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Anime Evolution: Nami

Vierte Staffel
von

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Erster Traum

1.

Fünf Monate später:

Der große Vorteil terranischer Schiffe bestand darin, dass sie lediglich interplanetar agierten – sie waren nicht sprungfähig und hatten deshalb Kapazitäten für Verteidigung und Waffen übrig, die sie allen anderen Schiffen der gleichen Klasse überlegen machten.

Dies war zugleich auch der große Nachteil. Diese Schiffe waren an das System, in dem sie agierten, gebunden.

Die fehlenden Sprungantriebe bei den terranischen Schiffen hatten einige Probleme bereitet; ursprünglich hatten die Einheiten der UEMF im Kanto-System verbleiben sollen, bis Entsatz eintraf, entweder weitere UEMF-Schiffe, oder die AURORA.

Kei Takahara strich sich über den weißen Haaransatz, als er an diese Problematik zurückdachte, die keine zwei Monate nachdem Akira entführt worden war akut geworden war.

Sie hatten eine Lösung gefunden. Nun, genauer gesagt hatte er eine Lösung gefunden, die nur noch entfernt an das Docking-System mit der AURORA erinnerte.

Normalerweise nahm der riesige Träger die nicht sprungfähigen Kampfschiffe quasi huckepack und startete dann durch ein selbst erzeugtes Wurmloch.

Bei einem Giganten wie der SUNDER schied solch ein System natürlich aus. Drei Kreuzer der Bakesch-Klasse wären nötig gewesen, den Riesen Huckepack zu nehmen. Und so eine Formation war schlicht und einfach viel zu riskant.

Es war dann Kei gewesen, der schlicht und einfach darauf hingewiesen hatte, dass es dem Schiff egal war, wie ein Wurmloch erzeugt wurde – bereisen konnte es das Wurmloch trotzdem, solange das Wurmloch die Kapazität bewältigen konnte.

Die Berechnungen an sich, die Wurmlochmasse, Abwägungen von Risiko und Nutzen, mathematische Formeln, Erfahrungsabgleich und dergleichen hatte zwei Wochen gedauert. Aber letztendlich war auf Kei Takaharas Anregung und mit seiner massiven Mitarbeit ein neuer Hyperflug kreiert worden: Der Verbandssprung.

Eigentlich war die Idee simpel, die Umsetzung jedoch ein logistischer Albtraum.

Die sprungfähigen Schiffe spielten ein Vabanque-Spiel mit der Eigenmasse und den eigenen Kapazitäten und nahmen die Außenseiten ein, während die Sprungunfähigen Schiffe mitten zwischen ihnen flogen.

Es war notwendig, dass alle Schiffe das Wurmloch synchron erzeugten, alleine schon, um, wie Kei so schön bei der Präsentation gesagt hatte, wie der sprichwörtliche Korken der Sektflasche auch glatt aus dem Flaschenhals zu rutschen.

Oder anders ausgedrückt, alle Schiffe wurden eins, zumindest aus der Sicht des Wurmlochs. Es wurde erzeugt, gedehnt und nahm die Kapazität an, um die terranischen, die naguadschen und anelphschen Schiffe passieren zu lassen.

Bei einem normalen Sprung wäre es damit gut gewesen. Einmal erzeugt, erhielt sich das Wurmloch selbst und man konnte sogar nicht sprungfähige Einheiten abkoppeln und das Raumgebiet aus eigener Kraft erreichen lassen, wie das Manöver in Alpha Centauri bewiesen hatte, als die terranische Einsatzgruppe ausgerechnet auf ein naguadsches Suchschiff gestoßen war. Die TAUMARA hatte diese Begegnung nicht wirklich gut aufgenommen, aber aus dieser Erfahrung waren einige Freundschaften entstanden, die überhaupt die spätere Zusammenarbeit gegen die Streitkräfte des Cores zwischen Anelph und Naguad – und vor allem Menschen – ermöglicht hatten.

Doch dieser Fall konnte nicht auf die Situation anwenden, der Kei und seine Flotte ausgesetzt war. Damals hatten sie einen riesigen Generator an Bord der AURORA gehabt, der ein riesiges Wurmloch erzeugt hatte. Die detachierten Korvetten waren da eher eine Fingerübung gewesen und hatten das Wurmloch nicht kollabieren lassen.

In diesem Fall aber musste der Verbandsflug aufrecht erhalten werden, weil sich niemand sicher war, ob eine Veränderung der Formation oder ein Zusammenbruch der Formation der sprungfähigen Schiffe nicht automatisch auch die Zerstörung des Wurmlochs bedeutete.

Nein, eigentlich war es anders. Frustriert blies Kei die Wangen auf, als er an den wahren Grund für den strikten Formationsflug dachte, den Jarah Arogad angeordnet hatte – Kei nahm sich vor, Jarah alias Yohko ein paar Tage mit ihrem alten Tarnnamen Lilian aufzuziehen, oder noch besser, sie Lonne zu nennen, nur um seine Rache zu haben.

Niemand wollte einen Ausfall der Wurmlochstrecke riskieren, so einfach und grausam war die Wahrheit. Nicht einmal die Raumflugerfahrenen Naguad, die seit über dreitausend Jahren Wurmlöcher für den überlichtschnellen Transport erzeugten, hatte er für die Idee erwärmen können, es doch einfach mal auszuprobieren.

Was hätte schon schlimmes passieren können? Ein paar Tage maximal im galaktischen Leerraum vielleicht, bevor sie erneut springen konnten. Alleine der Versuch, ohne eine Schwerkraftsenke zu springen, hätte für die terranischen Wissenschaftler den Nobelpreis bedeutet, von denen der Anelph und der Naguad gar nicht zu sprechen.

Andererseits war das Argument auch nicht von der Hand zu weisen, dass sie nicht erneut so viel Glück haben konnten wie damals in Andea Twin, als ihnen zehn Erdmassen als purer Energieimpuls im Nacken durch ein Wurmloch gefolgt waren – mit dem Ergebnis, dass sie weiter gesprungen waren als geplant, nämlich bis ins Kanto-System, ihrem eigentlichen Ziel.

Es bestand auch die Möglichkeit, dass die gekrümmte und deformierte Raumzeit ihren alten Platz wieder einnahm und die ganze Flotte schlicht und einfach zerquetschte.

Kei hielt diese Möglichkeit für übertrieben und aufgebauscht, aber als Wissenschaftler und vor allem als Mann der Verantwortung trug konnte und durfte er sie im Sinne seiner Crew nicht ignorieren.
 

Nun, dies würde vorerst das letzte Mal sein, dass sie im Verband sprangen. Kei hatte nach dem triangieren im Alpha Centauri-System bereits per Hyperfunk Pläne an die Erde übermittelt, die Schiffe mit Hilfe von externen Generatoren sprungfähig zu machen. Das System würde verletzlich sein, sicherlich, aber alles was die Schirme durchschlagen konnte, um die nachgerüsteten Generatoren zu treffen würde auch das Schiff selbst treffen, und das Ergebnis würde sich nicht großartig unterscheiden.

Die Trianguation in Alpha Centauri hatte sie viel Zeit gekostet. Aber es hatte ihnen auch genügend Zeit gebracht. Für ihn genügend Zeit, um die Slayer einzupacken, Kenji, Ban Shee, Jora, Michi und Takashi, um mit ihnen auf die KON zu wechseln und ein paar Tage dort zu bleiben. Die anderen hatten mindestens ebenso sehr Trost nötig wie er selbst, gestand sich Kei ein. Es hatte auch ihm gut getan, dass Megumi ihn umarmt hatte, als sie vor dem leblosen Leib im Biotank gestanden hatten.

Teufel, warum mussten die Biotanks nur einem Sarg so ähnlich sehen?

Am Ende der Trianguation hatte er wieder auf sein eigenes Schiff gemusst, denn niemand hatte die Chuzpe, herauszufinden, ob während des Verbandssprung ein Wechsel von Schiff zu Schiff möglich war.

Nachdem sie den günstigsten Punkt der Schwerkraftsenke für den Sprung ins Sol-System erreicht hatten, die von Alpha Centauri und den Planeten der Doppelsonne gebildet wurden, hatte eine Abordnung der Zweiten Flotte von Admiral Bhansali sie in Empfang genommen und den Absprung gedeckt. Im Gegensatz zu ihren bisherigen Sprüngen und den Märschen durch unerforschte oder unerschlossene Sonnensysteme reinster Luxus.

Trianguation und in einigen bequemen Fällen Quadruation waren leider dringend notwendig, obwohl Kei bereits in Gedanken an einem Prinzip arbeitete, von jedem Punkt eines Systems in ein anderes zu springen.

Bisher aber sah es eher so aus, dass man am besten von einem System ins andere sprang, wenn man einen Punkt erreicht hatte, der dem Zielsystem am nächsten war.

Anders ausgedrückt, in kleinen Sonnensystemen gab es in einem imaginären Kreis drei Punkte, von denen man erfolgreich in potentielle Nachbarsysteme springen konnte, die ein Dreieck bildeten; zwischen diesen Punkten zu reisen wurde Trianguation genannt.

In großen Systemen gab es vier Punkte, die Reise zum direkt gegenüberliegenden Sprungpunkt war zeitaufwändig und fraß eine Menge Vielfliegermeilen. In den meisten Systemen reichte schon eine Trianguation, und Kei war dankbar dafür.

Das Problem bei der ganzen Geschichte war die Raumzeitkrümmung. Die Sonne eines Systems bildete, bildlich gesprochen in der Decke der Realität eine Mulde, eine Delle. Und der Rand dieser Delle war deformiert, weil er einerseits die normale Raumzeit bilden musste und andererseits dem Verlauf der Delle zu folgen begann. An dieser Stelle wurde die Raumzeit… Dehnfähig. Von einem solchen Punkt konnte man sehr leicht ein Wurmloch konstruieren, oder anders ausgedrückt, man testete die Dehnfähigkeit so weit, dass man mit einer anderen Delle, sprich dem überdehnten Rand einer anderen Raumzeitsenke – in diesem Fall der heimatlichen Sonne – Kontakt bekam und einen Tunnel erschuf.

Virtuell gesprochen rückten beide Systeme nun aneinander, aber das war natürlich Quatsch. Dennoch erfolgte die Reise durch eine solche Raumzeitkrümmung, dem berühmten Wurmloch wesentlich schneller als wenn sie zu Fuß gegangen wären, quasi.

Kei hielt nichts davon, daran zu glauben, dass zwei riesige Sonnensysteme wegen ihren popeligen Sprungantrieben zueinander rückten und sie deswegen ihre Reisen verkürzen konnten. Das war Unsinn, sonst hätte man auch nicht die Schwerkraftsenken der Erde nutzen können, um eine Direktkommunikation mit Naguad Prime, Central, zu erschaffen.

Er war diesem Problem auf der Spur, das fühlte er. Richtig auf der Spur, und bald würde er es fassen, am Schwanz packen und im Griff behalten, bis es ihm alle seine Geheimnisse offenbart hatte. Ja, so würde es sein. Er zweifelte nicht eine Sekunde daran.

Und dann geschah alles viel zu schnell.
 

Der Alarm gellte auf und innerlich erschauderte Kei. Er sah dabei zu, wie im großen Hologramm die Positionen der anderen Schiffe eingezeichnet wurden, sah wie sie minimal auseinander drifteten. Zuhause. Sie waren wieder Zuhause.

Der Sprungalarm wurde eingestellt, und Ban Shee Ryon aktivierte ihr KommSet. „Operative, hier Operative. Meldung an die gesamte Flotte: Sprung ist gelungen. Ich wiederhole: Sprung ist gelungen.“

Kei winkte Ban Shee kurz zu sich heran, wechselte ein paar leise Worte mit ihr, was auf ihre Züge ein Grinsen zauberte. „Nachricht vom Flottenchef. Konteradmiral Takahara an alle Schiffe: Verbandsflug kann jetzt aufgelöst werden.“

In der Zentrale der SUNDER wurde gelacht. Sie alle waren am Streit zwischen ihren Flottenbefehlshaber, namentlich Konteradmiral Kei Takahara, und den anderen Kommandeuren, unter ihnen Admiral Acati – der die Flotte nicht kommandiert hatte, da die Leitung dem Haus Arogad gebührte und Kei nach dem Recht der Naguad Hausoffizier war – beteiligt gewesen, hatten einen Fensterplatz gehabt. Und es amüsierte sie, dass ihr Chef zum Abschluss einen süffisanten Kommentar verfasst hatte.

Den Kurzen warf so schnell nichts aus der Bahn, das hatten die meisten Mitglieder der Crew bereits an Bord der GRAF SPEE festgestellt, damals im Marsorbit, beim zweiten Angriff auf Martian City. Die meisten waren Kei zu diesem Kommando gefolgt, und darauf war der junge Mann sehr stolz.

Ban Shee lächelte, als ihr KommSet zum Leben erwachte. „Admiral. Alle Schiffe haben bestätigt.“ Oder anders ausgedrückt, sie hatten den Tadel gefressen.

Kei grinste matt. „Meldung an UEMF absetzen. Melden Sie alle Schiffe der Flotte an, IO. Und fragen Sie nach aktuellen Befehlen. Wenn unsere alten Befehle bestätigt werden, nehmen wir sofort Kurs auf die Erde; die Schiffe, die unter Admiral Acati das Regionalflottenkommando auf dem Mars bilden sollen, brechen sofort auf. Ihr Weg ist etwas weiter als unser, und der Kurs weicht auch stark ab.“

„Aye, Skipper.“ Wieder hörte sie ihrem KommSet zu. „Meldung von Executive Commander Eikichi Otomo: Willkommen Zuhause.“

Für einen Moment stockte Kei die Stimme. „Wir sind wieder daheim“, hauchte er stockend.

***

Der Programmchef war geschockt. Der Moderator war geschockt. Der Regisseur war geschockt. Die Studiogäste waren geteilter Meinung. Wer geschockt sein wollte, tat das, und zwar mit Hingabe. Der Rest kicherte in sich hinein.

Wie hatte das passieren können? Wie hatte eine ganze Sendung mit einer Einschaltquote von zwei Milliarden Menschen weltweit, von Japan über Europa bis L.A nur solch ein Fiasko werden können?

Wie hatte Admiral Richards ihnen das antun können? Es waren noch fünfzehn Minuten Sendezeit, und im Moment fuhr der Sender den größten Werbeblock seiner Existenz.

Der Moderator indes starrte noch immer auf den leeren Sessel, in dem vor wenigen Minuten noch der Admiral gesessen hatte, ein verdienter Navy-Offizier und Flottenkommandeur.

Sicher, es war zu erwarten gewesen, dass der mittlerweile in der UEMF dienende Admiral eine harte Nuss sein würde, aber letztendlich war er doch Amerikaner und der Verfassung, der Nation und den Einschaltquoten verpflichtet, und nicht einem Japaner, der behauptete, die Welt würde ihm gehören.

Nun, in dem Punkt hatte sich der Moderator tüchtig geirrt.

Nicht nur, dass Admiral Richards ihm gehörig den Kopf gewaschen hatte, er hatte ihn sitzen gelassen, deklassiert und gedemütigt. Und mit ihm den ganzen Sender.

Eine Etage höher, genauer gesagt in der Regiebox saß ein Mann mit zwanzig Jahren Erfahrung in diesem Beruf. Er gehörte zu den Besten. Und er war Patriot. Das Drehbuch für den Abend war einfach gewesen und ein Medienerfahrener Mann wie Admiral Dean Richards hätte eigentlich auf die richtigen Fragen die richtigen Antworten geben müssen. Eigentlich.

Zwei Etagen höher erwachte der Besitzer aus seiner Starre und begann zu lachen.

„Geben Sie mir die MAZ“, befahl er leise.

Sein Sekretär gehorchte und spulte an den Anfang der Aufzeichnung der eigentlichen Sendung. Lange Jahre unter diesem Mann verrieten ihm welche Szene er sehen wollte.

Er spulte ein Stück vor, übersprang die Vorstellung, die Begrüßung und hielt beim ersten Frageblock

„Kommen wir zum Japan-Chauvinismus von Executive Commander Eikichi Otomo“, sagte Ronald Summers, der wichtigste Nachrichtensprecher, Anchorman, des Senders. „Wie stehen Sie als verdienter Admiral zu Wasser und im Weltall dazu?“

Richards runzelte die Stirn. „Japan-Chauvinismus? Wie kommen Sie auf diese dumme Idee?“

Für einen Moment schien Summers sprachlos zu sein, was bei dem Medienerfahrenen Reporter ein mittleres Wunder war. „Sehen wir uns doch einfach mal die Führungsebene der Expedition der AURORA an. Wenn wir genau hinsehen, dann sind die wichtigsten Posten mit Japanern belegt, ja, um es genau zu sagen, mit persönlichen Freunden von Akira Otomo.

Die AURORA wird von Tetsu Genda kommandiert, ein persönlicher Freund Otomos. Die SUNDER untersteht Kei Takahara, einem persönlichen Freund Otomos. Die Gesamtleitung der Expedition hat Sakura Ino inne, eine direkte Cousine Otomos.

Dann die Hekatoncheiren, die als absolute Elite der Menschheit gelten. Kommandeur ist Akira Otomo selbst, das Briareos-Regiment wird von Megumi Uno geleitet, seiner Freundin.

Gyes untersteht seiner Schwester Yohko und Kottos wird von Daisuke Honda geleitet, einem engen Freund Otomos. Dazu kommen diverse Bataillons-Kommandeure, die ebenfalls zu seinen direkten Freunden gezählt werden: Takashi Mizuhara, Kenji Hazegawa und Doitsu Ataka.“

„Junger Mann“, sagte der Admiral streng, „was wollen Sie mir damit sagen?“

Unter dem zwingenden Blick des hohen Offiziers wich der Anchorman eine Handbreit zurück und stieß gegen die Rückenlehne seines Sessels. „Nun, im Angesicht dieser Beweislast ist es doch offensichtlich, dass Eikichi Otomo Japaner über Gebühr bevorzugt und…“

„Wären Sie in meiner Einheit, würde ich Sie jetzt vor ein Kriegsgericht stellen und wegen Hochverrats und Insubordination anklagen.“

Der Nachrichtenmann wurde bleich, selbst sein kräftiges Make-Up konnte das nicht verbergen. „Was?“

„Und ich wäre bei der standrechtlichen Erschießung selbst in der Schützenreihe, das sage ich Ihnen.“

Summers fühlte, wie ihm der Schweiß herab lief. Dies war eine erstklassige Gelegenheit für den Admiral, die Japan-Schranke innerhalb des Offiziers-Korps der UEMF zu durchbrechen, die Japan-Schicht mit Hilfe von öffentlichem Druck abzubauen und Offiziere anderer Nationen – vornehmlich natürlich amerikanische – nachzuholen. Und der Mann griff nicht danach?

„Wie können Sie es wagen, Akira Otomo anzugreifen? Wie können Sie es wagen, Eikichi Otomo anzugreifen?

Ich will Ihnen eine Geschichte erzählen, aus der Zeit als ich noch meinen Träger kommandiert habe, keine Flotte, weder Wassergebunden noch im Weltall. Ich will Ihnen erzählen, wie sich unsere Jungs und Mädels im Luftkampf gegen die kronosischen Daishi Alpha und Beta geschlagen haben, mit dem Mut der Löwen, aber immer weiter zurückgedrängt wurden.

Ein japanischer Junge, gerade einmal dreizehn Jahre alt geworden, war damals der einzige Mensch, der einen erbeuteten Daishi Beta benutzen konnte. Dieser Junge zögerte nicht eine Sekunde, stieg in den legendären Blue Lightning, opferte seine Kindheit und Jugend und kämpfte an jedem Ort der Welt, den er erreichen konnte, gegen die kronosischen Mechas und ihre Schiffe.

Er drängte sie als erstes zurück. Er war es, der unseren Piloten die Chance gab, zurück zu schlagen. Und nur wegen ihm konnten wir weitere Piloten finden, die in der Lage waren, die neuen Hawks zu steuern.

Eikichi Otomo opferte damals seinen Sohn. Für das Wohl der ganzen Menschheit setzte er sein Kind tödlicher Gefahr aus. Sicher, er wurde von den besten der Besten ausgebildet, Commander Jeremy Thomas war nur einer derjenigen, die aus dem Jungen Akira Otomo den tödlichen Piloten Blue Lightning machten. Aber dennoch, er war nur ein Kind. Eikichi ließ sich diese Rettung teuer bezahlen, ließ OLYMP und Titanen-Station finanzieren, etablierte den Bau eigener Fregatten und Zerstörer und startete den Abbau von Rohstoffen auf dem Mond in den drei Kolonien Aldrin, Armstrong und Collins, die mittlerweile zu Großstädten herangewachsen sind. Sein Vertrauen in seinen Sohn, zu überleben, war endlos. Aber ebenso auch seine Angst um ihn. Vor allem, nachdem sein Neffe Makoto Ino als Zeus, die Tochter von engen Freunden der Familie, Megumi Uno und seine einzige Tochter, Yohko Otomo ebenfalls auszogen, in Hawks stiegen und um das Schicksal dieser Welt kämpften.

Ihnen und nur ihnen ist es zu verdanken, dass diese Welt nun keine kronosische Kolonie ist. Nur ihnen ist es zu verdanken, dass wir uns wehren konnten, unsere eigenen Mechas bauen konnten. Nur sie waren es.

Und dann wagen Sie es, einen Eikichi Otomo, der das Wichtigste in seinem Leben geopfert hat, einen Akira Otomo, der seine Schwester auf dem Mars glaubte sterben zu sehen, anzugreifen und als was auch immer abzustempeln?

Damals, als das Legat OLYMP ausschaltete und niemand wusste, wann und wo sie diese furchtbare Waffe, den Resonanztorpedo, erneut einsetzen würden, da waren es Akira Otomos Freunde und Schulkameraden, die als Erste kamen, um sich freiwillig zu melden. Die jene Streitmacht bildeten, die letztendlich auf den Mars flog, das Legat zerschlug und den Kronosiern und menschlichen Kolonisten Gelegenheit gab, sich in unsere Gemeinschaft einzufügen.

Diese Männer und Frauen waren damals auch noch halbe Kinder. Aber sie wollten die Erde verteidigen, sie wollten ihre Familien verteidigen. Und sie haben auch die Pressefreiheit verteidigt. Es ist kein Wunder, dass die besten von ihnen, so sie beim Militär geblieben sind, Karriere gemacht haben. Es ist vielleicht erstaunlich, dass die Fähigsten und Begabtesten unter Akira Otomos Freunden zu finden sind, aber dafür sollten wir dankbar sein und ihnen nach bestem Wissen und Gewissen helfen, anstatt ihnen haltlose Vorwürfe zu machen. Letztendlich machen sie nur ein Prozent der Besatzungsmitglieder aus und etwa drei Prozent der Offiziere.“
 

Die Gesichtsfarbe des Anchormans erholte sich wieder. Er legte ein falsches Lächeln auf und übersprang seinen Fragekatalog bis zum nächsten Themenblock. „Admiral, um auf Akira Otomo direkt sprechen zu kommen, oder besser gesagt auf Aris Arogad. Wie stehen Sie zu…“

Der Amerikaner erhob sich und starrte wütend auf den Nachrichtenmann herab. „Mr. Summers. Wäre meine Waffe geladen, hätte ich jetzt sehr gute Lust, sie zu entsichern und auf Sie zu richten. Haben Sie nicht schon genug Schaden angerichtet? Akira Otomo hat im besten aller Schachzüge Erde und Mars gerettet und sie ins Imperium der Naguad integriert und uns dabei volle Souveränität verschafft. Im Zeitalter der Bedrohung durch den Core ist das eine Meisterleistung! Was wollen Sie ihm noch vorwerfen? Dass er in seinem Job gut ist? Ach, was rede ich mit diesem Idioten überhaupt?“ Wütend machte der Admiral eine wegwerfende Handbewegung, schnaufte laut und wandte sich ab. Hinter ihm blieb Summers zurück, dem langsam die Kinnlade herabsackte.

Der Regisseur grinste schief. Nett. Das war richtig nett. Und er sah Ronald Summers endlich einmal so, wie er es wollte: Erstickt in seiner eigenen Arroganz.

„Anruf von der Direktion. Wir sollen das Band vernichten“, meldete einer seiner Assistenten.

Der Regisseur tippte auf dem Schaltpult herum. Schließlich drückte er ein paar Knöpfe. Damit unterbrach er das reguläre Programm und schickte die Magnetbandaufzeichnung auf den Weg. „In Ordnung“, erwiderte er und tat als würde er weitere Knöpfe drücken, während das Interview landesweit ausgestrahlt wurde, „ich arbeite dran.“

Seinen Job würde er wohl vergessen können, aber wenigstens konnte er so seinen Teil dazu beitragen, die Erde zu retten.

Der Besitzer des Senders bemerkte die Ausstrahlung. Seine Hand ruhte auf einem großen roten Knopf. Nachdenklich runzelte er die Stirn. „Ach, was soll´s.“
 

2.

Ich erwachte. Eigentlich war das ein alltäglicher Vorgang, aber er erstaunte mich jedes Mal aufs Neue. Warum? Nun, eigentlich hätte ich vor dreißig Jahren den Tod finden müssen.

Aber ich lebte noch, und das war ein Wunder. Wunder genug, um jeden neuen Tag als ein göttliches Geschenk zu empfinden, egal wie dieser Tag ausfiel.

Wie immer war der Wechsel zwischen Schlaf und Wach abrupt erfolgt. Und beinahe sofort war ich klar. Langsam richtete ich mich auf der Tatami aus hartem Schilfrohr auf und schob die dünne Decke beiseite. Dann erhob ich mich und trat auf den harten Holzfußboden. Wie immer bei dieser Bewegung nahm ich Großmutters Schwert in die linke Hand und hielt es so, dass die Klinge jederzeit in meine rechte Hand springen konnte.

Es war noch dunkel, aber das störte mich nicht. Mein Gefühl sagte mir, dass es fast fünf Uhr war, die Sonne würde noch eine gute Stunde brauchen. Ich hatte drei Stunden guten Schlaf gehabt, und mehr war für mich nicht nötig.

Ich ließ meinen Blick über die kleine hölzerne Kammer schweifen, die mich aufgenommen hatte. Die mir gehörte zu sagen wäre ein schrecklicher Affront gewesen, denn ein Mensch sollte in seinem Leben nur fünf weltliche Dinge besitzen.

Das erste was ich besaß war das alte Katana, welches die Mutter meines Vaters benutzt hatte, und vor ihr der Großvater, bis hinunter zu den Zeiten eines Shogun Iiesarus. Es war eine gute Klinge, die nur wenig Pflege brauchte, um scharf zu bleiben.

Das zweite war der Yukata, den ich mir umwarf. Ein schlichter, weißer Yukata, der nicht ganz ohne Absicht an jene Gewänder erinnerte, die Samurai zu tragen pflegten, wenn sie Seppuku begangen hatten, damals in den alten Zeiten.

Das dritte war ein Paar Geta, traditionelle japanische Sandalen. Eigentlich ein Accessoire für einen Kimono, aber einen solchen zu tragen erschien mir zu protzig. Außerdem war es der Würde dieses Ortes nicht angemessen.

Das vierte was ich besaßwar mein Leben. Es war mir geschenkt worden, in dieser unvorteilhaften ewigen Nacht, und ich sank jeden Tag für ein paar Stunden auf meine Knie, um dafür zu beten, dass ich diesem Opfer gerecht wurde, jeden einzelnen Tag.

Das fünfte was ich besaß war das einzige, was diesen heiligen Ort verunreinigte. Und es war nicht zu übersehen. Prime Lightning, der uralte, aber immer noch kampftüchtige Daishi Beta, stand vor den ehrwürdigen Mauern und wartete. Wartete seit fünfundzwanzig Jahren…

Mit einem Gefühl aus Erleichterung und Verlust verließ ich meine kleine Kammer. Ich hatte diesen Teil meines Lebens nur geschenkt bekommen, und jederzeit, jederzeit konnte es den Göttern einfallen, dieses Geschenk zurück zu ziehen und mir dieses Leben wieder zu nehmen.

Leben war kostbar, das wusste ich, aber ich spürte auch die Last, die damit verbunden war. Ich musste noch leben, und das war schwer, das war so ungeheuer schwer.

Draußen auf dem Gang kamen gerade ein paar Novizen vorbei. Ihre Gesichter waren jung und ihre Häupter kahl geschoren. Sie legten die Hände aufeinander, als sie mich passierten und verneigten sich ehrfürchtig.

Im Gegensatz zu ihnen ballte ich die Rechte zur Faust, hielt sie auf Brusthöhe und legte die Linke darum. Dazu nickte ich knapp.

Sie waren Männer des Friedens, des Wissens und der Religion.

Ich war nur ein gefährlicher Hund, der gerade an einer sehr kurzen Leine gehalten wurde.

In der Haupthalle hatten sich bereits die älteren Mönche versammelt. Unter der Anleitung des Abtes beteten sie vor der vergoldeten Buddha-Statue, die den Saal dominierte. Respektvoll wartete ich am Rand im Schatten einer Säule, bis sich die Augen des alten Abts auf mich richteten und er mir erlaubte, mich zu den Betenden zu setzen.

Doch heute war alles anders.

Ich musste lange warten. Die buddhistischen Mönche vollführten ihre Gebete ohne mich und ohne, dass ich mich zu ihnen setzen durfte. Danach aber zerstreuten sie sich. Es wurde Zeit für das Frühstück und danach für das T´ai Chi Chuan, die Kunst, selbst im hohen Alter gelenkig wie ein Kind zu sein. Ich verfolgte diesen Sport seit fünfundzwanzig Jahren, und ihm verdankte ich es, dass ich selbst im Alter von einundfünfzig Jahren noch genauso schnell und beweglich war wie mit einundzwanzig.

Der Abt winkte mich heran. Ehrfürchtig trat ich vor ihn und verbeugte mich.

„Akira“, begann er und ich sah verwundert auf. An diesem Ort wurde nur selten gesprochen, und wenn jemand die Stimme erhob, dann hatte er etwas Wichtiges zu sagen.

„Akira Otomo. Du wirst heute dieses Kloster verlassen.“

Erstaunt und überrascht sah ich den Abt an. Was hatte das zu bedeuten?

Der Abt erhob sich, mit einer Leichtigkeit, die seinem offensichtlichen Alter Lügen strafte. Er machte eine einladende Handbewegung, und wir verließen die Halle in Richtung Garten.
 

Zwischen Akazien, Chrysanthemen und Rosen – ein Steckenpferd des Hausherrn – gingen wir auf knirschenden Kieswegen. Das heißt, unter dem Schritt meiner Getas knirschten die Kiesel. Wenn der Abt sich bewegte, hörte ich nicht das leiseste Geräusch. Der Mann schien absolut kein Gewicht zu haben.

„Du kamst zu uns, vor fünfundzwanzig Jahren. Wir haben dich ohne eine Frage zu stellen aufgenommen. Und du hast in dieser Zeit in Demut und ohne zu zögern jede Aufgabe erfüllt, die man dir auftrug. Du hast deine Weisheit mit den Novizen geteilt und du hast geschwiegen, wenn es nötig war. Deine Gebete sind rein und klar wie Bergwasser, und dich mit solcher Bescheidenheit leben zu sehen macht mich stolz.“

Während wir dahin schritten, verneigte ich mich vor dem alten Mann.

„Aber du hast nie das gefunden, was du hier gesucht hast, nicht?“

Ich schüttelte den Kopf. Nicht traurig, nicht verzweifelt. Es war nur der Ausdruck des Körpers über das, was das Gehirn schon lange wusste.

„Und du weißt, dass du das, was du suchst, hier niemals finden wirst.“

Der alte Mann sah mich an. „Du weißt, wir schirmen dich hier, so gut wie wir es können. Wir haben dich aufgenommen, und wir sind für dich verantwortlich. Unsere Welt ist von dem, was die Menschen außerhalb des Klosters leben, vollkommen verschieden, und wir wollen an dieser Welt keinen Anteil haben.

Aber es ist ein Grundsatz des Buddhismus, Barmherzig zu sein und zu tun, was getan werden muss. Deshalb habe ich gestern einen Brief angenommen, der an dich adressiert war. Und deshalb wirst du diesen Ort heute noch verlassen.“

„Was steht in dem Brief?“, fragte ich und meine Linke schloss sich härter um mein Schwert.

„Was denn, was denn? Denkst du, ich lese deine Post?“, erwiderte der alte Abt und lachte freundlich. Er griff in seine safrangelbe Kutte und reichte mir den Brief. Ich erkannte die Situation sofort. Der UEMF-Stempel sagte alles.

Ich öffnete den Brief und las aufmerksam und mit einem gewissen Unbehagen. „Ein Marschbefehl“, brummte ich unwillig. Aber ich wusste, ich konnte mich diesem Befehl nicht entziehen. Nicht, wenn ich meine Integrität und meine Ehre auch noch aufgab. Und dabei hatte ich doch schon meinen Stolz und meine Liebe geopfert.

„Du bist hier jederzeit wieder willkommen, Akira“, sagte der alte Mann.

Ich blickte vom Brief auf, aber der Abt war nicht mehr da. Und erstaunt stellte ich fest, dass ich nicht im Sonnenlicht des Morgens stand, unter dem ich mit dem Abt im Garten spazieren gegangen war, sondern im prallen Licht des Mittags.

Langsam faltete ich den Brief wieder zusammen und steckte ihn in meinen Yukata.

Fünfundzwanzig Jahre hatte ich in Ruhe gelebt, aber nun holte die Welt mich wieder ein.
 

Das wenige was ich besaß trug ich am Leib. Ich brauchte nicht in die Kammer zurückkehren, die schon bald einen anderen beherbergen würde. Es kümmerte mich nicht. In diesem Leben hatte ich nichts besessen und ich konnte nichts zurücklassen.

Auf meinem Weg vor das Kloster begegnete ich Dutzenden Menschen, Priestern und Novizen und vielen höhergestellten Mönchen, von denen ich viele seit Jahren kannte.

Wir tauschten höfliche Grüße aus und gingen unserer Wege. Und ich verstand, dass diese zufälligen Begegnungen in Wirklichkeit ihre Art war, mir Lebewohl zu sagen.

Es rührte mich. Und ich wusste nicht zu sagen, ob ich jemals an diesen Ort wiederkehren würde. Wenn ich Glück hatte, würde sich das eisige All über mir schließen und mich verschlingen.

Vor Prime Lightning blieb ich stehen und sah den riesigen Daishi hinauf. Er stand noch immer so da, wie ich ihn vor fünfundzwanzig Jahren, sieben Tagen, fünf Stunden und drei Minuten abgestellt hatte. Lediglich das Cockpit war geschlossen worden, um es dem Wetter schwerer zu machen, Korrosionen anzurichten.

„Aktivierung“, befahl ich mit ruhiger Stimme.

Der Sensorkopf aktivierte sich, die blutroten Augen blitzten auf wie die einer zornigen Gottheit, welche zum Leben erwacht war. Das Cockpit öffnete sich zischend vor mir. Und Primes Stimme klang zu mir herab: „Guten Morgen, Admiral Otomo. Wir werden erwartet.“

Ich erklomm die Strickleiter, schloss das Cockpit wieder und begann, den blauen Druckanzug anzuziehen, der für mich bereit lag. Danach legte ich die Anschlüsse, setzte den Helm auf und schloss auch ihn an. Diverse Grünzeichen bewiesen mir, dass ich nichts verlernt hatte.

„Wo soll es hingehen, Prime?“

„Chief Admiral of the Fleets, Torum Acati erwartet Sie auf dem OLYMP, Sir.“

„Na, dann wollen wir ihn nicht unnötig warten lassen. Startfreigabe von der Großasiatischen Union?“

„Es wird keine Behinderung im Luftraum gemeldet. Admiral Otomo hat höchste Priorität.“

Ich lächelte schwach. Anscheinend hatte selbst ein Vierteljahrhundert in meiner Isolation in einem buddhistischen Tempel in Zentralchina nicht ausgereicht, um die Welt mich vergessen zu lassen. Ich richtete Prime auf und stapfte ein wenig den Hang hinab, bis ich das unter uns liegende Tal in seiner ganzen Pracht sehen konnte.

Immer wenn ich geglaubt hatte, wahnsinnig werden zu müssen, immer wenn ich am Leben zu verzweifeln drohte, dann hatte ich mir dieses Tal angesehen und gewusst, dass wahre Schönheit jedes Opfer wert war. Wenn auch nur für ein paar Sekunden.

Der Trost war nie von langer Dauer, aber es gab ihn, und das beruhigte mich.

Ich trat die Pedale der Sprungdüsen voll durch, Prime machte einen mächtigen Satz und raste in den strahlendblauen Frühlingshimmel.

Die Ortung meldete diverse Passagiermaschinen in der Luft, aber alle waren weit entfernt. Drei von ihnen entfernten sich sogar in gerader Linie von meinem Kurs. Teufel, hatten die Chinesen sie aus dem Kurs gezwungen?

„Ortung. Hawkeye, zwanzig Stück. Transpondersignal identifiziert sie als Rote Drachen-Schwadron, Formation rautenförmig gestaffelt. Fliegen parallel zu unserem Kurs.“

Die Roten Drachen waren ein Elite-Geschwader der Landesverteidigung. Neben dem Einsatz der Hawk-Technologie setzten die Groß-Asiaten und unter ihnen natürlich der stärkste Partner, die Chinesen, auch auf die Hawkeye-Modelle, Atmosphäregebundene Jäger, die speziell für den Kampf mit Mechas entwickelt worden waren. Sie waren um einiges schneller als Mechas und konnten über eine größere Entfernung treffen. All das machte ihre mangelnde Manövrierfähigkeit gegenüber einem Daishi wieder wett. Und zu einem ernsten Feind für jedermann.

„Die Roten Drachen funken uns an. Sie fordern uns zum Formationsflug auf.“

Ich lachte. Nein, ich war nicht vergessen worden, definitiv nicht vergessen. „Die Roten Drachen erhalten die Erlaubnis, sich um Prime Lightning zu gruppieren.“

„Bestätigt.“

In Zweierpaaren schwenkten die Hawkeyes aus ihrem Kurs und zogen in meine Richtung herüber. Das ganze Manöver dauerte fünf Minuten, dann war ich die Spitze eines Keils.

Ich, an der Spitze einer Ehrenformation aus zwanzig Maschinen, das war ein erhebendes Gefühl. Wenngleich nur für einen Moment.
 

Der Flug zur Titanen-Station dauerte mehrere Stunden. Etwas ärgerte ich mich darüber, dass ich OLYMP nicht direkt anfliegen konnte, aber niemandem war es heutzutage erlaubt, die Erde auf einem anderen Weg zu verlassen als über die drei Plattformsysteme Titanen-Station/OLYMP über dem Westpazifik, APOLLO/ARTEMIS über dem Nordatlantik und YOHKO/MEGUMI im Südindischen Ozean. Starts und Landungen von Schiffen waren äußerst selten, aber sie waren auch unnötig geworden.

Dies bedeutete für mich, ein wenig Schlaf zu finden. Ich brach aus der Routine des Klosters aus, schaltete sofort wieder auf Soldat um, und die erste Regel für Soldaten war: Du weißt nicht was dich erwartet, also schlaf wann immer du kannst.

Der geregelte Rhythmus des Lebens in dem buddhistischen Kloster würde für mich schon bald wie ein Traum sein. Ob gut oder schlecht, vergessen würde ich nicht. Aber ich würde auch nie wieder zurückkehren.

Andererseits… Schlafen, ohne vollkommen erschöpft zu sein, ohne traumlos und tief zu schlafen, ich fürchtete es. Meine Last, meine Träume waren furchtbar und mein Herz zerbarst fast unter der Erinnerung.

Ich wälzte mich auf die Seite und döste ein wenig. Dabei spekulierte ich über den Auftrag, den mir Acati wohl geben würde. Hatten sich die Reste der Core-Zivilisation zusammengeschlossen? Gab es erneut Konflikte mit dem Kaiserreich? Oder war eine Intervention auf Naguad Central notwendig? Daneben gab es noch Dutzende Welten, kleinere Reiche und auch Planeten mit mehreren Nationen, wie die Erde noch immer bewies, die im Konzert der galaktischen Völker oftmals laut und falsch spielten – und dann bedurfte es eines hervorragenden Dirigenten, um das Musikstück nicht ins Chaos stürzen zu lassen.

Wenn Torum Acati mich von meinem Berg zurückrief, dann musste es etwas Wichtiges sein.
 

Über diese Gedanken war ich eingeschlafen. Als ich wieder erwachte, tat ich es mit Entsetzen. Zu deutlich spürte ich den eisigen Biss des Vakuums auf meinen Armen, fühlte wie mein Blut im Unterdruck des Alls zu kochen begann und glaubte noch immer die riesige Felswand vor mir zu sehen, auf die ich zu fiel. Nein, ich wusste es besser. Ich strebte von ihr fort, weit, weit fort, zu einem Tod im Weltall. Und ich hatte nicht gewusst, was mich zuerst töten würde. Ersticken oder erfrieren.

Wütend hielt ich mir den Kopf. Ich würde mir sehr bald eine neue Routine zulegen müssen, die es mir erlaubte, weiterhin traumlos zu schlafen. Sonst würden meine Träume, meine realen Träume, mich nach und nach in den Wahnsinn jagen. Megumi… Sakura… Yohko…

Oh, es tat immer noch so weh, so unendlich weh.

„Titanen-Station, hier Titanen-Station. Rote Drachen, wir danken Ihnen für die Ehreneskorte für Admiral Otomo. Wir bitten um die Erlaubnis, die Eskorte mit zwei Regimentern der Titanen zu verstärken.“

„Erlaubnis erteilt, Titanen-Station.“

Verwundert sah ich auf, checkte meine Bildschirme. Titanen-Station war noch hundert Kilometer entfernt. Aber zweihundertvierzig Punkte in meiner Ortung waren extrem nahe. Kurz darauf umschwirrten mich zu den zwanzig chinesischen Jagdfliegern terranische Hawks, Eagles und Sparrows. Ja, man hatte mich definitiv nicht vergessen.
 

„Ich danke Ihnen für die Eskorte, Ladies und Gentlemen. Eine nette Geste einem alten Soldaten gegenüber.“

„Jederzeit wieder, Sir“, klang die Stimme des chinesischen Staffelführers auf. „Die Roten Drachen verabschieden sich, Sir.“

Die zwanzig Maschinen schwenkten ab, als die Titanen-Station nur noch einen Kilometer entfernt war. Ich sah ihnen einen Moment nach.

„Titanen-Station. Hier spricht Admiral Akira Otomo. Ich bitte um Landeerlaubnis und Transfer auf den OLYMP.“

„Titanen-Station, hier Titanen-Station. Landeerlaubnis erteilt, Transfererlaubnis erteilt. Prime Lightning erhält Prioritätsanflugvektor. Kommen Sie rein wie immer Sie wollen, Admiral“, klang die Stimme des Funkers hocherfreut auf.

„Ich nehme Sie beim Wort“, verkündete ich nicht ohne Freude. Es war nett, mal wieder einen Ort zu besuchen, den ich als meinen eigenen Hinterhof betrachtete.

Der Anflug selbst war eine Routineübung für mich. Ich setzte Prime problemlos im Hangar auf und wurde sofort von einem Mann in grüner Weste mit Leuchtstäben zum nächsten Fahrstuhl eingewiesen.

Nun, ich hatte nicht gerade Jubel erwartet, Standing Ovations und dergleichen, aber der Anblick von ein paar tausend Soldaten und Technikern, die in meine Richtung salutierten, war doch sehr erhebend.

Die Fahrt im Fahrstuhl hingegen war geradezu langweilig. Unspektakulär. Fast ein wenig wie die Zeit im Kloster.

Und dann… Dann rastete die Kabine ein und ich war im OLYMP… Ich schloss einen Moment die Augen und kämpfte mit meiner Erinnerung. Vater würde mich hier nicht erwarten. Makoto würde nicht in seiner schneidigen Uniform auf der anderen Seite der Türen stehen, um mich zu eskortieren. Und Yoshi…

Ich drängte die Gedanken gewaltsam zur Seite. So etwas brachte nichts. Nicht, wenn Acati mich rief, denn das bedeutete, dass er mich brauchte, verdammt. Und dafür hatte ich klar zu sein.

Als sich die Tür öffnete, erwartete mich dennoch eine Überraschung. Der junge Major mit den Hekatoncheiren-Abzeichen war Daisuke Honda so ähnlich, dass es mir fast in den Augen schmerzte, ihn ansehen zu müssen. Nur die Augen und die Nase konnte ich eindeutig Sarah zuordnen. Das musste Jerome sein.

Der Mann salutierte und trat dann zur Seite, damit mich der Techniker mit den Leuchtstäben einweisen konnte.

In einer Haltebucht stellte ich den Mecha ab und verließ das Cockpit.

Major Honda salutierte vorschriftsmäßig vor mir. „Sir, Major Jerome Honda. Sie sind mit meinem alten Herrn geflogen, wie meine Mom mir gerne und oft erzählt.“

Ich salutierte, aber dann trat ich vor und ergriff die Rechte des jungen Mannes. „Teufel auch, Dai-chan und ich waren dicke Freunde. Hat Sarah das nie erwähnt?“

„D-doch, Sir, aber ich habe halt in Betracht gezogen, dass… sie ein wenig übertrieben hat. Sie spricht immer so stolz von Ihnen und lässt niemanden ein schlechtes Wort über Sie verlieren…“

„Auch Sarah ist eine Freundin. Die beste vielleicht“, betonte ich.

„Verstehe, Sir. Und danke, Sir.“

„Es freut mich, Sie kennen zu lernen, Jerome. Sie haben die Augen Ihrer Mutter.“

Der Jüngere lachte. „Und die Nase, Sir. Mom sagt gerne, ich wäre allgemein hübscher als Dad, und das würde an ihrem Teil der Gene liegen. Aber ich werde mich hüten, da ein Urteil abzugeben.“

Ich grinste und der junge Mann grinste zurück. In diesem Moment sah er Dai-chan so verdammt ähnlich, dass mich Freude und Trauer zugleich übermannten. Ich keuchte auf und brach in die Knie ein.

„Sir!“, rief der Major bestürzt.

„Es geht schon. Es ist eben nicht leicht, mit dem Sohn eines Mannes zu reden, den ich auf dem Gewissen habe. Es tut mir Leid, Major Honda. Wenn ich nur besser…“

„Komisch, das hat mir Mom auch gesagt. Sie hat gesagt, Akira Otomo ist ein Mann, der die Fehler in seiner Umgebung auf sich projiziert und daran zu wachsen versucht. Und wenn es keine Fehler gibt und die anderen einfach besser waren, dann sucht er trotzdem nach eigenen Fehlern, die früher passiert sind. Es sieht so aus als hätte sie Recht.“

„Das ist Unsinn. Hätte ich Ihren Vater bei einem Fehler erwischt, hätte ich ihm die Mandeln durch den Arsch rausgerissen, Major, und das ist mein voller Ernst. Aber er hat keinen Fehler gemacht. Es war überhaupt erst mein Fehler, in dieses System zu springen.“

„Aber hätten Sie es nicht getan, hätte der Superkreuzer Iotan vernichtet, oder? Mom hat mir auch gesagt, dass ich Sie nicht alleine lassen soll, wenn Sie sich in der Vergangenheit verlieren.“

Ich schluckte hart. Da stand ich hier, vor dem einzigen Kind von zwei sehr guten Freunden, während ich den Tod des einen und die schwere Verletzung des anderen verschuldet hatte, und musste mir von ihm sagen lassen, wie sehr ich fünfundzwanzig Jahre in Selbstmitleid gelebt hatte. Ja, darauf lief es wohl hinaus.

„Kommen Sie, Sir, Admiral Acati erwartet Sie bereits im Bio-Labor. Mom, ich meine Professor Honda ist ebenfalls anwesend.“

„Bio-Labor?“ Das brachte keine guten Erinnerungen hervor, das spülte nur ein paar sehr üble Sachen an die Oberfläche. Der Superkreuzer, der große Verrat der Daina, der Angriff auf Iotan, die Hauptwelt des Kaiserreichs, die Vernichtung der AURORA, meine Rettung in letzter Sekunde, bevor mein KI-Panzer erlosch… All das war definitiv unter „nicht gut“ abzulegen. Aber dennoch, es bot auch Hoffnung. Wenn Torum mich ins Bio-Labor bat, dann hatten sie vielleicht endlich ein Mittel gefunden und… Ich schob auch diese Gedanken beiseite und folgte Jerome durch die Eingeweide des OLYMP.
 

Auf dem Weg ins Bio-Labor begegneten wir gut eintausend Menschen. Militärs, Wissenschaftler, Techniker, Besucher aus dem Imperium und dem Kaiserreich, einige unabhängige Vertreter von Daima- oder Alien-Systemen, von denen ich einige am Stil der Kleidung ihrer Vertreter erkannte. Und wieder wurde salutiert, oder zumindest geglotzt und gestaunt. Ich fühlte mich wie ein Frosch auf dem Sezierteller. Aber nein, das war ein ungerechter Vergleich den Tortada gegenüber, eine Amphibien-Spezies, die vor siebenundzwanzig Jahren ins Imperium aufgenommen worden war, nachdem die AURORA ihre Heimatwelt von einer Eroberungstruppe des Cores gerettet hatte.

Im Labor erwartete mich bereits Acati. Er kam sofort zu mir herüber, griff mir in den Nacken und drückte mich an sich. „Es ist schön, dass du kommen konntest, Aris.“

Aris, mein alter Naguad-Name. Ich hatte ihn ein Vierteljahrhundert nicht mehr gehört.

„Es tut gut, dass du mich gerufen hast. Was kann ich für das Imperium tun?“

„Für dein Imperium“, erwiderte Torum mit einem matten Lächeln. „Ich bin nur dein Statthalter.“

Unwirsch winkte ich ab. „Ich spiele nur das Aushängeschild, damit sich die Parteien untereinander nicht bekriegen. Der Rest ist Verwaltungsarbeit, oder?“

„Sicher ist es das. Und allein die Tatsache dass du lebst, hält fünfundneunzig bewohnte Sonnensysteme zusammen. Hallo, Akira.“

Ich wandte mich um und betrachtete die Frau, die mit merkwürdigen steifen Schritten auf mich zuging. „Hallo, Sarah.“ Sanft schloss ich die Slayer in die Arme. Nun, diese Zeiten waren seit Hinas Tod endgültig vorbei. „Es tut gut, dich zu sehen. Ich habe gerade deinen Sohn kennen gelernt.“

„Typisch Mann. Immer zu spät. In diesem Fall fünfundzwanzig Jahre.“

Wir sahen uns in die Augen und mussten lachen. Nun, entschied ich, das war besser als weinen. Aber das hätte uns wahrscheinlich gut getan. Wie viele waren wir noch? Fünf? Von wie vielen? Das Leben war hart zu uns gewesen.

„Was habt Ihr für mich?“, fragte ich ernst, nachdem ich Sarah wieder freigegeben hatte. Ihr Exoskelett, welches das vollkommen zerstörte Rückgrat ersetzte, machte sie mobil, aber der Preis war eine gewisse Ineleganz, um es höflich zu formulieren. Wenn wir doch nur über die Heilungsfähigkeiten der Dämonen verfügt hätten, Sarah hätte schon vor Jahren geheilt werden können.

„Wir waren einem Gegenmittel auf der Spur. Aber es war eine Sackgasse. Im Gegenteil, es wird zum Gift“, sagte Sarah ernst, geradezu tonlos.

„Gift?“

Sie ging voran, mit Torum Acati an ihrer Seite, der darauf achtete, dass die Professorin für Elektronik und Exobiologie nicht stürzte. Sie war natürlich viel zu stolz, um ihr Gleichgewicht einem simplen Stock anzuvertrauen, und das war etwas sehr vertrautes, was mich verschmitzt lächeln ließ. „Kommen Sie mit oder haben Sie etwas vor, Major?“, fragte ich über die Schulter hinweg.

„Tschuldigung, Sir. Gesperrter Bereich. Meine Sicherheitseinstufung ist zu niedrig.“ Jerome zuckte mit den Achseln.

„Lassen Sie uns trotzdem nachher zusammen zu Mittag essen. Ich habe Ihnen viel von Ihrem Vater zu erzählen.“

„Darauf warte ich seit achtundzwanzig Jahren, Sir“, erwiderte der junge Mann. Freundlich, hoffnungsvoll, ja geradezu erwartungsvoll und ohne jeden Funken Spott oder Trotz. Ich begann den Jungen zu mögen.
 

Wir passierten eine Sicherheitsschleuse und fünf Wachleute, von denen drei den Kragenaufnäher eines KI-Meisters hatten. Dann standen wir vor dem größten Geheimnis, das sich der UEMF seit neunundzwanzig Jahren stellte.

In einem Biotank schwebte eine nackte junge Frau. Sie sah nicht einen Tag älter aus als zwanzig, aber ich wusste, dass sie über zweitausend Jahre alt war.

„DU ELENDES SCHWEIN! LASS MICH HIER RAUS, UND ICH FRESSE DEINE EINGEWEIDE!“

Es tat weh, eine Freundin so sehen zu müssen. Es tat weh, ihren Wahnsinn zu sehen. Es tat weh, ihr nicht helfen zu können. Vor mir im Tank schwebte Dai-Kitsune-sama, die Herrin der Fuchsgötter. Sie hatte meinen Vater getötet. Sie hatte Akari und Micchan getötet. Und sie hatte höchstwahrscheinlich auch Takashi Mizuhara auf dem Gewissen, wenngleich wir es nie beweisen konnten.

„Das nennst du einen Teilerfolg?“, fragte ich und versuchte das tobende Etwas zu ignorieren. Das war nicht Kitsune. Das war ES.

„Warte es ab“, sagte Sarah, und ihre Miene wurde hart.

Ich hörte übergangslos das Geräusch von jemandem, der weinte. Was etwas schwierig war, wenn man in der bernsteinfarbenen Heilflüssigkeit steckte, die einen Biotank ausfüllte.

Ich sah überrascht wieder hin. Und blickte direkt in Kitsunes verzweifelte Augen.

„Akira“, hauchte sie und legte beide Hände an die Wand des Tanks. „Akira, ich habe solche Angst.“

„Kitsune-chan.“ Mit zwei schnellen Schritten war ich am Tank. „Kitsune-chan.“

„Komm nicht zu nahe“, hauchte sie. „Ich bin wahnsinnig. Ich weiß es, ich sehe es. Da ist etwas in mir, und das frisst mich, und dann werde ich so zornig und will alles töten und… TERRANERSCHWEIN! VERFLUCHTER DAIMA!“

Unwillkürlich wich ich einen Schritt zurück, als ich die laute Stimme hörte, die Augen wild funkeln sah.

„Der Liberty-Virus hat sie nach wie vor fest im Griff. Wir haben es geschafft, ihr lichte Momente zu bescheren, aber nach Dai-Kuzo-samas Tod gibt es niemanden mehr, der ihr wirklich helfen könnte. Das meinte ich mit Gift. Sie ist sich ihrer Qual nun bewusst.“ Sarahs Stimme war emotionslos. Das durfte sie auch. Sie hatte genug für Kitsune geweint, als wir die Dämonin vor sechsundzwanzig Jahren in diesen Tank gesperrt hatten.

Wieder schluchzte die Dämonin. „Es… Es ist, als wären zwei verschiedene Wesen in meinem Kopf. Ich kann es nicht ändern, ich kann es nicht beherrschen. Akira, bitte, ich halte das nicht mehr aus. Ich will nicht nach Eikichi auch noch dich töten! Mach dem ein Ende, bitte. Bitte. Bitte.“ Ihr Kopf sackte nach unten, ihre Hände glitten von innen den Tank hinab.

Einen Augenblick später sah sie mich wieder an, mit den wilden funkelnden Augen. „ICH HABE DEINEN VATER GEFRESSEN, UND JETZT FRESSE ICH DICH!“

Erschüttert wich ich zurück. Ich hatte mich daran gewöhnt, Kitsune in ihrem Hass-Modus zu sehen. Aber die alte Kitsune, die immer wieder zwischendurch aufblitzte, brach mir das Herz.

Ich wandte mich um und ging. Das war Marter, pure Marter.

Ihr Schluchzen verfolgte mich bis auf den Gang.

***

Mein nächster Weg, Torum vor mir und den jungen Honda im Schlepp – eigentlich hatte ich sehr schnell raus, dass der Bengel mir als Adjutant und Leibwache dienen sollte, was mich unwillkürlich an Franlin erinnerte – machte ich mich auf dem Weg ins Herz des OLYMP.

Die Menschen, Anelph, Kronosier und Iovar, die mir begegneten, grüßten mich höflich, soweit sie mich erkannten. Ein paar ignorierten mich, anderen stand einfach nur der Mund offen. Es war eben nicht jedermanns Sache, ausgerechnet Blue Lightning gegenüber zu stehen, dem legendären Mann, der die Seuche des Liberty-Virus gestoppt hatte. Aber zu welchem Preis… Zu welchem Preis…
 

Torum Acati führte mich in Vaters altes Büro. Er hatte es in den letzten Jahren nicht verändert. Noch immer war es karg und leer, noch immer stand der Holoprojektor darin, über den Mutter über die Standleitung mit Vater kommuniziert hatte – über fünfzig Lichtjahre hinweg.

Er setzte sich und lächelte mich an. Acati hatte sich nicht verändert. Er sah immer noch so aus wie am ersten Tag. Nun, seine Haare waren ordentlicher, aber er hatte ja auch keinen Kampf auf Leben und Tod im Bauch der AURORA hinter sich.

„So, Admiral Arogad, Ihre Befehle betreffend...“, sagte er mit ernster Stimme.

Ich verzog mein Gesicht zu einer schmerzerfüllten Grimasse. „Musst du so förmlich sein, Torum? Wir haben uns ein Vierteljahrhundert nicht gesehen.“

Der Halb-Daima sah auf, blickte mich an als sähe er mich das erste Mal, und rang sich endlich zu einem Lächeln durch. „Es tut mir Leid, Akira. Es tut mir einfach Leid. Ich hatte viel zu tun, und ich war mir einfach nicht sicher, ob du noch lebst und…“

Ich lachte rau. „Egal, was der Liberty-Virus in mir anrichtet, ich bin immer noch Akira Otomo. Oder wenn du so willst, Aris Arogad. Mein Vater war ein Mensch, und das bietet mir einen gewissen Schutz.“ Ich betrachtete meine Hände und erschrak. Sie waren alt geworden, so entsetzlich alt. Die Kinder von Naguad sollten eigentlich tausend Jahre und länger leben können, aber ich war von dieser Regel ausgeschlossen, weil… Weil der Liberty-Virus in mir wütete. Jene geheimnisvolle Seuche, die alle Menschen, egal ob Daima oder Daina, an den Rand der Vernichtung gebracht hatte.

„Ich weiß ja, ich weiß. Und ich weiß, dass du als AO-Meister… Ich meine KI-Meister, dich bis zu einem gewissen Punkt selbst beschützen kannst. Aber sicher war ich mir erst, als du auf den OLYMP kamst. Jerome hast du schon kennen gelernt?“

„Er schlägt zum Glück mehr nach Sarah“, scherzte ich, was den jungen Mann erröten ließ und Torum ein Auflachen entlockte.

„Der gleiche wie immer.“ Acati deutete auf den Sessel vor seinem Schreibtisch. „Komm, wir müssen reden.“

Ein Stapel Akten wechselte den Besitzer, und gleich das erste Blatt ließ mich die Stirn runzeln. „Iskan?“ Irritiert las ich weiter. „Ian Reilley. Das ist mein Sohn.“

„Nein, das ist Iskan Arogad, der nächste Erbe des Hausvorsitzes. Und damit in nicht allzu weiter Zukunft mein direkter Vorgesetzter. Oren dankt ab, und ohne Eridia gibt es nur einen ernsthaften Erben, und das ist deine Linie. Jarah und deine Mutter Helen sind tot, du bist der einzige in deiner Generation. Nach dir kommt nur dein und Joans Junge.“ Torum sah mir ernst in die Augen. „Er hat die Tests bestanden, an der Akademie promoviert und ist auf dem besten Wege, ein eigenes Kommando zu bekommen. Er versucht wirklich, dem Namen seines Vaters gerecht zu werden. Er versucht wirklich, der Sohn von Aris Arogad zu sein. Ich habe ein paar Bäume geschüttelt und gesehen, was dabei herunterfällt.

Fioran und Elwenfelt halten es für eine gute Idee, wenn die Linie von Oren nicht unterbrochen wird. Daness denkt dasselbe, immerhin hat es dem Imperium nach dem großen Krieg siebenundzwanzig Jahre Frieden geschenkt. Aber der Vorsitzende des Hausrats der Daness, Sostre Daness, hat gesagt, dass er gerne dich an der Spitze sehen würde.“

Ich winkte ab. „Das ist für mich Geschichte. Wenn Ian das Zeug dazu hat, meinetwegen auch Iskan, wenn ihm ein Naguad-Name lieber ist, dann lass ihn doch machen. Dass du mich dafür aus meiner Isolation holst, wundert mich etwas.“

„Akira“, sagte Torum beschwörend, und ich registrierte, dass er meinen Menschen-Namen benutzte, „es geht hier um nicht mehr und nicht weniger als das ganze Reich, das ich für dich verwalte. Du hast Verantwortung für nicht weniger als neunzig Milliarden Daima! Und ich will verdammt sein, wenn ich zulasse, dass du dich dieser Pflicht entziehst. Akira, denke daran, was Megumi sagen würde und…“

„Megumi ist tot“, sagte ich tonlos. „Sie alle sind tot, und Joan ist irgendwann, während ich mich verkrochen habe, an ihren Implantaten verreckt. Warum kannst du den Jungen nicht in Ruhe lassen? Warum kannst du ihn nicht seinen eigenen Weg finden lassen? Musst du ihm seinen Massenmördervater auf den Hals hetzen?“

„Es ist achtundzwanzig Jahre her, Akira“, sagte der Admiral wieder beschwörend. Der ranghöchste Offizier des Vereinten Imperiums sah mich ernst an. „Wann wirst du endlich darüber hinweg kommen? Wann wirst du ihr Opfer anerkennen, es ehren und weiterleben? Zumindest die Zeit, die dir noch bleibt?“

„Dazu ist es zu spät. Es gab Zeiten, da dachte ich jeden Tag, ich würde den nächsten nicht überleben. Und dann gab es Zeiten in denen ich gehofft habe, ich würde nicht mehr aufwachen, um weiterleben zu müssen. Torum, alter Freund, ich habe soviel Schuld auf mich geladen, dass… Ich kann einfach nicht.“

Zögernd streckte ich die Rechte aus ließ sie dann sinken. Wortlos drehte ich mich um. Ich hatte mich nicht gesetzt, und das sollte Torum genug über meine Stimmung gesagt haben. „Ruf mich wieder, wenn du ein paar Mechas vernichten lassen willst. Darin bin ich wirklich gut.“

„Wie wäre es dann mit einer Leibwächtermission? Der Nachfolger des Hausvorsitzes der Arogad wird einen sehr guten Banges-Piloten brauchen, der ihn beschützt.“

„Babysitten war noch nie meine Stärke. Und dieses Baby habe ich noch nie mit eigenen Augen gesehen. Ich kann ihm schlecht jetzt unter die Augen treten, nachdem ich ihn ein Vierteljahrhundert vernachlässigt und verlassen habe.“ Ich verließ das Büro, den Major im Schlepp.

„AKIRA! AKIRA!“

Ich wandte mich um. „Wie ich schon sagte, wenn du was zum töten hast, bin ich dein Mann, alter Freund. Ich werde einige Zeit hier bleiben. Ich beziehe Makotos altes Büro wenn es recht ist.“ Ich wartete die Antwort nicht ab und ging weiter.

Ja, das Büro meines Cousins war noch immer versiegelt. Ich brach das Siegel auf, trat ein und schaltete das Licht an. Leise surrend lief die Klimaanlage an und tauschte fünfundzwanzig Jahre alte Luft aus.

Seufzend ließ ich mich in den Sessel hinter den Schreibtisch sinken und rieb mir die Schläfen. „Dieser Torum. Ich habe ihm das Imperium gegeben, damit ich mich nicht darum kümmern muss. Warum reißt er mich jetzt wieder rein?“

„Was waren Ihre Beweggründe, überhaupt ins Kloster zu gehen?“

Ich erhob mich wieder, trat zum Aktenschrank und öffnete die Minibar. Mit zwei Gläsern, leicht staubig, und einer Flasche japanischem Whisky, sehr staubig, kam ich zurück. Großzügig schenkte ich ein. Nach fünfundzwanzig Jahren würde der mit drei Jahren Reifezeit etikettierte Whisky entweder furchtbar oder himmlisch sein. Ich schenkte mir und Honda einen Fingerbreit ein und nahm wieder im Sessel Platz. „Ich bin eine Waffe, mein Junge. Die fürchterlichste Waffe, die es jemals gegeben hat. Ich persönlich habe die Core-Hauptwelt zerstört. Ich habe den Central Core zerstört. Ich habe…“ Kurz hielt ich inne. Mein persönlicher Killboard war in diesen Tagen enorm angewachsen. Auf meiner Seele lasteten nun über zehntausend Tote, vielleicht zwanzigtausend. Frustriert nahm ich einen tiefen Schluck, leerte das Glas und schenkte nach.

„Über Core Prime hatten wir eine Raumschlacht, die Schlacht, in der Ihr Vater gefallen ist. Er und Doitsu Ataka, Hina Yamada, Yoshi Futabe, Kenji Hagezawa, Akane Kurozawa, meine Schwester Yohko, und die AURORA, die mitsamt der Besatzung und der Zivilisten zerstört wurde. Meine Cousine Sakura war unter den Opfern, mein Cousin Makoto, Tetsu Genda, und noch einige Menschen, die ich zu meinen Freunden zähle. Dazu hunderte bekannte Gesichter, unter ihnen die Hekatoncheiren. Ihre Mutter war zu dem Zeitpunkt auf der SUNDER, die es sehr viel später erwischte, das hat ihr damals das Leben gerettet.“

Ich dachte kurz an Aria Segeste und Sora Fioran und versuchte das zittern meiner Hände zu unterdrücken. Als ich gedacht hatte, schlimmer konnte es nicht mehr werden, hatte sich der Preis mehr und mehr aufgestockt. Micchan und Akari waren auf der Planetenoberfläche gefallen, ebenso Eri und Takashi, und ganz zum Schluss, beim Endkampf in den Kavernen hatte der Core meine Megumi getötet.

Am Ende waren nur noch wir drei übrig geblieben: Joan, Sarah und ich.

„Ich habe niemanden darum gebeten, aber meine Freunde haben mich bei dem Angriff beschützt. Ihr Vater Daisuke, wir haben ihn immer Dai-chan genannt und er hat es sehr gemocht, steuerte seinen Hawk zwischen mich und eine Rakete. Er opferte sich vor meinen Augen und… Und ich habe den verdammten Core erwischt. In seinem Namen habe ich ihn geviertelt. Aber der Preis war zu hoch. Zu dem Zeitpunkt schon so entsetzlich hoch.“

Ich seufzte und leerte mein Glas erneut. Wieder schenkte ich mir nach. Ich würde sehr gut schlafen können, ging es mir durch den Kopf. Ich war Alkohol einfach nicht mehr gewöhnt.

„Der Liberty-Virus hatte aus den Dämonen der Erde furchtbare Wesen gemacht. Machtgierig, rücksichtslos und brandgefährlich. Zusammen mit dem Core waren sie eine Macht gewesen, die wir nicht ignorieren konnten. Wir durften es auch nicht, und ich habe alles getan, was in meiner Macht stand.“

Ich sah mir auf die zitternden Hände. Dai-Kuzo, Dai-Okame, Dai-Kumo und so viele andere waren durch sie gestorben, bevor ich den Core vernichtet hatte.

Aber es war nicht besser geworden, eher schlechter. Eigentlich war Kitsune der einzige infizierte Dämon, der noch lebte. Und das was sie da hatte Leben zu nennen war ein sehr zynischer Gedanke, fand ich.

„Ihr Vater hat Ihre Mutter sehr geliebt, junger Mann“, führte ich meinen Gedanken zu Ende. „Er hat tapfer gekämpft und viele Siege errungen, vielen Menschen das Leben gerettet. Und er hat in mir den Schlüssel zum Sieg gesehen, und als die Rakete mit meinem Namen drauf auf mich zuhielt, hat er sich dazwischengestellt.

Dadurch konnte ich den Core erreichen, dadurch konnte ich die Dämonen besiegen. Dadurch konnte ich die Zivilisation retten, aber… Ein Trost ist das nicht. Früher hatte ich meine Freunde immer beschützen können, aber an diesem Tag waren vor dem Tod alle gleich. Er hat zwischen uns gewütet und mir fast alles entrissen, was ich liebte.

Und vor dem Rest bin ich geflohen, kaum das die Lage im Imperium einigermaßen stabil aussah. Ich isolierte mich selbst. Teilweise wegen dem Liberty-Virus, um keine anderen Daina anzustecken, aber hauptsächlich weil ich zu feige für die Welt geworden war. Das ist eigentlich die ganze Geschichte. Die Geschichte eines großen Sieges und meiner größten persönlichen Niederlage.“

Major Honda musterte mich ernst. „Ich habe mich immer gefragt, wie Sie wirklich sind, Sir. Ich meine, wenn ich meine Mutter reden höre, wenn ich die Sache von dem Strandhaus und dem Balkon höre, dann denke ich, Akira Otomo muss ein Herz aus Gold haben.

Wenn ich sie vom Mars reden höre, von dem Kämpfen und von Ihnen in vorderster Front, denke ich, Akira Otomo muss das Herz eines Löwen haben.

Wenn ich von den Abenteuern der AURORA höre, wenn ich höre wie Sie Terraner, Anelph und Naguad zu einer Einheit geschweißt haben, dann denke ich, Akira Otomos Verstand muss scharf wie ein Katana sein.

Aber wenn ich das nehme und mit Ihnen vergleiche, dann frage ich mich: Da sitzt er vor mir und er ist wie du ihn dir vorgestellt hast, aber warum nimmt er nicht seine nächste Aufgabe an?

Sir, da draußen ist ein junger Bursche, der sich verzweifelt bemüht, seinen Vater stolz zu machen. Er leistet Großes und wird doch immer in Ihrem Schatten stehen. Aber das macht ihm nichts, solange er ebenso voran gehen kann wie sein Vater es immer getan hat. Ganz zum Schluss hat er es wenigstens verdient, dass sein Vater ihm zumindest etwas beibringt.

Ich habe diese Chance nie gehabt, Sir, aber Ian hat sie.“ Er nahm sein Glas und trank es leer. „Verzeihen Sie mir meine Offenheit.“

Langsam erhob sich Jerome Honda und ließ mich alleine in Makotos Büro zurück. Nun, nicht ganz alleine. Meine Gedanken waren bei mir.

Und sie waren alle nicht sehr nett zu mir.
 

Langsam und nachdenklich begann ich meine Nasenwurzel zu kneten. Dann erhob ich mich, ging unruhig im Büro auf und ab.

Schließlich öffnete ich den Spind, ignorierte den Minirock, der mir entgegen fiel – immerhin war das hier Makos Büro – und starrte in den Spiegel. Ja, ich war ganz schön alt geworden. Ob ich so faltig, vertrocknet und mit glanzlosem Blick noch Joan oder Megumi gefallen hätte? Ich bezweifelte es. Im Kloster hatte es wenigstens keine Spiegel gegeben und ich hatte mir nicht dabei zusehen können, wie mich der Liberty-Virus nach und nach zerfraß.

Wie viel Zeit blieb mir wohl noch? Die letzten fünfundzwanzig Jahre hatte ich mich immer geirrt, wenn ich dachte: Morgen wachst du nicht mehr auf, alter Junge.

Aber die Wahrscheinlichkeit sprach dafür, dass ich irgendwann Recht haben würde. Und je mehr Tage verstrichen, desto mehr rückte der Termin näher.

Hatte ich wirklich Zeit, jetzt noch eine Beziehung zu meinem Sohn aufzubauen? Was, wenn ich ihn sah und starb? Musste ihn das nicht schwerer treffen, als seinem Vater nie begegnet zu sein? Außerdem, wenn ich ihn hätte sehen wollen, dann wäre ich doch längst einmal ins Imperium aufgebrochen, oder?

Wütend erhob ich mich, griff nach meinem Schwert und trat auf den Gang hinaus.
 

Wieder stand ich in dem Labor und starrte Kitsune an.

Ihre Augen leuchteten mich an, mit Freude und Liebe, wie ich es gewohnt war. Nur um kurz darauf von einem ihrer Wutanfälle unterbrochen zu werden. „ICH FRESS DICH STÜCK FÜR STÜCK, KLEINER MENSCH!“

Langsam stieß mein linker Daumen das Heft des Katanas hervor. Ich packte mit der Rechten den Griff und zog die Waffe weiter hervor. Als ich sie blank gezogen hatte, richtete ich sie auf den Tank.

„Das wagst du nicht“, höhnte die Dämonin.

Ich grinste schwach und ließ mein KI auf der Klinge aufleuchten. „Warten wir es ab!“

Mein erster Hieb war ein Miginagi, ein gerader Schlag von rechts. Er sauste knapp über Kitsunes Kopf in das Plastmaterial des Biotanks, durchtrennte es auf voller Breite und trat auf der anderen Seite wieder aus. Bernsteinfarbenes Wasser tropfte aus dem Riss.

Dann führte ich einen Hidarinagi aus, für den ich leicht in die Hocke ging. Meine Klinge ging durch das Plastmaterial wie durch Butter. Diesmal war die Wirkung dramatischer. Noch während die Waffe knapp unter Kitsunes Füßen den Tank zerschnitt, riss das Material, die bernsteinfarbene Medoflüssigkeit schoss hervor und das Plastmaterial kippte auf mich zu.

Ich schlug es mit einer nebensächlichen Bewegung beiseite, sah den Schwall Wasser auf mich zukommen und spürte dann den Schwall Dämon hart auf mir landen.

„Das hat aber lange gedauert, Aki-chan“, schnurrte Kitsune. „Schade. Wenn ich dich umgeworfen hätte, würde ich jetzt auf dir liegen und…“

„Ich denke nicht, dass wir dazu Zeit haben“, tadelte ich ernst. „Klär mich auf.“

Für einen Moment wirkte sie enttäuscht, aber das wich schnell einem strahlenden Lächeln mit einer satten Portion Stolz darin. „Wie du es dir schon gedacht hast. Es gibt keinen Liberty-Virus. Es gab nie eine Verseuchung der Dämonen und auch keinen Aufstand, geschweige denn ein Bündnis mit dem Core.“

„Kann ich dir trauen?“

„Klar kannst du mir trauen“, erklärte sie jovial und klopfte mir auf die Schulter.

Ich entließ sie aus meinen Armen, sah an ihr herab und meinte: „Etwas Bekleidung vielleicht, Kitsune-chan?“

„Was? Gefällt dir nicht, was du siehst?“

„Es geht weniger ums gefallen als um die Zweckmäßigkeit. Was habe ich zu tun, und wie zweckmäßig ist es dabei, dass du nackt bleibst?“

„Okay, okay. Du wirst ja mit der Zeit noch spießiger als der alte Okame, und das ist schon ein Opa sondergleichen.“ Murrend drehte sich die nackte Fuchsdämonin einmal im Kreis und trug kurz darauf ein niedliches Sportoutfit, bestehend aus weißem Trikot und roter Bloomer-Sporthose. Beinahe hätte ich noch oberschenkellange Loose Socks erwartet, aber so viele Klischees wollte sie dann doch nicht bedienen.

„Nett“, kommentierte ich.

„Danke. Ich könnte es auch transparent machen und…“

„Kitsune…“

„War ja nur so ne Idee. Wenn ich schon für dich da bin, dachte ich.“

Ich unterdrückte ein Schmunzeln. „Sag mir lieber was hier los ist.“

„Das ist doch einfach erklärt, Aki-chan. Du befindest dich, wie du schon sehr treffend erkannt hast, in einer Konstruktrealität. Alles hier um dich herum existiert gar nicht. Und alles hier ist nur darauf ausgelegt, um dich in eine bestimmte Richtung zu treiben, die dem Betreiber dieser Realität am genehmsten ist. Sieh das ganze als ein Programm zu deiner Erziehung an.“

„Interessant. Und du bist meine Verbündete.“

„Natürlich bin ich deine Verbündete. Als der Core die Daten über die Erde und die Dämonen extrahierte, war er bei mir etwas zu gut. Als ich entstand, entstand ich als fast perfekte Kopie der realen Dai-Kitsune-sama. Mit anderen Worten, ich bin dein loyaler Verbündeter und Freund. Und ich verteidige dich mit meinem Leben.“

Ich hob die Rechte und strich ihr sanft über die Wange. Lächelnd legte sie ihren Kopf hinein. „Danke, Aki-chan.“

„Was habe ich zu tun, um aus der Konstruktwelt auszubrechen?“, fragte ich und spürte beinahe sofort tiefes Bedauern in mir, weil ich die Antwort schon kannte.

Sie nahm den Kopf hoch und lächelte, doch es war ein kaltes Lächeln. „Zerstöre den OLYMP.“

„Wirst du dann mit der Konstruktwelt vernichtet?“

„Ja“, gestand sie tonlos. Doch kurz darauf lächelte sie breit. „Aber das macht nichts. Ich bin schließlich eine fast perfekte Kopie von Dai-Kitsune-sama, und sie würde mir die Fellhaare einzeln rausreißen, wenn ich für meine lächerliche Existenz dein Leben riskieren würde.“

„I-ich…“

„Aki-chan, ich bin nur ein Konstrukt. Ich lebe nicht wirklich.“ Nun waren es ihre Hände, die über mein Gesicht strichen, und ich spürte, wie die Runzeln und Narben verschwanden, wie ich zunehmend wieder zwanzig wurde. „Ich existiere nur, um für dich da zu sein. Und jetzt gib meiner Existenz einen Sinn und zerstöre den OLYMP.“

Ich schwieg erschüttert. Und fasste einen Entschluss. „Danke, Kitsune-chan.“

Ich hob mein Katana zu einem Karatake, einem Schlag von oben herab. Dabei sammelte ich KI um die Klinge, und als ich die Waffe niedersausen ließ, fuhr ein Blast reinen KIs durch die nächste Wand. Und die übernächste. Und die überübernächste. Und die vierte. Dann traf sie etwas schweres, großes, und eine Explosion ließ die Wände vibrieren.

„Akira! Was tust du? Akira!“

Ich ignorierte Sarah, die für eine unheilbar Versehrte ziemlich gut angelaufen kam, konzentrierte erneut mein KI und stieß die Waffe mit einem Tsuki gerade in den Boden. Diesmal war es nicht nur das KI an der Klinge selbst, es war fast meine gesamte Kraft, die so in den Boden geleitet wurde.

Um mich herum wurde alles strahlend hell weiß erleuchtet, Konturen verschwammen, ich sah wie sich Sarah schreiend auflöste, wie ihr Sohn mit Unglauben im Blick verging, sah Torum heranhetzen, beherzt einen Schild aufbauen, aber er verging dennoch, denn mein KI kam von allen Seiten.

„Das hast du gut gemacht, Aki-chan“, kommentierte Kitsune lächelnd.
 

Ich schlug die Augen auf. Noch immer war meine Umgebung weiß, aber es war nicht mehr so blendend grell. Laysan stand neben mir in der substanzlosen Helligkeit und hielt meine rechte Hand. Zu meiner Verwunderung bemerkte ich, dass ich nicht länger die weiße Hose und das weiße Hemd trug. Was ich da anhatte, war die volle Haus-Uniform der Arogads, in meinem Fall mit einem langen blauen Umhang aufgepeppt. Eigentlich war dies meine KI-Rüstung und eine meiner stärksten Waffen.

„Wie hast du es bemerkt?“, hörte ich eine neugierige Mädchenstimme fragen.

Ich drehte mich um. Oder vielmehr drehte sich das Weiß um mich, bis ich sie ansehen konnte.

Es war das Mädchen, das mich im Paradies empfangen hatte. Sie trug noch immer dieses kurze, schwarze Kleid, aber ihr Haar war… Nun, es erinnerte mich an Sarah, aber mit jeder vergehenden Sekunde wurde es dunkler und dunkler, bis es als Farbton eine substanzlose Schwärze hatte, dass ich mich unwillkürlich fragte, ob man schwarze Löcher sehen oder als Haare tragen konnte.

„Aris.“

Das Mädchen nickte mir huldvoll zu. „Du hast die Konstruktwelt zerstört. Das ist beachtlich. Das ist sehr beachtlich. Aber es macht nichts. Sie war ohnehin nur dazu gedacht, um mehr über dich herauszufinden. Aber wie hast du es gemerkt?“

Ich lächelte dünn. Ob ihr ein Hinweis reichte, der auf meine Gefangenschaft bei den Kronosiern verwies, als ich selbst in einem Biotank gelegen hatte und Teil eines Supercomputers gewesen war? Damals hatte ich ständig Konstruktwelten enttarnt und zerstört.

„Kitsune“, sagte ich ernst. „Kitsune war es. Ich konnte mir einfach nicht vorstellen, dass sie mich jemals verletzen würde.“

„Du hast… Wie sagt ihr Terraner? Gepokert.“

„Nein. Ich wusste, dass sie mir nichts tun würde. Diese Konstruktwelt, du hast sie nach Daten aus meiner Erinnerung geschaffen, oder?“

Das Mädchen nickte.

„Die Kitsune aus meiner Vergangenheit kann mir nichts tun. Sie wird es auch nicht. Und die Kitsune, der ich hier begegnet bin, war so sehr ihr Vorbild, das auch sie es nicht konnte. Im Gegenteil. Sie hat mir schlussendlich sogar den Weg aus der Traumwelt hinaus gezeigt.“

„Das… ist sehr klug von dir gewesen“, gestand die Herrin des Paradieses ein.

„Und es hat mir eines gezeigt. Vieles von dem, was du aus meiner Erinnerung extrahiert hast, wird sich für mich verwenden – und gegen dich.“

Sie lächelte hoch erfreut. „Macht es das Spiel nicht interessanter, Akira?“

„Was für dich nur ein Spiel ist, wird für mich ein Kampf um mein Leben. Ich weiß, du willst etwas von mir. Und sobald ich weiß, was das ist, Aris, werde ich mein Bestes geben, um es dir wegzunehmen.“

„Warum bist du so gemein zu mir? Akira, ich will doch nur dein bestes. Warum glaubst du mir nicht einfach und vertraust mir?“

„Hm. Laysan, was meinst du?“

„Trau ihr nicht einen Meter weit, Aris. Sie hat uns hier eingesperrt und sie lässt uns nicht gehen.“

„Da hörst du es, junge Dame. Wir trauen dir nicht. Und noch was, wir werden hier ausbrechen, das verspreche ich dir.“

„Nun, Laysan könnte theoretisch ausbrechen. Aber du kannst es nicht, Akira. Du hast keinen Körper mehr.“

Ich lächelte gehässig. „Ich finde einen Weg.“
 

Unschlüssig sah sie mich an und wandte sich um. Die Umgebung verschwand und machte der grünen Wiese Platz.

Die Schwarzgekleidete Matrone erschien neben Aris und nahm sie in die Arme. Das Mädchen schluchzte hingebungsvoll, was sie mit einem sehr bösen Blick in meine und Laysans Richtung kommentierte.

„Ich will doch nur sein Bestes. Warum vertraut er mir nicht? Warum unterstützt er mich nicht? Er lebt doch im Paradies, sieht er das nicht?“

Die Frau mit dem schwarzen Kapuzenkleid strich der jungen Frau tröstend über den Kopf. „Er wird es lernen, Herrin. Er wird es lernen.“

Ich hatte dazu einiges zu sagen, wollte anmerken, dass ich weder wusste, wo ich war, noch dass ich keinesfalls freiwillig hier war, was mich von vorne herein etwas gegen Aris und die Matrone einnahm. Außerdem war ich von meinen Freunden getrennt, und das nahm ich wirklich übel. Einmal ganz davon abgesehen, dass ich alleine Megumi so schmerzlich vermisste, dass mir schon der Klang ihres Namens fast die Besinnung raubte. Theoretisch, denn als körperloses Bewusstsein empfand ich ja nur eine Art Simulation von Schmerz.

Um mich herum verschwand die grüne Wiese wieder. Zweite Runde, erkannte ich mit dem letzten Funken realen Bewusstseins.
 

3.

Die Audienz war exklusiv. Der Saal war riesig, ja nahezu gigantisch. Er bot Platz für fünftausend Personen, war überdacht, und im Moment bildete er den zentralen Punkt der ganzen Erde. Eine einzige Bombe hätte die Weltverteidigung auslöschen können.

Die rund fünftausendeinhundert Menschen, Anelph, Naguad und Kronosier, die hier saßen, waren die absolute Top-Elite der Menschheit. Und sie alle waren heute Gäste von Admiral Sakura Ino.

Das Thema des Abends war… Nicht Akira.

Megumi Uno wechselte auf der Bühne einen kurzen Blick mit Doitsu Ataka, der nickte, seinen Pilotenhelm aufsetzte und hinter der Bühne verschwand.

Danach nickte Megumi Sakura zu, die ans Rednerpult herantrat.

Sofort verstummten die Gespräche. Niemand in dieser Halle hatte einen geringeren Rang als Staffelführer, was mindestens Captain entsprach. Das Gros stammte aus der UEMF oder direkt assoziierten Streitkräften, aber es waren auch Dutzende Attachés nicht formell alliierter Staaten vertreten. Und alle erwarteten Großes.

„Meine Damen und Herren. Ich danke Ihnen, dass Sie alle so kurzfristig erscheinen konnten.

Als Executive Commander Otomo die Einladungen verschickt hat, deutete er an, dass wir etwas haben, was die Weltverteidigung revolutionieren wird. Nun, ich denke, er hat nicht übertrieben. Colonel Uno.“

Megumi rückte ihr KommSet zurecht und deutete auf die riesige Leinwand hinter sich. „Was Sie jetzt sehen werden, ist die allerneueste Innovation der UEMF, geplant und hergestellt von den Teams der AURORA und überarbeitet und verbessert von Luna Mecha Research und drei weiteren UEMF-eigenen Firmen. Major Ataka, Go.“

Die Leinwand erwachte zum Leben, zusätzliche Monitore flammten überall im Publikum auf. Zuerst erschien der LRAO, der Long Range Area Observer, die gigantische Ortungs- und Kommandoplattform der UEMF, erbaut auf der Zelle eines Daishi Epsilon.

Daneben erschien der Hawk, der bekannteste und am häufigsten eingesetzte Mecha der Erde. Er entstand nach der Vorlage der Daishi Beta.

Neben sie setzte sich ein Sparrow, der leichte Erkunder. Es bedurfte wohl keiner Erklärung, welchem Daishi der etwas kleinere Mecha nachempfunden war.

Der letzte Mecha, der sich zu dieser im Flug – und live – aufgenommenen Formation gesellte, war ein Eagle, der große, schwere Artillerie-Mecha der Menschheit, der seine Tödlichkeit mehr als einmal unter Beweis gestellt hatte.

„Was Sie hier sehen, sind die vier Mecha-Typen, die wir Menschen entwickelt haben. Letztendlich basieren alle Prinzipien auf dem Banges, dem Naguad-Design, welches sie von den Iovar erhalten haben.

Unsere Modelle sollten daher veraltet und leistungsschwächer sein, sind sie aber nicht. Im Gegenteil. Unsere Hawks waren den Daishis von vorne herein überlegen, was uns darin bestärkt, weiterhin eigene Systeme zu entwickeln. Oder um vollkommen unverblümt zu reden: Ein gutes System zu klauen und zu verbessern.“

Gelächter raunte durch den Saal.

Nun setzte sich ein fünfter Mecha zwischen die Formation der vier UEMF-Modelle. Er war fast so groß wie der LRAO, war aber definitiv schmaler, weil sein Cockpit nicht fünf Personen Platz bieten musste. Dennoch erschien er gewaltiger als der Eagle. Und seine Bewaffnung und die mächtigen Schulterschilde, Markenzeichen der Erd-Mechas, sprachen eine deutliche Sprache.

„Dies ist der Phoenix. Wir haben das Design des Daishi Delta lange Zeit ignoriert, nicht aufgegriffen, wir haben unsere Ressourcen auf den Daishi Epsilon und dessen Möglichkeiten fixiert. Grund dafür war, dass wir keine Veranlassung sahen, einen weiteren Mecha-Typ zu entwickeln. Wir haben den Sparrow für Erkundungsmissionen, Flankenangriffe und Hit´n Run-Missionen. Wir haben den Hawk als Allrounder und Arbeitspferd unserer Streitkräfte. Wir haben den Eagle als Artillerieplattform für Distanzkämpfe und Unterstützungsfeuer.

Und wir haben den LRAO, den wir heute mit dem Codenamen Condor versehen möchten, als Koordinator, als Ortungsplattform und als Taktikzentrum.

Nun, die Begegnung mit den Banges hat uns gezeigt, dass wir wieder etwas klauen, ich meine dazulernen können.“ Höflich wartete Megumi die Lacher ab, die sich aus ihrem vermeintlichen Versprecher ergeben hatten.

„Das Ergebnis ist der Phoenix. Sein Prinzip ist das eines überschweren Sturmpanzers. Dieser Mecha ist eine Phalanx-Maschine. Überdurchschnittlich gut gepanzert und bewaffnet wird der Phoenix das Zentrum unserer Angriffe und unserer Verteidigungen werden. Indem wir den Phoenix mit KI-Meistern besetzen, erhöhen wir auch den Spielraum für Geschwindigkeit. Der Mecha ist groß und langsam, aber extrem mächtig. Doch das ist noch nicht alles. Major Ataka, Freigabe.“

Auf der Leinwand und den Bildschirmen war zu sehen, wie die anderen Mechas davon spritzten. Der Phoenix hingegen warf die Arme und Beine ab, dazu die Sprungdüsen auf dem Rücken. Kurz darauf erschienen größere, klobigere Extremitäten und ein gigantischer Rückentornister, auf dem eine gewaltige Kanone montiert war. Allein sie hatte die Höhe eines Sparrows und den Durchmesser eines Hawk-Sensorkopfs.

„Was wir von den Banges lernen konnten ist die modulare Bauweise. Allerdings beschränken wir sie exakt auf dieses Modell, machen den schweren Mecha aber dadurch flexibler.

Es gibt drei Varianten, auf die wir bisher bauen. Sturm, Artillerie und Langstreckenflug. Dadurch wird der Phoenix, so er denn in der Lage ist seine Ausrüstung zu wechseln, binnen weniger Minuten auf neue Situationen umgestellt. Ich verspreche Ihnen, dies wird eine unverzichtbare Waffe für unsere nahe Zukunft.“

Auf der Leinwand begann der Phoenix zu feuern, ein armdicker Waffenstrahl verließ die Kanone auf den Rückentornister.

„Eine Partikelkanone. Die erste ihrer Art. Sie ist in der Lage, bis zu fünf Meter herkömmlichen Panzerstahl zu durchschneiden. Für alle Phoenix, die wir in Dienst stellen, steht eine zur Verfügung.“

„Danke, Colonel Uno. Bevor wir zu Ihren Fragen kommen, meine Damen und Herren, habe ich die Freude, Ihnen mitteilen zu können, dass das Exekutivkomitee der United Earth Mecha Force beschlossen hat, dieses Design allen unseren Verbündeten zur Verfügung zu stellen. Ihre Fragen, bitte.“

***

Michi Torah war sich darüber im Klaren, dass er Aufmerksamkeit erregte. Oder um genau zu sein, seine weißblonden Haare und seine dunkelblaue Schuluniform, die ihn als Studenten der AURORA-Oberstufe auswies. Aber er war halt ein Mann, und ein Mann durfte schon mal schlampig sein und am Ende des Monats entdecken, dass die einzigen Klamotten, die keine Wäsche brauchten die letzte Schuluniform war, auch wenn es peinlich war, ausgerechnet in diesem Sachen auf ein Date zu gehen.

Wütend über sich selbst rührte er mit dem Stiellöffel in seinem Eisbecher herum. Es wäre vielleicht leichter gewesen, sich was Frisches von Kei zu borgen, oder noch besser zu kaufen.

Immerhin war er jetzt ja offiziell Mitglied der UEMF, angenommen als Fähnrich, und bezog seitdem einen festen, nicht gerade kleinen Sold. Den allerdings Sakura-o-nee-chan für ihn treuhändisch verwaltete, bis er achtzehn war, dem international anerkannten Alter der Volljährigkeit.

Aber einkaufen war so ein Gräuel für ihn. Nun, vielleicht war es etwas anderes, wenn er mit Akari einkaufen gehen konnte. Akari… Wenn er an ihr langes, schwarzes Haar dachte, wenn er sich an ihren Kuss erinnerte, wenn er an die Geschichten über sie dachte als sie noch ein erwachsener Oni gewesen war, dann fragte er sich, wie er sich in diese wilde Mixtur von Mensch und Dämon hatte verlieben können. Und er stellte im gleichen Atemzug fest, dass er nicht wirklich eine Chance gehabt hatte. Nicht eine Sekunde lang. Nicht seit dem Moment, als Akira ihn mit zu sich nach Hause genommen hatte, um ihn als seinen Schüler vorzustellen.

Nicht nachdem er diesem schwarzhaarigen Engel mit den wunderschönen grünen Augen erblickt hatte. Beim Gedanken an diesen Moment begann sein Herz zu rasen, und er erkannte viel zu genau, dass er Akari – seine Akari – immer lieben würde. Selbst wenn sie wieder zu einem Oni werden würde, er konnte und wollte sie nie wieder verlassen.
 

„Nun iss das arme Eis schon. Wofür hast du es sonst gekauft?“, klang eine spöttische Stimme vor ihm auf.

Michi hob den Kopf und ließ vor Schreck den Löffel fallen. „Urgs.“

„Nicht Urgs. Vater heißt das, mein Sohn. Entschuldigen Sie, Miss, aber könnten Sie mir einen Kaffee bringen? Hm, groß bist du geworden, Michi.“

„V-v-v-vater, was machst du hier?“ Ungläubig starrte der Junge den Mann an, der gerade einer Bedienung sehr freundlich den Kaffee abnahm und mit einem horrenden Trinkgeld honorierte. „Ich besuche meinen Sohn. Ist das erlaubt?“

„V-vater, du wirst gesucht!“

„Nein. Ich werde nicht gesucht. Ich bin tot“, stellte Juichiro Tora fest und nippte am Kaffee.

„A-aber wenn sie herausfinden, dass du noch lebst, dann werden sie dich jagen und…“

„Hat Akira Otomo gut für dich gesorgt? Du siehst gut aus, und du wurdest ausgebildet, um dein KI zu benutzen. Nicht schlecht.“

„Woher weißt du das von Akira?“

„Nun, ich habe so meine Quellen auf der AURORA gehabt.“ Der Magier schmunzelte. „Ich war die letzten zwei Jahre nicht untätig.“

„Wieso lebst du überhaupt noch?“

„Was?“ Entrüstet legte der große Mann beide Hände auf seine Brust. „Findest du es etwa schlecht, dass ich noch lebe?“

„Nein, das ist es nicht. Aber Akari hat dich doch auf dem Mars vernichtet, und ich habe versucht, dich auf der AURORA zu rächen und…“

„Ach, das. Tut mir Leid, aber meine Regeneration war zu diesem Zeitpunkt noch nicht weit genug fortgeschritten, um dich von diesem Unsinn abhalten zu können. Aber auf Akira Otomo ist anscheinend Verlass. Anstatt dich zu töten hat er dich unter seine Fittiche genommen. Ich wünschte, ich hätte ihn kennen gelernt.“

„Regeneration?“, hakte Michi nach.

„Ich bin ein Dämon, mein Sohn. Deine Freundin hat unglaubliche Macht entfesselt, aber sie hat hauptsächlich gegen die von meinen Youmas gestohlene KI-Energie gekämpft, nicht unbedingt gegen mich selbst. Ich konnte meinen Kern isolieren und mich später aus ihm regenerieren. Eine ähnliche Geschichte wie mit meinem alten Hassfreund Taylor und seinem miniaturisierten Resonator. Ich hatte Hilfe.“

„Du bist ein Dämon?“

„Deine Freundin ist ja auch einer, oder?“

„Aber sie ist doch jetzt ein Mensch!“

„Nein, ist sie nicht. Das heißt nicht, dass sie nicht real ist, wenn du sie berührst. Das heißt auch nicht, dass sie jemand anders ist als die Akari, die du kennen gelernt hast. Es heißt nur, sie ist dir sehr viel ähnlicher als du glaubst. Hm, ein Kind von euch beiden hätte eine interessante Zukunft.“

„VATER!“

„Schon gut, schon gut. Dafür bist du wirklich noch etwas jung. Du hast sicherlich noch nicht einmal an Sex gedacht, oder?“

Michi wurde rot. Besonders seine Ohren begannen zu glühen.

Was der Magier zum Anlass nahm, um zu lachen. „Oh, Himmel hilf. Als ich das erste Mal Sex hatte, war ich bereits fünfundachtzig. Die Jugend heutzutage ist wohl etwas frühreif.“

Juichiro Tora beugte sich vor. „Ich habe einen guten Rat für dich, mein Sohn. Lass sie dir nicht durch die Finger schlüpfen.“

„Eh? Du wirst dich nicht an ihr rächen?“

Tora schenkte ihm einen amüsierten Blick. „Denkst du wirklich, ich will mir meinen eigenen Sohn zum Feind machen? Ein Vater muss wissen, wann er seinem Kind in die Quere kommt und wann nicht. Aber falls du Fragen zum Thema Sex hast, Junge, dann…“

„Ich denke, ich komme klar“, wich Michi aus. „Aber was hast du jetzt vor, Vater? Außer, mich zu besuchen?“

Juichiro lächelte. Seine Augen veränderten sich, wurden katzenartig, wenn auch nur für einen Moment. „Ich schwanke noch. Ich meine, dies ist eine Art zweites Leben für mich, und mir stellt sich die Frage, was ich damit anfange. Es gibt den Legat immer noch, musst du wissen. Und er ist immer noch mächtig. Macht ist etwas, was ich schon immer angestrebt habe.“

„Vater. Wofür das alles? Warum? Und wieso versuchst du nicht, mich auf deine Seite zu ziehen?“

„Warum sollte ich? Du hast dein eigenes Leben, mein Sohn. Und wohin mein Weg mich führt… Einst war ich mir da sehr sicher. Aber nicht nur Menschen verändern sich, Dämonen anscheinend auch. Du wirst es merken, wenn ich mich entschieden habe.“
 

„Entschuldigung. Ich will nicht stören.“

Unwillkürlich zuckte Michi nach hinten und stieß hart gegen die Lehne seiner Sitzbank. „A-akari!“

Das junge Mädchen trug ebenfalls die Schuluniform der AURORA-Oberstufe. Im Moment verneigte es sich leicht. „Ich bitte um Entschuldigung, aber ich war mit Michi verabredet.“

„Ich will auch nicht lange stören. Aber ich musste mal ein paar schnelle Worte mit meinem Sohn wechseln.“ Grinsend erhob sich Juichiro.
 

Akari sah auf und ihr Kiefer sackte herab. Man konnte dabei zusehen, wie ihr Blick zu den goldblonden Haaren zuckte, dann zu Augen, Nase, Mund, und bei der Gesichtsform hängen blieb. „Tora!“

Als sich der Mann erhob, war sie nicht fähig auch nur einen Finger zu rühren. Im Gegenteil, sie begann zu zittern. Bei all ihrer Macht, bei all ihren Fähigkeiten als Mecha-Pilotin und Slayer, sie hatte Angst, furchtbare Angst.

Doch wenn Tora das bemerkte, so zeigte er es nicht. Er klopfte Akari auf die Schulter, beugte sich vor und hauchte ihr ins Ohr: „Pass gut auf meinen kleinen Jungen auf, bitte. Er ist so ein lieber und sensibler Bursche, er kann ein nettes Mädchen wie dich wirklich brauchen.“

Zu der Angst kam nun auch noch eine mittelschwere Panik. Ihr Kopf wurde knallrot und ihre Ohren begannen zu glühen. Wäre es kein trockener Tag in Tokio gewesen, sie hätte wahrscheinlich die Luftfeuchtigkeit verdampft.

Juichiro Tora klopfte noch einmal sanft auf ihre Schulter und ging. „Ach ja, Michi. Grüß deine Mutter von mir, wenn du sie triffst, ja?“

„Hä? Mutter? Was?“

„Du wirst es wissen, wenn du ihr begegnest“, orakelte der Magier. Akari sah ihm nach, blinzelte - und er war verschwunden. Wahrlich ein Magier.

„Akari, geht es dir gut?“ Michi stand auf, kam zu ihr und streckte eine Hand aus, wagte es aber nicht, sie zu berühren.

Andererseits war dies eine sehr gute Gelegenheit, fand sie. Sie warf sich an Michis Brust und begann zu schluchzen, was dieser zu ihrer Zufriedenheit zum Anlass nahm, um sie zu umarmen. „Ich hatte Angst“, gestand sie.

„Ich auch. Aber um Vater. Wenn er versucht hätte, dir etwas zu tun, dann…“

„Daran habe ich nicht eine Sekunde gezweifelt, Micchan“, hauchte sie, sah ihm in seine klaren Augen und schenkte ihm einen langen Kuss. Außerdem nahm sie sich vor, über Juichiro Tora nachzudenken. Später. Viel später.
 

Epilog:

Als Sakura Ino in ihrem Zimmer im Tokioter Haus erwachte, verging nur eine Sekunde, bis sie sich orientiert hatte. Frustriert umklammerte sie ihre Beine und fürchtete sich davor, aufzustehen. Das Haus war so groß, so leer. Wenn sie da an früher dachte, an das Leben, das hier getobt hatte, dann…“

„Nun warte doch mal, Yohko!“

„Nein, nein, nein! Pack das Kästchen wieder weg, Yoshi, oder ich rede kein Wort mit dir! Den ganzen Tag nicht!“

„Könnt ihr alle nicht etwas leiser sein? Joan und ich sind gestern reichlich spät angekommen und könnten noch etwas Schlaf gebrauchen!“

„Meckere nicht. Ich habe auch keinen Schlaf bekommen, und maule ich vielleicht rum, Mako?“

„Kei! Sag doch nicht so was!“

„Wir waren die ganze Nacht auf Achse, das können die anderen ruhig wissen, Ami!“

„Und? Ist wenigstens was zwischen euch passiert?“

„Definiere passiert, Megumi.“

„Sex.“

„Nein. Hey, was machst du da? Warum schiebst du so? Megumi-chan!“

„Schnell wieder rein mit euch ins Zimmer, und dann benutzt mal euren Verstand, ihr zwei!“

Mit einem Satz war Sakura in der Tür. Sie riss sie auf, trat auf den Gang, und sah das Dilemma. Yohko und Yoshi verharrten gerade auf dem Weg ins Wohnzimmer, Tetsu kam gerade herein, begleitet von Micchan und empfangen von Akari, während Megumi versuchte, Kei und Ami wieder in sein Zimmer zu stopfen.

Makoto stand in der offenen Tür zu seinem Raum und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Zweifellos das Ergebnis intensiver Interaktion mit seinem persönlichen Superstar.

Als Doitsu frisch geduscht und wohl gelaunt auf den Flur hinaustrat, bemerkte er die ungewohnte Stille, runzelte die Stirn und fragte: „Ist was?“

Kitsune steckte ihren Kopf aus der Küche hervor und rief: „Kaffee ist fertig. Wer nicht kommt, kriegt keinen!“

Megumi benutzte den Überraschungsmoment und stopfte die zwei endlich in Keis Zimmer zurück. Danach klopfte sie sich demonstrativ die Hände ab. „So, das wäre geregelt. Sensei, auch einen Kaffee?“

Es dauerte ein paar Sekunden, bis die Information in ihren Verstand gesickert war, dass Megumi sie gemeint hatte. „Danke“, erwiderte Sakura, und es war mehr in diesem einen Wort enthalten als die Erwiderung auf die Einladung zum Kaffee.
 

Schließlich und endlich umklammerte Sakura ihre persönliche Kaffeetasse und konnte ein Schmunzeln nicht unterdrücken. Dieses Haus lebte wieder. Bis auf Akira waren alle da, und das würde fortan nur noch eine Frage der Zeit sein.

Tetsu schob ihr ein Datapad zu. „Arbeit, Sakura.“

„So früh am Morgen? Du verstehst es, mich zu quälen, Tetsu.“

Sakura aktivierte das Pad, scrollte durch die Dateien und atmete lange und nachdrücklich aus.

„Was hast du denn da schönes?“, fragte Yoshi interessiert.

„Die Freiwilligenmeldungen für die Rettungsmission“, sagte sie betont gelangweit. Sie legte das Pad beiseite und streckte sich. „Es sieht so aus als würde ich aus sämtlichen Streitkräften der UEMF wählen können.“

Sprachlose Stille antwortete ihr, gefolgt von erleichterter Freude. Was konnte sie jetzt noch aufhalten?



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Kommentare zu diesem Kapitel (1)

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Von: abgemeldet
2007-05-28T09:52:30+00:00 28.05.2007 11:52
Geiulo! War am Anfang etwas verwirrt, aber dann fiel der Groschen. XD


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