Vogelfrei von lunalinn ================================================================================ Kapitel 8: Der See ------------------ Der nächste Morgen kam viel zu schnell, denn dank des unerwünschten Besuchs des Dämons hatte Enji auch den Rest der Nacht kaum ein Auge zugetan. Es ärgerte ihn, dass er sich von der Kreatur dermaßen hatte provozieren lassen, auch wenn er wohl von Glück sagen konnte, dass sich diese nicht auf ihn gestürzt hatte. Der Dämon hätte ihn mit Leichtigkeit töten können, während er geschlafen hatte. Aber auch im wachen Zustand hätte Enji ohne Waffen wohl nur schwer eine Chance gegen ihn gehabt, wenn ihn diese Erkenntnis auch erzürnte. Trotz dieser ganzen Gedanken kam er jedoch nicht umhin, sich abermals zu fragen, was der Dämon mit seinem Verhalten bezwecken wollte. Er provozierte und verspottete, verhielt sich ihnen gegenüber wie ein leichtsinniger Jüngling und rettete sein Kind, nur um etwas zu essen und ein Bad als Gegenleistung zu fordern. Von allen Dämonen, die er bislang getroffen hatte, war die Harpyie bislang der Undurchsichtigste. Es ergab sich absolut kein Muster aus seinem Verhalten…und dann war da noch dieser bittere Ausdruck in seinen bernsteinfarbenen Augen. Enji konnte nicht vergessen, wie der Dämon ihn angesehen hatte. Diese Enttäuschung, bei der er sich noch so oft einreden konnte, dass sie gespielt war, und es dennoch nicht abtun konnte. Gleichzeitig schalt er sich für seine Zweifel, denn er kam sich dabei schon wie Toshinori vor. Es war nicht seine Art, die boshafte Natur der Dämonen infrage zu stellen. Das hatte ihn schon einmal fast den Kopf gekostet. Allerdings hatte der damalige Dämon sich recht schnell als Bestie entpuppt, während die Harpyie…ausdauernd war. So viele gute Gelegenheiten und keine hatte er ergriffen. „…schon wieder weiter?“ Er hielt inne, hatte nur den letzten Teil des Satzes vernommen, da er noch in Gedanken gewesen war. Davon abgesehen, dass er gedacht hatte, dass er allein war. Feuersturm, den er gerade noch in seiner Box gestriegelt hatte, gab ein lautes Schnauben von sich und stieß ihn auffordernd mit den Nüstern an – anscheinend hatte sein Pferd etwas gegen die Unterbrechung. Er warf Rei, die in der Tür stand, einen knappen Blick zu und wandte sich dann wieder dem Tier zu. „Ich nahm an, das würde dich erfreuen“, brummte er schroff zurück, denn sie würden noch am Nachmittag weiterziehen. Der Dämon würde ihnen hoffentlich erneut folgen, sodass sie ihn von seiner Familie weglocken und erledigen konnten. Mit der neuen Ausrüstung sollte das um einiges einfacher werden…und danach schlief er vielleicht auch besser. Die betretene Stille hielt ein paar Sekunden an, ehe Rei erneut das Wort ergriff. „Enji, ich weiß, dass es…nicht einfach ist…mit uns und dass…dass-“ „Lass gut sein“, unterbrach er sie, bevor es noch unangenehmer wurde. „Wir haben eine Vereinbarung. Kümmere dich um die Kinder, verwalte das Anwesen…mehr verlange ich nicht.“ Starr blickte er auf das kurze, rote Fell seines Pferdes, während er sprach, wollte ihr Gesicht nicht sehen. Er ertrug den Ausdruck in ihren grauen Augen nicht, der ihm sagte, dass all das hier seine Schuld war. Dass Touyas Verschwinden in seiner Verantwortung lag. Wann immer er hier war, erdrückten ihn diese Gefühle. „Du…solltest dennoch…öfter herkommen, wenn du eine Bindung zu ihnen aufbauen möchtest.“ Er schluckte merklich, wenngleich er sich wunderte, dass sie dies ansprach; bisher war sie doch immer froh gewesen, ihn in der Ferne zu wissen? Vielleicht hatte sie ja bemerkt, dass er sich bemühte, ein besserer Vater zu sein. „Toshinori meinte, dass du…aufgelöst warst…wegen Shouto. Dass es dir nahe ging und…nach…nach Touya-“ Natürlich hatte Toshinori sich nicht raushalten können. Was wunderte es ihn überhaupt? Obwohl es bestimmt wieder nur gut gemeint war, weckte es die Wut in ihm. Konnte sich dieser Kerl nicht einmal aus seinen Angelegenheiten heraushalten? Er fuhr herum, funkelte seine Ehefrau finster an. „Ja. Stell dir vor, Rei, es ist mir nicht egal, was aus meinen Kindern wird. Und ich habe auch Touya nicht aufgegeben. Gäbe es irgendeinen Hinweis…würde ich diesem unverzüglich nachgehen. Mehr kann ich nicht tun…also gib dich damit zufrieden, dass ich dich weitgehend mit meiner Anwesenheit verschone, indem ich meine Arbeit tue und Monster wie das von gestern jage!“ Als er ihren erschrockenen Blick sah, bereute er es direkt, sie so angefahren zu haben; das passierte ständig. Auch als sie damals immer wieder geweint hatte, hatte er sie oft angeschnauzt, sie sollte endlich damit aufhören. Nach Touyas Verschwinden hatte er sie angebrüllt, weil er jemandem die Schuld hatte geben müssen. Er war einfach nicht gut darin, sein Temperament zu zügeln…und deswegen schimmerten in ihren Augen bereits wieder neue Tränen. „…es tut mir leid“, fügte er zerknirscht an und atmete tief durch. „Wir ziehen im Laufe des Tages weiter. Schon wegen des Dämons.“ Er sah, wie sie nickte, ihn nicht länger anschaute. Wie es so oft der Fall war. Die Kinder waren wohl das Einzige, was sie noch irgendwie miteinander verband. Apropos Kinder… „Wegen Fuyumi…“, begann er zögerlich und sie hob ruckartig den Kopf. „Sie ist…in einem gewissen Alter…“ So, wie sie ihn anstarrte, erwartete sie anscheinend das Schlimmste von ihm. Konnte er ihr dies verdenken? Wohl kaum, nach allem, was passiert war. Aus diesem Grund versuchte er, sich zu zügeln, nicht wieder wütend wegen ihrer Reaktion zu werden. „Enji…bitte…“, brach es über ihre Lippen. „Sie ist noch nicht so weit. Sie-“ „Das weiß ich selbst“, knurrte er sie an und bereute es sogleich. „Ich meine…ich weiß. Deswegen will ich, dass du mögliche Anträge einer Verbindung ablehnst, bis sie so weit ist. Bis sie daran um ihretwillen Interesse zeigt.“ Scheinbar hatte er seine Ehefrau damit sprachlos gemacht, was ausreichend zeigte, was sie von ihm hielt. Sei es drum, vielleicht bescherte es ihr Erleichterung, zu wissen, dass er ihre gemeinsame Tochter nicht an den nächstbesten Jungspund aus gutem Hause verkaufen würde. Nicht, wie es bei ihr geschehen war. „Ja. Das…werde ich. Danke.“ Man hörte ihr an, dass ihr direkt leichter ums Herz wurde und das bisschen Wärme, das in ihre Augen zurückkehrte, sprach ebenfalls dafür. „Außerdem will ich die Männer vorher kennenlernen, bevor sie sich ihr in irgendeiner Weise nähern“, fuhr er fort. „Und ich will, dass du sie dir ebenfalls ansiehst. Mir sagst, was du von ihnen hältst. Der Rest ist dann Fuyumis Entscheidung.“ Sie verstand wohl, wie er das meinte, denn tatsächlich bildete sich ein zartes Lächeln auf ihren Lippen. Er wusste, dass es nicht ihm galt, sondern der Erkenntnis, dass es ihrer Tochter nicht wie ihr ergehen würde. Hoffentlich nicht. „Und…rede vielleicht mit ihr“, brummte er und wandte sich schließlich wieder Feuersturm zu, welcher ihm seinen warmen Atem in den Nacken blies. „Du weißt, was ich meine.“ Da ihm die Situation wieder unangenehm wurde, konzentrierte er sich auf die Fellpflege seines Pferdes. Immerhin war es das Richtige, was er hier tat. Auch wenn es ihn an seine eigenen Fehler erinnerte. „…ist gut“, murmelte sie leise und er nickte bloß. Da er nicht mehr darauf antwortete, wurde es still zwischen ihnen. Er hörte, wie sich Reis Schritte nach Kurzem von den Stallungen entfernten. Der Abschied von seinen Kindern fiel ihm schwer, auch wenn Natsuo ihn wie immer fast gänzlich ignorierte. Er warf seinem älteren Sohn einen längeren Blick zu, ehe er innerlich seufzte. „Pass auf deine Mutter und deine Geschwister auf, solange ich weg bin, verstanden?“, meinte er, woraufhin Natsuo ihm wenigstens einen kurzen, grimmigen Blick schenkte. „Hab ich vor“, kam es trotzig zurück, woraufhin er nickte. Dann sah er zu Fuyumi, welche ihn zaghaft anlächelte, die Hände in den rosafarbenen Stoff ihres Kimonos vergraben. Ihr Anblick weckte erneut die Angst in ihm, dass ihr jemals jemand so wehtun könnte wie er selbst ihrer Mutter. Das würde er nicht zulassen. Niemals. Seine Tochter würde in keiner arrangierten Ehe landen und schon gar nicht so früh. Die Kerle, die es wagten, ihr den Hof zu machen, würde er sich vorher zur Brust nehmen. Er stutzte, als ihm bewusst wurde, dass sie sein finsterer Blick nervös machte – sie konnte ja nicht wissen, was in seinem Kopf vorging. „Uhm…“, entkam es ihm unschlüssig, da er nicht wusste, wie er sich verabschieden sollte. Fuyumi war so freundlich, es ihm abzunehmen, indem sie wieder ehrlicher lächelte, ein paar Schritte auf ihn zu machte und den Kopf vor ihm neigte. „Ich wünsche dir eine gute Reise, Otou-san. Euch allen. Kommt unverletzt zurück.“ Enji zögerte, ehe er sich dazu überwand, kurz ihre Schulter zu drücken. „Ja…das werden wir. Danke, Fuyumi“, meinte er ernst und sah dann zu seinem Jüngsten, der eng bei seiner Mutter stand. Rei wirkte so erschöpft wie bei seiner Ankunft und er wusste, dass das sein Verdienst war. Er hätte sie bei den Stallungen nicht so angehen dürfen, auch wenn er sich entschuldigt und ihr einige ihrer offensichtlichen Sorgen genommen hatte. Er atmete tief durch, kniete sich dann zu Shouto herunter, der ihn mit seinen runden Kinderaugen anschaute. „Und du…keine Alleingänge mehr, hörst du?“, sagte er mit leichtem Tadel in der Stimme, fuhr ihm dann aber einmal durch das zweifarbige Haar. „Mach uns keinen Kummer.“ Shouto senkte für einen Moment schuldbewusst den Blick, nickte jedoch. „Verstanden“, nuschelte er und schaute ihn fest an. „Gut.“ Enji erhob sich, tauschte einen raschen Blick mit seiner Frau, die ihn müde anlächelte. Immerhin lächelte sie. Das war selten genug, zeigte ihm, dass er das Richtige getan hatte. „Wie besprochen, du kümmerst dich um alles, bis ich zurückkehre“, sprach er sie an, woraufhin sie gehorsam den Kopf neigte. „Das werde ich.“ Mehr hatten sie einander nicht zu sagen. Es würde keinen liebevollen Abschied geben – die Chance darauf hatte er längst vertan und wenn er ehrlich war, hatte er aufgehört, sich danach zu sehnen. Früher, als er noch Hoffnung in ihre Ehe hatte setzen wollen, da hatte er sich so etwas gewünscht. Enji kehrte ihnen den Rücken, während Toshinori noch ein paar Worte mit Rei und den Kindern wechselte, sich ebenfalls verabschiedete. Unwillkürlich keimte der Groll gegen seinen Freund wieder in ihm auf, doch er schluckte ihn fürs Erste runter. Als er aufs Pferd stieg, ignorierte er wie immer Aizawas unangenehm stechenden Blick. Sie ritten bis zur Abenddämmerung durch, ehe sie sich bei einer Höhle niederließen, die nicht von Tieren bewohnt war. Eine längst verglühte Feuerstelle im Inneren machte deutlich, dass schon einmal Menschen hier gewesen waren, um ihr Lager aufzuschlagen. Sie banden die Pferde an und legten ihre Habseligkeiten ab, ehe Enji aufblickte. „Sammelt ihr das Holz zusammen, ich werde jagen gehen.“ Er schulterte seine neue Armbrust, würde diese gleich mal testen – und etwas von seiner Wut gleich mit abbauen. Diese hatte sich zwar gelegt, war aber noch nicht gänzlich verschwunden. Es wurmte ihn, dass Toshinori sich ständig in seine Belange einmischen oder beweisen musste, dass er ihm überlegen war. Auch wenn es sich bloß um seine sozialen Fähigkeiten handelte. „Soll dich nicht jemand beg-“ „Nein. Ich gehe allein“, schnitt er dem Blonden schroff das Wort ab, welcher daraufhin mit kritischem Blick verstummte. Wenigstens sprach er ihn nicht darauf an, sodass er sich einfach abwandte und im Wald verschwand. Tief atmete er durch, während er erstmal ein paar Meter hinter sich brachte, einfach um allein zu sein. Eigentlich wusste er, dass Toshinori es bloß gut meinte, irgendwie die Wogen zu glätten versuchte – dennoch nervte es ihn gewaltig. Sollte er sich verdammt noch mal endlich eine eigene Frau suchen und Kinder mit ihr zeugen, um die er sich dann kümmern konnte, anstatt sich bei seinen Familienverhältnissen einzumischen. Oder noch schlimmer…für ihn zu sprechen. Es trug nicht dazu bei, dass er sich abregen konnte, weswegen er leise fluchte, einen Stein wegkickte, der irgendwo im Unterholz landete. Die Luft um ihn herum war mittlerweile kühler geworden, doch auch sie konnte sein erhitztes Gemüt nicht vollkommen beruhigen. Vielleicht war es auch die Mischung aus allem. Seine Angst um die Kinder, die Erinnerungen an Touya, seine zerrüttete Ehe… Enji runzelte die Stirn, als ihm plötzlich der Nebel auffiel, der sich über die Umgebung gelegt hatte, doch gleichzeitig fiel ihm etwas ein. In der Nähe gab es einen großen See, vielleicht konnte er dort etwas für ihr Abendessen besorgen? Er ging weiter, wobei die Geräusche des Waldes leiser wurden und der Nebel stärker. Es beunruhigte ihn nicht einmal, denn sein Instinkt sagte ihm, dass alles in Ordnung war. Dass er sich nicht sorgen musste. Innerlich wurde er ganz ruhig, setzte einen Schritt vor den anderen, bis er durch den Nebel und die Bäume, welche sich allmählich lichteten, den See entdecken konnte. Und nun wusste er auch, wer dieses warme, wohlige Gefühl der Ruhe in ihm auslöste. Für einen Moment war er von dem Anblick der schönen Frau, die dort am Ufer stand, und ihrem leisen Gesang gebannt. Eine so sanfte Stimme hatte er noch nie vernommen. Es steckte eine Traurigkeit und Sehnsucht darin, die ihn in seinem Inneren ergriff. Ihm war, als würde sie seinen Schmerz kennen und ihm mit ihrem Gesang die Last von seinen Schultern nehmen wollen. Ihre blonden Haare schimmerten im Licht des Mondes beinahe weiß. Sie fielen ihr bis zum unteren Rücken hinab, umschmeichelten ihre schlanke Gestalt, die in einem Gewand aus verschiedenen Blautönen steckte. Ihr Gesicht, so hell wie Porzellan, wirkte zart und anmutig, sodass es wohl jedem Mann den Kopf verdreht hätte. Die langen Wimpern ließen ihre meerblauen Augen noch größer wirken, die vollen, roten Lippen bewegten sich, während sie ihn zuerst gar nicht bemerkte. Enji wollte sie nicht erschrecken, indem er sich heimlich anschlich, weswegen er aus dem Dickicht der Bäume hervortrat und sich räusperte. Ihr Gesang verstummte und sie schrak merklich zusammen, machte einen Schritt zurück. „Habt keine Angst“, sagte Enji schnell, der sie nicht in Furcht versetzen wollte. „Ich…verzeiht, dass ich Euch gestört habe, doch Euer Gesang…er ist wunderschön. Ich war davon wie gebannt.“ Die junge Frau wirkte für einen Moment misstrauisch, doch dann flog ein scheues Lächeln über ihre Lippen. Es ließ sie noch schöner wirken, falls dies überhaupt möglich war. „Schon gut, Herr…Ihr…Eure Worte schmeicheln mir“, sprach sie mit derselben melodischen Stimme. „Komplimente von einem Mann wie Euch…Ihr seid doch ein Krieger?“ Enji nickte auf ihre Frage hin und kam näher, nun, da sie keine Angst vor ihm zu haben schien. Warum auch? Sie hatte ja Recht. Er war ein Krieger und damit auch einer jungen Frau wie ihr zum Schutz verpflichtet. „Das bin ich“, erwiderte er fest und bemerkte ihren Blick, mit dem sie ihn musterte. „Sicher seid Ihr ein erstaunlicher Mann…mit erstaunlichen Fähigkeiten“, flüsterte sie und überwand die Distanz zwischen ihnen. „Und kennt Geschichten…“ Enji klebte an ihren Lippen, während sie ihm die Worte zu hauchte und er wünschte sich nichts sehnlicher, als sie zu küssen. Vielleicht hatte er zu lange keins der Freudenhäuser aufgesucht, sodass ihn der Drang nach Nähe so heftig überkam. Vielleicht lag es daran, dass ihn seine Frau verschmähte…aber er wollte sich gut fühlen. Die Wärme einer Frau spüren. „…ich würde nur zu gern mehr über Euch erfahren…“ Er keuchte auf, als sie ihre zierlichen, kühlen Finger an seine Wange legte, darüber streichelte. Es schauderte ihn bei der sanften Berührung und er lehnte sich dagegen. „…Ihr seid sicherlich ein interessanter Mann“, raunte sie ihm zu, wobei er sich herunterbeugte, vor ihren Lippen schwebte. „Ein starker Mann…und dazu so gut aussehend…jemand, der zu beschützen vermag…“ „…das bin ich in der Tat“, brummte er und wollte den Blick nicht aus ihren blauen Tiefen lösen. Das Lächeln kehrte auf ihre Lippen zurück und der Drang, sie zu küssen, wurde so mächtig, dass er sich vorbeugte und – im nächsten Moment explodierte der Schmerz in seinem Kopf. Enji wich reflexartig zurück, wollte sich die Handflächen auf die Ohren pressen, denn das schrille Kreischen schien seinen Kopf bersten lassen zu wollen – doch er konnte nicht. Im ersten Moment sah er nichts, alles drehte sich…das Bild vor seinen Augen war unscharf. Die Schönheit vor ihm war ebenfalls verschwommen. Sein Körper…er hatte kein Gefühl mehr darin, konnte keinen Muskel rühren. Etwas stimmte nicht…und als er an sich heruntersah, erkannte er es. Etwas hatte ihn…eingewickelt. Er konnte sich nicht bewegen, denn da waren glitschige, schuppige...Arme? Er konnte es nicht zuordnen, aber es erinnerte ihn an einen Tintenfisch, nur sehr viel größer. Der Schock ließ ihn sofort klar werden und während ihm die kalte Angst in den Nacken kroch, hob er den Blick. Ein trockenes Ächzen entwich ihm, als er in die grässliche Fratze eines Monsters blickte. Die Haut ebenso wie die Tentakel grau-silbrig geschuppt, mit spitzen Ohren, die an Flossen erinnerten, und riesigen, hellblauen Glubschaugen mit jeweils einer runden Pupille. Am schlimmsten war jedoch das von aufgedunsenen Lippen umrahmte Maul, aus dem scharfe Zähne hervorblitzten…und Enji begriff entsetzt, dass die unbekannte Schönheit nie existiert hatte. Das Wesen besaß einen frauenähnlichen Oberkörper mit kleinen Brüsten und Kiemen an den Seiten, der in einem Unterkörper aus mehreren Fangarmen endete. Die menschlichenähnlichen, jedoch geschuppten Arme hatte es gehoben und presste sich die mit scharfen Krallen versehenen Hände auf die Ohren. Es wirkte, als hätte es Schmerzen. In der nächsten Sekunde ertönte erneut dieser furchtbare Schrei, der ihm das Gehör zu zertrümmern schien – doch er kam nicht von dem Monster, denn dieses litt ebenso darunter. Enji stockte, als etwas von oben herunter geschossen kam und sich auf den geschuppten Dämon stürzte, diesem die Klauen durch die Fratze zog. Das Wesen brüllte auf, fasste sich an die blutige, linke Gesichtshälfte, die nun zerstört war…gleichzeitig lockerte sich der Griff um seinen Körper. „Steh da nicht rum!!“, rief ihm eine viel zu vertraute Stimme zu. „Weg von ihr!!“ Dann erkannte er die Harpyie, die soeben wieder angriff, doch diesmal reagierte der andere Dämon. Einer seiner Tentakel erwischte ihn in der Luft und peitschte ihn zu Boden. Enji stockte, erlangte jedoch endlich seine Fassung wieder, sodass er es schaffte, seine Arme zu befreien. Er griff hektisch an seine Seite, nutzte die Unaufmerksamkeit des Dämons und zog sein Schwert, um es diesem durch die Fangarme zu treiben. Vor Wut und Schmerz brüllte das Ding erneut auf und schleuderte ihn von sich über das Ufer, wenn auch nur, um wohl mehr Bewegungsfreiheit zu haben, denn die Harpyie hatte sich indes wieder in die Luft erhoben und griff erneut an. Enji spürte jeden Knochen im Körper, als er sich aufrappelte und ungläubig zusah, wie die beiden Dämonen gegeneinander kämpften. Die Erkenntnis, dass er ohne den gefiederten Blonden soeben gefressen worden wäre, traf ihn heftig. Eben dieser gab wieder einen seiner schrillen Laute von sich, doch diesmal war der andere Dämon schneller. Einer der Fangarme, von denen Enji sechs zählte, packte dessen rechtes Bein und…dann hörte man es laut knacken. Der Vogel schrie vor Schmerz auf, als ihm das Bein gebrochen wurde, stürzte sich allerdings gleichzeitig auf seinen Gegner und jagte ihm die freie Fußklaue durch den Unterkörper. Enji zuckte zusammen, als sich beide Dämonen ineinander verkeilten, und er sah, wie sich die scharfen Zähne in die Seite der Harpyie vergruben und ihr durch die Kleidung ein Stück Fleisch herausrissen. Ein widerlich breites Grinsen verzerrte die blutigen Lippen der Dämonin, während diese auf dem Fleisch herumkaute und es schluckte, dabei die mitgenommene Harpyie immer mehr einwickelte, sie mehr in Richtung des Sees zog. Der blonde Jüngling wollte schreien, doch das andere Wesen tauchte ihn kurzerhand unter Wasser. „Wenn ich dich ertränke, bringt dir dein widerliches Gekreische nichts mehr“, säuselte sie mit der Stimme, die ihn zuvor noch verzückt hatte. Enji packte die blanke Wut. Er schob sein Schwert in die Scheide und griff, ohne noch weiter zu überlegen, zu seiner Armbrust, die er auf dem Rücken befestigt hatte. Da der Dämon damit beschäftigt war, die zappelnde Harpyie unter Wasser zu halten, konnte er sich ohne Probleme nähern und schießen. Der erste Bolzen traf das Wesen in den Rücken, durchbohrte es von hinten, was es aufkreischen und herumfahren ließ. „Du…wagst es…Mensch?!“, zischte ihn die Dämonin an. „DU WAGST ES?!“ Enji knirschte mit den Zähnen, während er ohne Vorwarnung erneut schoss, diesmal einen ihrer Fangarme erwischte. Sie konnte nicht zu weit vom Wasser weg, ohne die Harpyie loszulassen. Also schoss er weiter, doch einem direkten Kopfschuss wich sie aus. „Ich werde dich zerreißen!!“, fauchte sie und wollte sich in ihrer Raserei schon auf ihn stürzen. In der Sekunde schoss die Harpyie aus dem Wasser und der grelle Schrei, den sie ausstieß, brachte ihn dazu, die Armbrust fallen zu lassen. Er drückte sich die Hände auf die Ohren, während die der Dämonin zu bluten begannen. Sie hatte keine Zeit mehr zu reagieren, denn die Harpyie hatte sich mit Zähnen und Klauen auf ihren Oberkörper gestürzt, zerfetzte ihr diesen samt ihrem scheußlichen Gesicht, während beide halb im Wasser lagen. Enji presste sich die Faust auf den Mund, um bei dem Anblick nicht zu würgen. Die Fangarme des Wesens versuchten vergeblich, den Blonden herunterzureißen, zerrten an dessen rechten Flügel, brachen ihn mit einem grausigen Knacken wie zuvor schon das Bein, doch es half nichts. Die Harpyie zerriss ihre Organe, zerfraß ihr das Gesicht, bis der Körper unter ihr nur noch totes Fleisch war und alle Spannung daraus wich. Selbst, als sich wirklich nichts mehr rührte, blieb der gefiederte Dämon über ihr, die Mimik unmenschlich verzerrt und schwer keuchend. Der gebrochene Flügel hing zerfleddert an ihm herab, sein verletztes Bein war verdreht. Enji wusste nicht, was er tun sollte, fühlte sich gerade einfach nur überfordert. Er hatte noch keine Zeit gehabt, zu verdauen, dass ihm der Dämon soeben das Leben gerettet hatte. Das hatte er doch? Zweifellos. Erst die Sache mit Shouto und nun das. Wäre die Harpyie nicht rechtzeitig erschienen, wäre er dieser Missgeburt auf den Leim gegangen und…hätte sich von ihr fressen lassen. Ohne Gegenwehr. Wie war das nur möglich? Es zehrte an seinem Stolz, dass er auf solch einen billigen Trick hereingefallen war. Dennoch hatte er sich ihr nicht entziehen können, hatte unter ihrer Macht gestanden. Erbärmlich. Enji hielt inne, als der gefiederte Dämon aufzustehen versuchte, jedoch wankte und auf allen Vieren landete. Er stöhnte leise, fasste sich an die blutige Seite, wobei er sich wohl zu sammeln versuchte. Der ungebrochene Flügel entfaltete sich, während er den anderen nicht bewegt bekam. Daraufhin fasste er einen erneuten Versuch, aufzustehen, was ebenso kläglich wie zuvor endete. Auf die Weise würde es ein Kinderspiel sein, ihn zu erlegen. Er konnte nicht wegfliegen, nicht wegrennen…und sich ebenso wenig effektiv zur Wehr setzen, wenn es darauf ankam. Wieso zur Hölle hatte der andere ihn gerettet? Ohne irgendeinen Nutzen davon zu haben, hatte er ihn aus den Fängen dieses Monstrums befreit und sich in Gefahr begeben. Enji wiederum hatte auf das Ding geschossen, um der Harpyie zu helfen – beinahe so, als wären sie vorhin Verbündete gewesen. Mit einem Dämon zusammen kämpfen, das war doch absurd. Vollkommen absurd…und dennoch war genau das geschehen. Enji warf einen Blick nach unten, wo seine Armbrust lag. Es würde ein Leichtes sein, den Dämon jetzt zu treffen. Dann wäre es endlich vorbei. Er atmete tief durch, beobachtete dessen armselige Versuche mit einer gewissen Bitterkeit. Er selbst hatte bloß einige Prellungen von seinem Sturz, als ihn die grausige Dämonin von sich geschleudert hatte. Keine ernsthaften Verletzungen. Er lebte, weil…verdammt. Enji ließ die Armbrust liegen und ging auf den durchnässten Dämon zu, der sich mit Mühe und Not von dem Kadaver wegschleifte. Er hinterließ blutige Schlieren im Gras, presste fest die Lippen zusammen, um seine Laute zu unterdrücken. Als sich Enji näherte, begann er zu knurren wie ein wildes Tier. Die bernsteinfarbenen Raubvogelaugen waren weit aufgerissen, wirkten unmenschlich. Der intakte Flügel breitete sich erneut aus, einer Drohung gleich, während er Abstand zwischen sie zu bringen versuchte. Sein Blick fiel auf das Vogelbein, welches immer noch in einem unnatürlichen Winkel abstand. Trauerspiel. „Wehr dich nicht“, brummte er und merkte erst zu spät, wie seine Worte klangen. Als nächstes fegte ihn der Windstoß von den Füßen, als sich die Harpyie mit letzter Kraft aufrichtete und mit seiner Schwinge schlug. „Verdammt noch mal!!“, entkam es Enji zornig und er stand rasch wieder auf. „Ich will doch nur-“ Doch der schrille Schrei, den der Vogel ausstieß, ließ ihn verstummen und sich abermals die Ohren zuhalten. Mit halb zusammengekniffenen Augen sah er, wie sich der Dämon von ihm wegschleifte, sogar ein paar wenige Schritte humpelte, bis er wieder auf die Knie sank. Nein, so wurde das nichts. Enji fluchte laut, nahm Anlauf und stürzte sich in einem Anflug von Wut von hinten auf den davon kriechenden Dämon, um ihn niederzuringen – was eine wahrlich beschissene Idee war. Natürlich wehrte sich der Dämon, schlug um sich und zappelte, wobei er unmenschliche Laute von sich gab, in schiere Panik verfiel. „Hör auf, verdammt!! Ich will dir helfen!!“, schnauzte Enji ihn an und bekam prompt einen nassen Flügel ins Gesicht gehauen. „Lass. Mich. Los!!“, brachte der Dämon angestrengt und gleichermaßen verzweifelt hervor. „Lass mich!! Hör auf!!“ Er schlug um sich, erwischte ihn mit der Klaue am Bein, woraufhin Enji das Gesicht verzog. Dennoch ließ er ihn nicht los, hielt ihn so fest, wie es ihm möglich war, ohne auf die Gegenwehr zu reagieren. Sein eigenes Adrenalin machte ihn stark – auch wenn er Glück hatte, dass der Dämon so angeschlagen war. „Fass mich…nicht…an!!“, fauchte dieser weiter und versuchte sogar, ihn zu beißen. „Lass mich…in Ruhe!!“ Enji reagierte nicht darauf, atmete nur schwer und hielt ihn weiter von hinten fest umklammert. Er würde warten, bis die Kraft des anderen nachließ, bis er sich beruhigte…und das dauerte. Er schrie und biss und schlug um sich wie ein Verrückter, doch nach einer Weile brach er endlich unter ihm zusammen. Enji ließ nicht los, blickte zu einem Punkt in der Ferne, während er dem abgehackten Atem lauschte und das Brennen seiner Wunden still ertrug. Er spürte das Zittern des erschöpften Körpers unter sich, fragte sich, was er hier eigentlich tat. Dann sagte er sich, dass es das Richtige war. Er würde nicht damit leben können, den Vogel zu töten…oder dafür verantwortlich zu sein, dass es jemand anderes tat. Nicht, nachdem er ihn vor diesem anderen Dämon gerettet hatte. Er stand in der Schuld der Harpyie…und es wäre ehrlos gewesen, ihn sich selbst zu überlassen. „…ich will…nicht sterben“, hörte er ihn leise sagen. Enji schnaubte, spürte, wie Wasser und Blut des Dämons auch seine eigene Kleidung immer mehr durchnässten. Generell war es unangenehm, einer Kreatur, die er eigentlich verabscheute und die er töten sollte, so nahe zu sein. Vor allem wenn er sich daran zurückerinnerte, wie brutal er diese Dämonin getötet hatte. Aber gut, er hatte sich entschieden. „Wirst du nicht. Nicht heute. Nicht, bis wir quitt sind…und jetzt halt die Klappe, hör auf, dich zu wehren und lass mich dich zu unserem Lager bringen, damit sich der Einsiedler deine Wunden ansehen kann.“ Für einige Sekunden kam keine Antwort, doch da war zu viel Spannung in dem anderen, als dass dieser ohnmächtig sein konnte. Merkwürdig, wenn man bedachte, wie vorlaut der Dämon sonst immer gewesen war, allerdings hatte er sonst nicht in solcher Bedrängnis gesteckt. Von daher wohl kein Wunder. „…kann ich dich loslassen oder muss ich dich bewusstlos schlagen?“, hakte er nach. Abermals Stille. Dann ertönte ein langgezogenes Ausatmen unter ihm. „Na gut“, murmelte der Dämon nach einer Weile und schloss die Augen. „Dann…musst du mich aber tragen…“ „Du hattest gerade noch genug Kraft, um mich zu beißen und zu kratzen. Ich stütze dich. Gib dich damit zufrieden“, erwiderte er ungehalten. „Wegen dir habe…ich diese Kraft…ja eben nicht mehr“, kam es müde zurück. „Mir tut alles weh…ich verliere Blut…und du liegst auf meinem gebrochenen Flügel…“ Enji knirschte mit den Zähnen, rollte sich dann von dem Vogel herunter, welcher jedoch schwer atmend liegen blieb. Die nassen Haare fielen ihm in das blasse Gesicht und es schien ihm wirklich schlecht zu gehen, sodass er sich eine weitere Bemerkung sparte. Wahrscheinlich musste er den verletzten Vogel tatsächlich tragen, wenn dieser nicht schauspielerte…was er irgendwie nicht glaubte, wenn er dessen Wunden so betrachtete. Missmutig half er dem Dämon daher auf die Beine und hievte ihn sich über die Schulter. Der Dämon war unerwarteterweise leichter als gedacht – schwer wog jedoch Enjis Gewissen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)