Shadow of Darkness von WrightGerman (Buch 01: Lunar Eclipse) ================================================================================ Kapitel 1: Kia Kaim ------------------- Am selben Morgen, nur etwas früher, drangen aus dem Dickicht des Waldes der ewigen Ruhe, fürchterliche Laute. Ein Kreischen, so schrill und laut, dass es bis in die Zähne zog. Ein Schrei, wie er nur ein von einem Tier wiedergegeben werden konnte, das am Ende einer intensiven Hetzjagd, dem Jäger durch Erschöpfung oder Kampf, letztlich unterlegen war. Man hörte es noch bis ans letzte Haus des Dorfes dringen, das sehr nahe dem Walde gelegen war. Gut eine Stunde darauf hatten sich alle Dorfbewohner, dreißig Köpfe insgesamt, am Eingang versammelt und hielten die Blicke gespannt in Richtung der dünnen Bäume. Bis dann endlich die erste Regung den Büschen entsprungen und die Silhouetten von zwei Menschengestalten aus dem Schatten der Kronen traten, war eine unangenehme Unruhe über den Häuptern dieser Traube gelegen. Ähnlich einer finsteren Wolke, die sich aber mit den ersten Sonnenstrahlen schnell aufklärte, entspannten sich auch die Gemüter der Unruhigen. Die Helden waren wohlauf. Sie stampften selig und ohne Hast über das taufrische Gras. „Sira sei Dank“, brummte das Oberhaupt der kleinen Gemeinde, Learon, ein Mann mittleren Alters mit kohlschwarzem Haar und buschiger Gesichtbehaarung, als die beiden Ankömmlinge in Hörreichweite waren. Er verknotete die Arme vor dem dicken Wanst. In den Augen war ein Hauch von Sorge, ansonsten aber nur blanker Unmut herauszulesen, als sie die Schwelle des Dorfes erreichten. „Ihr wart fast die halbe Nacht da drin. Als wir den Schrei hörten, euch aber nicht herauskommen sahen, befürchteten wir schon das Schlimmste. Das ganze Dorf fürchtete schon, wir müssen zwei weitere Gräber ohne Leichen schaufeln. Nun? Ihr steht da, als wärt ihr zu Stein erstarrt. Erklärt euch!“ Die zwei Jäger, ein Mann aus dem Volke der Düsterelfen und eine junge Frau, die dem Geschlecht der Menschen abstammte, zuckten ganz unbekümmert mit den Schultern. Die Frau, eine Tochter der Kaims, die auf den Namen Kia hörte, schulterte ein erlegtes Tier, dass sie dem Dorfvorsteher respektlos vor die Füße warf. „Verzeiht die unnötigen Sorgen“, sprach Trost, der hochgewachsene Düsterelf, und erhob entschuldigend seine Hand empor, während die ernsten Züge seines strammen, blauvioletten Gesichtes wenig Empathie gegenüber der sorgenden Äußerungen Learons vermittelten. Ein alter Gelehrter, im ewigjungen Körper eines Elfen. Mit den Armen eines starken Fechters und dem schmalen Becken eines Athleten, war er der attraktive Krieger, den sich eine jede Frau als Mann wünschte. Das silberne Haar war lang und offen, mit einem schwarzen Band, das einen schmalen Streifen dieses Haars nach hinten hin zusammenband. Die Kleidung war schlicht. Ein dunkles blau-grünes Gewand, das eng an ihm lag und von der speziellen Machart der Elfenseide war. Das bedeutete, dass sie sich zu denen vermochte, ohne zu reißen und dabei die charmanten Vorzüge des Körpers offenlegte, ohne ihn entkleidet zu lassen. Auf dem Rücken trug er die Waffen, mit denen er zumeist in Gefechten operierte: Einen Köcher voll Pfeile und einen silbrigen Bogen, dessen zwei gebogenen Enden so scharf wie geschliffene Klingen waren und auch so glänzten, als wären sie aus reinem Schmiedestahl. Kia Kaim massierte indes die freigemachte Schulter und ließ den Kopf ein paar Male sanft kreisen, wodurch das rote Haar wie Feuer in der sanften Morgenbrise tanzte. Sie war deutlich kleiner, wirkte auch sehr viel jünger, als ihr elfischer Partner. Fast noch wie ein Kind, dass auf der Schwelle zum Erwachsenwerden stand. Sie hatte das schmale Gesicht einer zierlichen Dame und den Körperbau einer feinen Kriegerin. Die Muskeln, wenn auch nicht groß, waren wohl definiert und stark den Bauch und die Arme betonend. Ähnlich wie ihr älterer Bruder Eran, trug auch sie einen weißen Umhang, unter dem ein Schwert hervorlugte, dass mit einer kurzen aber breiten Klinge aufwartete. Ihre Kleidung war schlicht. Ein einfaches grünes Wams und eine ebenso einfache braune Stoffhose, die an den Schenkeln breit auflag und zu den Knöcheln hin eng zusammenlief. „Das Tier war leider schwer aufzulesen“, erklärte Trost weiter. „Und dann ist er gerannt. Ziemlich schnell sogar“, legte Kia weiter aus. „War wirklich alles andere als einfach. Wie ein verdammter Hase mit Zähnen.“ „Na ja, zumindest geht es euch gut. Und ihr habt den Auftrag ausgeführt“, meinte Learon in einer Stimmung, die jede Trauerfeier wie ein Fest erscheinen ließ. Er beäugte das ihm zu Füßen liegende Tier. Das schwarze Fell, in dem sich ein gelber Streifen der Länge nach über den ganzen Körper erstreckte und ihm gleich als erstes ins Auge gestoßen war, verriet ihm direkt, dass es sich hier um ein exotisches Wesen handelte. Stechend gelbe Augen blickten leblos zurück in die grünen seiner eigenen. Mit der langen Schnauze, den Hinterläufen und dem buschigen Schwanz, mutete das Tier einem Wildhund an. Doch im Land der Menschen war eine solche Art, wie er sie nun vor sich sah, nie gesehen. Da stellte sich dem Mann unweigerlich die Frage: „Auf was starre ich hier eigentlich?“ Die beiden Jäger warfen einander einen kurz anhaltenden, jedoch intensiven Blick zu, als würden sie eine Entscheidung abwägen, ob sie es ihm sagen sollten oder nicht. Das bemerkte der Griesgrämige natürlich, denn er war ja kein Narr. Auch als Oberhaupt einer kleinen Dorfgemeinde war man darauf bedacht, die Menschen zu durchschauen, um nicht getäuscht zu werden. „Keine Ahnung, was dieser Blicktausch soll“, murrte er und erhob drohend den Zeigefinger, „aber ich will kein Märchen aufgetischt bekommen. Die Königin wird über meinen Unmut berichtet, solltet ihr mich doch anlügen.“ Der Düsterelf wandte als erster das Haupt wieder dem Mann zu, als würde ihn diese Drohung sofort einknicken lassen. Beide machten sie ein ahnungsloses Gesicht und schüttelten unwissend den Kopf. „Wir wissen es selbst nicht. So ein Tier habe ich noch nie gesehen.“ „Meine erste Vermutung war ein Rigar“, sprach die Rothaarige. „Meine auch“, der Silberhaarige. „Allerdings ist er für einen Rigar etwas zu groß, die Schnauze zu länglich und das Fellmuster zu dunkel. Und dann dieser gelbe Streifen. Wirklich, wir haben keine Ahnung.“ „Zusätzlich, dass ein Rigar, trotz das er eine Unterart des Wildhundes ist, keinen buschigen Schwanz besitzt. Vielleicht eine neue Art von Wildhund, also? Wirklich, es ist unmöglich zu sagen.“ „Zwei Jäger, die keine Ahnung haben, so, so.“ „Mit Verlaub“, sprach Kia, „aber wir sind keine Jäger. Wir sind mit dem Auftrag hierher gekommen, eine unbekannte Bestie zu erlegen. Es hätte sich ebenso gut um einen Troll handeln können, deshalb hat man uns gesandt. Es war ein bisschen enttäuschend zu sehen, für was wir letztendlich ausgesandt wurden. Ein Jäger hätte das Tier ebenso gut erlegen können.“ „Deswegen“, setzte Trost nach, „sind wir auch erst so spät aus dem Wald gekommen. Wir haben lange darüber sinniert, auf was wir starren. Vom Aussehen her ähnelt es einem Wolf oder zumindest einem Hund. Und das sind für gewöhnlich Rudeltiere. Dieses Exemplar hier war aber alleine.“ „Wirklich?“, fragte Learon sichtlich erstaunt. „Ja. Wir haben nach dem Bau gesucht und ihn gefunden. Keine Jungen, kein Pack. Entweder ein Einzelgänger oder ein Verirrter. Auf jeden Fall sehr fremdartig.“ „Sehr fremdartig“, sagte Kia und deutete auf das tote Tier. „Das da kenn ich jedenfalls nicht aus dem Bestiarium oder dem Almanach der Tierwelt. Vielleicht werdet Ihr eher fündig, jetzt wo Euch dieses Geschöpf nicht länger plagt.“ Der Mann sagte nichts. Allein das seine Finger sinnierend an den einzelnen Haaren seines borstigen Bartes zupften, während er konzentriert auf das ihm zu Boden liegende Geschöpf starrte und die Stirn dabei in die Falten der Sorgen und des Argwohns tunkte, standen Rede und Antwort genug. Als würde er den beiden die getätigte Aussage nicht abkaufen, wüsste aber auch nicht, ihnen die Lüge nachzuweisen. Eine lange Pause machte Raum für Unmut zwischen Kia und dem Dorfvorsteher Learon. Je länger die Ruhe den Genuss des friedlichen Zusammenseins versauerte, desto eher machte sich in Trost die Gewissheit breit, dass sich eine Auseinandersetzung zwischen den beiden nicht vermeiden ließ. Kia, die stets, wenn auch nicht von Natur aus streitlustig, so doch von heißblütigem Gemüt war und für ihre Mühen zumindest einen aufrichtigen Dank forderte, wich immer mehr das Weiß der Gelassenheit aus dem Gesicht. Und Learon, der sich anmaßte zu glauben, die beiden würden ihn nicht in ihre wahren Gedanken mit einbinden, gleich das ihm jedwede Beweiskraft dafür fehlte, sah sich in einer verzwickten Lage. Denn was sollte er nun der kleinen Gemeinde hinter sich erzählen? Die Gemeinde, die so schweigsam hinter ihm stand. Die Kinder, die sich fragend an dem Rockzipfel der Mütter oder den rauen Händen ihrer Väter hielten. „Sofern Ihr also mit unseren Diensten soweit zufrieden seid …“, stieß Kia, mit der letzten verbleibenden Kraft ihrer Geduld, das Ende des Gespräches an. Eine Antwort blieb aus. Kia wuchsen schon Reißzähne. Gleich würde sie selbst zur verhassten Bestie werden, wenn denn nicht Trost sich mit dem Einwand eingemischt hätte: „Wir könnten das Tier mitnehmen.“ Alles sah den Düsterelfen mit verwunderter Miene an. Merklich gespannt auf die Erklärung, die seiner Idee Worte verlieh. „Ich weiß, eigentlich ist es bei euch Menschen brauch, dass der Auftraggeber das erlegte Tier behalten und entscheiden darf, was er damit anzustellen gedenkt. Aber wenn wir es mitnehmen, könnten wir es den Bestiatoren zur Analyse präsentieren. Vielleicht können sie das Rätsel um dieses seltsam anmutende Tier entziffern. Damit wäre uns allen mehr geholfen, als wenn es hierbliebe.“ „Bestiatoren?“, raunte es von einem kleinen Jungen, der fragend in das ebenso ratlose Gesicht seiner Eltern blickte. „Bestiatoren“, erklärte Kia, „sind staatlich anerkannte Tierforscher. Mit einem Fokus auf unbekannte und höchst suspekte Arten. Welche, die sich anormal ihrer natürlichen Instinkte verhalten. Zum Beispiel als scheinbares Hundetier trotzdem ohne Rudel und nahe einer Menschensiedlung zu jagen.“ „Ach, so etwas gibt es?“, fragte Learon. „Ja“, sagte Trost. „Wenn es denn auch im Interesse von euch allen läge, versteht sich. Wenn wir ihn hierlassen, erfahren wir vielleicht nie, ob das Tier das einzige seiner Art ist oder ob es noch mehr gibt. Wir könnten damit vielleicht Fälle, wie sie euch wiederfahren sind, somit verhindern. Und aktive Aufklärung betreiben. Das wäre der Weg, der für alle einen Vorteil birgt.“ Der dicke Dorfvorsteher schien dem Vorschlag wenig abgeneigt zu sein. Doch … „Das lassen wir jene entscheiden, die von diesem Tier am meisten geschädigt wurden.“ Er drehte sich seiner Gemeinde zu rief die Namen: „Lera und Gyn. Und Vera und Hort.“ Aus der kleinen Traube traten zwei Paare, deren Gesichter von einer seelischen Pein schrecklich deformiert waren. Blässlich und traurig, wie ein trüber Regentag über grauem Wasser. Die Augen rot und glasig von den vielen Tränen, die vergossen wurden. Das Haupt der einen Frau – Lera oder Vera – lag verbittert auf der Brust des Gatten an ihrer Seite. Allein die Bestie zu sehen, die ihr das Kind raubte, machte sie schluchzen und jammern. „Ihr vier seid von dem Tier am meisten geschädigt worden“, erklärte Learon, in dessen rauer Stimme der weiche Klang von Mitgefühl mitschwang. „Ihr dürft entscheiden, wie mit dem Vieh verfahren werden soll.“ Die vier sahen weder einander, noch den Dorfvorsteher Learon oder die zwei Helden an, die das Tier erlegt hatten. Allein dieser regungslose schwarze Hund war es, der ihre Aufmerksamkeit festhielt. „Ich persönlich“, sagte einer der Männer, Gyn oder Hort, „wünsche mir nichts sehnlicher, in Gedenken meines kleinen Jungen Reo, diese Bestie zu verbrennen und seine Asche in einer Urne aufzubewahren. Denn mehr hat uns dieses Tier nicht von unserem geliebten Kind gelassen.“ „Ja“, pflichtete ihm seine Gattin bei. „Wie sollen wir unserem Reo ohne Gebeine ein anständiges Begräbnis geben können?“ „Leider vermögen wir nicht über die heilenden Kräfte, um die Leiden eurer schwermütigen Herzen zu lindern.“ So sagte Kia, als sie ihren Gram zu verstecken und den rationalen Pfad einschlug. „Ich weiß“, suchte Trost ihr eine Stütze in dieser Verhandlung zu sein, „dass ihr gerne eure Kinder in der Nähe wisst und sei es auch nur in der Asche der Bestie, die sie gerissen hat. Aber eitler Egoismus ist hier fehl am Platze, wenn wir andere Leben retten können.“ Kia warf ihm plötzlich einen finsteren Blick zu. Einer, der in ihrer Sprache „Schweig, du Narr“, bedeutete und der Trost, obgleich ihm diese Geste missfiel, gleich nachkam. Denn der Düsterelf war niemand, von dem man sich gerne trösten lassen wollte. Dafür war er zu steif und seine Wortwahl zu direkt. Und wie er sprach, so sprach er ohne Mitgefühl. Denn als Düsterelf glaubte man nicht an den Tod und die Ewigkeit. Allein das Nichts bestimmte ihre Religion. Keine Seele, die zum Himmel emporstieg, keine Nachwelt, zu der sich alle kehren können, wenn sie einst das Leben verließen. Nur die lange Dunkelheit. Daher verstand er auch das Konzept der Menschen nicht, die sich die Nähe zu jenen wünschten, die schon unerreichbar weit fort waren. Und dementsprechend waren auch die Gesichter Bände sprechend für das, was sie in jenem Augenblick für Trost empfanden. Die Kinder, noch von völliger Unwissenheit am wenigsten Vorbehalten, wussten nicht länger zu deuten, ob es nun Helden oder Schurken waren, die vor dem Dorfvorsteher standen. Denn keiner der Erwachsenen machte mehr das Gesicht eines Dankbaren. „Es kam etwas falsch raus, verzeiht ihm“, versuchte Kia noch zu vermitteln. Und der einzige Grund, warum man ihr gestattete es überhaupt zu versuchen, war, dass alle im Tiefsten ihrer Herzen wussten, dass die beiden Gesandten der Königin eigentlich im Recht waren. Selbst, wenn es sich denn niemand eingestehen wollte. Am wenigsten die Elternpaare, die das meiste Leid erfahren und, laut Gesetz, das höchste Anrecht hatten zu bestimmen, was mit dem Leib des erlegten Tieres passierte. „Wir wissen, wie er es meint“, beteuerte Learon. „Düsterelfen sind eben kaltgeborene Geschöpfe. Selbst, wenn sie unter dergleichen Sonne, wie wir Menschen leben.“ Sein Blick war voll Verachtung und Ignoranz. Und auf einmal war es Trost, der sich im Konflikt mit dem Dorfvorsteher sah. Und umso erstaunlicher war es dann, dass Kia als die Vernünftige auftrat, wo es doch hätte umgekehrt sein sollen. „Wir streiten jetzt nicht über kulturelle Differenzen. Wir lassen den betroffenen die Entscheidung, was aus dem Geschöpf nun werden soll. Nur kann ich Trost in einer Sache zustimmen: Den Kadaver einzuäschern bringt nicht die geforderte Genugtuung. Das hier ist ein exotisches Tier, das in der Nähe von Menschen und völlig isoliert von Artgenossen gejagt hat. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass es mehr gibt. Vielleicht ist es auch ein verlorenes Geschöpf und nur durch widrige Umstände allein gewesen. Vielleicht waren – es tut mir sehr leid, dass ich das sage – die zwei Kinder nur eine Verzweiflungstat. Der Instinkt, der die Furcht vor den Menschen unterdrückt, um den Hunger zu bekämpfen.“ „Denkt Ihr das wirklich?“, fragte Learon. „Ich kann es mir nur so erklären“, entgegnete Kia mit einem ahnungslosen Schulterzucken. „Glaubt Ihr denn“, sagte eine der zwei Frauen, die nicht ihren Kopf an die Brust ihres Mannes geschmiegt hatte, „dass damit geholfen werden kann, dass sich ein solches Unglück nicht wiederholt?“ „Ob ich es glaube?“ Kia verschränkte die Arme und senkte den Kopf nachdenklich. Und ohne aus dieser Pose wieder aufzugehen, antwortete sie: „Ich kann es nicht garantieren, aber ja; ich glaube, damit können wir ein solches Unglück verhindern.“ Wieder trat ein langer Augenblick der Stille ein, in der sich die zwei Elternpaare in stummer Andacht und mit stetig wechselnden Blicken beratschlagten. Kein Wort fiel in diesem anhaltenden Moment. Auch Kia, die für ihren Mangel an Geduld und Respekt bekannt war, blieb ruhig und drauf bedacht, sich die Arbeit nicht weiter zu erschweren und auf eine Entscheidung zu drängen. Trost war dahingegen weder Verdruss noch der Wunsch, endlich weiterzuziehen, anzumerken. Die schwarzen Augen, auf denen sich das Sonnenlicht wie auf einer glasigen Oberfläche schimmernd spiegelte, machten nur schwer deutlich, was er gerade empfand, wenn er nicht dazu die passende Miene versetzte. Er zeigte jedenfalls keinerlei Empfänglichkeit für die missgünstigen Blicke, die man ihm zuwarf. Er stand einfach da, sagte nichts und regte sich auch nicht. Eine Säule, die dem Ärger trotzte. Irgendwann war es dann vorbei mit der Ruhe. Während alles noch immer starr auf demselben Platze verharrte, war es allein die Sonne, die sich nicht an die stillgestandene Zeit gehalten hatte. Die zwei Elternteile traten weit hervor, weiter als der Dorfvorsteher. Nebst dem Ungetüm, das leblos vor ihnen lag und dass sie mit Verachtung und Abscheu begafften, als wäre es das teuflischste Wesen in Gestalt, waren sie den beiden Helden nun am nächsten. „Kia Kaim?“, fragte einer der zwei Männer und erhielt darauf ein Nicken. „Ihr seid die ehrenwerte Tochter Kumo Kaims. Nur deshalb und alleine deshalb wollen wir Euren Worten glauben und dazu beitragen, dass sich ein solches Unglück nicht noch einmal wiederholt.“ Als das Wort „Ehrenwert“ gefallen war, musste Kia an sich halten, nicht ironisch aufzulachen. „Als eine der höchsten Familien des Landes“, sprach eine der zwei Frauen, „steht unser Vertrauen in Eure Weisheit.“ „Ja, wir vertrauen Eurem Urteil“, die andere Frau. „Wir werden uns unserer Kinder erinnern. Sie sollen nicht umsonst gestorben sein“, der andere Mann. „Und das sind sie auch nicht, wenn eine solch traurige Katastrophe verhindert werden kann.“ Kia hörte zu und erwehrte sich derweil gegen das unseriöse Grinsen, dass sich ihren Lippen aufzuzwingen versuchte. Sie atmete tief durch, zeigte das vom Ärmel verhüllte Gesicht wieder allen Anwesenden und schaute, als sei dieser beinahe zustande gekommene Ausrutscher nie passiert. „Ich danke“, sagte Kia und neigte das Haupt in Demut. „Ich danke euch für das entgegengebrachte Verständnis. Trotz dieser schrecklichen Zeit, diese Größe zu beweisen. In Ehre meines Namens will ich euch versichern, dass sich eine solche Tragödie nicht wiederholen soll.“ Und damit schien auch alles gesagt und jedes weitere Wort ohne Belang. Man sattelte die Koribis, nahm sie an den Zügeln bis vor den Eingang des Dorfes und wuchtete auf den einen, der Kia gehörte, das erlegte und in einen Leinenstoff eingewickelte Tier. Koribis waren hochgewachsene Reitvögel. Eine gewisse Ähnlichkeit zu Tauben war da, nur das ihr Federkleid bunt, ihre Beine dick und kräftig und die Flügel zu schmal und dünn zum Fliegen waren. Kias Koribi, der auf den Namen Mu-Mu hörte, war eine Seltenheit unter diesen Vögeln. Mu-Mus Federn waren durch und durch weiß und die Augen so rotglühend, wie die ihrer Herrin. Der Koribi Gou’s, der allein auf Trosts Rufe hörte, war dahingegen die schönste Variante, die man unter den Vögeln fand. Jede Feder war von einer anderen Farbe und der Schnabel und die Augen so golden, wie die Sonne. „Na, hast du mich vermisst?“ Mu-Mu besah ihre Meisterin mit großen runden Augen und neigte ahnungslos das Haupt zur Seite. Der menschlichen Sprache nicht mächtig, war es doch immerhin möglich, diesen Vögeln Kommandos beizubringen. Und Kia hatte ihrer Mu-Mu viel beigebracht. Zum Beispiel, dass sich das Haupt senkte, wenn die Herrin beide Hände hob. Und kaum war das getan, ließ Kia ihre Finger sanft über den weißen Schnabel gleiten, hoch bis zu dem Kopf und wieder runter bis zur Schnabelspitze. Die andere Hand, derweil, fuhr mit ähnlicher Gemächlichkeit durch das Federkleid am Halse. Mu-Mu mochte das. Die Vogeldame hatte Kia bei solch zärtlichen Streicheleinheiten noch nie ein zufriedenes Krächzen abgeschlagen. „Warst du auch schön artig?“ Die Koribidame krächzte erneut. „Das ist meine brave Mu-Mu.“ Auch, wenn der Vogel seine Herrin nicht verstand, so konnte sie doch zumindest anhand der Tonlage ausmachen, dass sich Kia freute. Und somit war auch Mu-Mu erfreut. Trost pflegte ein solches Verhältnis mit seinem Reitvogel nicht. Sicher war auch diesem dann und wann Zuneigung seitens seines Herren zugefallen und sie waren aufeinander eingespielt. Doch wo Trost und Gou’s eher auf einer partnerschaftlichen Basis fungierten, waren Kia und Mu-Mu ein Herz und eine Seele. Beste Freundinnen, wenn man so wollte.  „Und vergesst nicht“, sagte der Dorfvorsteher Learon, als die beiden gerade aufgesessen hatten. „Informationen. Wir haben auch ein Recht zu erfahren, was dieses Ding ist. Und …“ „Ja, ja“, unterbrach ihn Kia barsch. „Wir halten unser Wort. Alles, was wir über diese Kreatur herausfinden werden, wird auch mit Euch und Eurer Gemeinde geteilt. Ihr habt unser beider Wort.“ „Gut. Nun denn“, schnaubte der Mann und trat von den zwei Vögeln weg, „habt eine sichere Heimreise. Möge die Göttin Sira über euch wachen.“ „Und über euch“, entgegnete Trost. Kia antwortete nur mit einem einfachen Nicken über ihre Schulter und einem stieren Blick, der leise Abneigung offenlegte. Dann gaben beide das Signal, dass den Koribis erlaubte loszulaufen. „Lauf, Kleine“, sagte Kia. „Riea“, sagte Trost. Und so schnell wie die Vögel auf der Stelle lossprinteten, war sogleich eine Staubwolke vor den Augen der Dorfgemeinde aufgezogen, die, als sie sich wieder legte, die zwei nur noch als entfernte Punkte unter einer rasch aufsteigenden Sonne darstellte. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)