesigen Mediziner am Ende ihrer Fähigkeiten angelangt waren, er war so etwas wie Yohkos vorletzte Hoffnung. Man sagte, er habe früher sogar schon Akira behandelt, und viele der Verletzten des zweiten Marsfeldzuges hatten den akribischen und zähen Arzt zu schätzen gelernt.

Kurt Schneider sah ihn zuerst wütend an. Als er aber bemerkte, dass der UEMF-Offizier ihn wirklich um seine Expertise fragte, anstatt wie Admiral Ino ein Ventil für ihre Angst und Frustration zu suchen, entspannte er sich etwas. Soweit die Situation das zuließ.

„Colonel Otomo steht am Rande eines absoluten Kollapses. Ihr Herzschlag liegt bei hundertachtzig Schlägen, ihre Körpertemperatur beträgt einundvierzig Grad. Ihr Blutdruck liegt bei zweihundertzwanzig zu hundertzwanzig. Ein normaler Mensch hätte das keine fünf Minuten ausgehalten. Bei ihr sind diese Werte seit acht Stunden stabil.“

Acht Stunden. Vor fünf Stunden hatte ihn die Nachricht von ihrem schlechten Zustand auf der AURORA erreicht, und er hatte seinen Phoenix genommen, um so schnell wie möglich nach Tokio kommen zu können. Dass er dabei sämtliche Regeln der internationalen Luftfahrt missachtet hatte war ihm egal. Die Frau da in dem Bett, die japste wie ein hyperventilierender Spatz, das war Yohko. Yohko! Seine Hände verkrampften sich, als ihn eine Flut der Erinnerung übermannte. Zuerst war da nur Lilian gewesen. Lilian Jones, angebliche Austauschschülerin, die zusammen mit der heimatlos gewordenen Megumi Uno bei Akira Unterschlupf gefunden hatte. Ein Mädchen, dass ihn von Anfang an wegen den faszinierenden weißblonden Haaren, den hellen Augen, der naiven Art, aber auch wegen ihrer messerscharfen schnellen Auffassungsgabe fasziniert hatte. Eine Zeitlang hatte er wirklich gedacht, er… Eine Zeitlang hatte er gedacht, er könnte sich in dieses Mädchen verlieben. Und dann war alles ganz anders gekommen. Aus Lilian war Yohko geworden, ein Mensch den er nie kennen gelernt hatte, bevor sie zum Mars aufgebrochen war.

Aber die transformierte Lilian hatte ihm dennoch gefallen. Weiterhin fasziniert, auch wenn sie nie wieder die Leichtigkeit von Lilian erreicht hatte, ihren Funken Naivität, den sie vorgeschoben hatte, um von ihrer Umgebung zu kriegen was sie haben wollte. Ernster war Yohko, ernsthafter, um exakt zu sein. Aber die Freundlichkeit, die sie als Lilian gehabt hatte, die hatte sie behalten. Ihr großes, ihr riesengroßes Herz existierte auch in der Yohko, die er nun kannte. Manchmal dachte Doitsu, dass Yohko sich immer bewusst war, dass Lilian nur eine Fälschung war. Eine Rolle, genau wie es ihr Part als Lonne war, als die die Kronosier sie zu einem Selbstmordangriff auf die Erde geschickt hatten.

Und wie es bei einer Rolle war, Yohko hatte sie interpretiert, die Unbedarfte gegeben und darin brilliert. Später, als die Katze aus dem Sack war, als sie ihre intelligente Seite nicht nur zeigen sondern zelebrieren konnte, da hatte es wirklich Zeiten gegeben, in denen er Yoshi wirklich beneidet hatte. Nicht, dass er sich einen anderen Partner als Hina vorstellen konnte. Nein, dies war nach ihrer kurzen Trennung und ihrer grandiosen Wiedervereinigung vollkommen vom Tisch. Sie hatten beide ihre Zweifel abgelegt und letztendlich und ernsthaft zueinander gefunden, wie in einer schmalzigen Liebesgeschichte. Nur dass ihr Leben nach dem Abspann genauso weiter gegangen war wie es in der Geschichte war. Nein, es war sogar noch besser geworden.

Dennoch. Yohko war… Yohko war ihm mindestens so wichtig wie es ihm eine eigene kleine Schwester wäre. Sie gehörte zur Familie, war ein wichtiger Teil davon.

Nur zu genau erinnerte sich Doitsu an die Zeit, als er Zuhause raus geflogen war und bei Akira Unterschlupf gefunden hatte. An ihre glückliche Zeit in dem Haus in Tokio und in dem auf der AURORA. Sie waren eine große Familie gewesen, und er konnte nicht akzeptieren, eines der Mitglieder zu verlieren. Nicht schon wieder! Verdammt noch mal, nicht schon wieder! Er hatte bereits einmal geglaubt das Megumi tot war, und von Akira zu glauben, er wäre vergiftet worden, war auch nicht gerade dazu angetan gewesen seine Laune zu heben.

Yohko so zu sehen, ihre wahnwitzigen Werte über den Monitor flimmern zu sehen, ihre Atemmaske beschlagen zu sehen und ihren Körper in diesem ungleichen Kampf zu erleben spottete jeder Erfahrung.

„Was ist passiert, zum Teufel? Was ist passiert?“

„Ich habe die Berichte meiner Kollegen eingesehen, soweit mir die Zeit dazu blieb“, sagte Doktor Schneider. „Man hat auf dem Körper von Colonel Otomo eine intramusku… Eine entzündete Einstichstelle gefunden. Mikroskopisch klein, aber die Entzündung hatte sie klar identifiziert. Anhand der fortschreitenden Entzündung konnte ein ungefährer Zeitpunkt für die Penetration identifiziert werden: vorgestern Abend, also vor einunddreißig bis fünfunddreißig Stunden.“

„Vorgestern Abend?“ Als es über Tokio Abend gewesen war, da hatte er im kalifornischen Becken geholfen, den UEMF-Stützpunkt aufzulösen. Während er über amerikanischem Boden gekämpft hatte, da war hier in Tokio eine Geheimdienstaktion von unbekannter Seite furios gescheitert. Der Geheimdienst der UEMF hatte zusammen mit Spezialeinheiten eine Terroristengruppe hochgenommen, die versucht hatte, das Haus anzugreifen.

Was aber, wenn dieser Angriff nur eine Ablenkung gewesen war? Was wenn diese Einstichstelle der eigentliche Anschlag gewesen war?

„Was hat sie verabreicht bekommen?“

„Wir wissen es nicht. Wir testen ihr Blut, ihr Urin, ihren Speichel, ihre Lymphflüssigkeit und sogar ihren Schweiß auf alle uns bekannten Gifte. Fest steht nur eines: Was immer man ihr infiziert hat, es hat ihr KI aktiviert. Ich habe nicht viel Erfahrung auf dem Gebiet der KI-Medizin. Unsere Koryphäe auf diesem Gebiet, Futabe-sensei, befindet sich nicht auf der AURORA und kann nicht kontaktiert werden.

Ein Arzt, der bereits mit KI-Phänomenen zu tun hatte, wurde dem Projekt in der ersten Stunde nach der Einlieferung zugeteilt und hat das Profil des Leidens festgestellt. Colonel Otomos KI-Produktion wurde unnatürlich gesteigert. Im Moment entsteht in ihrem Leib das Einhundertfache von dem, was ein normaler Mensch schmieden würde, ohne sich dessen bewusst zu sein. Sie wissen, alle Menschen fabrizieren aus den Urkräften Yin und Yang permanent KI im Leib, dass einen ähnlichen Kreislauf im Körper einnimmt wie das Blut und…“

„Sie brauchen mir nichts darüber erzählen. Ich werde seit meinem sechsten Lebensjahr im Umgang mit meinem KI geschult. Hat schon jemand versucht, ihr KI zu absorbieren?“

„Es gibt nicht genügend fähige KI-Meister, um ein solches Experiment durchzuführen. Selbst ein fähiger Mann wie Yoshi Futabe produziert nur das achtfache an KI, wenn er sich anstrengt. Ein Meister wie Futabe-sensei bringt es auf das dreizehnfache von dem, was Colonel Otomo gerade schmiedet. Wir bräuchten mindestens zehn KI-Meister vom Schlage Yoshi Futabes, um überhaupt einen Versuch zu wagen. Denn soweit ich weiß kann es tödlich enden, wenn man versucht, fremdes KI zu absorbieren. Und vergessen Sie nicht, das wäre keine Angelegenheit von ein paar Sekunden. Sie produziert dieses KI permanent. Es erhitzt ihren Körper.

Permanente Linderung würde nur eine permanente Deregulierung bringen. Und dann ist da noch das Ernährungsproblem. Im Moment führen wir dem Colonel extrem kalorienreiche Nahrung über eine Magensonde zu, damit ihre unglaubliche KI-Produktion ihren Leib nicht auszehrt. Das ist alles was wir tun können, bis wir Futabe-sensei gefunden haben. Bis Admiral Acati eintrifft. Bis wir genügend erfahrene KI-Meister zusammen getrommelt haben, um wenigstens ihre KI-Produktion ableiten zu können. Und damit ist das Problem noch immer nicht behoben, wir schieben das Ende lediglich hinaus.“

„Deshalb wartet Sakura also auf Torum Acati.“ Demonstrativ setzte sich Doitsu auf einen Stuhl neben Yoshi. „Hier haben Sie einen weiteren KI-Meister! Und wenn Acati und Futabe-sama nicht rechtzeitig eintreffen, gehe ich da rein und versuche sie auf eigene Faust zu retten.“

„Nicht alleine. Wir alle gehen da rein! Notfalls mit Gewalt!“, rief Makoto, plötzlich mehr wütend als weinend.

„Ich habe die anderen schon benachrichtigt. Die Slayer kommen zusammen! Megumi hat den weitesten Weg von ARTEMIS, aber sie beeilt sich! Außerdem lasse ich nach Kitsune-chan und Okame-tono suchen“, sagte Hina fest, und Akane nickte grimmig zur Bestätigung. Das da drinnen war Yohko, ihrer alle Yohko.

Niemand in diesem Raum würde sie sterben lassen, ohne nicht wenigstens das eigene Leben riskiert zu haben.

„Bitte, seien Sie doch vernünftig! Die UEMF sucht mit Hochdruck nach Futabe-sensei, und er ist die absolute Koryphäe in der militärischen KI-Nutzung!“

„Doc, Sie werden bald über sieben Slayer verfügen, über mich, meinen Bruder Makoto, Lieutenant Colonel Ataka und Michi Torah. Außerdem wird mein Großvater jeden Augenblick hier eintreffen. Das sind schon mal zwölf Menschen, die selbst über die Fähigkeit verfügen, enormes KI zu schmieden!“

„Sakura, du beherrschst dein KI?“, fragte Doitsu erstaunt.

Die blonde Frau sah ihn wütend an. Ihre Augen waren rot vor Tränen. „Ich bin ein Bluthund, schon vergessen? Ich und Makoto wurden schon von klein auf im Gebrauch unseres KIs unterrichtet, um unserer Aufgabe zu dienen.“ Sie legte beide Hände vor ihr Gesicht und schluchzte. „Ich werde nicht schon wieder versagen!“

Die Tür flog auf, und zwei weitere KI-Experten kamen herein. „Wie steht es um Onee-chan?“, fragte Akari atemlos.

Michi Torah, der ihre Hand hielt, rief: „Was kann ich tun?“

„Das sind schon mal zwei. Und es werden noch viel mehr“, stellte Sakura tonlos fest. Grimmig ballte sie die Hände zu Fäusten. „Wir lassen sie nicht sterben! Nicht schon wieder!“

„Nein, diesmal nicht“, flüsterte Makoto, und bei dem Blick, mit dem er seine Worte begleitete, wurde Doitsu Angst und Bange. Wie weit würde der junge Mann gehen, um seine geliebte Cousine zu retten? Hoffentlich traf Joan Reilley auch bald ein, um den Chefanalytiker der AURORA von irgendwelchen Dummheiten abzuhalten, ging es Doitsu durch den Kopf.
 

2.

Die Grenzregion zwischen Argentinien und Brasilien, markiert durch den Rio de la Plata, zeichnete sich durch zwei Dinge aus. Ein Großteil der Flussregion war nun ein Trainingsgebiet der UEMF, in der sie die gleichen Hoheitsrechte ausübte wie ein autonomer Staat auf dem Gebiet der eigenen Botschaft.

Und die Bevölkerung war sehr UEMF-freundlich, weil ihr großer Held, der unglaubliche Mecha-Pilot John Takei von der berühmten Firma Luna Mecha Research, dem ewigen Disput mit den argentinischen Behörden ein Ende gemacht hatte.

Gewiss, die Toba waren für die UEMF-Sicherheitskräfte nicht einfacher zu handhaben als sie es für die Argentinier waren. Nicht unbedingt. Aber die hier ansässigen Volksgruppen, hauptsächlich Abkömmlinge der Ureinwohner, Mischlinge und Nachkommen geflohener Sklaven, waren loyal gegenüber ihrem Retter, der sich als der noch grandiosere Akira Otomo entpuppt hatte. So war die Legende, die eine ganze Welt gerettet hatte, zu ihnen gekommen und hatte sie auch gerettet.

Nun, dieser Heldenverehrung verdankte die UEMF einiges. Erstens, dass die brasilianischen Streitkräfte sie nicht hatten überraschen können, als diese das argentinische Grenzgebiet angegriffen hatten – natürlich nur das autarke UEMF-Trainingsgebiet – und zweitens die derzeitige Operation, durchgeführt von einer gemischten Truppe aus ehemaligen Toba-Guerillas, argentinischen Luftlandesoldaten und UEMF-Infanteristen.

Brasilien hatte sich sehr schnell auf die Seite Amerikas geschlagen, und da in dem Riesenland keine militärischen Basen der staatenübergreifenden Organisation installiert worden waren, hatte das vorschnelle Militär den nächstmöglichen Ort angeblafft, der nach United Earth Mecha Force roch, und das war das neue autonome Toba-Gebiet.

Zum Glück aber war Argentinien loyal geblieben. Die neuen Verbindungen mit der weltweit agierenden Organisation hatten sich als fruchtbar für das argentinische Militär herausgestellt, und die neue Riege, die nach den Pensionierungen der alten Führung – ausgelöst durch das missglückte Attentat auf Akira und Megumi – an die Macht gekommen waren, hatten sich als Vertreter der neuen Zeit entpuppt, in der die UEMF einen sehr wichtigen Stellenwert hatte.

Wichtig genug, dass die Argentinier den Streitkräften im Toba-Gebiet zu Hilfe gekommen waren, bevor diese darum gebeten hatten.

Von UEMF-Ausbildern trainiert waren selbst die alten Daishis der Argentinier eine Überraschung für die Stars and Stripes und Hawks der Brasilianer gewesen, und das Militär hatte eine demütigende Schlappe einstecken müssen.

Dies hatte die neue Mission ermöglicht, die nun von zwanzig trainierten Soldaten aus allen drei Lagern ausgeführt wurde. Es war eine Operation im Hinterland der brasilianischen Grenze, und sie galt nicht einmal dem Militär selbst. Aber vor dem unprovozierten Angriff wäre selbst eine geheime Attacke auf diese Anlage zumindest riskant gewesen, bei einem Fehlschlag aber ein halber Genickbruch für die UEMF.

Die Anlage, die sich nun im Kreuzpunkt von fünf getrennt marschierenden Einheiten befand, war eine Einrichtung des kronosianischen Legats. Ein geheimes Forschungslabor in der Abgeschiedenheit des undurchdringlichen Amazonas-Dschungels, in der ein weiterer Supercomputer der Kronosier stand, Teil eines noch immer weltweiten Netzwerks aus Superrechnern, und noch immer betrieben von Entführten, deren Rettung oberste Priorität in dieser Mission besaß.

Aber eine der Personen, die dort in den Biotanks schwebten, und kronosische Operationen in der ganzen Welt und im All analysierten, bewerteten und lenkten war etwas Besonderes. Zumindest für die einzige Frau der Truppe, die noch vor wenigen Stunden in Japan gewesen war. Genauer gesagt für eine der drei Persönlichkeiten, die sie in sich trug.

Gina Casoli verfügte dank der kronosischen Agentin, deren KI ihr implantiert worden war – eigentlich um Akira Otomo zu töten – über die vollen Fähigkeiten einer ausgebildeten Attentäterin. Dank dem Bewusstsein von Ai Yamagata, einer UEMF-Geheimdienstoffizierin, die während eines Kampfes mit Torum Acati auf sie übergegangen war, hatte sie zudem das Wissen einer Einsatzsoldatin.

Und dank der Beharrlichkeit ihrer eigenen Persönlichkeit, ihrer Ausdauer und natürlichen Zähigkeit hatte sich Gina auch die körperlichen Voraussetzungen für den Einsatz dieser Fähigkeiten erarbeitet. Und diese würde sie heute einsetzen, um Corinnes Körper zurückzuholen. Hier. Heute. Ein für allemal.

Die Nachricht, wo sich Corinnes Körper befand war für Gina überraschend gekommen. Aber es war wichtig genug gewesen, um sofort aufzubrechen und diese Operation selbst zu leiten.

Sobald sie diesen Körper wieder hatten konnten sie eventuell das KI der Attentäterin wieder in den eigenen Leib transferieren. Und ab da war es vielleicht nur ein kleiner Schritt, bis auch Ai in ihren eigenen Körper zurückkehren konnte, den sie auf unerklärlichen Wegen verlassen hatte, als Torum Acati sie nahezu getötet hatte.

Dann würde es zwar reichlich still in Ginas Kopf werden, aber wenigstens musste sie dann nicht drei verschiedene Interessen unter einen Hut bringen. Sie musste dann nicht mehr mit Corinnes Vernarrtheit in Akira fertig werden, brauchte sich nicht selbst mit eiserner Hand zu kontrollieren, sobald Taylor in der Nähe war und Ais Gedankenwelt kurz vor dem Kollaps stand. Und sie musste sich nicht mehr für ihr harmloses Interesse für Mamoru aufziehen lassen. Nun, es hatte alles seine Vorteile und seine Nachteile.

Ihr Funkempfänger, der permanent im Ohr steckte, übermittelte statisches Rauschen, nur kurz unterbrochen von einer Interferenz, wie es immer mal vorkommen konnte, wenn der Empfänger ein starkes Magnetfeld als Tonfolge interpretierte und entsprechend wiedergab. Es klang lediglich nach leichten magnetischen Störungen, aber für Gina war es das Signal, dass die letzte Angriffstruppe in Position war.

In schlechten Filmen gaben sich die Kommandotruppen immer Signale, indem sie auf den Funkgeräten kurz die Sprechtaste drückten, was ein Knacken über den Äther sandte. Für jemanden, der wusste worauf er zu achten hatte, war das natürlich ein gefundenes Fressen. Richtige Elitetruppen benutzten vermeintliche Störungen im Funk, verständigten sich über Handzeichen oder benutzten Lasergerichteten Direktfunk.

Gina zählte leise bis dreißig. Ai tat dies auch, allerdings auf japanisch. Corinne, die dem Einsatz mehr als alle anderen entgegenfieberte, dachte die dreißig Zahlen auf französisch.

Unter anderen Umständen hätte Gina das als interessant empfunden, aber die Operation erforderte ihre volle Aufmerksamkeit. Es war schon merkwürdig, was alles aus einer italienischen Köchin werden konnte, wenn man ihr Gelegenheit gab, ungewöhnliche Erfahrungen zu machen. SEHR ungewöhnliche Erfahrungen. RICHTIG ungewöhnliche Erfahrungen.

Als sie bei dreißig angekommen war, drückte sie die Sprechtaste ihres Kommunikators und rief: „GOGOGO!“
 

In diesem Moment erhoben sich mehrere Grashügel dicht vor dem Eingang. Die Elite-Soldaten hatten sich im Schutz der Nacht angeschlichen und mit Hilfe spezieller Kleidung und Tarnfarben vor der Entdeckung durch Wärmekameras geschützt. Das war in der heißen Luft eines Dschungels sicherlich nicht sehr angenehm, aber dadurch hatten sie zehn Mann quasi direkt vor der Tür. Nun, die Männer liefen etwas steif, aber sie waren effizient.

Fünf Sekunden nachdem Gina das Go durchgegeben hatte, sprengten sie bereits das Haupttor auf, während die restlichen Teams über vier Wege erst durch den Außenzaun des Geländes und dann bis zum Gebäude vorstießen. Ironischerweise waren sie es, die auf heftige Gegenwehr stießen; die Männer und Frauen, die sich bis auf das Gelände und vor das Tor gearbeitet hatten, waren noch nicht ins Ziel gefasst worden, sonst hätten sich die Wachtruppen nicht nur auf die neuen Eindringlinge konzentriert.

Es entspann sich ein heftiges Feuergefecht, welches das Vorankommen erheblich erschwerte. Ein Trupp kam sogar zum Stillstand. Aber das entlockte Gina nur ein müdes Lächeln. Welche ihrer drei Persönlichkeiten war eigentlich der Meisterstratege, der dieses komplexe Manöver entworfen hatte?

In dem Gebäude krachten Glasscheiben, Schüsse klangen auf, dann herrschte zumindest dort Ruhe.

„Safe!“, klang eine raue Männerstimme auf. Hm. Die zehn Elite-Soldaten hatten es geschafft. Der Biocomputer und seine Energieversorgung waren fest in ihrer Hand. Nun lag es an ihnen, was sie daraus machten.

„Tweety, Tweety, Tweety“, sagte Gina ruhig und deutlich. Nichts war schlimmer als eine Funkdurchsage, die gestört und dann auch noch undeutlich gesprochen war.

Sekunden darauf zogen schwer bewaffnete Kampfhubschrauber über die Bäume hinweg und beharkten das Gelände. Es waren nur Warnschüsse, aber für Gina in ihrer exponierten Logenstellung wirkte es, als würde sich die sichtbare Welt in die Hölle auf Erden verwandeln.

„Dies ist die erste und letzte Warnung! Kronosische Truppen, ergeben Sie sich! Sie haben keine Chance!“, erklang es aus dem Lautsprechersystem eines Kampfhubschraubers. Um diese Worte zu unterstreichen feuerten die Helis erneut Salven über das Gelände.

Als die ersten Waffen zu Boden fielen und die Hände sich gen Himmel reckten, musste die Italienerin grinsen. Nie hätte sie es sich träumen lassen, selbst einmal gegen die Kronosier zu kämpfen. Und dann auch noch zu gewinnen.

„Safe“, erklang die Stimme des Chefs der Hubschrauberstaffel in ihrem Funk auf.

„Roger. Wir ziehen die Techniker nach.“

„Roger.“

Langsam erhob sich Gina und klopfte ihre Tarnbekleidung sauber. Immerhin, ihr Trupp hatte die halbe Strecke bis zum Zentralgebäude bewältigt, bevor die Hubschrauber die Freigabe bekommen hatten. Das war für eine Köchin doch wirklich keine schlechte Leistung.

„Wir verstärken die Besetzung des Biocomputers. Treibt die Gefangenen zusammen, durchsucht sie und ordert weitere Verstärkung heran. Die Mediziner können jetzt ebenfalls kommen.“

„Roger!“

Über ihr erfüllte das dumpfe Wummern von einem Dutzend Rotoren die Luft, als weitere Kampfhubschrauber und Transporter das Gelände erreichten.

Erleichtert und zufrieden ging sie auf das Zentralgebäude zu. Nun konnte nichts mehr passieren.

Das dachte sie zumindest, bis vor ihren Füßen die Erde aufspritzte. Sofort warf sie sich in die nächste Deckung, eine kleine Bodenwelle und zog ihre Waffe wieder. Ais Reflexe hatten hervorragend gegriffen, und noch während Gina versuchte sich vom Schreck zu erholen hatte Corinne bereits übernommen und feuerte mit der schweren Dienstwaffe gezielte Schüsse auf den Sparrow ab, der sie unter Feuer genommen hatte.

Genauer gesagt griffen nun mehrere Mechas in den Kampf ein, drängten die Hubschrauber ab und zwangen die Infanteristen in Deckung. Mechas gegen Hubschrauber und Infanterie, das war ein ungleiches Rennen, das sehr schnell weh tun konnte.

Nun landete ein riesiger Mecha mitten auf dem Hauptgebäude und brach durch die Decke. Gina ging ein schmerzhafter Stich durchs Herz, während Corinne Todesängste um ihren Körper ausstand. Einzig Ai reagierte folgerichtig, ließ Gina aufspringen und auf das Gebäude zulaufen. Die Geschossgarben, die links und rechts von ihr weiter die Erde aufrissen ignorierte sie. Wenn man sie hätte töten wollen, dann hätte man das längst getan.

„Casoli hier! Bericht!“

„Es ist ein Stars and Stripes, Ma´am! Er bricht durch die Wände und hält direkt auf den Biocomputer zu! Wir sind nicht dafür ausgerüstet, und die Hubschrauber können die schweren Waffen nicht einsetzen, solange noch Menschen im Gebäude sind! Jetzt erkenne ich es, der Mecha ergreift einen der Tanks! Darin befindet sich eine junge Frau mit schwarzen Haaren und dunkler Haut, arabischer Typ! Er reißt die Verbindungsleitungen ab und nimmt den Tank auf!“

„Arabischer Typ?“

„Arabischer Typ. Ich stamme aus Algerien, schon vergessen? Da haben viele Leute französische Namen. Und viele Leute haben etwas gegen Franzosen, was es einem leicht macht, bei Organisationen wie den Kronosiern unterzukommen“, antwortete Corinne. Neben den Worten, die in Ginas Innerstem hallten, schwappte eine Welle der Angst über die drei herein, ausgehend von der Agentin. Angst um ihren Körper.

„Er startet! Ich wiederhole, er startet!“

„Nein, nein, nein, nein, nein!“ Gina beschleunigte ihre Schritte, und die hundert Meter erschienen ihr plötzlich hunderttausend zu sein, während der Stars and Stripe sich aufrichtete, den Biotank in den Händen, und Schub auf seine Düsen gab.

Zivilisten und Soldaten rannten und sprangen aus dem Gebäude hinaus, einige sogar durch Fenster, um nicht von der Feuerlohe der Düsen auf engstem Raum verbrannt zu werden. Diese Lohe zuckte ihnen prompt hinterher, und der gigantische amerikanische Mecha startete mit seiner Last.

Die Hubschrauber, die ihn daraufhin unter Feuer nahmen, wurden vermehrt von den Sparrows bedrängt.

Gina kam am Fuß des Gebäudes zu stehen und sah dabei zu, wie der Mecha Höhe gewann. Auch sie war verzweifelt. Das war ihre Chance gewesen, das war Corinnes Chance gewesen.

Hätte man das konfuse Innenleben in ihrem Kopf in Bilder fassen sollen, dann hätte man sicherlich gerade diese Szene gesehen. Eine Gina Casoli, die mit wütenden Augen dem Mecha hinterher sah, eine Corinne Vaslot, die verzweifelt zwischen dem Biotank und den anderen beiden Frauen hin- und herblickte und eine Ai Yamagata, die zuerst, stutzte, dann traurig lächelte und die Algerierin schließlich in die Arme nahm. „Nun geh schon. Wir werden dich finden, versprochen.“

Man hätte gesehen, wie auch Gina herantrat, ebenfalls Corinne umarmte und ihr anschließend burschikos wie sie war kräftig auf die Schulter klopfte. „Wir haben dich wieder bei uns, so schnell kannst du gar nicht gucken!“

Und man hätte Corinne selbst gesehen, wie sie mit Schmerz im Blick stumm Abschied von den beiden genommen hätte, sich umgewandt hätte, und dem Stars and Stripes hinterher gesprungen wäre.

Dies war der finale Moment für das Trio Ai, Corinne und Gina. In diesem entscheidenden Moment verließ das in KI gebündelte Bewusstsein der jungen Frau den Körper der Italienerin, raste wie von einem unsichtbaren Kabel gezogen zum Biotank hinauf und fuhr in ihren verwaisten Körper. Nur Augenblicke später öffnete Corinne zum ersten Mal seit fast zwei Jahren ihre eigenen Augen, sah auf die Anlage herab und erkannte die einsam am Gebäude stehende Frau wieder, die mit tränenden Augen zu ihr hoch sah. Gina.

Sekunden später war der Mecha bereits zu hoch, um Details zu erkennen.
 

Unten am Boden hingegen blieb keine Zeit zum trauern. Auf den ersten Blick war es nicht zu Verlusten gekommen, keiner der Hubschrauber abgeschossen worden. Aber erst eine genaue Untersuchung des halb zerstörten Gebäudes würde die Wahrheit ans Licht bringen. Vor allem um die Menschen in den Biotanks machte sich Gina Sorgen.

„Die Sanitäter“, sagte sie mit tonloser, trockener Stimme, die irgendwie nicht ihr gehörte, „können jetzt landen. Sie werden sicherlich dringend gebraucht.“
 

3.

Gordon Scott, Vorsitzender des neuen Legats, fuhr für einen Moment überrascht zurück, als er erkannte, nicht der einzige im Ratsraum zu sein. Aber dann fing er sich und ging zu der einsamen Gestalt, die an einem der Ostfenster stand und mit einem Drink in der Hand die Skyline von Manhattan betrachtete.

„Woran denken Sie, Michael Fioran?“

Der Angesprochene wandte sich dem Neuankömmling zu und lächelte dünn. „An viele Dinge, Erster Legat Scott. An viele Dinge. Zum Beispiel daran, dass der Präsident dieses Landes gerade all das zerschlägt, was die UEMF in all den Jahren aufgebaut hat. Oder dass der Legat immer noch über genügend militärische Mittel verfügt, um einen eigenen Kontinent zu erobern.

Oder daran, wie die UEMF nach und nach zerfällt.

Oder daran, dass meine Enkelin in diesem Moment mit dem Tod kämpft.“

Es war selten für Scott, dass er Gefühle zeigte. Aber was Kinder anging war er schon immer nachgiebig gewesen, geradezu weich. Das hatte ihn als einen der allerersten Daishi-Piloten nicht daran gehindert, in einer dicht besiedelten Stadt zu kämpfen. Oh nein, sicher nicht. Aber er hatte auch nicht gerade absichtlich auf Schulen geschossen, wie es manche dieser Psychopathen getan hatten, die es irgendwann in ihre Reihen geschafft hatten. Sie waren bevorzugte Ziele von Blue Lightning gewesen und soweit Scott wusste, hatte nicht einer bis zum heutigen Tag überlebt.

Außerdem ging auf seine Initiative die Gründung von Schulen in Martian City zurück. Kampfschulen, Technikschulen, Schulen für Allgemeinbildung. Wenngleich der Legat untereinander stets zerstritten und in Machtkämpfe verstrickt war, so hatten doch alle eingesehen, dass es ihnen das Genick brechen würde, wenn ihre Leute in den Daishis und Schiffen nicht wussten was sie taten. Und da die Pläne der Kronosier längerfristig waren, war es die richtige Entscheidung gewesen, bereits den Kindern eine gute Bildung als Grundlage mitzugeben.

Kurz und gut, in diesem Moment fühlte sich Gordon Scott in der Defensive. „Ich habe das nicht angeordnet, Michael. Bitte glauben Sie mir das.“

„Keine Sorge. Ich weiß, dass Sie es nicht waren, der meine Enkelin vergiftet hat.“

„Aber wenn es Sie beruhigt, werde ich die Täter suchen lassen. Ich meine, jetzt wo Sie dem Legat angehören, Michael, habe ich auch für Sie zu sorgen, oder?“

„Bemühen Sie sich nicht, Erster Legat. Ich weiß sowohl welches Gift verwendet wurde als auch wer es angesetzt hat. Und ich weiß auch in wessen Auftrag es verabreicht wurde.“ Michael sah dem Legaten in die Augen. „Ich habe es befohlen, Erster Legat. Ich bin gerade dabei, meine Enkelin umzubringen.“

Diese Eröffnung machte Legat Scott fassungslos. Bestürzt sah er den Groß-Industriellen an. „Was? Aber… Aber… Aber… Michael, wieso? Sie ist Ihre Enkelin, Ihr eigenes Fleisch und Blut!“

„Es muss sein“, murmelte Michael Berger ernst und sah auf die Uhr. „Sie hat nur noch drei Stunden zu leiden.“

Scott sah den Mann an und hatte das dringende Bedürfnis auszuspucken. „Als wir noch Krieg geführt haben, da fürchtete ich mich vor jedem Einsatz vor Blue Lightning, aber ich hatte auch Respekt vor ihm, weil er ein erfahrener Mecha-Pilot und ein großartiger dazu war.

Aber vor Ihnen, Michael, habe ich Angst. Was sind Sie nur für ein Mensch?“

„Sie vergessen da ein wesentliches Detail, junger Mann. Ich bin kein Mensch. Ich bin ein Naguad. Genauer gesagt, ich bin ein Daina.“

„Und das berechtigt Sie dazu, Ihre eigene Enkelin zu töten?“

„Es ist für die Rettung der Welt“, erwiderte der Mann tonlos, und für einen Moment, einen winzigen Moment glaubte Scott zu verstehen. Er sah hinaus auf die Skyline und brummte: „Ich vergebe Ihnen.“

***

Da standen sie nun, seit fünf Stunden schon, und absorbierten KI, dass von Yohko noch immer in Massen produziert wurde. Der ganze Raum leuchtete irrlichternd in tausenden Farbschattierungen, und das freiwerdende KI verursachte Spukphänomene im gesamten Krankenhaus. „Doitsu, es ist genug! Du bist fertig. Ruhe dich etwas aus!“, sagte Hina scharf.

„Ich kann noch. Lass mich noch zehn Minuten hier stehen“, erwiderte der Yakuza trotzig.

„Ich leite diese Aktion, schon vergessen? Akane, lös ihn ab!“

Akane Kurosawa trat in den Raum und stellte sich neben Doitsu. Als ihre Hand Yohkos immense Aura berührte, löste Doitsu seine von ihrem Körper. Frustriert und vollkommen durchgeschwitzt verließ er das Behandlungszimmer.

Ein Fluch lag auf seinen Lippen, der aber nicht seine Freundin betraf, sondern seine mangelnde Kondition. „Wenn doch nur Akira hier wäre.“

„So etwas darfst du nicht sagen. Wir schaffen es auch so“, sagte Sakura. Sie hatte ebenfalls ihre Zeit neben dem Bett gestanden und war als erste vor Erschöpfung zusammengebrochen. Deshalb hatte Hina das Kommando an sich gerissen und führte die Aktion nun an. Sie war eben doch die geborene Anführerin und vor allem beherrschte sie ihr eigenes KI perfekt.

„Geht es dir gut?“, fragte Doitsu die Admirälin.

„Eine Dusche wirkt wahre Wunder“, erwiderte sie. „Solltest du vielleicht auch mal probieren.“ Sie reichte ihm einen Kaffee und bedeutete ihm, sich neben sie zu setzen.

Dankbar nahm er das Koffeinhaltige Getränk entgegen und ließ sich auf den Stuhl fallen. „Danke. Das macht mich hoffentlich fit für die nächste Sitzung.“

„Wie steht es um sie? Du bist direkt in ihrer Aura gewesen. Du musst es wissen.“

Augenblicklich hatte er die Aufmerksamkeit der anderen Anwesenden. Jener, die darauf warteten, einen der KI-Meister am Bett ablösen zu müssen und jener, die einfach aus tiefer Sorge her gekommen waren.

Doitsu ließ den Kopf sinken. „Sie produziert minütlich mehr und mehr KI. Wenn das so weitergeht, dann zehrt sie sich auf, künstliche Ernährung hin oder her.“

Ein erschrockenes Raunen ging durch den Raum.

„Es tut mir Leid, aber ich will nicht lügen.“

Verzweifelt beugte er sich vor, die Hände vor dem Gesicht gefaltet. „Oh, verdammt, Yohko. Was soll ich nur Akira sagen?“

„Noch ist sie nicht tot!“, mahnte Joan Reilley eindringlich. „Noch lange nicht! Und wir geben auch nicht auf! Wir werden Futabe-sensei finden, und dann wird alles wieder gut werden!“

Doitsu sah sie an und schüttelte den Kopf. „Selbst ein KI-Meister vom Kaliber Futabes kann ihr nicht mehr helfen. Es… Es geht zu schnell. Es ist zu stark. Sie entfaltet Kräfte, gegen die der Kampf zwischen Acati und Akira auf der AURORA ein Witz war. Sie…“ Kurz sah er durch die Sichtscheibe hinein. Torum Acati gab sein Bestes. Sein Gesicht war verzerrt vor Anstrengung und Auszehrung, aber er forderte sich bis ans Limit. „Sie ist stärker als wir alle zusammen. Nicht einmal Kitsune oder Okame könnten sie jetzt noch aufhalten.“

***

Auf dem OLYMP ging alles seinen geregelten Gang. Wenn man einmal davon absah, dass die holographische Karte mit der politischen Gesinnung der einzelnen Staaten immer bedrohlicher von grün als Verbündete und blau als freundlich gesinnte zu rot wie feindlich wechselte.

Und wenn man einmal davon absah, dass die Ausrüstung der AURORA auf Hochtouren lief. Derzeit beteiligten sich nur Firmen unter Eikichis und Michaels Kontrolle an dieser Ausrüstung, um dem UEMF-Rat keine Handhabe zu geben, den Start der Flotte erneut zu verschieben. Selbstverständlich lieferten die Firmen unentgeltlich, was zumindest einer Diskussion über Vetternwirtschaft vorbeugte. Andererseits war diese Anstrengung für diese wenigen Unternehmen kaum zu meistern, und viele würden ihre Spitzenpositionen auf Jahre hinaus einbüßen, sobald die AURORA abflog. Eikichi nahm das wissentlich in Kauf.

Was er allerdings nicht akzeptierte, das war die Nachricht mit dem Anschlag auf seine Tochter. Er hatte bereits einmal geglaubt, sie verloren zu haben. Und dann hatten die Kronosier sie umprogrammiert, ihr die Elwenfelt-Gene verpasst und sie mit einer riesigen Bombe auf dem Rücken ihres Mechas auf eine Selbstmordmission geschickt.

Wenn Akira damals nicht, nun, Akira gewesen wäre, hätte er wenigstens beim Tod seiner eigenen Schwester zugesehen, sie vielleicht selbst getötet. So aber war sie gerettet worden. Und nun rang sie mit dem Tod, weil jemand ihr KI mit einem exotischen Medikament auf Hochtouren gedreht hatte.

„Gibt es immer noch keine Spur von ihm, Tate?“

Der Angesprochene, mittlerweile Chef des UEMF-Geheimdienst, räusperte sich verlegen. „Es tut mir Leid, Eikichi, aber es gibt weiterhin keine Spur von Futabe-sensei.“ Tatewaki Hatake senkte betreten den Kopf. „Aber ich bezweifle, dass er einen Unterschied machen würde. Vergiss nicht, was Sakura-chan berichtet hat. Yohko entfaltet da unten Energien, die eine Stadt versorgen könnten.“

„Das ist so nicht ganz richtig“, brummte Eikichi. „Weißt du überhaupt, was KI ist, mein alter Freund?“

„Eine Energie, die im Körper zirkuliert, ähnlich wie Blut.“

„Und die Sonne ist ein großer Glutball in zweihundert Millionen Kilometern Entfernung.“

Beschämt senkte der Geheimdienstchef den Kopf. Er hatte durchaus verstanden, was Eikichi Otomo ihm damit sagen wollte.

„Ich muss ein wenig ausholen, damit du verstehst, worum es wirklich geht. Unsere phänomenalen KI-Meister und ihr Einsatz als lebendige Waffen, es ist alles etwas… Nun, komplex und nicht ganz Sinn der Sache.

Zuerst einmal, KI gibt es überall. Ich kann dir nicht sagen, wer es zuerst so benannt hat oder wer es entdeckt hat, aber KI ist eine Eigenschaft, die alle lebenden Dinge haben. Die alle existierenden Dinge haben. Blumen, Tiere, Felsen, Menschen, ja, die gesamte Erde, alles hat KI.“ Eikichi fühlte, wie er bei seinem Monolog ruhiger wurde, gefasster, und fuhr dankbar fort. „KI besteht aus zwei Komponenten, Yin und Yang. Die beiden werden wie folgt umschrieben: Schwach und stark, böse und gut, schwarz und weiß. Du verstehst?“

„Ich denke schon.“

„Aber auch das sind nur Umschreibungen, Verbrämungen, die sich mit der Zeit etabliert haben. Vergleiche es am besten mit der griechischen Legende um Herkules. Einst war es ein Mann, der eine griechische Expedition in das damalige Indien geführt hat. Dreitausend Jahre später war aus ihm ein Halbgott geworden, und seine Taten waren als Legenden verbrämt worden.“

„Auch das verstehe ich noch.“

„Um aber Yin und Yang begreifen zu können musst du nicht wissen was sie sind. Und was letztendlich das KI ist. Du musst es nur erkennen und benutzen können.“

„Muss ich mir eigentlich Notizen machen, Herr Lehrer?“

„Nein, aber du solltest besser nicht vergessen, was ich dir gerade beibringe, Tate“, erwiderte Eikichi mit einem Schmunzeln. „Über was verfügt unser Körper, abgesehen von Wärme, dem Blutkreislauf, den inneren und äußeren Organen, einem leistungsfähigen Gehirn und einem ebenso leistungsfähigen Netz synaptischer Verbindungen im Verdauungstrakt?“

„Hm. Wenn du mich so fragst, eine eigene Elektrik.“

Eikichi warf den Geheimdienstmann einen bewundernden Blick zu, der diesem durch und durch ging. „Ich habe Recht? Aber das würde ja bedeuten, dass… Eikichi, erzähl mir nicht, das KI etwas mit dem körpereigenen elektromagnetischen Feld zu tun hat! Aber das würde bedeuten, dass positive und negative Aufladung, die erst den Fluss bildet, die… Es würde Sinn machen.“

„Du sagst es. Positive Aufladung, negative Aufladung, körpereigene elektromagnetische Felder, all das ist Teil des Ganzen. Jedes lebende Ding und viele tote Objekte haben elektromagnetische Felder. Die ganze Erde hat ein riesiges elektromagnetisches Feld. All das ist KI. Atemberaubend viel KI.“

„Das… ist ein beeindruckender Gedanke. Nein, atemberaubend und fast schon betäubend. Aber bedeutet das nicht, dass die Gaia-Theoretiker Recht haben und die ganze Erde ein beseelter Organismus ist?“

„Nun mal langsam mit den jungen Pferden“, erwiderte Eikichi schmunzelnd. „Dieses gigantische KI-Feld hat natürlich kein eigenes Bewusstsein, geschweige denn einen eigenen Instinkt. Es existiert nur, und das ist vielleicht der Grund, warum überhaupt erst Leben möglich war. Aber das führt schon zu weit.

Jedenfalls ist die Fähigkeit, eine Waffe mit KI zu verstärken oder sogar eine massive Rüstung aus KI zu erschaffen nichts weiter als eine Spielerei, eine Manipulation der Umgebung, der elektromagnetischen Felder. Nun, es steckt noch etwas mehr dahinter, aber auch das würde zu weit führen.“

„Ich verstehe trotzdem. Und ich verstehe auch, dass nicht automatisch jeder Mensch perfekte Kontrolle über sein KI hat. Die meisten wissen nicht einmal dass es existiert. Aber manche scheinen es instinktiv zu wissen, oder? Wenn ich mir den jungen Futabe so ansehe, oder deinen Sohn Akira…“

„Akira.“ Eikichi seufzte. „Weißt du, dass ich als KI-Meister lausig bin? Ich habe kaum genügend Kontrolle über mein eigenes KI, um mein eigenes Leben zu verlängern. Das ist die niedrigste Stufe der Fertigkeit, die ein KI-Meister erreichen kann. Akira hingegen überflügelt mich in dieser Hinsicht wie eine Rakete einen Papierflieger. Und wenn ich an seine Großeltern Michael und Eri denke, die beide die herausragensten KI-Meister sind, die diese Welt je gesehen hat, dann verstehe ich, warum ihm eine derartige KI-Beherrschung in die Wiege gelegt wurde. Das Wissen und die Fähigkeit, mittels Yin und Yang in perfektem Gleichgewicht KI zu schmieden muss für meinen Jungen so selbstverständlich sein wie atmen. Yin und Yang zu produzieren, auszubalancieren und daraus eine Kraft im Einklang mit sich selbst zu erschaffen, die er dann nach belieben manipulieren kann, das ist eine Eigenschaft, die ihm seine Großeltern mitgegeben haben. Meine Eltern waren da eher unbegabt, und wenn ich nicht selbst in jüngsten Jahren bei Meister Futabe studiert hätte, dann wüsste ich nicht einmal, wie man einfache Wunden heilt, oder sein Leben verlängert. Aber Akira ist einen Schritt weiter. Er absorbiert KI oder Yin und Yang direkt aus seiner Umgebung und schmiedet sie in seinem Zentrum zu eigenem KI, um es sodann zu verwenden. Als er gegen Torum Acati gekämpft hat, verursachte die Reibung der beiden KI-Schilde, dass sich der Boden unter ihnen auflöste. So sah es zumindest aus, und das ist nicht die ganze Wahrheit. Nein, es war schlimmer, viel schlimmer. Akira und Torum haben KI aus ihrer direkten Umgebung absorbiert. Diese Fähigkeit ist bei ihnen derart stark ausgeprägt, dass sie die winzigen elektromagnetischen Felder des Gesteins absorbiert haben. Dabei zerstörten sie auch die groben molekularen Strukturen. Und ich bin mir immer noch nicht sicher, ob sie nicht sogar die atomare Bindung von Protronen, Elektronen und Neutronen zerstört haben.“

„Erschreckend.“ Tatewaki Hatake schüttelte sich, wie um einen unangenehmen Gedanken los zu werden. „Das alles wirft aber eine wichtige Frage auf.“

„Ich denke, ich kenne sie schon, weil ich sie mir selbst bereits gestellt habe.“

„Das glaube ich auch. Wenn Akira ein so mächtiger KI-Meister ist, warum ist Yohko das nicht auch? Abgesehen davon, dass sie ein Mädchen ist, ist die Genetik der beiden Geschwister nahezu identisch. Außerdem hast du sicher nicht nur Akira von Futabe-Sensei unterrichten lassen, sondern auch Yohko, als sie ebenfalls in einen Kampfroboter geklettert ist.“

„Ja, das habe ich natürlich. Und sie hatte auch eine gute Affinität zu ihrem eigenen KI. Aber es sah nicht wirklich danach aus, als würde sie sich zur ultimativen KI-Meisterin weiter entwickeln. Und nachdem sie vom Mars zurückkam, waren ihre Fähigkeiten mit dem KI wie fort geblasen. Es hat mich nie wirklich gestört, aber jetzt wünsche ich mir… Jetzt wünsche ich mir, sie hätte damals gelernt mit dieser Kraft umzugehen. Dann würde sie jetzt nicht von ihr ausgezehrt und aufgefressen werden.“ Wütend ballte der große Japaner die Hände zu Fäusten.

„Bleibt uns dann überhaupt noch eine Hoffnung?“, fragte Tatewaki resigniert. „Was ist mit Kitsune-sama? Okame-sama? Oder mit Dai-Kuzo-sama selbst?“

„Was mit Kitsune und dem Wolf ist weiß ich nicht. Sie sind seit Tagen verschwunden. Wahrscheinlich halten sie sich in der Dämonenwelt auf. Und Dai-Kuzo wird erst dann in Erscheinung treten, wenn ein Ereignis in dieser Welt sie interessiert. Nicht früher und nicht später.“

„Aber es geht um deine Tochter! Als alte Freundin wird sie doch…“

„Du musst das verstehen“, erwiderte Eikichi mit einem vollkommen missglückten Lächeln, „Die Dämonenherrin ist fünftausend Jahre alt. Selbst die langlebigen Naguad und wir KI-Meister sind für sie nicht mehr als neu geborene Kinder. Spielkameraden bestenfalls. Yohkos Leben ist für sie nur ein Wimpernschlag. Und genauso interessant ist es für sie, vor allem da Akiras Existenz all ihre Aufmerksamkeit vereinnahmt.

Wenn ich es hätte tun können, dann hätte ich sie längst gebeten, Yohko zu helfen. Und wenn der Preis mein eigenes Leben gewesen wäre.“ Wieder ballte Eikichi die Hände zu Fäusten, aber es brachte ihm keine Erleichterung.

„Dann haben wir also doch eine Hoffnung? Dass Dai-Kuzo genügend Interesse an Yohko entwickelt, um selbst einzugreifen?“

„Hätte sie dieses Interesse, dann wären Kitsune und Okame sicherlich bei Yohko oder wenigstens auf dieser Station“, schloss der Executive Commander der UEMF. Langsam schloss er die Augen und zerdrückte dabei eine einsame Träne. Ein Kind einmal sterben zu lassen war schlecht. Aber zweimal war eine Hölle, die er niemandem wünschte, der auch Vater war.
 

4.

Ich merkte gar nicht, dass ich pfiff. Das war nichts Ungewöhnliches. Menschen taten oft Dinge in Gedanken, die sie nicht wirklich bemerkten. Aber in diesem Moment hatte ich so gute Laune wie lange nicht. Es war ein atemberaubendes Gefühl von einem Moment zum anderen eine derartige Machtfülle sein eigen zu nennen und kontrollieren zu können.

„Wie nennt ihr Terraner diese Melodie?“, erklang eine ernste Stimme hinter mir.

Ich brach ab, wandte mich um. „Es ist ein Stück aus einer Oper. Die Königin der Nacht. Ich treffe die hohen Töne nicht, aber ab und an macht es mir eine diebische Freude es zu pfeifen.“

Mein Gegenüber, einer der hohen Offiziere, keine Drohne, sah mich verwundert an. „Was nützt es, die Melodie zu wiederholen, wenn du sie nicht beherrschst? Ihr Terraner seid ein merkwürdiges Volk.“

Ich seufzte. „Was führt dich zu mir, Orag Taresi, außer dass du meinen Sinn für Musik kritisierst?“

Der Offizier steckte natürlich in einem Offiziersrobotkörper. Im Gegensatz zu mir und Maltran Choaster riskierte er nicht seinen natürlichen Körper. Nun, in meinem Fall nicht MEIN natürlicher Körper. Aber ich konnte Taresi schlecht kritisieren. Die Offiziersdrohnen zu verwenden, um das eigene AO aufzunehmen war bei ihnen gang und gebe, ein kultureller Aspekt. Außerdem besaßen viele Puristen längst keinen eigenen Körper mehr, konnten nur noch auf ein Gehirn zurückgreifen. Ich hatte mir sagen lassen, dass die Bewohner des Paradieses noch immer diesen Brocken organischer Masse brauchten, um ihr AO in dieser Welt zu halten. Im Klartext, wenn diese Gehirne vernichtet wurden, dann erlosch ihr AO.

Ein Schauder ging durch meinen Körper, als ich daran dachte. Meine mir persönlich unbekannte Urgroßmutter hatte einst auf einer Core-Welt Iovar aus Tanks befreien lassen – und anschließend die Tanks mit den Gehirnen zerstören lassen. Sie wusste nicht, was sie damit angerichtet hatte. Für sie war es ein Akt der Gnade gewesen, aber in Wirklichkeit hatte sie friedliche, erfüllte Leben ausgelöscht. Nun, es hatte ihr niemand gesagt.

Ein Grund, warum ich diesem hier Kredit gewährte. Mehr Kredit als meinen eigentlichen Offizieren bei den Hekatoncheiren.

„Ich bin nicht hier um mit dir über akustische Lautfolgen zu streiten, Akira Otomo. Mein Weg führt mich dienstlich zu dir.“ Er sah auf. Dann hoch. „Aber ehrlich gesagt wundert es mich schon, was du hier machst. Wir haben Drohnen für diese Arbeit, wie du weißt.“

„Drohnen, pah. Ein guter Freund hat mir mal gesagt, dass jeder gute Pilot die wichtigsten Reparaturen und Wartungen an seinem Mecha wenigstens einmal selbst ausgeführt haben sollte.“ Ich sah nun ebenfalls hoch und bestaunte einen knallroten Banges. Meinen Banges, nicht das neueste oder beste Modell, aber dieser hier erinnerte mich sehr an den Daishi Beta, der mir als Primus so lange Zeit treu gedient hatte. Dieser hier vermittelte mir fast ein ähnliches Gefühl wie jene Sensation, wenn ich Primus berührt hatte. „Man kann ja nie wissen, wann man mal auf einem einsamen Planeten notlandet und einige wichtige und lebensrettende Reparaturen durchführen muss.“

„Wenn unser Oberbefehlshaber in einen Kampf eingreifen muss und zudem abgeschossen wird, dann sollte ich mein Offizierspatent wegen Unfähigkeit zurückgeben“, schloss Taresi ernst.

„Schon gut“, unterbrach ich ihn mit einem Seufzer. „Was gibt es denn so wichtiges?“

Der Mann im Leib eines Offiziersdroiden sah mich eindringlich an. „Ist er… Da drin?“

„Wenn du Laysan meinst, ja, der ist ungefähr hier. Er schläft einen friedlichen Schlaf mit einem schönen Traum.“

„Hat es einen tieferen Sinn, warum du ein halbwüchsiges Kind in dieses Abenteuer zerrst?“

„Hat es einen tieferen Sinn, warum ich in seinem Körper aus dem Nag-System geschmuggelt wurde und er nun vor einem ungewissen Schicksal steht?“, konterte ich trocken.

Wir maßen uns ein paar kurze Momente mit Blicken. Schließlich meinte Taresi: „Ich sehe, du hast Pläne mit ihm. Nun, das ist deine Sache. Es steht mir nicht zu, diesen Aspekt deiner Arbeit zu bewerten oder zu verurteilen, auch wenn ich es gerne wollte.“ Er räusperte sich. Angesichts des Androidenleibs eine vollkommen überflüssige Geste. „Du sollst auf die Brücke kommen. Wir fliegen gleich in kaiserliches Territorium ein.“

Bedauernd warf ich dem roten Banges einen Blick zu. „Ich bin unterwegs.“
 

„Akira!“ Maltran Choaster wandte sich freudestrahlend zu mir um. Ja, richtig, freudestrahlend. Der Bengel hatte mich tief und innig ins Herz geschlossen. Wobei, Bengel war das falsche Wort. Immerhin war dieser Mann schon gut dreitausend terranische Jahre alt. Aber vom Wesen und Gemüt her war er freundlich, unbeschwert und wirklich bestenfalls in einem geistigen Alter von fünfundzwanzig.

„Was gibt es, Maltran?“

„Wir erreichen nun die Grenze zum Kaiserreich. Das Coram-System ist ihre äußerste Verteidigungslinie zum von uns kontrollierten Gebiet. Sie wissen natürlich nicht, welche Welten wir bewohnen und verteidigen. Aber ab hier laufen sie Gefahr, auf unsere Patrouillen zu treffen. Die meisten Vorstöße erfolgen über die neunzehn Planeten dieses Systems.“

„Aha. Haben wir Späher vor Ort oder springen wir ins Blaue?“

„Wir kommen auf der Höhe von Coramundi heraus. Das ist der zwölfte Planet, ein Gasriese. Wir verstecken uns normalerweise in seinen gravitatorischen Schockfronten, wenn wir das System betreten wollen. Das klappt natürlich nur, wenn wir aus der richtigen Richtung kommen.“

„Schon klar. Kein Planet, keine heimliche Ankunft. Aber das beantwortet meine Frage nicht.“

„Nein, wir haben keine Späher im System. Kennst du das Prinzip, dass man schlafende Wächter nicht wecken sollte? Eine Infiltration wird uns nur unnötig erschwert, wenn das Kaiserreich hier zu sehr aufpasst.“

„Verstehe. Und warum hat diesmal niemand einen Späher ausgeschickt? Immerhin springen wir hier mitten ins Blaue.“

„Weil deine Aktion recht herzhaft und flink vom Zaun gebrochen wurde. Mein lieber Akira, wir hatten kaum Zeit, um alles vorzubereiten. Da hat niemand dran gedacht, ein wenig Fleißarbeit zu machen. Abgesehen davon bist du hier um die Iovar etwas zu fragen, oder? Nicht um mit ihnen einen Krieg anzufangen“, tadelte Maltran selbstsicher.“

„Schon gut. Springen wir also in Blaue. Unseren Krieg kriegen wir sowieso noch früh genug.“

Choaster zeigte auf einen Kontursessel neben sich. Ich nickte und schnallte mich auf ihm an. Auch wenn ich defacto eine KI-Rüstung trug, war es vortrefflicher Leichtsinn, die einfachsten Sicherheitsvorkehrungen nicht zu beachten.

„Rücksturz in fünf… Drei… Eins… Rücksturz.“
 

Unser Kommandoschiff verließ das Wurmloch und schwang als erstes von zweitausend Raiderschiffen in den Orbit um den fremden Riesenplaneten ein. Natürlich kamen wir aus einer Richtung, die es uns erlaubte, seinen Ortungsschatten zu benutzen, der Core hatte keine Idioten in seinen Rängen. Oder jedenfalls nicht allzu viele.

In kosmischen Belangen waren diese zweitausend Raider aber nur ein wenig Fliegenschiss auf dem Brüsseler Atomium, gerade im Deckschatten des Gasriesen Coramundi, der nach meiner ersten vorsichtigen Schätzung in etwa doppelt so groß wie unser Jupiter war.

„Explosion gemeldet“, kam es trocken, sehr trocken vom Offizier der Ortungsanlagen.

„Zustand der Flotte!“, blaffte Maltran.

„Flotte ist unversehrt.“

„Explosion deklarieren!“

„Großkalibrige Explosion auf Fusionsbasis.“

Ich wechselte mit Maltran Choaster einen ernsten Blick. „Haben wir doch Schiffe in der Gegend? Und werden diese gerade gejagt?“

„Wenn es unsere Schiffe sind, habe ich sie nicht herbefohlen. Wir verlassen die Umlaufbahn von Contramundi, um ein besseres Ortungsbild zu erhalten. Zwanzig Raider sollen uns begleiten.

Ist ja ein toller Anfang für eine diplomatische Mission.“

Ich spürte, wie meine Hände zu kribbeln begannen. Unsere ursprüngliche Idee hatte vorgesehen – okay, okay, MEINE ursprüngliche Idee – ganz hochoffiziell ins Staatsgebiet des Kaiserreichs einzufliegen und um Erlaubnis zur Weiterreise zum kaiserlichen Hof auf Iotan zu bitten. Das ganze natürlich unter dem Wimpel einer diplomatischen Mission. Hatten mir zweitausend Begleitschiffe, unter ihnen achtzehn Offiziersschiffe, bis dato Kopfschmerzen bereitet, so ahnte ich jetzt, dass es nicht das Dümmste war sie mitgenommen zu haben.

„Ortung! Schlachtkreuzer, Maven-Klasse, kommt auf Fluchtkurs schnell um den Planeten herum. Schlachtkreuzer wird verfolgt. Verfolger sind drei Zerstörer der Kolxar-Klasse, fünf Leichte Kreuzer der Liggarn-Klasse und zwei Schlachtkreuzer der Maven-Klasse. Fluchtkurs führt Schlachtkreuzer in zehn Stunden auf Fluchtpunkt, der es ihm erlaubt, aus dem System zu springen. Aber soviel Zeit wird er nicht haben.“

Mittlerweile gab ein Hologramm das Geschehen wieder. Die schlanken Schiffskeile wurden nicht ganz abstandsgetreu, aber recht detailliert wiedergegeben und zeigten unter anderem schweres Waffenfeuer, welches zwischen dem Verfolgten und den Verfolgern ausgetauscht wurde. Wieder erfolgte eine Explosion, welche als Schraffierung ins Hologramm eingebaut wurde.

„Breitbandfunk mit Bildsignal vom verfolgten Schiff, keine Chiffrierung.“

„Durchgeben auf Hauptschirm.“

Die Szenerie wechselte von der Ansicht der Raumschlacht zu einer, nun, hübschen, aber mit Blut verschmierten Offizierin, die in ihrem Kommandositz festgeschnallt war, während Rauch und versprühter Löschschaum ihr Bestes gaben, um die Sicht zu verschlechtern. Eine niedliche kleine Explosion entführte mich in Gedanken in einen wirklich schlechten B-Movie.

„An alle befreundeten Kräfte, hier spricht Leutnant Yuna Omaret Lencis! Admiral Gent Ohana Lencis ist gefallen, sein Flaggschiff LENCIS wurde zerstört! Ausgeführt haben dies die imperialen Streitkräfte, ohne eine Begründung zu liefern! Anschließend wurde auch die TOSSAN beschossen und schwer beschädigt. Kapitän Fogar Lylan Lencis und der Erste Offizier sind gefallen! Im Moment kommandiere ich die TOSSAN von der Zweitbrücke aus und versuche zu entkommen!“ Die junge Frau senkte den Blick, während hinter ihr Sanitäter Verletzte bargen und Informationen hin und her gebrüllt wurden. Als sie wieder aufsah, war der Blick ernst. „Ich hoffe, dass diese Information auf irgendeinem Weg ein verbündetes Schiff erreicht. Ich weiß nicht was passiert ist, aus welchem Grund unsere eigenen Streitkräfte uns angegriffen haben, aber es ist passiert und ich glaube nicht daran, dass die schwer beschädigte TOSSAN wirklich entkommen kann. Ich kann nur vermuten, dass der Kaiser sich letztendlich dazu entschlossen hat, eine Säuberung bei den Lencis durchzuführen, und wenn dem so ist, dann müssen all unsere Schiffe, unsere Offiziere, unsere Angehörigen dringend gewarnt werden, bevor die Säuberung auch sie erfasst! Ich… Ich befürchte, wir befinden uns ab jetzt in einem Bürgerkrieg. Zu schade, dass ich das Ende nicht mehr erleben werde. TOSSAN Ende.“

„Die Nachricht liegt jetzt auf Schleife und wird mit maximaler Sendekapazität ausgestrahlt. Die verfolgenden Schiffe versuchen den Sender zu stören. Nur weil wir relativ nahe am Geschehen sind, konnten wir eine so gute Übertragung empfangen.“

„Eine Säuberung?“ Nachdenklich strich sich Maltran über sein Kinn. „Das Kaiserreich ist ein absolutistisches Regime, mal mit einem guten, mal mit einem schlechten Anführer. Einer der Gründe, warum meine Vorfahren dieser Welt den Rücken gekehrt haben. Oder die Naguad. Säuberungen gegen Familien oder ganze Flotten gab es schon immer, aber in den letzten hunderten Jahren habe ich noch nicht davon gehört, dass der Kaiser es mit einer Familie von der Größe der Lencis aufgenommen hätte.“

Ich lachte leise. „Lencis, hm? Ich glaube, wir würden recht gut vor dem Kaiser dastehen, wenn wir ihm helfen, diese kleine Säuberung durchzuführen.“

„Akira, du wirst doch nicht ernsthaft…“

„Andererseits ist Blut dick, und Worte sind nur Schall und Rauch. Es scheint so, als wäre ich mit diesem Leutnant da verwandt. Wer weiß um wie viel Ecken. Aber wer sind wir schon, dass wir ein hübsches Mädchen in Raumnot in Stich lassen.“

„Oh nein, Akira, bitte sag mir nicht, dass du dich in einen internen Konflikt des Kaiserreichs einmischen willst! Akira, wir sind hier in diplomatischer Mission, nicht damit du den strahlenden Helden spielst!“

„Bring uns auf Abfangkurs. Ich war schon immer schlecht darin, Mädchen leiden zu sehen. Aber ich habe nicht vor, die anderen hübschen Mädchen an Bord der Verfolgerschiffe auszulöschen, wenn es sich vermeiden lässt.“

„Falls es hübsche Mädchen sind, und keine vertrockneten alten Männer“, wandte Maltran bissig ein.

„Zieh noch fünfzig weitere Raider nach, Maltran. Nur für den unmöglichen Fall, dass dieser unglaubliche Zufall eine Falle ist.“ Ich zwinkerte ihm zu. „Ich bin in meinem Banges. Bitte lege mir eine direkte Kommunikationsleitung rüber und lass die anderen Banges des Verbandes klar machen und gib den Befehl: Flotte klar zum Gefecht.“

„Na toll. Na toll. Die Herrin hat mich davor gewarnt, wenn in dir der strahlende Ritter durchbricht“, murmelte Maltran Choaster dumpf. Dann aber grinste er flüchtig. „Sie hat mir aber nicht gesagt, dass es so einen Riesenspaß machen würde. Geh ruhig spielen, ich habe hier alles im Griff.“

„Ich danke dir, mein Bester.“

„Wie bist du ohne mich nur jemals ausgekommen?“

Diese Antwort erheiterte mich. Aber sie bewies mir auch, dass ich den uralten Core-Admiral längst in mein Herz geschlossen hatte. Er, der mich ohne zu zögern akzeptiert hatte, obwohl ich nach seinen Maßstäben noch ein Kind war.
 

„Maltran“, sagte ich, als ich mich in meinem Banges anschnallte, „gib bitte folgende Botschaft an die TOSSAN durch: Aris Ohana Lencis kommt zur Unterstützung.“

„Korrigiere mich wenn ich mich irre, aber ist dein Zweitname nicht Arogad?“

„Ich habe viele Namen.“

„In meiner Gesellschaft gelten Leute mit vielen Namen als unentschlossen.“

„Und damit haben sie wahrscheinlich Recht. Nun sende es schon.“

„Du hast das Kommando“, brummte er. Und in diesen Worten hatte mehr gelegen als die Bestätigung eines Befehls.

***

Die Situation spitzte sich immer weiter zu. Die KI-Phänomene im Krankenhaus nahmen immer weiter zu, eine natürliche Elektrizität ließ allen Menschen in Reichweite die Haare zu Bergen stehen. Im wahrsten Sinne des Wortes war eine große Anspannung zu spüren. Dies ging soweit, dass Lichter brannten, obwohl sie von niemandem angeschaltet worden waren, diverse Elektrogeräte arbeiteten, Getränkeautomaten spuckten ihre Waren aus, in Wasserspendern schien die Flüssigkeit zu kochen und die Menschen gingen durch depressive und euphorische Phasen.

Im Zentrum dieser Aktivität lag ein junges Mädchen, das japste wie ein Kolibri auf dem Mount Everest und kurz davor stand, den Kampf gegen den übermäßigen Stress zu verlieren.

„Wir haben ihn!“, rief Sakura aufgeregt. „Futabe-sensei ist auf dem Weg hierher! Er wird mit einem Eagle per Orbitaltransit aus Tibet herüber gebracht! In einer Stunde kann er hier sein!“

„Er soll sich beeilen“, murmelte Makoto, Sekunden bevor er zusammenklappte wie ein Kartenhaus.

Sofort war Ami zur Stelle und nahm seinen Platz ein. Kei, der in dieser Gilde der Ki-Meister nicht wirklich etwas zu tun hatte, richtete den Freund wieder auf und half ihm in den Vorraum. „Willst du was trinken?“

„Was? Nein. Ich muss da wieder rein, ich muss…“

„Du kannst dich ja kaum auf den Beinen halten! Trink erstmal was!“

„Du verstehst das nicht! Yohko ist meine Schutzbefohlene! Und wenn ich mein Leben für ihres geben muss, ich…“

Joans Hand legte sich sanft auf Makotos Wange. „Ist das wirklich dein Ernst, Makoto?“

„Du weißt wie sehr ich dich liebe“, sagte der junge Mann ernst. „Aber dies ist eine Pflicht wie die für einen Soldaten. Ich wurde mein Leben lang darauf trainiert, und ich habe bereits einmal dabei versagt, ihr das Leben zu retten. Ich…“

„Es ist in Ordnung. Ich verstehe dich. Wenn ich KI-Kräfte hätte, dann würde ich ebenfalls da drin sein und mein Leben wagen.“

Erleichtert und auch unendlich erschöpft legte Makoto sein Gesicht in Joans Hand. Kurz darauf sackte er weg, rutschte gegen sie und lag mit dem Kopf auf ihrem Busen.

Mit einem Blick, der tiefste Liebe und Wärme ausdrückte, schloss sie ihn in die Arme. „Erhole dich gut, mein tapferer Makoto.“ Ein paar einsame Tränen flossen ihre Wangen hinab und landeten auf seinem Gesicht. „Oh, verdammt, was sollen wir nur Akira sagen?“

„Noch ist sie nicht tot“, stellte Kei trotzig fest. „Und die KI-Meister kämpfen jede Sekunde darum, damit sie gerettet werden kann! Nicht um den Tod hinauszuzögern, sondern um sie aus dieser Hölle zu holen.“

Joan drückte Makoto noch etwas mehr an sich. „Ich weiß. Ich weiß ja.“

„Was zur Hölle…?“, klang Acatis Stimme auf. Aufgeregt schwatzten die bis vor kurzem so konzentrierten KI-Meister durcheinander.

„Was ist passiert?“, rief Kei aufgeregt.

„Ihr KI sackt ab! Endlich!“

„Ist das ein gutes Zeichen?“

„Ein sehr gutes. Ich… Oh nein!“

Von einer Sekunde zur anderen bäumte sich Yohko in ihrem Bett auf. Sie schien halb im Bett zu stehen, ihre Augen weit aufgerissen. Und dann wurden die KI-Meister davon geweht wie welke Blätter in einem Herbststurm. Einige flogen durch die Scheiben, andere wurden von der Wand oder der Decke gestoppt.

Und dann… Dann verkündete der Herzmonitor mit dem schlimmsten aller Töne den Schrecklichsten: Herzstillstand.

Makoto schreckte auf, sah hoch. In einem einzigen Moment realisierte er die Lage, wollte aufspringen. Aber Joan hielt ihn fest. „Lass es, Mako. Lass es. Es ist besser so.“

„Ich… Ich habe schon wieder versagt.“

Die anderen KI-Meister rappelten sich nach und nach auf. Je nach Temperament fluchten sie herzhaft, begannen zu weinen oder starrten einfach stumm Löcher in die Luft. Es war vorbei. Sie konnten nichts mehr für Yohko tun.

Sakura, die Augen von Tränen verschwommen, erhob sich langsam von der Wand, die ihren unfreiwilligen Flug gestoppt hatte, nahm ein sauberes Tuch auf und legte es ihrer Cousine über das Gesicht. Dann brach sie über den leblosen Körper zusammen und schluchzte ihren ganzen Kummer hinaus.

***

Keine drei Kilometer entfernt horchte ein kleiner Fuchs auf, als die KI-Schockwelle durch das Krankenhaus und das Umland tobte. Der Fuchs spürte, wie das KI von einer Viertelmillion Menschen aus dem Takt gebracht wurde, wie Menschen nun vor Energie überflossen oder am aus dem Rhythmus gebrachten körpereigenen Energiefeld zu sterben drohten.

Der Fuchs spürte noch mehr, weit mehr. Zum Beispiel, wie rund um das Krankenhaus neue, starke KI-Felder entstanden. Eine interessante Entwicklung. Dai-Kitsune-sama gähnte ausgiebig und rollte sich zusammen. Eine sehr interessante Entwicklung.

***

Für einen Moment schreckte ich hoch, als hätte ich vor mich hin gedöst und wäre von einem ungewohnten Geräusch geweckt worden.

Ich lauschte in mich hinein, konnte aber nichts entdecken, was dieses Empfinden ausgelöst hätte.

„Akira, alles klar?“

„Mir geht es gut.“

„Dein KI-Feld geriet kurz mit einer unbekannten Energie in Resonanz. Ich habe mir Sorgen gemacht.“

„Quelle?“

„Nicht festzustellen.“

„Dann belassen wir es dabei. Was machen unsere Gäste?“

„Wir treten jede Sekunde in ihren aktiven Ortungsbereich.“

„Hast du meinen Spruch gesendet?“

„Ja, und er war unerwartet effektiv. Die Verfolger bremsen mit Höchstwerten ab. Aber, Akira, ich weise dich noch mal darauf hin, dass wir quasi nichts über die Art dieses Konflikts wissen! Wir können uns schwer die Hände verbrennen, und unser Vorhaben, die alte Core-Welt aufzusuchen könnte vereitelt sein.“

„Du bist kein Spieler, oder, Maltran?“

„Ich verlasse mich lieber auf klare Fakten als auf den Zufall“, brummte der andere unwillig.

„Gut, dann öffne mir einen Kanal.“

„Kanal steht.“

„Hier spricht Aris Lencis. Ich rufe die TOSSAN!“

Ein Bildschirm erhellte sich und zeigte die junge Frau von vorhin. Ihr Gesicht war immer noch mit Blut verschmiert. „Was denn? Für eine Sekunde dachte ich wirklich, wir wären gerettet. Aber ganz so fix geht es dann wohl doch nicht. Danke für die Hilfe, fremde Einheit. Ab hier kommen wir alleine klar.“

Ich schmunzelte. „Gern geschehen. Gibt es sonst etwas, was ich für Sie tun kann, Leutnant?“

„Ich weiß nicht. Die Zeit ein paar Stunden zurückdrehen, mir ein Dutzend Schiffe der Familie beschaffen, die Verfolgerflotte zerstören, etwas in der Art.“

„Punkt eins und zwei bieten leichte Schwierigkeiten. Brauchen Sie Hilfe bei Reparaturen? Haben Sie Feuer an Bord? Brauchen Sie medizinische Unterstützung?“

„Danke, aber Sie haben uns schon mehr als genug geholfen. Wie kann ich Sie nennen?“

Wieder musste ich schmunzeln. „Aris Lencis, wenn es Recht ist.“

„Sie bestehen darauf? Jeder Spaß hat seine Grenzen.“

„Ich kann nichts dafür. Dieser Name wurde mir in die Wiege gelegt. Ich weiß, ich heiße genauso wie meine Urgroßmutter.“

„Unsinn. Seit Aris Ohana Lencis hat niemand mehr den Namen Aris angenommen oder verliehen bekommen. Niemand würde es wagen wollen, in ausgerechnet ihre Fußstapfen treten zu wollen.“

„Dann waren meine Eltern aber sehr unbedacht.“

„Dann sind Sie entlarvt. Sie sind kein Iovar und garantiert auch kein Lencis.“

„Punkt eins ist richtig. Ich bin ein Naguad.“ Gut, das war halb gelogen und halb wahr. Denn in meiner Naguad-Hälfte war ein Viertel Iovar enthalten.

„Ein Naguad, also. Und was tun Sie hier, so weit weg von Ihrem Imperium? Vor allem weitab der normalen Einflugbereiche?“

„Ich wollte eigentlich in diplomatischer Mission zum Kaiser, aber dann habe ich gehört, dass eine Verwandte von mir in Not ist. Das konnte ich schlecht ignorieren.“

Die junge Frau zog die Stirn kraus. „Schicken Sie mir eine Bildübertragung.“

„Maltran, sieht sie mich nicht?“

„Du wolltest einen Kanal. Von einer Videoverbindung hast du nichts gesagt. Okay, okay, habe sie geschaltet.“

„Ich danke dir, Maltran.“

„Hm“, machte Yuno Omaret Lencis. „Eine gewisse Familienähnlichkeit ist auszumachen. Sie sind Naguad? Wie lautet Ihr Naguad-Name?“

„Vorsicht, Akira, die Verfolgerschiffe beschleunigen wieder.“

„Zieh die Flotte nach. Yuno, ich glaube, Ihre Verfolger wittern Morgenluft. Treten Sie in den Schutz meiner Flotte ein. Das wird die Angreifer hoffentlich abschrecken.“

„Lenken Sie nicht vom Thema ab. Sie beanspruchen den Namen Ohana Lencis, und ich will von Ihnen wissen… Beim Kaiser, sind das Raider-Schiffe?“

„Meine Raider-Schiffe. Seien Sie unbesorgt, Yuna.

„Bei den Pulsaren von Rognan, wer sind Sie?“, hauchte die junge Frau.

„Aris Lencis Arogad. Zu Diensten.“

„Arogad?“ Sie senkte den Blick. „Aris Arogad. Natürlich. Da wird mir einiges klar. Und ich hatte gehofft, ich würde verschont bleiben.“

„Verschont bleiben?“, argwöhnte ich.

„Die Nachrichten über Sie haben schnell die Runde gemacht, Aris Arogad. Und wie es aussieht, haben Sie wirklich das Recht, den Namen Lencis zu tragen. Ob Aris Ihnen aber auch den Namen Ohana zugesteht… Aber das führt zu weit. Wie kommen Sie an Raider, Aris?“

„Für den Moment wäre es mir ganz lieb, wenn Sie mich bei meinem Erdennamen nennen. Akira Otomo.“

Ich dachte einen Augenblick, die junge Frau würde der Schlag treffen. „Und der Tag hatte so gut angefangen. Dagegen ist der vernichtete Schlachtkreuzer ja eine Erholung gewesen. Lassen Sie mich raten, Ar… Akira Otomo: Die Raider gehorchen Ihnen aufs Wort?“

„Aufs Wort“, bestätigte ich. „Woher wissen Sie so viel über mich?“

„Wir unterhalten noch immer Handelskontakte mit dem Imperium. Und gute Nachrichten verbreiten sich schnell, schlechte noch viel schneller.“

„Wollen Sie etwa andeuten, ich wäre eine schlechte Nachricht?“, argwöhnte ich.

„Wir werden sehen.“

Na, der hatte gesessen…
 

5.

Es war eine wundervolle Welt, voller Leichtigkeit, Unbeschwertheit und einem warmen, alles umhüllenden Licht. Alles war so einmalig, so schön und so… so… so… Einfach.

Yohko Otomo tanzte durch das Licht, unbeschwert und leicht, sprang über Wolken, drehte sich über gewaltigen, spiegelglatten Meeren im Kreis und ließ sich lachend in eine herrlich duftende Blumenwiese fallen. Oh, dieses Land war so wundervoll.

Hier musste sie an nichts denken, sie musste mit niemandem konkurrieren, sie musste keine Entscheidungen treffen und sie musste für niemanden da sein. Sie war frei, frei, frei.

Von hier würde sie nie wieder fortgehen. Garantiert nicht. Niemals, für niemanden.

Sie würde… Verwundert hielt Yohko inne. Sie betrachtete ihre Hände. Ballte sie zu Fäusten und entfaltete sie wieder. War sie tot? Konnte das sein? Hatte sie ihre weltliche Hülle aufgegeben und ging sie nun in die Ewigkeit ein? Komisch, sie hatte immer geglaubt, der Tod wäre das ultimative Ende. Dass danach nichts mehr kam, dass ihr Verstand erlöschen würde wie eine Kerze im Schneesturm. Gnädiges, alles umfassendes Vergessen, totale Annihilation. Wenn nichts mehr existierte, dann musste sie auch nichts fürchten.

Nun, vielleicht hatte Yoshi Recht, und es gab wirklich diesen Ort namens Nirvana, in das die Seelen eingingen, wenn sie all ihre Inkarnationen hinter sich gebracht hatten und genug gereift waren, um den himmlischen Frieden anzunehmen. War dies hier die Vorstufe zum Nirvana? Oder stand sie kurz vor ihrer Wiedergeburt? Komisch, es fiel ihr so leicht zu denken, dass sie tot war…

Yoshi, ging es durch ihre Gedanken. Wenn sie wirklich tot war, was machte er dann nur? Hoffentlich beging er keine Dummheit! Die ganzen Wochen, in denen er ihr mit dieser Schachtel nachgelaufen war, in der wer weiß was drin war, seine innige Liebe zu ihr, seine Sanftheit im Bett… Wieder verkrampfte sie ihre Hände, und diesmal tat es weh, als ihre Nägel in ihr Fleisch schnitten. Yoshi. Das hatte sie nicht gewollt, das hatte sie niemals gewollt. Aber wenn er starb, wenn er zu ihr kam, hierher, zu diesem herrlichen Moment, in diese wundervolle Welt, dann… Nein, das war egoistisch von ihr. Nur weil sie tot war, musste ihr Yoshi nicht auch noch folgen.

Dennoch. Tiefe Sorge um ihn erfüllte sie. Sie hatte Yoshi geliebt. Nein, das war falsch. Sie liebte Yoshi noch immer.

Verwundert hob sie ihre rechte Hand und betrachtete das Blut, das den Handballen herab lief. Wieso konnte sie bluten?

„Na, das nenne ich mal eine Überraschung“, erklang eine amüsierte Stimme hinter ihr. „Ich glaube, das ist das letzte Mal vorgekommen, als… Hm, es sind wohl gut zweitausend Jahre, denke ich.“

Yohko wandte sich um. Erstaunt musterte sie die große, schwarzhaarige Frau, die sie freundlich anlächelte. „Willkommen, Jarah Arogad. Oder soll ich dich Lilian Jones nennen?“

„Eh?“, machte sie erstaunt. „N-nein. Ich bin… Ich war Yohko Otomo.“

„So, so. Hast du dich endlich entschieden. Mein Name ist…“

„Dai-Kuzo-sama!“ Ehrfürchtig verbeugte sie sich vor der großen Spinne.

„Aber, aber, mein Kind, was hast du denn? Einen Anfall von Ehrfurcht? Dabei ist alles was ich bin, nur schrecklich alt.“ Behutsam berührte die große Spinne Yohko an der Schulter und richtete sie wieder auf. „Es freut mich, dass wir uns endlich kennen lernen. Leider kann ich diese Welt nicht sehr oft verlassen, sonst hätte ich dich längst früher begrüßt, Yohko Otomo.“

„Diese Welt? Ist sie… Das Paradies?“

Kuzo schmunzelte und hob das Kinn der jungen Frau an. „Ja, dies ist das Paradies. Und du bist hier eingegangen, weil dein Herz rein, dein Mut groß und deine Kraft unendlich ist. Und du bist unendlich interessant für mich und mein Volk.“

Die große Spinne drückte der verdutzten jungen Halb-Naguad einen Kuss auf die Wange. „Du und dein Bruder, ihr seid sehr große Hoffnungen für uns. Sehr große in sehr tiefer Verzweiflung.“

„Verzweiflung?“

„Später. Ich erzähle dir später davon. Aber jetzt wollen wir uns erstmal um dich kümmern, Yohko Otomo.“ Dai-Kuzo betrachtete die junge Frau nachdenklich und ausgiebig. „Dai-Okame-sama.“

Ein riesiger Wolf sprang an ihre Seite und brummte ernst.

Freudig ging Yohko in die Knie und ließ ihre Hände über die Ohren des Wolfs gleiten. „OKAME! Ich habe dich so lange nicht gesehen! Wo hast du nur gesteckt?“ Dann durchfuhr sie Entsetzen. „Bist du… Sind wir… Sind wir alle…?“

„Alle Teil des Paradieses, ja, junge Arogad“, erwiderte Kuzo schmunzelnd. „Dai-Okame-sama, können wir?“

„Natürlich, Herrin.“ Aus dem Wolf wurde ein großer, grauhaariger Mann. „Beginn bitte.“

Die große Spinne lächelte, dann legte sie Yohko beide Hände auf die Wangen. Ein KI-Feld spannte sich zwischen ihren Händen, das sich schnell über ihren ganzen Körper legte. Okame spendete seinerseits Unmengen an KI an die große Spinne selbst.

Und urplötzlich begann das phantastische. Ein Glitterregen schien aus Yohkos Haar hinauszustieben, immer intensiver, Millionen kleinster, in der Sonne glitzernder Fragmente. Und nicht nur da, gleißende Tränen traten ihr aus den Augen und ihr Körper erstrahlte ebenfalls in dem Glitter. Als sie in einer Wolke des Glitters verschwand, hatte Yohko für einen winzigen Moment Angst. Aber da waren immer noch Dai-Kuzos starke, warme Hände, die sie hielten, so weich, so sanft.

Dann lichtete sich der Flitterregen und Dai-Kuzo lächelte sie an. „Braune Haare stehen dir wirklich besser, Yohko Otomo.“

Verwundert zog sie ihr Haar in ihr Sichtfeld. Tatsächlich. Das weißblond war verschwunden. Und nicht nur das, ihr ganzer Körper war… Ihr Körper war…

„Was hast du getan?“, fragte sie ungläubig.

„Ich habe nur das Elwenfelt-Erbgut aus deiner DNS extrahiert. Den Rest hast du ganz alleine gemacht, Yohko-chan.“ Dai-Kuzo beugte sich vor, bis ihre Lippen fast die der jungen Frau berührten. „Oh ja, du bist so verteufelt interessant. Ich frage mich, wie ich bis jetzt widerstehen konnte.“

„Dai… Kuzo… Sama…“, stammelte Yohko, aber sie hatte nichts, was sie entgegen setzen konnte. Sanft berührte Kuzo mit ihren Lippen die von Yohko Arogad, und ein Schauer aus Licht schien von Mund zu Mund zu gehen. Schließlich leuchtete Yohko wie von innen heraus in einer Aura, die die Schönheit eines Feuerwerks bei weitem noch übertraf.

Und dann… War sie sie.

***

Nachdem die erste, unglaublich schwere Trauer abgeklungen war, erhob sich Yoshi aus seiner Ecke, wischte sich die Tränen aus dem Gesicht und ging wieder in den Raum.

Die anderen trösteten sich so gut es ging gegenseitig. Nur Torum Acati stand alleine und haderte mit sich selbst, dass er Jarah Arogad hatte sterben lassen.

Sakura war am Boden zerstört, aber zumindest registrierte sie die Bewegung ihres ehemaligen Schülers. Sie sah Doitsu und Acati an, die beide verstehend nickten und Yoshi hinter her gingen.

Im Krankenzimmer stand Yoshi lange neben Yohkos Bett. Dann endlich öffnete er seine Jacke und zog eine kleine Schachtel hervor. Vorsichtig platzierte er sie auf ihrer Brust.

„Da ist ein Ring drin, Yohko“, flüsterte er sanft. „Du hast mir in den letzten neun Monaten nie die Gelegenheit gegeben, ihn dir zu schenken. Ich wollte dir damit ein Versprechen geben. Ich wollte für immer mit dir zusammen sein.“ Er schluckte hart. „Ich wollte dich heiraten, wenn die mächtige und einflussreiche Jarah Arogad überhaupt mit einem kleinen Major wie mir zufrieden gewesen wäre.“ Er legte beide Hände vor sein Gesicht und seufzte tief. „Ich liebe dich so sehr.“

Es dauerte einige Zeit, bis sich der junge KI-Meister gefasst hatte. Er fragte sich einen Moment, wo seine Eltern in diesem Moment wohl steckten und warum sie in Europa sein mussten anstatt hier zu sein, um sich um ihn zu kümmern. Wie immer eigentlich. Dies hier war seine eigentliche, seine richtige Familie, und nun wo Akira verschollen war, da war Yohko alles gewesen, was davon noch übrig gewesen war. Und jetzt… Zögernd streckte er seine Hand aus, wollte nach dem Tuch greifen, welches ihr Gesicht bedeckte.

„Lass es lieber. Behalte sie so in Erinnerung, nicht so eingefallen, tot und leer“, mahnte Torum Acati.

Doch Yoshi hörte nicht auf ihn, riss das Tuch fort. „Torum, eine Frage. Du hast schon mehr Menschen sterben gesehen. Geht das immer so schnell mit dem einfallen und leer sein?“

Irritiert spreizte der Naguad die Hände. „Äh, nein. Normalerweise verlieren Tote nicht so schnell ihr Gesicht. Und normalerweise sind sie innen auch nicht hohl. Was ist hier los, beim Core?“

„Yoshi. Dein Ring macht sich gerade selbstständig“, mahnte Doitsu.

Tatsächlich, die Box mit dem Ring versank in Yohkos Körper. „Was ist hier los, verdammt? Träume ich das alles nur? Bitte, lasst es einen schlechten Traum sein!“

„Jungs… Wieso ist meine KI-Rüstung für euch so interessant?“, klang eine mahnende Stimme hinter ihnen auf.

Yoshi wirbelte herum, gefangen in wilder, unmöglicher Hoffnung. Aber die junge Frau, die plötzlich am Fußende des Bettes stand, trug eine Slayer-Uniform und ihr Gesicht war nicht deutlich zu erkennen. Außerdem hatte sie braunes Haar.

„Y-yohko?“

„Pink Slayer, wenn ich bitten darf“, mahnte sie. Übergangslos verschwand die KI-Rüstung. Das braune Haar blieb, aber die Frau, die in der Arogad-Hausuniform vor ihm stand, war… „YOHKO!“

„Yoshi, du erdrückst mich“, mahnte sie lachend. Nun wurde es auch draußen lebendig. Die anderen erwachten aus ihrer Lethargie und Trauer. „Yohko?“ „Yohko!“ „Yohko!“

Yoshi drückte die Frau an sich, vergrub sein Gesicht in ihren Haaren und schluchzte. „Yohko. Ich dachte ich hätte dich sterben gesehen. Wie ist das möglich? Wie ist das nur möglich?“

Die junge Frau schloss ihre Arme um Yoshi und begann leise zu weinen. „Yoshi, für einen Moment, für einen winzigen Moment dachte ich, ich könnte alles hinter mir lassen. Wirklich alles. Nur nicht dich.“

Sie hielten einander ein wenig von sich ab und sahen sich in die Augen.

„Wie ist es passiert?“

„Opa hat mir das Mittel gegeben. Er hat gesagt, dass ich meine eigentliche Stärke nie erreicht habe. Die Elwenfelt-Gene würden alles in mir blocken, und ich müsste mein Leben riskieren, um diese Sperre zu durchbrechen. Er hat gesagt, wenn ich meinem Bruder, wenn ich meiner Welt nützlich sein wollte, dann müsste ich das KI-Erbe meiner Familie beherrschen.“

Der Raum füllte sich nach und nach, aber gebannt hörten die anderen zu, wie die junge Frau in Yoshis Armen erzählte.

„Ich wusste nicht, dass es so dramatisch werden würde. Oder dass es so lange dauern würde. Und auch nicht, dass ihr alle euch solche Sorgen um mich machen würdet. Und ich hatte keine Ahnung, dass es so wehtun würde. Aber ich musste doch etwas tun, meinen Teil zum Schutz dieser Welt beitragen. Deshalb habe ich es genommen.“

„Was ist dann passiert? Du hast so viel KI produziert, wurdest künstlich ernährt und…“

„Ich kenne die Details nicht. Aber als ich die Sperre durchbrach, da hatte ich längst instinktiv eine KI-Rüstung um mich herum aufgebaut. Und dann war ich plötzlich in der Welt von Dai-Kuzo-sama. Ich bin in ihre Welt eingebrochen und habe meine alte KI-Rüstung zurückgelassen. Ich…“

„Das erklärt, warum plötzlich kein Herzschlag mehr angezeigt wurde. Und Dai-Kuzo hat dir geholfen?“

„Sie hat mir den Weg gezeigt. Gegangen bin ich ihn alleine. Aber ich glaube, ich habe jetzt mein volles Potential entdeckt. Endlich können wir Seite an Seite kämpfen. Endlich brauchst du auf mich keine Rücksicht mehr nehmen.“

„Yohko, du hättest ein solches Risiko nie eingehen brauchen! Ich hätte dich immer beschützt!“

„Das weiß ich doch. Und genau deswegen habe ich es gemacht. Wie kann ich meinen Helden so lange allein lassen?“

„Nun küss sie endlich, damit ihr voneinander ablasst und wir sie auch mal in den Arm nehmen können“, mahnte Sakura säuerlich. Aber ihre Miene war gelöst, verheult zwar, aber unendlich erleichtert.

Yohko und Yoshi lächelten sich verstehend an und küssten sich sanft.

Dabei entstand eine KI-Reaktion, die sich als weißliche Blase aus purem Licht von diesem Punkt ausbreitete.
 

Auf der Straße, im Krankenhaus und im weiteren Umkreis litten Mensch und Tier immer noch unter der KI-Schockwelle, der sie ausgesetzt gewesen waren. Manchen war nur schwindlig, andere hatten sich übergeben oder waren desorientiert.

Manch einer war katatonisch, aber die meisten klagten lediglich über Kopfschmerzen.

Doch die Blase aus weißem Licht breitete sich aus, erfüllte schnell den Bereich der KI-Schockwelle und ging weit darüber hinaus. Diese Kraft, diese außergewöhnliche Energie half den Menschen und Tieren unbewusst, ihr durcheinander gewirbeltes KI zu ordnen und ihr körperliches Wohlbefinden zurück zu gewinnen. Bei vielen setzte eine Euphorie ein, die all die Schmerzen und Schrecken wert zu sein schien.

***

An verschiedenen Orten auf dieser Welt wandten sich Menschen der Eruption zu.

Eikichi Otomo nickte wissend und erleichtert.

Michael Berger haderte trotz des guten Endes noch immer mit sich selbst, mit seiner Entscheidung und wischte sich die endlos fließenden Tränen von den Wangen.

Meister Futabe entschloss sich spontan, nicht ins Hospital zu gehen, sondern auf seinen Tempelberg. Dort betete er für die Zukunft von Yohko Otomo und seinem Enkel.

Dai-Kitsune öffnete ein Auge, zwinkerte und gähnte. Dann beschloss sie, dass ihre Verbannung beendet war und sie endlich wieder zu den anderen durfte.

Und Dai-Kuzo-sama strich sich sinnend über ihre Lippen. Sanft sagte sie: „Sehr interessant, Yohko Otomo. Sehr interessant.“
 

6.

„Sachen gibt es. Raider sind dazu da, um uns zu überfallen. Ich hätte nie geglaubt, mal von ihnen gerettet zu werden.“

Der geballten Macht von siebzig Raidern waren die Angreifer ausgewichen. Kein Wunder. Dabei hatte ich nicht einmal die restlichen, fast zweitausend Schiffe nachgezogen.

Und nun stand ich auf der Zweitbrücke der TOSSAN, während im ganzen Schiff Reparaturmaßnahmen stattfanden.

Nachdenklich strich sich Yuna Lencis über ihre Wangen. Das erste was sie getan hatte als ihr Schiff außer Gefahr war, das war sich verarzten zu lassen und sich zu waschen gewesen.

Ich lachte und legte der jungen Frau eine Hand auf die Schulter. „Die Zeiten ändern sich. Das Universum ändert sich. Gestern dein Feind, heute dein Freund und morgen vielleicht wieder dein Feind, wer kann das schon sagen?“

„Hm“, machte sie. „Hm.“

„Was uns direkt zum Thema bringt. Warum?“

„Was, warum?“

„Warum haben kaiserliche Streitkräfte euch angegriffen?“

„Warum nicht? So was passiert immer mal wieder. Ein Senator ist beim Kaiser in Ungnade gefallen, eine Familie agiert nicht so wie der Generalstab es will, der Kaiser hat schlecht gegessen, es gibt tausend Möglichkeiten. Dann wird eben ein Exempel statuiert. Oder gleich der ganze Familienverband ausgelöscht. An die Lencis hat sich der Kaiser allerdings noch nicht gewagt. Ich frage mich, was auf der Hauptwelt passiert ist, damit wir sogar hier draußen den Ärger noch spüren.“

„War es dann gut oder schlecht, dass ich geholfen habe?“

Abwehrend hob die Offizierin die Arme. „Gut, gut, gut natürlich! Vor allem von meinem Standpunkt und dem meiner Crew aus gesehen!“

„Ist schon gut, ich habe nicht vor das wieder rückgängig zu machen“, beruhigte ich die Lencis. „Die Frage ist nur, wie soll es weitergehen? Ich muss nach Iotan, um eine Bitte zu äußern und eine Frage zu stellen. Wie finden wir heraus, wie ernst der Konflikt ist?“

„Wir springen ins Nachbarsystem. Dort werden wir hoffentlich mehr herausfinden, Aris Lencis.“

„Akira Otomo reicht.“

„In meiner Kultur gelten Menschen mit vielen Namen als…“

„Als unentschlossen, ich weiß“, schmunzelte ich. „Also dann, auf ins Nachbarsystem. Ich bin schon sehr gespannt, was uns erwartet.“

Argwöhnisch betrachtete mich die hübsche Offizierin. „Du hast wohl was gegen Langeweile, oder?“

„Langeweile? Dieses Wort kenne ich nicht. Rund um mich herum existiert immer nur Hochspannung.“

Yuna Lencis seufzte ergeben. „Das habe ich befürchtet. Deshalb hatte ich gehofft, von dir verschont zu bleiben, Akira Otomo. Na, was passiert ist, ist passiert. Deine Befehle, bitte.“

„Befehle?“ Argwöhnisch hob ich eine Augenbraue.

„Du bist ein Ohana Lencis. Ich bin von einer Seitenfamilie. Also habe ich gerade deine Oberhoheit anerkannt. Falls du was damit anfangen kannst.“

„Irgendwie scheine ich Verantwortung anzuziehen“, brummte ich, und im ersten Moment meinte ich es wirklich verärgert. Dann aber setzte sich mein sonniges Gemüt durch. „Bereitmachen zum Sprung mit der Flotte ins Nachbarsystem.“

„Jawohl. Bereitmachen zum Sprung ins Nachbarsystem.“

„Akira, mit der ganzen Flotte? Allen zweitausend Schiffen?“, meldete sich Maltran vom Kommandoschiff.

„Zw… Zw… Zw… Zweitausend? Willst du einen Krieg anfangen?“, stammelte Yuna.

„Nein, aber eventuell einen beenden. Mit allen Schiffen, Maltran.“

„Du bist der Kommandeur.“

Ja, das war wohl richtig. Ich war der Kommandeur. Wieder einmal. Was mich wohl im Kaiserreich erwartete?

Und wie ironisch konnte das Leben sein, wo ich doch eigentlich nur gekommen war, um eine Bitte zu äußern?

Ich bezweifelte stark, das sich mein Leben diesmal noch weiter beschleunigen lassen konnte.



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Kommentare zu diesem Kapitel (2)

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Von:  Subtra
2007-07-08T04:14:07+00:00 08.07.2007 06:14
So jetzt hab ich bis hierthin gelesen war doch net der ernst sondern was weiß ich das mich vom lesen abgehalten hat. Speziel der schluss vom Kapitel hat mir gefallen von wegen Verantworten anziehen und so ^^.

Also jetzt kannste wieder beruhigt kapitel schicken ich werd sie auch lesen ^^, bin gespannt was die gutsken von der Erde sagen wenn sie herausfinden das sich Akira auch noch die Core Truppen unter den Nagel gerissen hat XDDDD.
Von: abgemeldet
2007-07-02T15:52:20+00:00 02.07.2007 17:52
*looooooooooooooooooool*
Hammergeilo! Immerhin hasst du Yohko wiederaufererstehen lassen. *___________* *dich dafür niederknuddel*
und ich hab erst gedacht, ihr Opa entpuppt sich als ein Arsch der Extraklasse. XD Gott sei dank nicht! *_* Freu mich schon auf den nächsten Teil. ^^


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