Schatten über Kemet von Moonprincess ================================================================================ 16. Kapitel ----------- Es war noch früh, so früh, daß seine Zimmergenoßen noch immer friedlich schnarchten. Ryou schlug seine Decke zurück und stand auf. Baren Fußes schlich er zur Tür des Schlafzimmers, immer darauf bedacht, den an die Wand gelehnten Speeren nicht zu nahe gekommen. Wie er an seinem ersten Morgen hier gemerkt hatte, reichte eine leichte Berührung dieser aus, um für eine Menge Lärm zu sorgen und Lärm konnte Ryou gerade nicht gebrauchen. Aufatmend tratt er schließlich aus der länglichen Behausung, in der ein Teil der unverheirateten Soldaten wohnte, und die nun sein eigenes Zuhause darstellte.   Zuhause… Großonkel Khelim hätte nur wieder auf die Hüttensitzer geschimpft, auf ihre Faulheit und Bequemlichkeit. Ryou mochte es, jeden Abend ein Dach über dem Kopf zu haben, sogar ein unbewegliches! Kein ewiges Reiten durch die Wüsten, immer in Angst vor einem Sandsturm oder Raubtieren.   Er erschauderte. Was er nicht mochte, hier in seinem neuen Zuhause, das waren die Lügen. Niemand durfte erfahren, wie sein Stamm wirklich gestorben war und was ihn ausgelöscht hatte in nicht mal einer einzigen Nacht. Ryou konnte verstehen, daß der Pharao keine Panik riskieren wollte, aber er fühlte sich furchtbar, alle anzulügen. Er fühlte sich furchtbar, weil er seinen Stamm nicht ehren konnte, wie es diesem gebührte. Es war ein kalter Stein in seiner Brust, schwer und niederdrückend.   Ryou ließ sich unter einem der Bäume nieder, die die Barracken säumten. Bäume… Was für ein Luxus! Überall hier grünte und blühte es, daß es eine wahre Freude war. Die Tage waren ausgefüllt mit bunten Vögeln und Insekten, mit den Düften unzähliger Pflanzen.   So viele Pflanzen! Mit seiner gesunden Hand befühlte Ryou die Blätter einer Blume neben ihm. Ja, das war Rotdorn… Ryou zupfte vorsichtig einige der Blätter ab, roch daran. Eins steckte er sich dann in den Mund, kaute. Ja, der Geschmack war nussig und voll. Genau richtig zur Ernte. Noch mehr Blätter fanden ihren Weg in Ryous Hand und dann in seinen treuen Lederbeutel.   Rotdorn war gut bei Schmerzen und Fieber. Oh, und dort! Grauer Schleier! Ryou hatte nie einen mit so vielen weißen winzigen Blüten gesehen. Er lutschte ein paar davon und genoß ihren süßen Geschmack, während er die Blätter erntete. Diese hier würden Muskeln entspannen und den Geist zur Ruhe kommen lassen.   Die Arbeit lenkte Ryou eine Weile ab, bis die Tränen kamen. Dann kniete er mit gesenktem Kopf vor den Pflanzen, heftiges Schluchzen durchschüttelte seinen gesamten Körper. Es schmerzte! Es drückte sein Herz zusammen, nahm ihm die Luft zum Atmen. Erst als sein Hals sich rauh anfühlte und seine Augen schmerzten, kam sein Körper wieder zur Ruhe. Und für den Moment auch sein Inneres. Ryou schniefte mehrmals, blinzelte, dann trug er seine Ausbeute zurück in sein Zimmer.   Jono und Honda waren inzwischen aufgewacht und das Badezeug in ihren Händen kündete davon, daß sie gleich zur öffentlichen Badestelle wollten.   „Oh, da bist du ja!“ grüßte Jono Ryou grinsend. „Kommst du mit?“   „Gleich. Ich räume das nur schnell weg.“ Ryou deutete auf seinen Lederbeutel.   „Schon wieder neue Kräuter? Ich dachte, du darfst solange nicht für die Heiler arbeiten, bis dein Arm wieder genesen ist.“ Honda beobachtete, wie Ryou die Blätter auf dem winzigen Tisch ausbreitete, an dem Jono und Honda sonst mit Knöchelchen würfelten.   „Das stimmt schon. Aber ich brauche auch selbst etwas. Außerdem kann ich hier noch viel lernen.“ Ryou lächelte, dankbar, daß ihn niemand auf seine geröteten Augen und Lippen ansprach.   „He, das sieht aber gar nicht gut aus“, mischte sich nun Jono ein und deutete auf einige Blätter, die schwarz verfärbt waren. Kaum berührte Ryou sie, rieselten sie durch seine Finger wie Sand.   „Sehr seltsam. Gerade waren sie alle noch grün und gut.“ Stirnrunzelnd leerte Ryou den ganzen Beutel aus, aber sonst war alles so, wie er es in Erinnerung hatte. „Komisch…“   „Vielleicht hast du sie versehentlich gepflückt und nicht bemerkt. Oder sie waren schon länger da drin und sind jetzt nach oben gerutscht“, schlug Honda vor.   „Ja, wahrscheinlich.“ Ryou schüttelte den Kopf und lächelte. „Es ist alles in Ordnung.“ Doch ein merkwürdiges Gefühl blieb. Hatte er wirklich nur etwas übersehen? Während er sein Waschzeug nahm und seinen Zimmergenossen folgte, glaubte er, Blut und Verwesung zu riechen, doch kaum hatte er das Zimmer verlassen, war alles wieder normal. Vielleicht sah Ryou nach allem, was geschehen war, einfach nur Gespenster.   ***   „Ihr seid eine Schande!“ Meister Sets Gesicht war rot angelaufen, die Augen quollen förmlich hervor. „Keiner von euch bringt es zustande, seine Ka-Bestie zu beschwören! Drei Wochen und noch immer keine Ergebnisse! Warum, im Namen aller Götter, muß unser Pharao mit solch einer unfähigen Truppe gestraft werden? Einer! Nur einer kann eine Ka-Bestie beschwören und es ist nicht mal ein ordentliches Monster für den Kampf, sondern ein rosa Unfall, der jedem Unvorsichtigen zwischen die Beine hüpft und ihn zum Stolpern bringt!“ Meister Set schüttelte den Sand aus seinem Gewand. Marshmallon in Yugis Armen machte dabei ein empörtes Geräusch.   Mana, Mokuba und Ryou standen mit gesenktem Kopf in der Mittagssonne und ließen Meister Sets Zorn über sich in Wellen hinwegrollen.   Yugi hätte ihnen gerne geholfen, aber wenn er etwas sagte, würde er nur laufen dürfen, bis seine Beine nachgaben und die anderen ebenfalls.   „Gerade von dir, Mokuba, bin ich am meisten enttäuscht.“ Meister Set fixierte seinen jüngeren Bruder mit einem harten Blick. „Du trägst göttliches Blut in dir und doch bist du keinen Schritt weitergekommen. Ich habe wirklich mehr von dir erwartet.“   „Aber, großer Bruder, ich tu doch schon alles, was du sagst!“ protestierte Mokuba, aber wagte dennoch nicht, den Kopf zu heben. „Es kann eben nicht jeder so ein Überflieger sein und seine Ka-Bestie am ersten Übungstag beschwören.“   „Der Pharao hat es sogar noch früher geschafft! Er war nur ein Knabe, jünger als du jetzt.“   „Ich bin weder du noch Atem.“ Mokuba verschränkte die Arme vor der Brust und trat gegen ein Steinchen, das daraufhin davonsprang.   „Verschwindet“, knurrte Meister Set. „Meine Geduld mit euch ist für heute erschöpft.“ Damit stakste er hinüber zur Waffenkammer und verschwand in derem schattigen Inneren.   Mokuba rannte dann davon und Yugi hatte den Eindruck, daß er weinte.   „Sollen wir ihm nach?“ erkundigte er sich bei Mana, doch die schüttelte nur den Kopf.   „Das würde er nicht schätzen. Er ist noch lange nicht so stolz wie Meister Set, aber es verletzt ihn auch. Besonders weil Mokuba die Meinung seines großen Bruders schon immer enorm wichtig war.“   „Meinst du, Meister Aknadin würde intervenieren?“   „Das bezweifle ich. Meister Aknadin ist ein guter Mann, aber er fand schon immer, seine Söhne sollten ihre Streitigkeiten alleine klären.“   „Das hier ist aber kein Kinderstreit.“ Ryou, der bisher geschwiegen hatte, mischte sich nun ein. „Meister Set scheint keine Geduld mit uns zu haben, aber noch weniger mit Mokuba, seinem eigenen Bruder. Aber wie soll Mokuba etwas lernen, wenn er dauernd versuchen soll, seinen Bruder zu kopieren?“   Yugi nickte nachdenklich. Während sie zusammen zum Ausgang gingen, ließ er sich etwas zurückfallen, sodaß nur Mana ihn hören konnte, aber nicht Ryou, Jono oder Honda. „Kannst du ein weiteres Treffen arrangieren?“ erkundigte er sich flüsternd.   Zwei Stunden später schlüpfte Yugi in Manas Haus. Praktischerweise lag es direkt an den Privatgärten des Pharaos. Er mußte also nur warten… Während Yugi das tat, studierte er die Wandmalereien. Göttergeschichten, Szenen wie eine Frau sich schminken und ankleiden ließ und dann Isis und Hathor Opfergaben brachte. Dieselbe Frau nun dargestellt als Hathor, zu ihren Füßen ein kleiner Junge. Das mußte Atem mit seiner Mutter sein! Hier also hatten sie früher gemeinsam gelebt. Kein Wunder, daß das Haus in Laufnähe zu den Königsgemächern lag. Während Yugi Atems Mutter betrachtete, überkam ihn ein vages Gefühl der Bekanntheit. So als hätte er diese Frau schon mal gesehen.   Yugi schüttelte amüsiert über sich selbst den Kopf. Selbst wenn man mal außen vorließ, daß er sich an nichts von ihrer Zeit in Waset erinnern konnte, sie hatte, wie Atem erzählt hatte, abgeschottet gelebt. Unmöglich, daß Yugi ihr jemals begegnet war. Der vergöttlichten Darstellung stand eine menschliche gegenüber, schwarzes Haar, dunkle Augen, den Sohn ebenfalls zu Füßen. Merkwürdig war nur, daß die Abbildung Atems nicht ganz stimmte. Zu Hathors Füßen war er größer als zu Füßen seiner menschlichen Mutter.   „Yugi, du wolltest mich sprechen?“   „Atem!“ Lächelnd drehte der Angesprochene sich um. Atems Arme umfingen Yugi genauso wie Atems Wärme.   „Geht es dir gut?“ Atem hatte die Augenbrauen zusammengezogen und musterte Yugi von Kopf bis Fuß.   „Ja. Es geht auch nicht um mich, es geht um Mokuba.“   „Setzt euch, ihr Turteltauben.“ Mana grinste und führte die Männer in ein angrenzendes Zimmer. Hier gab es mehrere bequeme Sitzmöglichkeiten und auf einem Tisch standen frisches Bier, Milch und ein paar Honigkuchen bereit. Beim Anblick letzterer begannen Manas Augen zu glänzen. Die beiden Männer folgten Manas Weisung und wenig später labte sich jeder an Bier und Kuchen.   „Was ist los mit meinem kleinen Vetter?“   „Mit ihm wenig. Dein großer Vetter allerdings benimmt sich, als wäre er vom wilden Watz gebissen“, erwiderte Mana mit düsterem Gesichtsausdruck. „Ich bin’s ja gewöhnt, daß er an mir kein gutes Haar läßt, aber jetzt geht er schon auf seinen eigenen Bruder los!“   „Er hat ihm heute vor der gesamten Klasse eine Predigt gehalten, wie enttäuscht er von Mokuba ist, daß es eine Schande ist, daß er noch nicht beschwören kann… Mokuba hat ihm zwar Kontra gegeben, aber als wir gehen durften, ist er hastig davongelaufen. Ich glaube, er hat geweint“, schilderte Yugi das Geschehen, dann seufzte er. „Ich hatte gehofft, daß du Meister Set etwas drosseln kannst, um Mokubas willen.“   Atem seufzte ebenfalls. „Sowas hatte ich befürchtet. Als ich Mokuba letztens fragte, wie es vorangeht, war er abweisend und lustlos. Wenn Set ihn unter Druck setzt, wundert mich das natürlich gar nicht.“ Er nahm noch einen Bissen und dachte nach, während er kaute. Sobald er geschluckt hatte, fuhr er fort: „Ich kann mit Set sprechen, aber ich weiß nicht, ob es helfen wird. Er ist ein unglaublich ehrgeiziger Charakter.“   „Ich weiß ja, aber früher war er nie so! Nie hat er solchen Druck auf Mokuba ausgeübt.“ Mana stützte den Kopf auf eine Hand, was ihren Mund zu einer Art Fischmäulchen verschob.   Atem lächelte sie an, dann wurde seine Miene wieder ernst. „Mokuba wird nächstes Jahr ein Mann. Aber ich glaube, Set tut sich schwer damit, das geschehen zu lassen.“   „Verständlich. Aber du hast doch sicher nicht vor, Mokuba gleich zu verheiraten, oder?“ erkundigte Yugi sich nun und spielte mit einem Krümel.   Atem lachte. „Ganz bestimmt nicht! Mannbar oder nicht, noch ist Mokuba nicht bereit für die Ehe. Außerdem muß er erst mal seine Schwärmerei für Mana abschließen.“   „Wie, was?“ Mana rutschte der Kopf von der Hand und sie wackelte einen Moment gefährlich, bis sie sich wieder gefangen hatte. „Er schwärmt für mich?“   „Ja, ich dachte, das wüßtest du“, antwortete Yugi erstaunt.   Atem kicherte. „Es ist ja oft so, daß die oder der Angeschwärmte selbst das nicht mitbekommt.“   Mana nickte mehrmals und klopfte mit ihrem Zauberstab gegen die Handfläche ihrer linken Hand. „Das hast du jetzt nur gesagt, damit ich dich nicht in eine Kröte verwandle.“   „Das würdest du nie tun!“ Atem grinste.   „Ach ja?“ Mana richtete ihren Zauberstab auf ihn und begann, einen seltsamen Singsang aufzuführen.   Yugi blickte zwischen den beiden hin und her. Na, ob das gut ging?   Atem saß einfach nur da und grinste.   „Los, werde eine Kröte!“ rief Mana schließlich, ließ ihren Zauberstab kreisen und… deutete auf Atems angebissenen Honigkuchen.   „Ribitt!“   Sie alle drei starrten auf die dicke Kröte in Atems Hand, die aus großen schwarzen Augen in die Welt starrte.   „Juhu! Es hat endlich geklappt!“ Mana sprang auf und tanzte glücklich.   „Das ist gemein, Mana! Das wollte ich noch essen.“ Atem setzte die Kröte auf den Boden, von wo sie munter durch das Zimmer sprang.   Yugi schüttelte den Kopf und lachte kurz.   Mana strahlte. „Was meint ihr, wie soll ich meine neue Hauskröte nennen?“   „Ich reiche dir später gern eine Liste von Vorschlägen ein, aber ich dachte, wir wollten über Mokuba sprechen.“   „Oh, ups! Ja, stimmt!“ Mana setzte sich wieder, doch sie hibbelte die ganze Zeit grinsend.   „Also, Atem, du meinst, daß Mokubas nahendes Mannesalter Set zu schaffen macht?“ erkundigte Yugi sich, um sie wieder alle auf die richtige Spur zu bringen.   Atem, der sich gerade einen neuen Honigkuchen nahm, nickte. „Er hat sich immer um Mokuba gekümmert. Weißt du, ihre Mutter starb bei Mokubas Geburt und ihr Vater hat immer viel zu tun.“   „Das erklärt, warum Mokuba in Meister Set eher einen Vater sieht als in seinem eigenen“, stellte Yugi fest.   „Ja. Onkel Aknadin ist kein schlechter Mann, aber er hatte immer auch Pflichten am Hof. Da er sich nicht wieder verheiratet hat, hat Set sich meistens um Mokuba gekümmert.“ Atem lehnte sich zurück. „Set zu beruhigen ginge nur, wenn Mokuba zeigt, daß er sich verteidigen kann. Daß er eben nicht mehr ständig auf seinen älteren Bruder angewiesen ist.“   „Da beißt sich ja die Maus gerade in den Schwanz“, sagte Yugi und Mana machte zustimmend „Mhm“. „Solange Mokuba nicht lernt, zu beschwören, wird sein Bruder ihn nicht zufrieden lassen. Und solange Meister Set ihn so hart antreibt, wird Mokuba keine Beschwörung zustande bringen.“   „Dann müssen wir Set aus der Rechnung entfernen.“ Atem lächelte dämonisch.   „Und wie?“ erkundigte Mana sich verblüfft.   „Das werdet ihr schon sehen!“   ***   Ryou kam gerade von den Heilern, als er den Auflauf vor ihrer Barracke sah. Die Freude über die gute Nachricht, daß sein Arm bald wieder geheilt sein würde, wurde von Neugierde überlagert. Jono stand auch bei den Soldaten. Als er Ryou sah, schob er sich durch die Menge und zog dann diesen mit sich.   „Was ist denn los?“ erkundigte Ryou sich. „Ist was passiert?“   „Sieht so aus.“ Jono deutete auf den Boden.   Ryou erkannte die Stelle, an der er heute morgen seine Blätter geerntet hatte. Doch wo vorhin noch alles in voller Blüte und saftigem Grün gestanden hatte, waren nur noch verdorrte, schwarze Pflanzenleichname über, die langsam zerfielen. Sogar der Baumstamm war unten geschwärzt und wie verdorrt und was auch immer ihn befallen hatte, schien mit jeder Minute höher zu kriechen. Die Rinde löste sich in schwarzen Fetzen.   Ein eisiger Schauder überlief Ryou. „Das war vorhin noch nicht so…“   „Ich weiß“, antwortete Jono grimmig. „Sie holen schon die Zauberer. So schnell verwelkt doch nichts ohne übernatürlichen Einfluß.“   Ein Windstoß trieb ihnen schwarzen Staub entgegen und die Menschenansammlung sprang sofort panisch auseinander, Hände und Tücher vor Nasen und Münder gepreßt.   Ryou hustete und blinzelte. Was auch immer hier vorsichging, es mußte in der Tat etwas Übernatürliches sein. Er blickte sich um und hatte den merkwürdigen Eindruck, als würde die Welt, ja, sogar Nut selbst unter einem grauen Schleier liegen. Das hier gefiel ihm überhaupt nicht! Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)