Schatten über Kemet von Moonprincess ================================================================================ 36. Kapitel ----------- „Oh, Schatzi, kuck mal! Ist sie nicht süß?“   „Haha, deine Frau hat ein gutes Auge, junger Herr. Was meinst du? Nur drei Deben für das geschnitzte Kätzchen. Es ist auch Bastet geweiht und handlich. Genau das Richtige für Vielreisende wie euch.“   „Ach, ich weiß nicht.“ Yugi rieb sich die Bartstopeln und blickte zu seiner Gemahlin, die kaum loszureißen war von der schwarz und gold angemalten Figur von der Größe eines Brotlaibs.   „Oh, Schatzi! Sicher kommt bald unser erstes Kind, dann brauchen wir den Segen Bastets doch!“ Mana wandte große, glänzende Augen Yugi zu. „Komm, sag ja!“   „Ach, mein Liebstes… Also gut, weil du es bist.“ Yugi ließ die drei Kupferstücke in die Hand des Händlers fallen. Mana quietschte glücklich.   „Ausgezeichnete Wahl, junger Herr. Du wirst es nicht bereuen. Mögen die Götter mit dir und deiner Familie sein.“ Der Händler verneigte sich leicht und Yugi tat es ihm gleich.   Er nahm Mana am Arm, die die Katzenfigur trug, und führte sie weiter. Aus den Augenwinkeln sah er, wie Mokuba aus dem Zelt des Händlers glitt, sich einmal umsah und dann inmitten der Passanten verschwand. Yugi und Mana führten ihr zärtliches Geplänkel fort, bis sie das Zelt ihrer Reisegruppe erreicht hatten. Dann sanken sie ächzend auf den Boden.   „Das habt ihr fabelhaft gemacht.“ Mai beugte sich über sie, ihr Lächeln war aufmunternd.   „Hat Mokuba was gefunden?“ Gerade wollte Yugi nur das wissen. Und danach wollte er sich den Mund von all den Lügen reinwaschen, die er heute erzählt hatte. Sie waren nun schon drei Wochen unterwegs, aber außer daß Jonos Bart prächtig gediehen war, ebenso wie Mokubas Wissen in Kräuter- und Heilkunde konnten sie nichts vorweisen. Und die Maskerade wurde auch nicht einfacher.   „Der Kerl hatte nur ein verzaubertes Geldsäckchen“, berichtete Mokuba selbst und brachte seinem Ablenkungsmanöver frisches Bier. „Eine Art Versicherung gegen Diebe.“   Mana stöhnte, Yugi ebenso.   „Verzweifelt nicht, wir werden finden, was wir suchen“, antwortete Mai darauf und setzte sich zu ihnen. Sanft tätschelte sie den beiden die Gesichter. „Ihr werdet immer besser. Ich bin sehr stolz auf euch.“   Yugi starrte in seinen Becher und nahm einen großen Schluck. „Wohin als nächstes?“   Mai sah ihn an, seufzte und entrollte ihre Karte. „Hm… Der nächste Ort, der magische Energie ausstrahlt wäre von hier aus gesehen… Ah, da!“ Sie deutete auf einen violetten Punkt.   „Mitten in der Wüste?“ Mana stellte ihren leeren Becher beiseite und beugte sich über die Karte.   Yugi tat es ihr gleich. „Vielleicht ist das sogar besser als in einer Stadt. Wenn die Krone irgendwo ist, wo Menschen sind, hätte man sie doch sicher schon gefunden.“   „Sei dir da nicht so sicher“, meinte Mokuba, der sich auch einen Becher mit Bier gefüllt hatte.   Stöhnend ließ Yugi sich zurückfallen und machte sich lang. „Wir müssen etwas finden! Wir müssen einfach…“   Mai legte eine Hand auf sein Bein. „Wir werden etwas finden. Wir sind alle ungeduldig, aber das müssen wir aushalten.“   Nur wie lange noch? Yugi schloß die Augen. Seine Familie sorgte sich so sicher wie Ra jeden Morgen aufging. Aber da war die seine nicht die einzige.   „Wenn wir es mehrere Tage in der Wüste aushalten wollen, dann müssen wir uns nun gut vorbereiten. Wir brauchen Getränke, Nahrung und Futter für die Tiere.“ Mais Stimme klang entschlossen. „Also los!“   ***   Mai glitt wenig später aus dem Zelt und atmete tief durch. Die staubige, heiße Luft brachte nur wenig Erleichterung, aber wenigstens mußte sie nicht mehr ihren Mitstreitern gegenüber eine Entschlossenheit zeigen, die sie im Inneren nicht spürte. Sie sank gegen den Karren und wischte sich über die feuchte Stirn. Wie gerne hätte sie gerade gebadet… Aber das ging nicht. Sie mußte stark bleiben.   „Du siehst aus wie vom Elefanten umgetrampelt.“   Mai drehte den Kopf und blickte direkt in ein mitleidvolles, braunes Paar Augen. „Und du bist so taktvoll wie einer, Jono.“   Der setzte einen Korb voll fertig gebrannter Figuren auf dem Boden ab, dann lehnte er sich neben Mai an den Karren. „Was hat dir denn die Laune verhagelt?“   „Gerade möchte ich Yugi einfach nur schütteln! Kräftig! Wir alle wollen Ergebnisse sehen und wir alle wollen zurück zu unseren Familien. Sein Gestöhne und seine Ungeduld zehren an meinen Nerven.“   „Stimmt schon, aber du hast deine Liebste und einen deiner Vettern bei dir. Yugi kann das nicht von sich sagen, nicht wahr?“   Mai ließ die Schultern hängen. „Du hast recht. Ich sollte mich am wenigsten beschweren.“   „Wie du schon sagtest, wir wollen alle was Handfestes sehen.“ Jono lächelte durch seinen hellen Bart. „Und wir werden es finden. Komm schon, du bist doch nicht General geworden, weil du leicht aufgibst.“   „Nein.“ Mai lächelte und stieß Jono leicht in die Seite. „Danke, daß du mir geholfen hast, wieder durchzublicken.“   „Kein Ding!“ Jono grinste. „Oh, he, da kommt Anzu.“ Er deutete mit dem Kinn auf die schlanke Gestalt, die sich anmutig durch die Menschenmassen bewegte, trotz eines Kruges auf dem Kopf. „Da sollte ich nicht mehr stören.“   Bevor Mai noch etwas hatte sagen können, war Jono mit seinem Korb im Zelt verschwunden. Sie konnte hören, wie er sich mit Yugi über die Qualität der Waren unterhielt. So stieß sie sich vom Karren ab und kam Anzu entgegen, um ihr das Wasser abzunehmen.   „Danke!“ Anzu strahlte, die Wangen gerötet. „Gibt’s was Neues?“   „Wir müssen eine etwas andere Route nehmen. Durch die Wüste“, erklärte Mai leise. In normaler Lautstärke fuhr sie fort: „Ich gehe später und hole noch mehr Wasser.“   Anzu half Mai, den Krug in eine schattige Ecke zu stellen. „Ich hoffe, wir finden dort endlich was“, murmelte sie.   „Oh, das habe ich heute schon ein paar Mal gehört“, antwortete Mai und richtete sich ächzend auf. Nach einem kurzen Rundumblick, der ihr zeigte, daß niemand sie beobachtete, zog sie Anzu an sich und küßte sanft deren warme Lippen.   „Dafür bist du aber in guter Stimmung.“   „Oh, das verdankst du Jono. Er hat mich zur Besinnung gebracht.“   „Er ist schon was Besonderes.“ Anzu schmunzelte.   Mai lachte auf. „Sollte ich eifersüchtig werden?“   „Das ist wohl eher meine Aufgabe.“ Sie grinsten sich an. „Meinst du, er mag uns auch… beide?“ erkundigte Anzu sich dann ernster.   „Kommt drauf an auf welche Art, nicht wahr? Aber eines kann ich dir versprechen: Dich werde ich immer lieben, Anzu.“   Diese gab Mai als Antwort einen Kuß, der sie beide rotwangig zurückließ. Und mit dem Wunsch, alleine im Zelt sein zu können.   ***   Um der Hitze ein Schnippchen zu schlagen setzten sie ihre Reise gleich am Abend fort, sodaß sie die Kühle der Nacht ausnutzen konnten. Mit Verpflegung für vier Tage und der Kenntnis Mais einer Oase in der Nähe ihres Ziels ausgerüstet fühlte selbst Yugi wieder so etwas wie echte Zuversicht aufkommen. Seine kleine graue Stute trottete durch die Wüste, ebenso erleichtert, daß die Hitze des Tages von ihnen abfiel.   Yugi ließ sie einfach laufen, während er sich umsah. Dünen über Dünen, ab und zu ein Fels, der sich scharf und schwarz von Nuts dunkelblauem Nachtgewand abzeichnete. In der Ferne heulte ein Schakal. Yugi schloß halb die Augen.    Vor ihm ritten Mai, Anzu, Mana und Jono und unterhielten sich. Neben ihm lenkte Ryou den Karren. Auf diesem lag Mokuba, schnarchend. Honda holte gerade zu ihnen auf.   „Na, Yugi? Geht’s noch? Oder willst du auch mal auf den Karren?“   Yugi schüttelte den Kopf. „So müde bin ich nicht. Außerdem braucht Mokuba seinen Schlaf, er wächst ja noch.“   Honda grinste. „Gib niemals die Hoffnung auf, Yugi.“ Der rollte mit den Augen und Honda fand glücklicherweise ein anderes Thema. „Was meinst du? Finden wir hier draußen etwas?“   „Wenn nicht werde ich wohl wahnsinnig“, gestand Yugi mit schuldbewußtem Blick. „Langsam wird es schwer, mir immer wieder zu sagen, daß es schon noch klappen wird.“   „Da bist du nicht der einzige“, erwiderte Honda.   Yugi lächelte. „Laß das nicht unseren General hören.“   „Wenn du mich fragst ist sie da auch keine Ausnahme“, murmelte Honda. „Machen wir uns nichts vor: Je länger wir unterwegs sind, desto größer die Gefahr, in der Kemet schwebt.“   Und Atem. Yugi schloß die Augen. Aufgeben war keine Option, also blieb ihm nur das Jammern. Aber auch das würde ihre Probleme nicht lösen. „Leider. Aber solange es noch ein Leuchten auf der Karte gibt, werde ich zu diesem gehen. Und wenn ich zu Fuß durch die Wüste muß, ohne Wasser und Brot.“   Honda schenkte Yugi ein stolzes Lächeln. „Soweit kommt’s sicher nicht.“   Yugi war sich da weitaus weniger sicher.   Irgendwann verstummte auch das letzte Gespräch, sie waren alle zu müde, um noch mehr zu tun als sich auf ihren Pferden zu halten und diese in die Richtung zu lenken, die ihnen die Karte vorgab. Yugi wäre fast von seinem Pferd gerutscht, da hielten sie endlich an. Vor ihnen ragte ein riesiges Felsengebilde in den Himmel. Es war erstaunlich spitz, fast wie eine…   „Die Rote Nadel!“ Ryous erschrockener Ruf ließ die Pferde nervös tänzeln und Yugi fiel erneut fast aus dem Sattel.   „Ja. Hier können wir gut übernachten“, antwortete Mai, während sie ihren Hengst tätschelte, dann stieg sie ab.   „Da geh ich nicht rein!“ Ryous hohe Stimme ließ Mokuba aus dem Schlaf schrecken.   Yugi stieg sicherheitshalber auch ab und führte seine Stute hinüber zum Karren. „Ryou, was ist mit dir? Du bist so blaß…“   „Dieser Ort ist verflucht! Hier gibt es böse Wesen, Dämonen.“ Ryou schlang beide Arme um sich.   „Ist das nicht so eine Schauergeschichte für kleine Kinder?“ Jono kratzte sich am Kinn, dann gähnte er.   „Das dachte ich auch. Früher!“   „Ryou, bitte, wir sind alle müde und dieser Rastplatz ist der beste in weitem Umkreis. Wird er nicht auch regelmäßig von Nomadenstämmen genutzt?“ erkundigte Mai sich.   Yugi blickte sie an, dann Ryou. Mit Entsetzen stellte er fest, daß diesem dicke Tränen über die Wangen liefen. „Ryou, was ist denn passiert?“ erkundigte Yugi sich und legte eine Hand auf Ryous Knie.   Ryou zuckte zusammen und blickte sich furchtsam um. „Bitte laßt uns weiterfahren. Ich wünschte, ich könnte es euch erzählen, aber…“   „Aber was? Ryou, raus damit“, wies Mai an, Sorge lag in ihrem Blick.   „Der Pharao hat es mir verboten.“   „Was? Wieso das?“ Yugi blickte fragend zu Mai, deren Miene sich nun verhärtete.   „Der Pharao ist nicht hier und wenn es etwas gibt, daß wir über diesen Ort wissen sollten, dann würde er es dir nie zur Last legen, es uns gesagt zu haben. Ich übernehme die volle Verantwortung.“ Mai klang entschlossen. Sie trat zu Ryou und gemeinsam mit Yugi half sie diesem vom Karren.   Mokuba rieb sich die Augen und ließ sich dann vom Karren fallen. „Warst du schon mal hier, Ryou?“   „Ja… Wir müssen wirklich weg von hier“, drängte der, aber so wie er zitterte und sich auf Yugi stützte, konnte er selbst kaum irgendwohin gehen.   „Erzähl uns, was passiert ist“, bat nun auch Mana und Anzu nickte zustimmend.   „A-also schön. Hört zu, meine Familie starb nicht bei einem Unfall. Sie starb hier, in der Roten Nadel! Ein schwarzes Wesen hat alle bis auf mich abgeschlachtet. Es… es war… so furchtbar.“ Ryou schluchzte, die Augenlider zusammengepreßt. „Überall… Überall Blut! Ohne meine Ka-Bestie hätte dieses Wesen auch mich umgebracht. Der Pharao wollte keine Panik auslösen und… und deshalb…“   „Solltest du schweigen“, beendete Mai.   Yugi starrte inzwischen hinauf zu dem schwarzen Felsungeheuer vor ihnen. Ein Schauer lief durch seinen Körper. „Könnte das Wesen noch hier sein?“   „Ich spüre nichts“, antwortete Mana. „Oder eher: Ich spüre nur einen Hauch. Etwas, das war…“   „Also ist der Felsen jetzt wieder sicher?“ Hondas Mißtrauen war deutlich im Gesicht zu sehen.   „Sicherer als damals schon, ja.“ Mana wandte sich mit mitfühlendem Blick an Ryou. „Aber wir sollten unser Lager allein um Ryous willen nicht in den Höhlen aufschlagen.“   „Das sehe ich auch so. Wir werden unter den Felsen dort drüben unser Quartier aufschlagen. Ryou, schaffst du das? Denn wir werden bald nicht mehr reiten können, lange, bevor wir die nächste geschützte Stelle erreichen.“ Mai blickte Ryou fest in die Augen, dessen Zittern ließ nach.   „Es gefällt mir nicht, aber… aber wenn wir keinen Schatten für den Tag haben…“   Dann konnte sie auch gleich eins dieser entsetzlichen Wesen fressen. Yugi schauderte erneut. „Ryou? Wir werden auf dich aufpassen. Solange bis wir unbeschadet weiterziehen können.“   Mai nickte. „Geht nirgendwo allein hin“, wies sie an. „Und jetzt sollten wir unser Lager aufschlagen.“   Der Felsen, den Mai ausgesucht hatte, lag ein gutes Stück entfernt von der Roten Nadel, diese war aber noch gut zu sehen. Der Felsen hatte eine Art natürliches Vordach, was es leicht machte, einen schattigen Bereich für den Tag mit ihren Zeltplanen abzugrenzen.   Während Anzu an alle Brot verteilte, braute Mokuba einen milden Tee. Zur Beruhigung, wie er sagte. Ryou trank drei Becher davon und auch wenn er den Blick nicht von der Roten Nadel wenden konnte, in seine Wangen kehrte doch etwas Farbe zurück.   Yugi saß neben ihm und schnitt Gemüse für eine kräftigende Suppe. Mai hatte sogar noch etwas getrocknetes Fleisch für diese. Mit vollem Magen streckten sich dann alle auf ihren Decken aus und versuchten zu schlafen. Mokuba hatte sich für die erste Wache gemeldet.   Als Yugi aufwachte, klebte ihm sein dünner Schurz am Leib. Stöhnend setzte er sich auf und starrte in ihr Lager. Ras Licht stand bereits hoch am Himmel und drang durch den Stoff. Ryou schlief neben Yugi, eine steile Falte zwischen den Augenbrauen.   Yugi wollte ihn gerade aufwecken, als er von draußen leises Fluchen hörte. Mokuba! Kurz darauf streckte Yugi seinen Kopf aus dem Unterstand und blickte sich um.   Mokuba saß zum Glück nur vor dem Unterstand und sein Unmut war offenbar durch einen Stein ausgelöst worden. „Mistding!“ fluchte Mokuba und besah sich dann seinen Fuß.   „Alles in Ordnung?“ erkundigte Yugi sich.   „Ja, wird schon.“ Mokuba gähnte. „Wollen wir tauschen?“   „Gern.“   Mokuba stand auf und reichte Yugi seine Kartentasche. „Hier, dann hast du was als Ablenkung. Rumgehen ist keine gute Idee.“   Dem konnte Yugi nur zustimmen. Auch wenn es draußen warm war, es gab noch genug Schatten, um nicht Seths Fluch zum Opfer zu fallen. Yugi setzte sich, trank ein paar Schlucke Bier, das ihm fast den Mund verbrannte, und sah sich dann die Karte an. Drei Tagesreisen noch bis zu ihrem Ziel. Yugi fixierte den Punkt, dann sah er sich auch den Rest der Karte an. All die Städte und Dörfer, die sie schon durchkämmt hatten. Erfolglos bisher. Aber jeder Schimmer Violett könnte die Lösung bringen. Jedes noch so kleine Bißchen…   Yugi runzelte die Stirn und hob die Karte direkt vor seine Augen. Da war was! Nur ganz leicht, aber eindeutig violett. Er ließ die Karte sinken und starrte die Rote Nadel an. Dort gab es etwas Magisches!   Yugi spürte plötzlich einen gewaltigen Zug zur Roten Nadel. Natürlich hätte er die anderen wecken können, aber… Aber das fühlte sich falsch an. Er konnte es sich selbst nicht erklären. Sein Herz schlug hart gegen seine Rippen, als wolle es ihn hochtreiben, hintreiben. Doch er hatte Wachdienst und er würde seine Freunde und Gefährten nicht in Gefahr bringen. Erst als Jono vielleicht zwei Stunden später aus dem Zelt gekrabbelt kam, gab Yugi dem Drang in sich nach. „Ich muß mal Wasser ablassen.“   „Jo, mach mal. Ich warte inzwischen auf dich.“ Jono gähnte und kratzte sich am Kopf, bevor er leise über Läuse fluchte.   Yugi nahm sein Diaha Diank, dann ging er los. Er hielt sich an einige Felsbrocken, bis er sich sicher war, daß Jono ihn aus den Augen verloren hatte. Es dauerte keine halbe Stunde, bis er den Fuß der Roten Nadel erreicht hatte und den gewundenen, ausgetretenen Pfad nach oben betrat. In der Tat war der Fels mit Höhlen nur so durchzogen. Yugi fragte sich, ob sie sich natürlich so ausgebildet hatten oder ob Menschen und andere intelligente Wesen die Nadel nach eigenen Wünschen und Bedürfnissen verändert hatten.   Yugi untersuchte die Höhlen, aber er fand nichts, Nichts außer ein paar dunklen Flecken an den Wänden. Er weigerte sich, darüber nachzudenken, woher diese stammen mochten.   Eine Weile später war Yugi sich nicht mehr sicher, ob er sich nicht doch getäuscht hatte. Außer den Flecken und zurückgelassenem Unrat hatte er bisher nichts entdeckt. Er wollte fast schon umkehren, als er aus der letzten Höhle etwas hörte.   „Kleiner Mensch.“ Es hörte sich an wie Stein, der an Stein rieb, langsam und bedacht und gleichzeitig so erschöpft, daß es an Yugis Herz zog.   Langsam drehte Yugi sich um und trat an den Eingang der letzten Höhle. Zuerst sah er nur Schwärze, dann flammte etwas Rotes darin auf wie zwei Kohlen kurz vor dem verlöschen. „Hallo?“ Mit angehaltenem Atem lauschte Yugi dem Echo seiner eigenen Stimme.   „Komm nur näher. Ich bin alt und verbraucht. Ich werde dir nichts tun, kleiner Mensch.“ Wieder die seltsame Stimme.   Yugi schluckte, dann faßte er sich ein Herz. Langsam und mit Bedacht setzte er einen Fuß vor den anderen. Er fühlte Steinchen und vermodernde Pflanzen unter seinen bloßen Fußsohlen. „Du tust mir wirklich nichts?“ erkundigte Yugi sich und blinzelte. Langsam konnte er einen grauen Umriß in der Schwärze ausmachen.   „Ich lüge nicht. Ich bin müde, müde meiner verdorbenen Existenz.“ Der Umriß bewegte sich, dann schob sich eine lange, geschuppte Schnauze in Yugis Sichtfeld, über der die Kohlen saßen. Zwei Flügel, sicher einmal mächtig und prachtvoll, lagen auf dem Boden auf, löchrig und verschmutzt.   Yugi trat instinktiv einen Schritt zurück. „W-was bist du?“   „Das weißt du doch schon. Ich bin Teil der Schwärze, die dein geliebtes Land bedroht.“ Die Kohlen verschwanden zur Hälfte. „Oder eher ich war es, bevor ich hier zu bleiben beschlossen habe.“   Yugi starrte das Wesen an. Sein Herz klopfte ihm bis in den Hals, das Blut rauschte in seinen Ohren, doch das Wesen griff ihn nicht an. Es lag ruhig da, wie ein alter, übergroßer Hund. „Wenn du das wirklich bist, warum… warum greifst du dann nicht an? Mich oder meine Begleiter?“   „Kleiner Mensch, ich habe hier auf dich gewartet.“   Yugi hob die Augenbrauen. Das hörte sich lächerlich an, aber die alte Stimme schwang mit feierlichem Ernst. „Auf mich? Warum auf mich?“   „Weil ich will, daß du mich reinigst, kleiner Mensch. Weil ich des Bluts müde bin, leid des Hasses und des Zorns, die mir aufgezwungen wurden. Einst, ja, einst da war ich eine prächtige Ka-Bestie. Ein wunderschöner, blauer Drache. Ein Festungshüter.“ Nun hörte Yugi Melancholie und Stolz aus der Stimme hervor. „Ich habe gekämpft für die Menschen, um sie zu schützen. Doch dann wurde der Zauberer, in dessen Seele ich wohnte, von dunklen Begierden übermannt, genauso seine Gefährtin. Sie planten und taten schlimme, furchtbare Dinge. Sie taten Dinge mit mir… Sie färbten mich in das Schwarz des Todes und des Leids, sie zwangen mir ihren Haß auf, bis ich nur noch nach Blut dürstete, gleich wessen. Ah, kleiner Mensch, ich tötete solche wie dich, aber ich kann nicht mehr, ich will nicht mehr!“ Der frühere Drache schüttelte seinen Kopf, dann schlug er ihn dröhnend gegen die felsige Wand.   Yugi zuckte zurück. Sein eigener Kiefer vibrierte. „Ich will dir gerne helfen. Aber… tu dir nicht selbst weh.“   „Wenn du wüßtest, was ich alles getan habe, du würdest anders denken.“ Der Drache lachte, ein Geräusch wie polternde Steine. „Kleiner Mensch, bitte hilf mir. Befreie mich von meinem Fluch. Ich weiß, du bist gut. Ich habe dich beobachtet, sehr oft.“   „W-was?“ Yugi lief ein Schauder über den Rücken.   „Ah, ich konnte dir nichts tun, auch sonst niemandem. Das Siegel hat mich gefesselt.“ Der alte Drache hob den Kopf. „Der Magier, der mich verdarb, wurde entdeckt und getötet. In seinem Tode konnte ich ihm entfliehen und suchte Zuflucht in einem neuen menschlichen Wirt. Das, kleiner Mensch, war dein Vater.“   „Mein Vater?“ Yugi starrte den Drachen an, in seinem Kopf wirbelten die Informationen durcheinander wie bei einem Sturm, bis sie langsam ein Bild ergaben. „Dein früherer… Meister hat also den Anschlag auf Atem verübt. Und als er hingerichtet wurde… Und nach dem Tod meines Vaters wurdest du befreit.“   „Ja. Nur leider war ich nicht alleine. Meine verdorbenen Geschwister fielen über die Welt her und brachten Unheil über solche wie deinen Vater und dich. Ich wollte meinen Bruder aufhalten, als er hierherkam und all diese Menschen sah. Doch er war stärker als ich und ich mußte mich hier verstecken, nachdem er mich meiner letzten Kräfte beraubt hatte. Kleiner Mensch, ich will so nicht weiterleben. Ich wußte, du würdest kommen. Soviel Schmerz in deinem Herzen… Armer, kleiner Yugi.“   Yugi senkte den Kopf, Tränen liefen über seine Wangen. „Du… du bist ein Teil meines Vaters. Nicht wahr?“   „Er schenkte mir sein Licht, das auch in dir strahlt, Yugi, und ich verlängerte mit meinen Kräften sein Leben, so lange ich es vermochte.“   „Ich danke dir. Danke, daß mein Vater so lange leben, mich aufwachsen sehen durfte. Danke, daß er bei uns sein durfte.“ Yugi lächelte und schluchzte gleichzeitig. Er legte seine Arme um die große, schuppige Schnauze und streichelte darüber.   „Du bist ein gutes Kind, Yugi, Sohn des Amunhotep. Hier, als meinen Dank für das Kommende nimm diesen Armreif. Ich fand ihn in dieser Höhle.“ Der Drache schob ein altes, abgeschabtes Schmuckstück zu Yugi. Das Juwel darin war schon lange verblaßt und doch erinnerte die Farbe Yugi an Atems warme Augen.   „Ich werde ihn in Ehren halten.“ Yugi schloß die Augen und rief Marshmallon zu sich. Er murmelte die alte Formel, bis das Licht ihn selbst durch seine Augenlider noch stach. Als es verblaßte und Yugi die Augen wieder öffnen konnte, war die Felswand mit der Abbildung eines Drachens geschmückt. Die Hieroglyphen zeigten seinen Namen: Geflügelter Drache und Hüter der Festung. Yugi lächelte. „Ich hoffe, wir sehen uns wieder.“   „Es liegt ganz an dir, kleiner Yugi“, hörte er die Stimme des Drachens in seinem Kopf, zufrieden, ruhig.   Yugi streifte sich den Armreif über, dann verließ er die Höhle. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)