Himitsu no Mahou von AimaiLeafy ================================================================================ Kapitel 38: Die letzten vier Zentimeter ---------------------------------------                       „My broken wings… still strong enough to cross the ocean with…My broken wings… how far should I go drifting in the wind…“   Ununterbrochen ging der Regen auf den Tempel nieder; nicht gerade das perfekte Wetter um sich aufzuheitern, dachte Green seufzend, die letzten Töne des Liedes nachsummend, mit den Augen auf dem leuchtenden Display ihres Mp3-Players, der gerade die letzten Sekunden von Tomoko Tanes „Broken Wings“ einleitete. Sie hatte Itzumi beauftragen müssen ihn aus ihren Zuhause zu holen, da sie selbst immer noch nicht dahin zurückkehren durfte.   Vier Monate schon… Vier Monate war es her, seitdem Gary sie gerettet hatte. Immer noch gab es keine Anzeichen dafür, dass Green sich bald auf den Heimweg machen durfte. Im Gegenteil! Das Zimmer welches sie hier hatte, war schon überfüllt mit ihren privaten Sachen, unzählige Kleider hatte sie jetzt schon von Grey bekommen, hingen einsatzbereit im Kleiderschrank und das was Ryô anfangs prophezeit hatte, war wahr geworden: Green kannte jeden noch so kleinen Geheimgang im Tempel. Die unterirdischen Gänge entlang des „Sancire“, die Kerkergänge, einen Geheimgang in der Bibliothek und sämtliche Abkürzungen. Zusammen mit Pink hatte sie sich einen Spaß und eine Herausforderung daraus gemacht diese zu suchen – natürlich hatte sie Ryô einfach nur fragen müssen, denn er und Itzumi – als Tempelwächter – wussten natürlich wo die Geheimgänge zu finden waren, aber stattdessen hatte Green immer nur um einen kleinen Tipp gebeten, damit sie zusammen mit Pink auf die Suche gehen konnte. Auf diese Art hatte sie nun mehr Winkel des Tempels kennengelernt, als von denen Grey überhaupt wusste – aber obwohl sie den Tempel jetzt schon so gut kannte… heimisch fühlte sie sich dort nicht gerade, obwohl ihr Zimmer mit privaten Dingen gefüllt war und sie Geheimgänge gefunden hatte.   Im Augenblick war Grey mal wieder im Jenseits, während Green mal wieder einen Haufen Bücher vor sich liegen hatte und sich eigentlich Notizen machen sollte, aber sie drehte die Feder in ihrer Hand nur, anstatt sie zum Schreiben zu benutzen. Dieser Teil des Trainings war zwar kein besonders anstrengender, aber definitiv der langweiligste; Greens zog da eindeutig den praktischen Teil des Trainings vor, aber Grey meinte, dass auch dies zu ihrem Training gehöre. Tz, lesen konnte sie jawohl gut genug.   Green suchte aus dem Bücherhaufen ein paar Bücher die irgendwie vielversprechend klangen; vielversprechend für ein Wächterbuch versteht sich. Hatten die Wächter eigentlich überhaupt keine Romane?! Denn auch wenn sie schon solange in diesen „goldenen Käfig“ eingesperrt war und Tag aus Tag ein von den Heldentaten der Wächtern und vor allen Dingen der Hikari lass oder hörte; sie hatte garantiert nicht begonnen daran Gefallen zu finden und die Notizen, die sie sich schrieb waren eher Dinge, über die sie gestolpert war, die sie irgendwie abnorm oder ulkig fand und die sie daher unbedingt Siberu und Gary erzählen wollte.  Wann auch immer das sein würde.    Vier Monate…  Wieder dachte Green an ihre dämonischen Freunde und spulte das Lied noch einmal zurück. Ob die beiden wohl in ihre Welt zurückgekehrt waren? Oder warteten sie auf Green? Gingen sie ganz normal zur Schule?    Man konnte ihnen wohl nicht verübeln, wenn sie es nicht taten… Vier Monate waren eine lange Zeit… aber sie konnte sich irgendwie gar nicht vorstellen, dass sie nicht in Tokyo sein sollten. Irgendwie waren sie doch immer mit jener Stadt verbunden; wenn Green an Tokyo dachte, dann waren da unweigerlich auch die beiden Dämonenbrüder, wie auch umgekehrt. Gary war ja früher – als sie noch nicht befreundet gewesen waren – ja auch nie für längere Zeit weggewesen; sie hatte nie irgendetwas bemerkt, was darauf hindeuten würde, dass er in der Dämonenwelt und nicht in Tokio gewesen war. Obwohl – das musste sie sich selbst eingestehen, während sie Garys Anhänger in die Hand legte, der vorher auf einem der Büchertürme gelegen hatte – sie hatte auch nicht sonderlich darauf geachtet was Gary damals getan hatte. Wenn er nicht da war, war es für sie positiv gewesen. Wenn sie so genauer darüber nachdachte dann wusste sie nicht einmal wo er vorher gewohnt hatte.   Green schmunzelte und legte den Anhänger – den Grey ein „billiges Stück Plastik“ genannt hatte, als er ihn entdeckte – wieder zurück auf die Bücher. Es hatte sich wirklich sehr viel in nur kürzester Zeit verändert. Vor knapp einem halben Jahr noch hätte sie keinen einzigen Gedanken daran verschwendet wo Gary sich aufhielt und jetzt? Naja, jetzt saß sie ja auch in einem Lesesaal im Tempel, einer fliegenden Insel und hatte einen stets beschäftigten Bruder und eine quirlige Cousine, die… wo war sie eigentlich?  Gerade in dem Moment, als Green die Kopfhörer von den Ohren herunter rutschten ließ, klopfte es an der Tür – und da Pink um einiges energischer Klopfen würde, wenn sie überhaupt Anklopfen würde, hatte schon einen Verdacht wer es sein konnte und sofort verfinsterte sich ihr Gesichtsausdruck, besonders als ihr Verdacht sich bestätigte und Itzumi herein kam.    „Hikari-sama, das Essen ist angerichtet.“   „Nenn mich nicht so, wie oft eigentlich noch?“ Die Beiden Wächter sahen sich kurz stur an, keiner gewillt irgendetwas dazu zu sagen, weshalb Green etwas unwirsch fragte, ob Grey denn schon zurück sei. Die Angesprochene senkte den Kopf und verneinte.   „Gut, dann bring mir das Essen auf mein Zimmer, ich komme gleich“, seufzte Green und bemerkte selbst, wie es ihr absolut nicht gefiel, dass Grey mal wieder nicht anwesend war. In den letzten Wochen war er ständig weg, ständig außer Haus, oder eher: außer Welt. Ständig war er im Jenseits. Was er da wohl die ganze Zeit tat? Gut, Green war hier um zu trainieren und das taten sie auch, denn es war ja nicht so, als ob Grey den ganzen Tag im Jenseits verbrachte – er verschwand immer erst, wenn das Training für den Tag abgeharkt war, blieb dann aber meistens lange weg. Dank Pink fühlte Green sich nicht einsam, nein, so war es nicht und gelangweilt auch nicht, denn Pink sorgte schon dafür, dass keine Langeweile aufkam – trotz der vielen Bücher die Grey Green zum Lesen auftrug – aber Green hätte nichts dagegen wieder mehr Zeit mit Grey zu verbringen. Als… Geschwister. Nicht als Lehrer und Schüler. Deren Ausflüge waren in letzter Zeit so rar geworden.  Seine Gesundheit schien auch irgendwie zu leiden. Er versuchte es vor Green und Pink geheim zu halten, doch einmal hatte sie gesehen wie er beinahe zusammengebrochen war und Ryô ihn stützen musste. Er aß weniger als sonst und seine Hautfarbe ähnelte langsam der ihrer Mutter! Green hatte versucht ihn darauf anzusprechen, aber immer wieder hatte er beteuert, dass es ihm gut ginge.  Da war definitiv etwas faul.   Trotz dieser recht düsteren Gedanken musste Green ein wenig in sich hinein lachen – auch da war etwas, dass sich verändert hatte, denn den Bruder, der so plötzlich in ihrem Leben aufgetaucht war, hatte sie richtig lieb gewonnen. Daher kam auch die Sorge um ihn; sie war sogar so groß geworden, dass sich einmal dabei erwischt hatte ihn fragen zu wollen, ob er sie nicht mitnehmen wollte ins Jenseits. Aber sie hatte sich noch selbst davon abhalten können. Sir wollte nicht ins Jenseits. Nein, um alles in der Welt wollte sie nicht ins Jenseits.   „Eine Sache noch, Itzumi!“ Itzumi hatte die Tür schon geöffnet und hatte sie wohl eigentlich schon verlassen wollen, als Green aufsprang:  „Wo ist Pink eigentlich?“  „Ich habe Eure Cousine vor einigen Minuten noch in der Bibliothek gesehen“, antwortete Itzumi und verwundert sah Green drein. In der Bibliothek? Was tat denn ausgerechnet Pink in der Bibliothek? Besonders um diese Uhrzeit? Es gab im Tempel immer pingelig zur gleichen Zeit essen und obwohl Pink sich eigentlich keinen Begriff um die Zeit machte, so merkte sie fast instinktiv immer, wann es Zeit war zu Essen. Es sei denn… aha!   Itzumis Gesicht verfinsterte sich sofort und wurde dunkler als das bedrückende Wetter Draußen vor den Fenstern, als Green sich an ihr vorbei durch die Tür drängte und schon den Gang herunter lief; offensichtlich jeden Gedanken an irgendein Abendbrot vergessend, denn  wenn sie in ihr Zimmer wollte, rannte sie in die falsche Richtung.  „Euer Essen, Hikari-sama?! Ich dachte ihr wolltet in Eurem Zimmer dinieren!?“  „Ach, ne, lass mal, ich esse später!“ Green kümmerte es nicht im geringsten wenn sie sich irgendwelche Minuspunkte auf ihrem Itzumi-Konto einheimste – es konnte wahrscheinlich ohnehin nicht schlimmer werden als ohnehin schon.       Obwohl Green wusste was Pink in der Bibliothek wollte, so wunderte es sie dennoch, dass was Pink daran interessant fand. Sie war sicherlich wegen dem Gestern gefundenen Geheimgang wieder dort: irgendwie hatte dieser Pink ganz besonders interessiert, obwohl Green nicht verstand warum. Es war der letzte Geheimgang den die beiden neugierigen Wächterinnen gefunden hatten, aber Green fand ihn eigentlich relativ unspektakulär – gut, es war an sich schon ziemlich cool, dass der Eingang dadurch aktiviert wurde, dass man ein kleines, kaum sichtbares Siegel unter dem Flügel des Springbrunnen-Engels betätigen musste. Dann bewegte sich, unter Ach und Krach, der gesamte Springbrunnen beiseite und gab den Weg runter frei – eine dünne, sehr unheimliche und dadurch ziemlich spannend aussehende Wendeltreppe frei, die in die Dunkelheit hinab führte. Dunkelheit! Im Tempel! Alleine das machte diesen Geheimgang ziemlich spannend, immerhin war alles im Tempel immer hell erleuchtet oder vom Sonnenlicht durchflutet – bis auf diesen Gang, den Green auch jetzt herunter ging, ausgerüstet mit nichts anderen als eine kleine Kerze. Wäre sie mit ihrem Training ein wenig weiter und würde sie ein wenig mehr dem Wunsch ihres Bruders nachkommen, dann wäre sie in der Lage Licht auf ihrer Handfläche erscheinen zu lassen um die Dunkelheit zu vertreiben. Aber… so weit war sie leider nicht, denn sie übte dies nicht so oft wie sie es eigentlich sollte.   Schon beim ersten Abstieg hatte Green sich gefragt wie weit runter diese Wendeltreppe eigentlich ging – der Abstieg kam ihr sehr lang vor, aber sie ging auch langsam, denn die steinernen Stufen waren feucht und rutschig. Wozu dieser Gang genutzt wurde hatte Green nicht in Erfahrung bringen können, denn Ryô wusste auch nicht mehr als sie, sondern eben nur, wie man diese Wendeltreppe in die Dunkelheit fand und was sich am Ende lag. Nicht viel, weswegen Green auch nicht wusste, was Pink hier unten zu suchen hatte… aber sie war da; sie musste eigentlich dort sein, denn der Springbrunnen war zur Seite geschoben worden; Green hatte einfach nur heruntergehen müssen, was sie jetzt auch getan hatte und somit in einer kleinen, bedrückenden Kammer angekommen war, die das Licht ihrer Kerze kaum erhellen konnte. Eine „Kammer“ konnte man es vielleicht auch nicht ganz nennen denn sie mündete aus mit dem dunklen Wasser des Sancire, welches direkt an der Kammer anschloss. Die Wendeltreppe führte mit anderen Worten nur runter zum Fluss, wobei Green diese unterirdische Ansicht des Flusses nicht geheuer war. Oben im Tempel war er schön und mit seinen vielen Kanälen und Quellen und seinem klaren Wasser, aus dem man ja auch trinken konnte – aber hier unten? Hier unten sah dieser Kanal aus wie eine schwarze Masse, in die Green nicht einmal ihren kleinen Finger reinstecken würde. Bedrohlich und schwarz und… ohne Ende. Tief und verschlingend und… wo war Pink eigentlich!? Wirklich, was wollte sie hier unten?! Gestern noch hatte sie sich so gefürchtet, dass Green Pinks Hand die ganze Zeit hatte halten müssen und jetzt… gut, Green konnte verstehen warum Pink es hier unheimlich fand. Die Stille hier war bedrückend und es roch modrig und… eigenartig metallisch.   „…Pink?“   „Ja, Green-chan?“ Green erschrak sich so fürchterlich über Pinks plötzliche Antwort, dass sie fast ihre Kerze fallen ließ. Woher war Pink denn plötzlich aufgetaucht?! Green hatte sie überhaupt nicht bemerkt, aber jetzt stand Pink hinter ihr, neben der Wendeltreppe, sie unschuldig anblinzelnd, mit ihrem HelloKitty-Plüschtier im Arm. Was zur…  „Pink…“ Green bemerkte, dass ihre Stimme zitterte, weshalb sie erst einmal schlucken musste.  „Was machst du hier unten?“ Pink drückte ihr Plüschtier an sich und Green bemerkte im fahlen Licht der völlig überforderten Kerze, dass ihre Augen genau wie die Greens vorher auf das Wasser gerichtet waren.  „Ich hab mich einfach gefragt… wozu dieser Gang gebraucht wird. Hellokitty-chan fragte sich das auch!“ Die Angesprochene runzelte die Stirn und sah über die Schulter um ebenfalls auf das Wasser zu blicken, während Pink sich neben sie stellte.  „Keine Ahnung, aber du wirst heute wohl nicht mehr herausfinden als gestern.“  „Der Kanal scheint wohin zu führen.“ Green warf einen Seitenblick an ihre Cousine, was sie nicht bemerkte, denn sie hatte ihren Blick weiter auf das Wasser gerichtet.  „Stimmt, aber ich möchte ehrlich gesagt gar nicht herausfinden wo er genau hinführt. Wenn nicht einmal Ryô es wusste… Vielleicht sollte das hier ja eigentlich ein weiterer Schutzraum werden und der Bau wurde abgebrochen?“`  „Es gibt aber doch schon so viele Schutzräume.“  „Stimmt und das wo der Tempel angeblich „unantastbar“ ist.“ Green kannte die Zahl im Moment nicht auswendig, aber sie hatte sie für Gary aufgeschrieben: es gab jedoch mindestens 10 Schutzräume, die alle irgendwo versteckt im Tempel lagen. Aber auch diese sahen freundlich aus und nicht so bedrückend wie dieser Ort. Green musste zugeben, dass sie lieber wieder nach oben wollte, aber Pink schien diesen Wunsch nicht zu teilen.  „Kannst du nicht mal versuchen das Ende mit einer Lichtkugel zu erleuchten, Green-chan?“ Bei dieser Frage fühlte Green sich ein wenig ertappt, denn genau das war ja das, was sie ein wenig vernachlässigte bei ihrem Training.  „Du weißt doch, dass ich das nicht so gut kann…“ Pink sah auf und sah sie zusammen mit ihrem Plüschtier fragend an:  „Aber du kannst es doch als Training ansehen!“ Green grummelte, ergab sich dann aber und streckte die Hand aus, allerdings ohne näher an das Wasser heran zu gehen. Sie hatte versucht diese Handbewegung lässig wirken zu lassen, so als ob dies absolut gar kein Problem für sie war und natürlich absolut keine Herausforderung… aber schnell war auf ihrem Gesicht deutlich zu erkennen, dass es sehr wohl eine war, denn es verzog sich konzentriert und die Freude, als es ihr dann endlich gelang eine kleine – aber vorhandene! – Lichtkugel entstehen zu lassen verriet ebenfalls, wie sehr sie ihr Training vernachlässigt hatte und weswegen sie allen Grund hatte über diese kleine Lichtkugel erfreut zu sein, da ihr Erscheinen wohl mehr Glück und Zufall war, als wahres Können.   Gespannt sahen Green und Pink dabei zu, wie die Lichtkugel über die blanke Oberfläche des schwarzen Wassers hinweg schoss. Stolz war Green ein wenig, als sie sah wie lange ihre Lichtkugel aushielt – schon mehr als dreißig Meter hatte die Kugel schon hinter sich gelegt, aber an sich nichts spannendes offenbart, sondern nur, dass die Decke tiefer und tiefer wurde… und dann, nach knapp 40 Metern verpuffte das Licht ohne, dass es noch mehr hatte zeigen können.   „Nicht so interessant wenn du mich fragst, Pink.“  „Ob etwas auf dem Grund ist…?“ Green lachte über diese Überlegung und wandte sich der Wendeltreppe zu, etwas, was Pink ihr gleich tat.  „Keine Ahnung, aber ich weiß, dass keine zehn Pferde mich auch nur in die Nähe dieses Wassers bringen – ganz zu schweigen davon darin zu schwimmen!“ Die Hikari war schon einige Stufen oberhalb des feuchten Steinbodens, als sie sich nach Pink herumwandte, die immer noch dort stand:  „Kommst du, Pink?“         Dieser kleine „Ausflug“ war am nächsten Tag schon wieder völlig vergessen, denn nachdem Green Grey am vorigen Abend nicht mehr zu Gesicht bekommen hatte, war sie nun mehr als froh, ihn heute zu sehen – und dann stand endlich auch mal kein Training auf dem Tagesprogramm! Und kein Lesen! Endlich mal wieder etwas anderes, endlich mal wieder etwas das zu Grey passte. Green hatte sich gar nicht vorstellen können, dass sie sich mal so darüber freuen würde zu hören, dass Grey ihr ein neues Kleid machen wollte. Sie war ja eigentlich nicht so der Freund von seinen Kreationen, aber es war so schön ihn so ausgelassen zu sehen, wo er doch die letzten Tage, Wochen, so angespannt gewirkt hatte. Sein Lächeln hatte sie so gefreut, dass Green sich nicht einmal gesträubt hatte, als Grey sie darum bat, sich in der Mitte seines Zimmers aufzustellen, denn er müsse ihre Maße noch einmal nehmen, da er sie irgendwie – er schien sich richtig dafür zu schämen, dass so etwas vorkommen konnte – verlegt hatte. Aber ihn hatte die Muse geküsst, er wollte sofort anfangen – also zauberte er ein Zentimeterband hervor und legte es schon an Greens Handgelenk an.   Green schmunzelte als sie sah, wie eifrig Grey die Zahlen aufschrieb; was das wohl für ein Kleid werden sollte, wenn er so erpicht darauf war, es zu kreieren? Die Hikari erinnerte sich daran, dass es beim ersten Mal Ryô gewesen war, der die Maße genommen hatte – wo er wohl war? Jedenfalls schien Grey die Muse wirklich schwer erwischt zu haben, wenn er nicht darauf warten konnte, dass Ryô zurückkehrte, hihi!       „Ich wundere mich ehrlich gesagt, dass du bei all den Kleidern, die du mir schon gemacht hast, meine Maße noch nicht auswendig kannst, Onii-chan!“ Grey lachte und Green bemerkte, dass sie sich über sein Lachen freute, als er ihre Taille maß und antwortete:  „Stimmt, eigentlich ist es beschämend, da hast du ganz Recht! Aber das hier dauert ja nicht lang, danach kannst du dann wieder an deine Lesungen zurückkehren.“  „Oh, wie zuvorkommend! Das freut mich aber zu hören. Damit hast du meinen Nachmittag wahrlich gerettet!“, antwortete Green mit einem ironischen Lächeln und sah ihren Bruder mit einem gespielten Schmollmund an.  „Ich würde lieber etwas mit dir zusammen machen… Von mir aus auch zusammen trainieren, ja Grey? Bitte!“ Er stand auf und fing jetzt mit ihren Oberarm an.  „Nach dem Abendmahl vielleicht.“   „Was willst du denn abends noch machen?“   „Ich muss leider noch etwas in der Bibliothek untersuchen. Wenn du willst, könnten wir den heutigen Abend zusammen in der Bibliothek verbringen; wir sind die Fragen von gestern noch gar nicht durchgegangen. Das könnten wir nebenbei machen.“ Mist, schoss es Green durch den Kopf, sie hatte eigentlich gehofft er hätte es vergessen.  „Gut, von mir aus. Das ist immer noch besser als nichts!“ Grey lächelte; wie sehr es ihn nicht freute, dass Green angefangen hatte seine Gegenwart zu schätzen. Er hatte vor ein paar Monaten noch nie zu träumen gewagt, dass sie ihn mal fragen würde, ob er Zeit hatte, geschweige denn, dass sie es traurig fand, wenn Grey keine Zeit für sie hatte. Die vier Monate hatten deren Bruder-Schwester-Beziehung wirklich gefestigt.   Mit den Gedanken ganz woanders, legte Grey das Band um Greens schlanken Hals, immer noch völlig in Gedanken versunken, immer noch mit einem sachten Lächeln auf dem Gesicht. Dann aber, gerade als er es wegnehmen wollte, um die Zahlen aufzuschreiben, verpufften seine Gedanken jäh.   Er war ihrem Gesicht so nah.   Grey stand direkt vor ihr, so dass sich deren Nasenspitzen schon fast berührten. Green sah an ihn vorbei, sie merkte diese ungewöhnliche, vorher noch nie dagewesene Nähe, nicht, bemerkte sie nicht so wie er es bemerkte… Nein, es war ihr egal. Einfach egal. Natürlich war es ihr egal! Er war ja nur ihr Bruder, was sollte sie da schon denken? Warum sollte sie da erröten, oder sonst irgendwie reagieren… so wie Grey es tat?  Warum war Grey nicht fähig sich vom Fleck zu bewegen?   Vielleicht sollte, konnte er, durfte er… nein. Das… würde sie nicht zulassen… unmöglich… doch… vielleicht… was war das, was war das für ein gemeines „vielleicht“, dass sich da Grey unbewusst einschlich, zusammen mit einem leisem Gefühl von Hoffnung?   Eine Hoffnung die sagte: Was sollte schon geschehen.  Was geschehen sollte, was geschehen würde?! Alles! Nur schlechtes! Denn dieser Gedanke war schlecht, diese hoffnungsvollen Gedanken waren schlecht – Greens gerade erst zu keimen begonnene Liebe für ihn--- Geschwisterliebe. Nichts weiter. Nichts anderes.   Das wollte er doch. Darüber freute er sich doch.   Nein, das war nicht das was er wollte.   Wenn er das falsche tat, oder etwas falsches sagte, dann riskierte er Greens Liebe – ihre Geschwisterliebe – für immer zu verlieren. Und das wollte er nicht, nein, das wollte er nicht – doch. Doch das wollte er, diese von ihm nicht gewollte Liebe auf dem Spiel zu setzen, war das Risiko doch…   Der Windwächter verstand seine eigenen Gedanken nicht mehr, sie drehten sich im Kreis und ließen ihn nicht mehr klar denken. Er bemerkte nicht einmal wie er das Band hatte fallen gelassen – aber Greens Schultern bemerkte er. Greens Haut unter seinen Fingern. Langsam bemerkte Green auch, dass etwas nicht stimmte und sah ihn besorgt an.  „Grey… Stimmt etwas nicht? Du bist ganz rot im Gesicht… Hast du Fieber?“ Warum legte Green ihre Stirn jetzt an seine? Warum hatte sie nun dafür gesorgt, dass wirklich nur noch ein paar wenige Zentimeter zwischen ihnen waren… zwischen ihren… zwischen deren…  „…Du bist wirklich ziemlich warm…“ Green bemerkte den inneren Kampf ihres Bruders überhaupt nicht. Sie nahm wirklich an, dass seine Gesundheit der Grund für sein merkwürdiges Verhalten war… mehr dachte sie nicht darüber. Sie dachte nur, dass es merkwürdig war und das… war es ja… auch.  Tief holte Grey Luft und gerade als die Tür aufging und Ryô rein kam, hatte Grey Green losgelassen und war einen Meter von ihr weggegangen – oder eher gestolpert.  Was hatte er da nur fast getan…?!   „Onii-chan! Was ist denn nur mit dir los?“ Besorgt wandte sie an Ryô:  „Ich denke, dass Grey Fieber hat!“ Kurz sah Ryô verwirrt drein – aber nur solange bis er einmal zu Grey gesehen hatte. Ein Blickkontakt genügte und er verstand.   „Aaaah! Ja, natürlich Hikari-sama, das nehme ich auch an. Ich werde Grey-sama umgehend ins Krankenzimmer bringen und ihm seine Medizin verabreichen. Wenn Ihr uns entschuldigt…?“ Ohne Grey um Erlaubnis zu fragen, nahm er seinen Herren am Arm und brachte ihn aus dem Zimmer. Ohne Widerstände ließ sein Herr sich mitnehmen in ein anderes Zimmer, wo er sich umgehend auf die nächstbeste Sitzgelegenheit fallen ließ.  „Grey-sama, was ist geschehen?“   „Vier Zentimeter… Vier Zentimeter…!“   „Soll ich Euch Wasser holen?“ Grey hörte ihn nicht. Er schien gänzlich von seinen eigenen Gedanken eingenommen zu sein, Gedanken, die Ryô Angst machten:  „Ryô, ich will sterben… ich will sterben… auf der Stelle…“  „Sagt doch so etwas nicht… So schlimm wird es nicht sein.“ Er versuchte zu lächeln, doch es gelang ihm nicht und die kläglichen Versuche stürzten auch in sich zusammen, als Grey manisch den Kopf schüttelte, nur um seine Hand in sein Haar zu vergraben vor lauter Verzweiflung und… Selbsthass.  „Doch! Doch… so schlimm ist es…“  „Bitte, Grey-sama, so beruhigt Euch doch...“ Er legte seine Hand auf Greys bebende Schulter: ein Beben, dass sich auf ihn zu übertragen schien. War sein Freund etwa kurz davor der Verzweiflung nachzugeben?   „…Was habt Ihr getan? Was ist geschehen, Grey-sama?“  „Nichts ist geschehen… Zum Glück! Wenn ich es getan hätte… wenn sie wüsste…“ Grey vergrub nun beide Hände verzweifelt in seine Haare und krümmte sich vor Ryô, als hätte er schreckliche Schmerzen.  „Ryô…! Es waren nur vier Zentimeter die mich aufhielten… und ich… und ich… hätte meine Schwester… geküsst…!“ Das letzte Wort brachte er über die Lippen, als wäre es das allerschlimmste Wort das er jemals benutzt hatte.   „…Ich wollte es tun! Ich wollte sie küssen! Meine Schwester! Was ist, wenn sie es bemerkt hat…?! Green ist nicht dumm… auch nicht naiv… Sie weiß es… sie weiß jetzt…was für… perverse Gefühle ich für sie… empfinde…“ Nun war es endgültig zu viel für Grey. Er stürzte sein Gesicht förmlich in seine zittrige Hände und fing voller Unglück und Pein an zu weinen.   Völlig hilflos erstarrte Ryô. Er wusste nicht was er tun sollte, oder was er sagen sollte, vom den gleichen Unglück erschlagen wie Grey: wenn es nicht vermessen war, das zu behaupten, so glaubte Ryô, dass er sich in diesem Moment genauso elendig fühlte, genauso sehr am Boden fühlte wie Grey. Noch nie hatte er Grey in so einer Verfassung erlebt, noch nie so verzweifelt – noch nie so nah am Rand zu zerbrechen. So kannte er ihn nicht; er kannte ihn lächelnd, meistens. Gedankenverloren und verträumt, nachdenklich, aber nicht so. Nicht so von sich selbst zerrissen.   Ryô musste etwas tun. Er musste etwas tun, irgendetwas! Er musste Grey helfen!   „Grey-sama, Eure Gefühle sind von edler Natur – Liebe ist immer von edler Natur! Nennt Eure Gefühle doch nicht so – sie sind doch nicht „pervers“!“ Grey fiel Ryô ins Wort und das Lächeln, dass Ryô hervor gezwungen hatte um Grey irgendwie aufheitern zu wollen, verschwand sofort wieder:  „Aber nicht in ihrer Welt! Liebe unter Geschwistern ist nicht erwünscht! Nicht…“ Grey krampfe und krümmte sich noch weiter auf dem Sofa zusammen, als wollte er sich so klein machen, dass er gänzlich verschwand:  „… wenn der große Bruder die kleine Schwester küssen will! Dann nennen sie es Inzest! Dann ist es… verboten! Eine Todsünde! Pervers!“ Von sich selbst angewidert schüttelte er den Kopf hin und her, zusammen mit den immer noch an den Kopf gefestigten Händen:  „Wie hätte Green mich angesehen… wenn sie es bemerkt hätte! Ihre Augen! Ihre Augen! Sie hätte sich vor mir… geekelt! Mich nie wieder angesehen!“ Kurz schwieg Grey. Ryô sollte diese Sekunde nutzen um etwas zu sagen – irgendetwas! – doch er war unfähig Worte zu finden.   „… Ich will das nicht… ich wollte das auch nie… ich wollte mich nie in Green… verlieben… ich wollte sie nie als… Frau lieben…! Niemals… NIE! … Wie konnte ich nur zulassen, dass es so weit geht…! Ich hasse diese Gefühle so… ich hasse mich so für diese Gefühle!“ Worte konnte Ryô keine finden, aber seine Hände verlangten nach Taten und diese nahmen Grey nun an den Schultern und die nassen Hände rutschten von Greys Gesicht herunter, als er aufsah. Aber er sah nichts. Diese großen, blauen Augen sahen nichts; sie sahen nur seine eigenen Tränen.    „Ich will das nicht… ich will diese Gefühle nicht…“, brachte Grey verzweifelt und heiser über die Lippen ohne Ryô direkt anzusehen. Dann wurde die Verzweiflung in dem Tempelwächter zu groß. Jede Etikette und jeden Standesunterschied vergaß der Tempelwächter, als er die Augen niederschlug und dann seinen Arm um Greys Kopf herum legte und ihn sanft, aber nicht weniger verzweifelt, als Grey es war, an seine Schulter zu drücken. Zuerst reagierte Grey nicht, aber dann spürte Ryô auf seinen Rücken wie Greys Finger sich dort in seine Uniform festkrallten und Grey den Kopf senkte. Doch obwohl sein Freund den Kopf nun in seine Schulter gepresst hielt, hörte Ryô die Worte dennoch deutlich, die ihm genauso das Herz zerrissen wie umgekehrt.   „…Ich liebe sie… Ich liebe Green… Ich habe noch nie… jemanden so geliebt wie sie… Diese verfluchte… Liebe… sie zerreißt mir das Herz…“   „Dann…beichtet es ihr…“ Grey schüttelte energisch den Kopf.  „Nein…! Wenn sie es nicht schon weiß, soll sie es auch niemals erfahren… Dann werde ich diese verdammten Gefühle mit ins Grab nehmen…!“   „Grey! Bitte mach keinen Fehler! Deine Schwester braucht dich…“ Aus lauter Panik hatte Ryô das Suffix vergessen, doch Grey achtete nicht darauf.  „… keine Sorge, Ryô – so hatte ich das nicht gemeint… das könnte ich nicht…was würde ich nie… Was soll ich nur tun…?“   „Wenn Ihr…Eure Gefühle nicht beichten könnt, denn müsst Ihr… lernen damit zu leben. Oder ihr müsst Abstand halten von Hikari-sama und versuchen Eure Gefühle zu vergessen.“  „Das kann ich nicht. Ich brauche sie… ohne sie kann ich nicht leben…“ Ryô biss die Zähne zusammen und nickte traurig:   „Ich weiß… ich weiß…“   „Wie soll ich mir ihr gegenüber verhalten…? Es ist nie ausgeschlossen, dass so eine Situation, wie gerade eben, wieder kommt…“  „Ihr könnt nichts anderes machen, als weiterhin ein Bruder für sie zu sein. Eure Schwester liebt Euch…“   „…Aber nicht so wie ich sie.“  „Nein.“  „…Und das wird sie auch niemals tun.“ Ryô konnte ihm darauf keine Antwort geben. Er konnte nicht lügen, aber die Wahrheit war zu hart um sie auszusprechen. Aber Grey hatte es auch ohne Worte verstanden, das sah Ryô in seinem nassen Gesicht, als Grey sich von ihm löste und wackelig aufstand. Die Tränen waren versiegt, aber die Traurigkeit war dennoch so deutlich zu erkennen, dass Ryô sich selbst zwingen musste ihn anzusehen. Aber er weinte nicht länger – das war doch… gut.   Grey atmete ein paar Mal tief durch; erst dann wandte er sich von Ryô ab.    „Ich werde ins Bad gehen. Sag bitte Green Bescheid, dass ich unsere Verabredung heute Abend einhalten werde und… das mit mir alles in Ordnung ist.“ Besorgt musterte Ryô seinen Herren.   „Haltet Ihr das wirklich für klug? Vielleicht solltet Ihr Euch lieber ein wenig ausruhen, anstatt gleich wieder Euren Gefühlen ausgesetzt zu sein… Ist das nicht…“ Grey drehte sich zu ihm und versuchte zu Lächeln.  „Danke, dass du dir Sorgen machst, mein Freund, aber… das geht schon. Danke.“ Ryô nickte und wollte seinen Herren gerade alleine lassen – aber Greys Worte hielten ihn davon ab:   „Auch danke dafür, dass du mir geholfen hast und…“ Ryô wandte sich nicht herum, aber er sah aus den Augenwinkeln, dass Grey es tat – und dass er schwach lächelte.  „…du darfst das Suffix ruhig öfter vergessen.“                        Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)