Boston Boys - Fragmente von Vampyrsoul (Kurzgeschichten zur Boston Boys Reihe) ================================================================================ Kapitel 8: Mat – Dezember 2013 ------------------------------ Nein. Nein, kein Problem. Ich dachte nur, dass wir bis nach dem Essen noch beim Smalltalk bleiben müssten. Ist mir so aber auch lieber. Wenn du dabei schon nicht mit der Wahrheit klarkommst, seh ich keinen Sinn darin, dieses Treffen weiter auszudehnen. Ich bin nur nicht sicher, wie sehr du involviert wurdest und wüsste auch nicht, wo ich sonst anfangen soll, also starte ich wirklich ganz am Anfang. Ich möchte nicht, dass du mich unterbrichst. Du kannst danach fragen stellen, von mir aus deine Sicht der Ereignisse erklären, aber ich habe damit abgeschlossen. Ich will kein Mitleid, keine Entschuldigungen, keine Rechtfertigungen. Nichts davon ist notwendig oder ändert irgendetwas. Sind wir uns da einig? Gut! Hast du die Fletchers je kennengelernt? Erstaunlicherweise erinnere ich mich noch ziemlich gut an sie. Ein alter Airforce-Veteran und seine Frau. Ich vermute, dass es so ein ›die Army kümmert sich um ihre Kinder‹-Mist war, dass ich ausgerechnet dort gelandet bin. Sie haben sich wirklich bemüht, aber waren viel zu alt, um sich um ein kleines Kind zu kümmern. Sie wussten absolut nichts mit mir anzufangen. Außerhalb der Essenszeiten musste ich mich meist allein beschäftigen. Nur gelegentlich hat sich der Alte nach dem Abendessen hingesetzt und Kriegsgeschichten erzählt. Ansonsten musste ich danach immer direkt in mein kleines Zimmer auf dem Dachboden, das keinerlei elektrisches Licht hatte; lediglich ein kleines Dachlukenfenster. Im Sommer konnte ich mich mit den Büchern beschäftigen, die ich zuhauf hatte, und hab letztendlich auch selbst lesen gelernt. Aber besonders im Winter habe ich Granny vermisst, die mir jeden Abend erst eine kurze Geschichte erzählt und mir dann etwas vorgesungen hat. Sie saß immer so lange an meinem Bett, bis ich eingeschlafen war ... Gerade dann bin ich auch öfter mit Mr. Fletcher aneinandergeraten, weil er eine ganz andere Vorstellung von Disziplin hatte als sie. Wenn Granny mir etwas verboten hatte oder ich mich falsch verhielt, dann hatte sie es mir immer erklärt. Mr. Fletchers dagegen verlangte unbedingten Gehorsam, aber ich habe nicht wirklich verstanden, warum ich irgendetwas ohne eine Begründung tun sollte und für Androhungen von Strafen war ich zu stur; die Strafen selbst machten für mich genauso wenig Sinn wie die ursprünglichen Aufforderungen. Anfangs habe ich noch immer wieder nach Erklärungen gefragt, doch mittlerweile weiß ich, dass er es nur als Provokation aufgefasst hat. Provokation von einem Kleinkind ... Mrs. Fletcher war auch nicht sonderlich hilfreich. Die einzige Erklärung, die sie hatte, war, dass ich einfach nur gehorchen musste. Und sonst gab es keine Personen, die mir das hätten erklären können. Die einzigen anderen Menschen, mit denen ich bis zur Vorschule dort Kontakt hatte, waren ihre beiden Teenagersöhne, die jedoch auf irgendeine Akademie gingen und lediglich zu den Ferien da waren. Und die hätten einen Scheiß getan, mir irgendwas zu erklären. Ich weiß noch, wie ich mich beim ersten Mal gefreut habe, als es hieß, sie würden kommen. Endlich jemand zum Spielen! Mrs. Fletcher hat immer so stolz von ihnen erzählt, was für wunderbare Jungen das doch seien. In ihren Augen war das sicher auch richtig; für mich waren Ferien der Albtraum. Vielleicht ist es ganz gut, dass ich mich nicht mehr an alle Gemeinheiten erinnere, aber es war ein tägliches Versteckspiel, damit sie mich nicht fanden. Besonders ist mir dabei in Erinnerung geblieben, dass sie mich jedes Mal, wenn sie mich ärgerten, ›Jennifer‹ nannten. Anfänglich hat mich das irritiert, weil ich nicht verstanden habe, was sie daran so lustig fanden. Es war nun mal mein Zweitname. Bis ihr Vater einmal mitbekam, dass sie mich so nannten. Sie konnten danach tagelang nicht sitzen. Ich wusste danach zwar immer noch nicht warum, aber ich verstand: Etwas an diesem Namen war nicht okay. Kurz nach Beginn der Vorschule musste ich dann ins Wohnheim. Warum weiß ich gar nicht mehr so genau. Weil du ausgedient hattest? Und wieder war es dieser Name, der für Spot sorgte; bei den Betreuenden und Kindern. Aber es sollte ja nur eine Übergangslösung sein. Ich musste mich nur gedulden und das noch ein wenig aushalten – dachte ich zumindest. Es war das, was sie – du! – mir versprochen hattest: Nur so lange, bis alles geklärt war und ich wieder nach Hause konnte. Aber es zog sich und war das genaue Gegenteil zu vorher. Ich hatte kaum eine Minute für mich; lediglich an den Besuchswochenenden zu Hause und da wollte ich sie doch gar nicht. Immerhin freute ich mich doch, dich endlich mal wieder zu sehen. Letztendlich war der ständige Trubel wohl auch der Grund für die vielen Probleme im Heim und in der Schule. Ich wurde mit jedem Tag wütender, weil kein Ende in Sicht war, hatte kein Interesse, mich an deren Regeln zu halten oder mich ›in die Gemeinschaft einzufügen‹. Ich wollte nach Hause, verdammt nochmal! Aber statt das irgendwas passiert ist, war ich für alle nur das Kind, das nichts kapierte, in der Schule nicht mitkam und auch sonst einfach komisch war. Irgendjemand war dann wohl der Meinung, in einer Familie wäre ich besser aufgehoben. Ich meine, ich will das nicht ausschließen, aber es gab nur eine Familie, zu der ich wollte. Zumal sie die wohl schlimmste gewählt haben, die möglich war. Es war das pure Chaos. Gefühlt waren es sogar noch mehr Kinder als im Wohnheim, wobei ich nicht einmal sagen kann, wie viele deren eigene, welche adoptiert und welche nur zur Pflege dort waren. Immerhin hatte ich dort ausnahmsweise mal keine Probleme mit den Regeln; es gab schlichtweg keine. Niemand hat es gekümmert, was wir taten, ob wir uns stritten oder etwas kaputt machten. Gelegentlich wurde mal rumgemeckert, aber mehr Interesse an uns bestand auch nicht. Ich kann nicht mal sagen, wie viel die »Eltern« überhaupt mitbekommen haben. Hast du die jemals kennengelernt? Haben wir uns in der Zeit überhaupt gesehen? Ich kann mich nicht wirklich erinnern. Jedenfalls waren die eigentlich immer dicht; Schmerzmittel, Hasch, LSD, ich weiß nicht was noch. Ehrlich, es wundert mich, dass keines der Kinder daran draufgegangen ist. Es wäre für uns ein leichtes gewesen, da ranzukommen, einige der älteren Kinder haben sich auch durchaus heimlich etwas abgezwackt. Wie man das Zeug verwendet, haben wir ja jeden Tag gesehen. Als ich eines der Mädchen die Treppe der Veranda runterstieß, weil sie mich einfach nicht in Ruhe lassen wollte, und sie sich den Arm brach, wurde doch mal von den Ämtern reagiert. Ich weiß, dass die Familie überprüft wurde, hab aber keine Ahnung, was aus den anderen Kindern geworden ist. Ich jedenfalls durfte endlich gehen; wenn auch nur wieder in eine neue Familie: zu den Michaelis. Ich bin nicht sicher, wie lange ich bei ihnen war. Ein paar Jahre, ja, aber wie viele es genau waren, kann ich gar nicht mehr sagen. Aber ich mochte sie und ihre Kinder echt gern. Klar, meine Probleme haben sich nicht plötzlich in Luft aufgelöst, Schule fiel mir noch immer in allen Punkten schwer und die Eingewöhnung war für uns alle nicht einfach, aber sie haben dennoch einen Zugang zu mir gefunden und mir den Freiraum gegeben, den ich brauchte. Außerdem haben sie immer auf die Besuchstermine geachtet und mir jeden deiner Briefe weitergeleitet. So weit ich weiß, haben sie alles getan, damit ich vielleicht doch wieder nach Hause könnte. Daher war es auch ... als sie mir sagten, dass es vorerst keine Wochenendbesuche mehr geben würde, ist für mich eine Welt zusammengebrochen. Ich hab es absolut nicht verstanden und sie wollten mir auch keinen Grund nennen. Sie wollten wohl nicht, dass ich erfahre, was passiert ist. Irgendwann beschloss ich, einfach nicht mehr an zu Hause zu denken. Warum auch? Es änderte ja nichts. Du hast ja nicht einmal mehr geschrieben! Es wurde zu einem Tabuthema, ich wollte nichts davon wissen, solange sie mir nicht sagten, dass ich wieder zu Besuch durfte. Als dann plötzlich diese andere Familie vor der Tür stand und mir eröffnete, dass ich in ein paar Wochen zu ihnen ziehen sollte, weil sie mich adoptieren wollten, fiel ich aus allen Wolken. Ich war so wütend, fühlte mich verraten; von dir, von den Michaelis. Was war aus dem Versprechen geworden, dass ich irgendwann wieder nach Hause durfte? Mein Zuhause war bei dir, nicht bei einer wildfremden Familie, die nicht mehr von mir kannte als eine verfickte Akte! Ich hab mich an diesem Abend so daneben benommen ... Nicht nur gegenüber der anderen Familie, sondern auch den Michaelis gegenüber. Wir hatten tagelang Streit deswegen. Mich wundert, dass sie mich nicht einfach rausgeschmissen haben, sondern wirklich versucht haben, mir das verständlich zu machen. Aber ich wollte nichts davon hören. Mein Leben lang hab ich dafür gekämpft, wieder nach Hause zu dürfen, und dann sollte das alles umsonst gewesen sein? Ich weiß nicht, vielleicht wäre es alles anders gelaufen, wenn die Michaelis mich einfach adoptiert hätten. Nach der dritten Familie, die es sich anders überlegt hat, haben sie tatsächlich darüber nachgedacht und ich war ein wenig versöhnt. Aber aus irgendeinem Grund durften sie nicht. Und ab da ging es eigentlich nur immer weiter bergab ... Nachdem ich noch ein paar Interessenten vergrault hatte, musste ich bei den Michaelis ausziehen. Die dachten wirklich, sie würden mich manipulieren, damit sie mich vielleicht doch noch adoptieren könnten. So ein Bullshit! Ich bin sicher, nicht einmal die wollten mich mehr. Es verging quasi kein Tag, an dem wir nicht miteinander stritten. Die nächste Familie war ... anstrengend. Religiöse Fanatiker. Nicht, dass die Michaelis nicht auch auf ihren Sonntagskirchenbesuch bestanden hätten, aber das war ein völlig anderes Niveau. Jeden Abend Bibelstunden, morgendliches Gebet und dieser ganze Unsinn. Nur ihre Weltsicht und Erziehungsmethoden waren noch älter als ihr Lieblingsbuch. Das einzig Gute, was sie für mich getan haben, war diesen verfluchten Zweitnamen streichen zu lassen. Ehrlich, was hast du dir dabei gedacht? Da natürlich der ganze Unfug, den ich zuvor verbockt hatte, in meiner Adoptionsakte stand, fanden sich partout keine Familien mehr, die mich kennenlernen wollten. Etwa ein halbes Jahr hatte ich Ruhe – soweit das mit diesen Tyrannen überhaupt möglich war – dann haben sie mich auf diese ätzenden Adoptionspicknicks geschleppt. Damit ich die Chance hätte, mich von meiner ›guten Seite‹ zu zeigen, mich zu präsentieren, einen unvoreingenommen Start zu haben, die Familien persönlich kennenzulernen, zu erkennen, dass ich mit ihnen gut auskommen könnte ... Was weiß ich, was sie nicht alles erzählt haben, in der Hoffnung, ich würde mich auch nur halbwegs benehmen. Letztendlich war es so eine Veranstaltung, auf der ich das erste Mal verschwand. Ich hatte keine Lust mehr. Noch am Abend zuvor hatte man mir eingeprügelt, ich sollte mich benehmen, doch schon nach einer halben Stunde war klar: Mich erwartete am Abend dasselbe noch einmal. Warum? Weil ich mich mit einem Buch an den Rand gesetzt hatte, weil ich keinen Bock auf den Scheiß hatte. War den Herrschaften natürlich nicht recht. Also nutzte ich die nächste Gelegenheit, um mich aus dem Staub zu machen. Weit kam ich nicht. Schon am Abend fand man mich. Gut, ich hatte mir auch ehrlich nicht viel Mühe gegeben, nicht gefunden zu werden. Und gebracht hatte es mir auch nichts. Dennoch wurde es zu einer Art Angewohnheit. Warum auch nicht? Ob ich mich nun dort danebenbenahm oder den Tag für mich nutzte, die Konsequenzen waren dieselben. Und ich wurde immer besser. Wann ich mich entschloss, gar nicht mehr zurückzugehen? Das war eines Abends am Strand. Wir waren weit gefahren. Vielleicht hofften sie, ich würde mich in einer vollkommen fremden Umgebung nicht trauen, abzuhauen, vielleicht gaben sie die Hoffnung auf, dass es überhaupt noch eine adoptionswillige Familie in der Nähe gab. Jedenfalls waren wir ganz nah an der Küste und während ich mich am Tag wegen der vielen Leute nicht getraut hatte, den Strand zu betreten, war ich doch dazu gezwungen, als ich eine Streife ganz in meiner Nähe bemerkte. Ich war mir sicher, ich war bereits als vermisst gemeldet, da waren die immer sehr schnell mit. Also tat ich das Einzige, was mir in diesem Moment einfiel: Ich rannte. Blindlings, ohne Ziel, einfach immer weiter. Dabei war ich nicht einmal sicher, ob sie mich verfolgten. Irgendwann stolperte ich vor Erschöpfung und blieb liegen. Ich lag einfach nur da und beobachtete das Meer und die Sonne, die langsam darin versank. Klingt das albern, wenn ich sage, dass ich mich von ihr verstanden gefühlt habe? Ich wollte nichts anderes: Einfach untergehen, für eine Weile vergessen werden, und wieder auftauchen als wäre ich ein neuer Tag mit vollkommen neuen Möglichkeiten. Obwohl es bereits Herbst war, blieb ich die ganze Nacht dort, sah dem Meer dabei zu, wie es sich zurückzog, und wachte am nächsten Morgen mit seiner Rückkehr auf. Weißt du, was nach den unzähligen Möwen das Erste war, was ich gesehen und gehört habe? Delphine. Sie waren ein ganzes Stück weiter draußen und doch so deutlich zu erkennen, wie sie da spielten. Eigentlich machte ich mich auf den Weg, um einen Ort zu finden, an dem ich sie besser beobachten konnte, doch irgendwann waren sie nicht mehr zu sehen. Also ging ich weiter, hoffte, noch weitere zu sehen. Ich folgte der Küste, vermied dabei, so gut es ging, die Touristen. Erst am Abend fiel mir auf, dass mein Plan ein Problem hatte: Ich hatte weder etwas zu essen noch zu trinken. Ich war gescheitert. Niemand würde einem Zwölfjährigen etwas geben ohne Fragen zu stellen und hinterher zur Polizei zu schleppen. So dachte ich zumindest ... Also konnte ich das auch selbst erledigen und es ein anderes Mal erneut versuchen. Dann mit deutlich mehr Vorbereitung. Sobald ich das nächste Mal ein Polizeiauto entdeckte, ging ich direkt darauf zu. Der Herr war ... nett, als ich ihm erzählte, was mich zu ihm führte, und hatte – zum Glück? – anderes im Sinn als seiner Arbeit nachzugehen. Er versprach, dass ich nur eine Kleinigkeit für ihn tun musste, dann würde er mir etwas zu Essen und Trinken besorgen und so tun, als hätte er mich nie gesehen. Ich nahm das Angebot an. Einmal, zweimal, dreimal. Für Essen, einen Schlafsack, Rucksack und ein paar Wechselklamotten. Bis er mir den Tipp gab, dass ich in einer größeren Stadt mehr Chancen hätte und besser über die Runden käme. Ich müsste ihm nur einen größeren Gefallen tun, dann würde er mich dorthin bringen. Und so kam ich in Boston an. Mit allem, was ich für mein Überleben dort wissen musste. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)