No Witch's Land von Arcturus ================================================================================ I - Magic might has fallen silent, but it never left. (Seán Darling)     Ein feiner Schleier aus Schneeflocken empfing Leta, als sie die Station verließ. Längst war die Nacht hereingebrochen. Abgesehen von dem elektrischen Licht, das durch die Vorhänge einiger Hütten flackerte, war es stockfinster. Bedächtig streckte sie die Hände aus. Einen Moment lang sah sie den kleinen, weißen Punkten dabei zu, wie sie auf den Ärmeln ihres dunklen Wollmantels landeten und unter ihrem Wärmezauber langsam schmolzen. Wenn sie die Artillerie ausblendete, die in der Ferne dröhnte, war es beinahe still. Es war ein guter Abend. Kein beißender Frost. Kein Schlamm, in dem man bis zu den Knöcheln versank. Keine Evakuationen. Niemand, der brüllte - nicht nach ihr, nicht nach einem der Ärzte, nicht nach irgendwem sonst. Keine Toten. Es war der erste Tag seit Wochen ohne Toten. Bevor sie den Gedanken weiterverfolgen konnte, ließ Leta die Arme sinken. Sie hatte die Nachtschicht an Schwester Stella übergeben, die Lichter gelöscht und die Tür hinter sich geschlossen. Damit war ihr Dienst für den Tag beendet. Das Einzige, was jetzt noch auf sie wartete, war das gemeinsame Essen mit den anderen Schwestern. Allein beim Gedanken an den Eintopf, von dem ihre Kollegin ihr vorgeschwärmt hatte, zog sich Letas Magen knurrend zusammen. Mit einem letzten Blick über die Schulter setzte sie sich in Bewegung. Den Weg, der sich durchs Lager schlängelte, kannte Leta mittlerweile blind. Tagsüber bestand er aus einigen Metern festgefahrenen Drecks und viel zu vielen Aufgaben. In dieser Nacht war er kaum mehr als ein Trampelpfad, bestehend aus Schwester Stellas Fußspuren, überfrorenen Pfützen und Dunkelheit. Außerdem Schnee. Leta spürte bei jedem Schritt, wie mehr davon in ihre Schuhe kroch. Die meisten Hütten, die sie passierte, waren stockfinster. Hinter der letzten von ihnen gabelte sich der Weg. Zu ihrer linken knickte er um die Hütte herum und führte, am Empfang vorbei, aus dem Lager hinaus. Der Weg zu den Unterkünften und zur Messe, Letas Weg, verschwand in der entgegengesetzten Richtung im Schnee. Auf der Kreuzung stand sie plötzlich im Licht. Hastig kniff sie die Augen zusammen und hielt sich den Arm vors Gesicht. Sterne tanzten vor ihren geschlossenen Lidern. Scheinwerfer, schlug der Teil ihres Gehirns vor, der mittlerweile mit Muggelterminologie vertraut war, während sie noch blinzelte. Und Motorengeräusche. Tatsächlich erkannte Leta einen Augenblick später einen Wagen hinter dem Licht, die Fahrertüren aufgerissen. Leta stöhnte leise. Sicher eine Ambulanz. Um diese Uhrzeit konnte es nur eine Ambulanz sein. Sie blinzelte nochmal. Dunkle Schemen formten sich im Lichtkreis zu Gestalten, die hastig zwischen dem Fahrzeug und dem Empfangszelt hin und her eilten. Gerade wuchteten zwei Männer eine Trage aus dem Inneren des Fahrzeugs. Im Scheinwerferlicht leuchteten ihre Rot-Kreuz-Armbinden einen Moment später in hellem Weiß. Der diensthabende Unteroffizier war bereits bei ihnen und zwei Pfleger stolperten gerade aus dem Aufnahmezelt. Einen weiteren Mann konnte sie nicht zuordnen. Er schwankte zwischen ihnen, als sei auch er einer der Gründe für den späten Besuch. Leta wusste, es war Aufgabe der Nachtschicht, sich darum zu kümmern. Sie überlegte nicht, in welcher Hütte Stella auf ihrem Rundgang mittlerweile angelangt sein mochte. Als der Unteroffizier ihr »Schwester! Notfall!« zubrüllte, rannte und rutschte sie längst über Schnee und Eis. Ein paar Meter bevor sie die Gruppe erreichte, formte sich der Schemen des Offiziers zu der schlaksigen Gestalt von Sergeant Billy Dunn. Über seine Schulter hinweg schenkte er ihr ein entschuldigendes Lächeln. »Schwester Leta! Ich möchte Ihren Feierabend wirklich nicht unterbrechen, aber...« Er deutete zu der Trage, die seine Pfleger an ihnen vorbei hievten. »Mehrere Schussverletzungen, eine Granate, ein Bruch. Alles, was ich mir zum Schichtbeginn wünsche.« Gedanklich verabschiedete Leta sich von einem Abendbrot, das aus mehr bestand als aus harten Keksen und dünnem Tee. »Schwester Stella macht gerade ihren Rundgang.« In ihrem Augenwinkel warf Leta den Pflegern einen knappen Blick zu, um ihnen Namen - Tom und Rick - zuordnen zu können. Zusammen mit Sergeant Dunn sah sie ihnen hinterher, wie sie den Patienten ins Aufnahmezelt schleppten. Sie konnte dunkle Flecken auf der Decke sehen, die man über ihn ausgebreitet hatte. Und nur ein Bein. Dunn schnalzte mit der Zunge. »Ich habe es befürchtet.« Während er sprach, fuhr er sich mit der Hand durch sein helles Haar und ruinierte damit jede Ordnung, die er sich vor Dienstbeginn mühsam angekämmt hatte. Einen Moment noch sah er seinen Männern nach, dann drehte er sich ruckartig um. »Na fein. Leta, können Sie sich bitte um ihn kümmern?«, er nickte zu dem Verletzten, der noch immer zwischen ihnen stand. »Ich trenne derweil Captain Lynch von seinem Abendessen.« »Billy?« Leta warf ihm einen langen Ich-habe-Feierabend-Blick zu. Natürlich - er kannte diesen Blick. Seitdem man sie im Oktober beinahe zeitgleich hierher versetzt hatte, hatte er ihn oft genug gesehen. Und wie jedes Mal knickte er unter ihm ein wie ein Lämmchen. Sie schnaubte. »Bring mir seinen Eintopf mit.« Dunn antwortete nicht, doch in seinen Augen funkelte etwas, das sicher nicht nur das flackernde Scheinwerferlicht war. Die beiden Fahrer, die gerade zu ihnen traten, bemerkten das Funkeln entweder nicht oder ignorierten es zumindest geflissentlich. Der Ältere von beiden, ein Mann Mitte Vierzig mit einem schlimmeren Schnurrbart als Amando Dippet, überreichte Dunn die letzten Unterlagen, dann war für sie alles gesagt. Mit der Routine von Männern, die in den nächsten Stunden noch diverse weitere Fahrten dieser Art unternehmen würden, schritten sie zurück zu ihrem Fahrzeug. Dunn klatschte in die Hände, ein entschlossenes Lächeln auf den Lippen. »Wunderbar! Tom, Rick, ihr bringt die Amputation ins Pre-Op. Und gebt den andern Beiden mehr Decken! Ich will keine Eiszapfen in meinem Aufnahmezelt. Schwester Leta, Sie nehmen ihn mit in Verbandsraum I. Meine Herren? Ich wünsche Ihnen eine angenehme Nacht. Hoffen wir, dass wir uns erst wieder zum Frühstückstee sehen.« Sie salutierten, dann stoben sie in gewohnter Routine auseinander. Leta war die Letzte von ihnen, die sich in Bewegung setzte. Sie wartete, bis die Türen der Ambulanz mit lautem Scheppern zufielen und der Wagen an ihr vorbeirollte. Das Scheinwerferlicht, das dabei auf sie fiel, nutzte sie dazu, ihren Patienten eingehend zu mustern. Jemand hatte ihm eine dicke Wolldecke über die Schultern geworfen, deren Enden er nun nachlässig vor der Brust zusammenhielt. Der Hemdkragen und die Krawatte seiner Uniform, die sie darunter sehen konnte, wiesen ihn als Offizier aus und waren voller dunkler Flecken. Bei den aktuellen Lichtverhältnissen war es unmöglich zu sagen, ob es sich dabei um Schlamm oder Blut handelte. Verbände sah sie keine, aber das musste nichts heißen. Ihr Interesse erwiderte er nicht. Reglos starrte er an ihr vorbei zum Empfangszelt. Sie unterdrückte ein Seufzen. So ein Fall. Behutsam legte Leta ihm eine Hand auf die Schulter. »Hören Sie mich?« Ruckartig drehte er ihr den Kopf zu. Mit aufgerissenen Augen musterte er sie, so als bemerke er sie erst jetzt. Sie erwiderte die Geste, ließ ihren Blick über sein Gesicht schweifen, über die dunklen Spritzer auf seinen Wangen, seine Lippen und den Anflug von Sommersprossen, den sie nur sehen konnte, weil die Haut darunter kalkweiß war. Sie stockte. Konnte es sein? »Newt?« Ihre Stimme klang selbst in ihren Ohren viel zu hoch. Viel zu alarmiert. Einen Augenblick lang hörte sie nicht einmal mehr das ferne Dröhnen der Artillerie, nur ihren eigenen Herzschlag. »Oh mein- Newt? Verdammter Mist - Newt!« »Ich-« Zögerlich streckte sie die Hände aus, fasste nach seinen Wangen. Leta konnte nicht einmal sagen, wonach genau sie suchte. Newt hatte keine Narben, die sie hätte erkennen können, zumindest nicht im Gesicht. Trotzdem strich sie mit ihren Fingern sachte über seine eisige Haut. Spürte. Suchte. Sachte lehnte er sich in die Berührung. »Was machst du hier? Du solltest nicht-« Ihre Blicke trafen sich. Da war nichts in seinen Augen. Kein Erkennen. Kein Oh-du-liebe-Güte!-Leta-was-machst-du-hier?! Nicht einmal Zurückhaltung. Er öffnete den Mund, doch es kam kein Ton über seine Lippen. Erneut musterte er sie, so als sähe er sie das erste Mal. Die Finger immer noch auf seinen Wangen, tat sie es ihm gleich. Ihr Blick blieb an seinen Haaren hängen, die ihm nicht in die Augen fielen. Nicht in die Augen fallen konnten, weil sie zu kurz waren. An ihnen und an seinem Blick, der plötzlich viel zu interessiert war, und an seiner ordentlich gebundenen Krawatte. Vor allem an seiner Krawatte. Sie biss sich auf die Zunge, um nicht laut zu fluchen. »Sie sind nicht Newt.« Er leckte sich über die Lippen, musterte sie dabei noch einen Augenblick länger. Schließlich schüttelte er den Kopf. In seinem Mundwinkel zuckte etwas, das ein Lächeln sein mochte. »Theseus«, antwortete er. »Newts ... Bruder.« Bruder. Leta nickte langsam, während ihr Gehirn noch nach Informationen suchte. Bruder, bestätigte es ihr, Hufflepuff. Vertrauensschüler. Eine ganze Sammlung voller alberner Vornamen. In ihrem zweiten Schuljahr hatte er sie bei Professor Merrythought angeschwärzt und sie hatte sich mit ihrem besten Aknefluch revanchiert. Sie unterstand dem Drang, nach etwaigen Pickelnarben zu suchen. Sie glaubte ihm auch so. »Ja«, sagte sie schließlich. Sie schlug die Augen nieder. Ihr Blick glitt über seine Nase und sein Kinn, bis hinab zu den Schultern. Dort blieb er an den Schneeflocken hängen, die sich wie feine Spitze über die grobe Wolle zogen. Behutsam wischte sie die Flocken fort. »Es tut mir leid. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.« Leta öffnete den Mund, schloss ihn dann doch wieder. Sie schüttelte den Kopf. »Newt würde sich niemals in den Offiziersstand berufen lassen.« Theseus lachte leise. »Nein, würde er nicht.« Einen Augenblick lang schwiegen sie beide. Schließlich war er es, der das Wort ergriff. »Und Sie sind Leta. Leta Lestrange.« Es war keine Frage. »Leta Woodward«, korrigierte sie ihn automatisch, fast so, wie sie sich in den letzten fünf Monaten jeden Morgen an diesen Namen erinnerte. Sie warf einen gewichtigen Blick auf die Fingernägel ihrer Zauberstabhand. »Aber ja. Ja, die bin ich. Kommen Sie, hier lang. Ich schaue mir diese Schusswunde an.« Theseus Scamander rührte sich keinen Millimeter. »Du - Sie wollen sich das wirklich anschauen?« »Was soll ich sonst tun?«, fragte Leta, während sie ihm eine Hand auf die Schulter legte. »Sie mit einem Pickelzauber in die nächste Besenkammer sperren?« Statt dem Druck auf seiner Schulter folgezuleisten, starrte er sie an, als habe sie sich vor seinen Augen in einen Hippogreif verwandelt. Vielleicht hatte sie sich das irgendwie sogar - dabei sollte er ihren Ruf eigentlich kennen. »Bitte was? Warum sollten Sie das...« Mit jedem Wort wurde er leiser und verstummte schließlich ganz. Er schluckte. »Das warst du?!« Sie zuckte mit den Achseln. »Ich ... ähm ... vielleicht?« »Vielleicht?« Theseus seufzte schwer und klang damit wie ein Vertrauensschüler. »Wirklich? Vielleicht? Du könntest wenigstens sagen, dass es dir leidtun.« »Tut es aber nicht«, erwiderte sie und erntete dafür einen Blick, der dem eines Hufflepuff würdig war. Früher hätte das den Fluchtinstinkt in ihr geweckt. Heute verstärkte es nur ihren Druck auf seine Schulter. »Komm jetzt. Wenn die Oberschwester uns beim Tratschen erwischt, schrubbe ich hier demnächst nur noch Bettpfannen.« Er zog die Augenbrauen hoch. »Ich weiß nicht, ob du das nicht vielleicht verdient hättest.« Die Antwort kannten sie vermutlich beide. Doch Theseus erwartete keine Antwort. Folgsam gab er seinen Widerstand auf und ließ sich protestlos von ihr abführen. II -- Während sie der Eingangstür einen Tritt versetzte und diese daraufhin scheppernd ins Schloss fiel, fischte Leta nach ihrem Zauberstab. Es brauchte einen Wink, um sämtliche Kerzen des Raumes zu entzünden und einen weiteren, um auch in dem kleinen Ofen neben den Pritschen ein Feuer zu entfachen. Ein dritter Schlenker sorgte dafür, dass sich ein Schwung Kohlen in die Luft erhob. Ein schwarzer Klumpen nach dem anderen schwebten an ihnen vorbei und durch das Türchen des Ofens, wo sie in einer glimmenden Funkenwolke landeten. Einen Moment lang beäugte er die Kohlen skeptisch. Nachdem die letzte von ihnen im Ofen verschwunden war, ließ er seinen Blick schweifen. Zu den Pritschen und den Schränken und den offenen Regalen mit den Gläsern voller Karbol, Jod und Kaliumpermanganat. Leta konnte seine Fragen förmlich unter der Wolldecke beben sehen, doch Theseus stellte keine von ihnen. Ohne weitere Anweisungen zu benötigen, durchquerte er schließlich das Zimmer und ließ sich mit einem leisen Ächzen auf die Pritsche fallen, die dem Ofen am nächsten stand. Von dort verlegte er sich schließlich darauf, sie zu beobachten. Leta ignorierte ihn. Verbandsraum I war eigentlich die vordere Hälfte einer Wellblechhütte, deren Wände man mit transportablen Schränken und Truhen vollgestellt hatte, bis kaum noch Licht durch die Fenster fiel. Routine leitete sie durch das Chaos aus Desinfektionsmitteln und Verbänden. Fläschchen und Operationsbesteck klirrten leise, während sie sie auf einem Tablett arrangierte. »Die Feldambulanz sollte dir einen Behandlungsschein mitgegeben haben«, sagte sie schließlich in den Raum, während sie eine Reihe von Verbänden aus dem ihr zugewiesenen Schrank fischte. »Du hast ihn noch?« Hinter sich hörte sie Stoff rascheln. Statt zu Theseus blickte sie allerdings zur Tür. Nachdem sich diese nicht spontan öffnete und einen Muggel in den Raum spie, griff sie erst nach einer Emailleschüssel und dann nach ihrem Zauberstab. Einen Aguamenti später füllte sich die Schüssel mit Wasser. »Du meinst diesen Zettel hier?« Theseus hatte sich die Decke von den Schultern gleiten lassen. Mit seiner unverletzten, linken Hand hielt er einen Zettel hoch, den man ihm um den Hals gehangen hatte. Sein rechter Arm jedoch hing reglos in einem Dreieckstuch. Ein Verband zog sich von seinem Oberarm bis hinunter zu seinen Fingerspitzen. An einigen Stellen blutete es durch. »Eben den.« Ihren Worten folgte ein letzter, nur gemurmelter Zauber, dann griff sie nach dem Tablett und trat zu Theseus an die Pritsche. Die Schüssel und Verbandspäckchen folgten ihr wie ein Schwarm skurriler Vögel. Behutsam stellte Leta das Tablett auf dem bereitstehenden Behandlungstisch ab und ließ Verbandsmaterial und Schüssel daneben sinken. Unter Theseus skeptischem Blick löste sie anschließend den Behandlungsschein aus seinem Knoten. Die enge Handschrift des behandelnden Wundarztes wies ihren Patienten als Second Lieutenant Theseus R. H. Scamander aus. Sie berichtete von Schusswunden und einer Tetanusimpfung. »Du hast nicht vor, diese Behandlung auf Muggelweise durchzuführen, oder?«, fragte er, während sie noch las. Leta zuckte mit den Achseln. »Captain Lynch und Oberschwester Gwendolyne werden erwarten, dass ich das tue.« Natürlich taten sie das. Schließlich hatte Leta niemandem hier, nicht einmal Billy Dunn, von ihren Fähigkeiten erzählt. Hatte es niemandem erzählen dürfen, des Geheimhaltungsabkommens wegen. Archer Evermondes Rede vor dem Brunnen der magischen Geschwister klang noch immer in ihren Ohren nach, immer dann, wenn sie an Großbritannien dachte. Und auch wenn der Zaubereiminister den Krieg vor seinem warmen Kamin auszuharren gedachte, war es doch besser, zumindest dann den Anschein zu wahren, wenn mit Muggelbesuch - oder zumindest mit Billy und Captain Lynchs Eintopf - zu rechnen war. Entsprechend ließ sie die Worte wirken, gerade lang genug, um sie dann mit einem Kopfschütteln zu verwerfen. Weder Captain Lynch noch Oberschwester Gwendolyne waren anwesend und Billy ... war Billy. »Nein. Nicht, wenn es nicht erforderlich ist. Es kommt ein wenig drauf an, was mit ›mehrere Schussverletzungen im rechten Arm, Verdacht auf Bruch der Elle‹ gemeint ist. Es klingt fast, als seist du mit einem Protego in ein Maschinengewehr marschiert.« Sie stockte. »Bitte sag mir, dass du nicht mit einem Protego in ein Maschinengewehr marschiert bist.« Schweigen und ein Blick, der dem eines getretenen Bowtruckle erschreckend ähnelte, antworteten ihr. »Oh.« Ihr lag eine ganze Reihe recht bildhafter Kommentare darüber auf der Zunge, für wie hoch sie seine Überlebenschancen in den Gräben einschätzte. Sie schluckte sie. Alle. Weil er Newts Bruder war. Mühsam rang sie sich ein Lächeln ab. »Nun, sieh es so - du bist einer von zwei Magiern, die das überlebt haben.« »Ich weiß, ich bin ein Held.« Das Lächeln fror ihr in den Mundwinkeln fest. Es war nur ein Satz, doch er legte sämtliche Parallelen zwischen Newt und seinem Bruder ad acta. Theseus kannte Sarkasmus. Erkannte ihn. Verwendete ihn. Die Feststellung war beinahe erfrischend. Und beängstigend. »Jetzt schau mich bitte nicht so an. Ich weiß, dass das keine meiner besseren Ideen war.« »Immerhin. Dann besteht die Hoffnung, dass du das nicht wiederholst.« Theseus seufzte. Er war Hufflepuff genug, das Thema nicht weiter zu vertiefen. »Wie ist das weitere Vorgehen?«, fragte er. »Ich nehme an, du wirst diesen Verband lösen und was geschieht dann? Ich kann mir nicht ausmalen, was du mit diesen Messern vorhast. Machen Muggel das so? Können wir das Ganze vielleicht abkürzen, indem du das Ministerium verständigst?« Leta zog die Augenbrauen hoch. Alarmsirenen heulten in ihrem Hinterkopf auf, kaum dass das Wort mit M fiel. Niemand, der noch ganz bei Trost war, nahm es in den Mund. Nicht an der Front, nicht nach Archer Evermondes Notfallverordnung von 1914. Dass Theseus es trotzdem tat, ließ nur zwei Möglichkeiten zu. Ihr gefiel keine davon. »Und?«, fragte sie bedächtig, den Blick auf ihr Tablett mit Operationsbesteck gerichtet. »Warum sollte ich das deiner Meinung nach tun?« »Nun, weil ich annehme, dass ...« Was auch immer er annahm, die Erkenntnis holte ihn ein, bevor er es aussprechen konnte. Statt weiterer Ausführungen kam nur ein leises »Oh« über seine Lippen. Doch nicht nur Theseus zählte eins und eins zusammen. Der Offiziersrang. Die Frontausbildung, die offensichtlich mangelhaft war. Das M-Wort. Leta spürte, wie ihr das Blut aus dem Gesicht wich. In diesem Moment wünschte sie sich beinahe, dass Dunn die Tür aufriss, um sich nach dem Stand der Dinge zu erkundigen. Sie hatte kein Glück. „Du bist illegal hier“, sagte er leise. „Und du bist eine Feldmaus.“ Einen Moment lang starrten sie einander an. Schließlich lachte er leise. „Man hat mir wirklich schon viele Tiernamen an den Kopf geworfen, aber ich glaube, eine Feldmaus war ich noch nie.“ Missbilligend schürzte sie die Lippen. „Das ist kein Tier«, erwiderte sie brüsk, »das ist eine Berufsbezeichnung.“ Wenn Lieutenant Scamander die Anspielung verstand, dann verbarg er das gut hinter einem ziemlich irritierten Blick. Wahrscheinlicher war, dass er mit der Umgangssprache in den Gräben genauso viel Erfahrung hatte, wie im Umgang mit feindlichen Maschinengewehren. Sie konnte seinen Adamsapfel dabei beobachten, wie er hinter dem Knoten seiner Krawatte auf und ab tanzte, während er schluckte. Er leckte sich über die spröden Lippen. »Ich habe mich gerade für die Muggelmethode qualifiziert, oder?« Leta schnaubte. Die Muggelmethode hatte sie bereits verworfen, da hatte sie noch Kohlen schweben lassen. Trotzdem erwischte sie sich dabei, wie sie die Zeit überschlug, die er festsitzen würde. Erst hier, in der Casualty Clearing Station, und dann auf einem der Ambulanzzüge nach Rouen oder Étaples. Das war genug Zeit für eine Handvoll Briefe. Briefe an Lizzy und Cyril. Rowland. Mister Black. Lieutenant M- Das Bedürfnis, ihm zuzustimmen, wurde mit jedem Namen mehr zu einem Jucken, das sie nicht kratzen konnte. »Nein.« Neben ihr zog Lieutenant Scamander die Augenbrauen hoch. Eindringlich musterte er die Rot-Kreuz-Binde, die sie über ihrem Wollmantel trug. »Ich will dich weiß Merlin nicht überzeugen«, sagte er, »doch ich könnte es durchaus nachvollziehen, wenn du-« Oh, das konnte sie auch. Das war nun wirklich nicht das Problem. Leta seufzte, unglücklich mit sich selbst. »Nein.« Entschieden legte sie den Behandlungsschein beiseite. »Der nächste Heiler, der sich deinen- der sich Ihren Arm ansehen würde, befindet sich jenseits von Dover. Sie müssen wissen, die meisten Heilzauber wirken am besten in einem Zeitrahmen von zwölf Stunden. Später angewendet, behindert sie entweder der einsetzende Heilungsprozess oder der einsetzende Gasbrand.« Sein Blick flackerte hoch. Da war dieses Unschuldige, Naive in seinen Augen, das sie in ihrer Schulzeit beinahe täglich gesehen hatte. »Worum handelt es sich bei Gasbrand?« Statt seine Frage sofort zu beantworten, griff Leta um ihn herum nach dem Dreieckstuch. Mit geübten Fingern löste sie die Enden aus dem Knoten und führte sie über seine Schultern zurück vor seinen Körper. Er folgte der Bewegung mit zusammengebissenen Zähnen, bis seine Hand locker auf seinem Oberschenkel auflag. »Sagen wir es so: Es ist nichts, für das ich einen Heilzauber kennen würde.« Sie schenkte ihm ein schmallippiges Lächeln. »Also. Schwimmt, abgesehen von der Tetanusimpfung, die Sie nicht verweigern konnten, noch etwas anderes in Ihrem Blut, Lieutenant?« Lieutenant Scamander erwiderte ihren Blick. Die Art, in der er das Kinn reckte und nicht blinzelte, ließ sie einen Anflug von Trotz erahnen, den sie eigentlich nur von Newt erwartet hätte. Noch etwas, das sie an ihre Schulzeit erinnerte. „Billiger Brandy und eine halbe Phiole Blutbildungstrank“, presste er hervor. Dieses Mal war es an ihr, die Augenbrauen hochzuziehen. „Nur eine halbe Phiole? Was ist mit dem Rest geschehen?“ Der Blick, mit dem er bis eben ihre Nase angestarrte hatte, glitt hinunter zu der Tasche seines Waffengurts, neben der sein Zauberstab steckte. Er presste die Lippen aufeinander. Ob es vor Schmerz oder aus Trotz geschah, vermochte sie nicht zu sagen. Bedächtig, ohne Tasche oder Stab zu berühren, breitete Leta das Dreieckstuch über seinen Schoß aus. Zwar folgten seine Augen jeder ihrer Bewegungen, doch er kommentierte keine davon. Einen Augenblick lang musterten sie beide seinen geschundenen Arm. Leta die Verbände, die sich in einer ganzen Reihe von Kompressen, Auflagen und Binden von seiner Achsel bis hinab zu den Fingerspitzen zogen. Lieutenant Scamander ihre Finger, die bereits nach dem Verschluss der ersten Bandage tasteten. ›Mehrere Schussverletzungen.‹ Leta unterdrückte ein Schnauben. Mehrere Schussverletzungen in der Tat. Vorsichtig zog sie das Ende der Bandage aus dem behelfsmäßigen Knoten. Die unteren Lagen der Binde waren durchgeblutet, aber zumindest waren sie sauber. Die Wunde, die unter der Kompresse zum Vorschein kam, war es nicht. Die Kugel hatte sich von seinem Ellbogen bis hinauf zu seiner Schulter gefressen. Sie hatte eine klaffende Wunde zurückgelassen, aber zumindest Knochen und größere Arterien verfehlt. Der Geruch von Jod stieg ihr in die Nase. Unter Lieutenant Scamanders wachsamen Augen griff sie nach ihrem Zauberstab und sprach den Desinfektionszauber, den Lizzy ihr in Étaples beigebracht hatte. Es war ein grober, roher Zauber. Schlachtfeldmagie aus den Gräben. Er war weder angenehm noch sanft und brannte noch eine ganze Weile, doch er entfernte das Meiste von dem, was die Muggel »Keime« nannten. Lieutenant Scamander quittierte ihn mit zusammengezogenen Augenbrauen und einem unterdrückten Schmerzenslaut. Die gröberen Verschmutzungen ließ der Zauber in der Wunde zurück. Auch dafür gab es Zauber. Leta beherrschte zumindest drei von ihnen, Lizzy sicher ein gutes Dutzend und Mister Black konnte ihr vermutlich ganze Aufsätze dazu schicken, wenn sie ihn darum bat. Doch in Étaples hatte sie mehr gelernt, als Lizzys Desinfektionszauber. Entschieden steckte Leta ihren Stab zurück in ihren Ärmel. Statt mit dem nächsten, harschen Zauber rückte sie dem Dreck aus den Gräben auf altgediente Art und Weise zu Leibe, ganz so, wie die Muggel es ihr bereits in Netley eingeimpft hatten: Mit Skalpell und Pinzette. Und obwohl Lieutenant Scamander jedes neue Werkzeug anstarrte wie eines der Lieblingsmonster seines Bruders, ließ er die Prozedur klaglos über sich ergehen. Jeden Zentimeter, den sie sich vorarbeitete, kontrollierte sie zunächst auf Anzeichen einer einsetzenden Infektion. Sorgsam zupfte, schabte und schnitt sie sodann kleine Fetzen seiner Uniform aus der Wunde, gefolgt von allen anderen Verunreinigungen, die das Jod der Feldambulanz nicht hatte fortwischen können. Zuletzt griff sie nach einer der Flaschen mit Desinfektionsmittel. Statt dem typischen Geruch nach Jod stieg ihr beim Öffnen der von Diptam in die Nase. In ihrem Augenwinkel fing sie Lieutenant Scamanders Blick auf. Er roch es auch. Mit einer Bewegung, die so ruppig nicht hätte sein müssen, griff sie nach einer der bereitliegenden Sphagnum-Wundauflagen und ertränkte sie mitsamt seiner unausgesprochenen Frage in der Flüssigkeit. III --- Während Leta sich Verband für Verband seinen Arm hinabarbeitete, taten die halbe Phiole Blutbildungstrank und die warme Luft aus dem Ofen ihre Arbeit. Langsam kehrte die Farbe in sein Gesicht zurück. Wann sich seine Courage dazugesellte, konnte Leta im Nachhinein nicht mehr sagen. Sie bemerkte sie erst, als sie nach einer sauberen Bandage griff und sich die Finger seiner gesunden Hand in ihr Blickfeld schoben und sich auf die Wundauflage über seinem Unterarm legten. Sie warf ihm einen knappen Blick zu, doch er lächelte nur. Einen Augenblick lang wickelte sie schweigend. »Darf ich fragen, wo sich Leta Woodward zurzeit aufhält?« Beinahe hätte sie die Bandage fallengelassen. Nahezu anklagend starrte sie die weiße Gaze in ihren Händen an. Langsam hob sie den Blick. Er lächelte noch immer, doch die Frage, die er eigentlich hatte stellen wollen, funkelte in seinen Augen. »Durham.« »Durham?« Leta nickte. »Sie müssen verstehen, sie wollte die Armee verlassen und ich Großbritannien.« Sie wandte sich wieder der Bandage zu. Vorsichtig rollte sie die letzten Zentimeter der Gaze um seinen Arm und befestigte das Ende mit einer Verbandsklammer. »Leta Woodward ist Krankenschwester aus Leidenschaft, das war sie schon immer. Als der Krieg ausbrach, ließ sie sich zum Third London General Hospital in Wandsworth versetzen. Dort lernte sie einen jungen Offizier kennen. Dann kam die Schlacht an der Somme. Eine Granate kostete ihm den Arm und ermöglichte ihm das Studium der klassischen Geschichte. Können Sie ihr verübeln, dass sie bei ihm sein wollte?« Einen Moment lang schloss sie die Augen und atmete durch. Letas Lächeln tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Sie hatte sie nur einmal zusammen mit ihrem Captain gesehen, an ihrem letzten Tag in London. Es hatte die Zweifel weggewischt. Das tat es immer noch. »Wir haben einander einen Gefallen getan. Dafür hat es keine Magie gebraucht. Es sei denn, Sie werten einen gutaussehenden Captain, ein paar hundert innige Briefe und deutsches Artilleriefeuer als Magie.« Scamander lachte leise. »Ich bin mir sicher, Professor Merrythought würde das. Und nicht nur sie.« Aus dem Augenwinkel warf sie ihm einen skeptischen Blick zu. Er erwiderte ihn mit einem Lächeln, das gerade dünn genug war, um nicht naiv zu wirken. Mit einem theatralischen Seufzen schüttelte sie den Kopf. Demonstrativ wandte sie sich dem Verband zu, der seine Hand und Handgelenk umschloss. »Hufflepuffs.« »Elende Romantiker und Weltverbesserer allesamt. Sie sind schrecklich, ich weiß.« Leta verschluckte sich beinahe am »puffs«. Irritiert blickte sie von der Binde auf. Da war es wieder. Noch immer tanzte ein Lächeln über seine Lippen, betonte die Grübchen in seinen Mundwinkeln und das Funkeln in seinen Augen. »Überrascht?« Er suchte in ihrem Blick nach einer Antwort, das spürte sie. Entschieden schlug sie die Augen nieder, entschlossen, nicht noch einmal aufzusehen. »Vielleicht«, gestand sie, während sie die Bandage löste und zu den übrigen legte. »Ich bin es nicht gewohnt, dass ein Scamander den Unterton in meiner Stimme bemerkt.« Oder überhaupt irgendetwas. »Newt?« Sie nickte der Wundkompresse zu. »Ja. Newt.« »Ich gebe zu, derlei Dinge liegen ihm nicht besonders.« »Tun sie nicht, nein.« Nein, zwischenmenschliche Belange waren Newt immer fremd gewesen. Normen. Erwartungen. Anforderungen. Untertöne. All das war an ihm vorbeigezogen, untergegangen unter Fauchen, Schnauben und Scharren, unter peitschenden Ruten, gebrochenen Flügeln und aufgestelltem Fell. Er hatte noch das Herz jedes Monsters erobert. Und sie hatte seines gebrochen. Die Wundkompresse, ein wirres Spiel aus gebleichter Watte und trocknendem, rotbraunem Blut, brannte sich in ihre Netzhaut, wurde zu Sommersprossen und zerzaustem Haar. Sie presste die Lippen aufeinander. »Was ist mit Ihnen, Leta?« Leta blinzelte. Richtig. Scamander. Theseus Scamander. »Entschuldigen Sie...?« »Nun...« Er warf einen knappen Blick zur Tür, bevor er wieder zurück zu ihr sah. Das hieß: Bevor er zu einem Punkt knapp unterhalb ihrer Augen sah. Dabei zog er kaum merklich die Stirn kraus. Und Leta verstand; wusste was folgen würde, noch bevor er es aussprach. »Es ist für mich nachvollziehbar, weshalb Miss Woodward in England bleiben wollte und weshalb sie so bereitwillig den Platz mit Ihnen getauscht hat. Was ich nicht nachvollziehen kann, ist, was Sie dazu bewogen hat, Großbritannien zu verlassen.« Da war es. Das Erumpent im Raum. Sie schnaubte. Einen Moment lang überlegte sie, ob sie es einfach totschweigen konnte. Bei Newt hätte sie es totschweigen können. Bei Newt hätte sie es vielleicht nicht einmal totschweigen wollen. Aber das hier war nicht Newt. »Archer Evermonde.« Scamander stockte, nur für einen Augenblick. Er öffnete den Mund, schloss ihn dann doch wieder. Schließlich schüttelte er den Kopf. »Ich gebe zu, mit dieser Antwort habe ich nicht gerechnet. Bislang ging ich davon aus, Minister Evermonde hätte immer deutlich zu verstehen gegeben, dass er keine britischen Magier-« »Ich bin keine Britin.« Langsam schloss er den Mund. Er sah ein wenig so aus, als habe sie seinen geliebten Bowtruckle genommen und geschüttelt. »Ich mag den Großteil meiner Jugend bei meinen Verwandten in Großbritannien verbracht haben, doch das ändert nichts an meiner Herkunft. Ich stamme aus Frankreich, Paris. Und glauben Sie mir, ich kenne Minister Evermondes Reden. Ich habe sie gehört, ich habe sie gelesen und zurzeit schickt man sie mir per Brief.« Leta griff nach einer der Pinzetten. »Minister Evermondes Wissen über nichtmagische Kriegsführung«, sie umfasste ein Ende der Wundauflage mit der Pinzette, »stammt aus dem vorletzten Jahrhundert. Zumindest, wenn man das den Reden entnehmen kann, die er noch im letzten Frühjahr so vollmundig gehalten hat. Er geht davon aus, dass die feindlichen Armeen sich tagsüber auf den Wiesen vor Paris treffen, einander mit Stöcken beschießen und pünktlich zum Dinner wieder in ihren Lagern verschwinden würden. Magier«, sie begann an der Wundauflage zu ziehen, »könnten und sollten dem einfach aus dem Wege apparieren.« »Leta.« Sie schnaubte. »Dieses Treffen zieht sich über vierhundert Kilometer von der Nordsee bis zur Schweiz. Und das seit nunmehr zwei Jahren. Niemand kann dem einfach aus dem Weg apparieren.« »Leta, Sie tun mir weh.« Leta öffnete den Mund. Die Wundauflage, mittlerweile halb abgelöst, brannte immer noch in ihren Augen. Sie atmete aus. Langsam ließ sie die Pinzette sinken. »Entschuldigung. Es ... Es ist nur ... Sie haben es da draußen doch selbst gesehen. Arras. Soisson. Verdun. Hier haben nicht nur Muggel gelebt.« »Ja, dessen bin ich mir im Klaren.« Seine Stimme klang rauer als zuvor, aber vielleicht bildete sie sich das auch nur ein. »Genauso, wie ich mir im Klaren bin, dass das französische Ministerium eine gänzlich andere Politik verfolgt, als London.« »Tsk.« In ihrem Augenwinkel warf sie ihm einen düsteren Blick zu. »Trotzdem unterstützen Sie die englische Politik. Lieutenant Scamander. Minister Evermonde ... er kann sich das Leid hier nicht vorstellen. Die meisten Magier in Großbritannien können das nicht. Nicht einmal jene, welche die Muggel aus der Heimat heraus unterstützen. Die meisten von ihnen haben nie miterleben müssen, wie es ist. Wenn jemand gewaltsam stirbt. Wenn sie nur zuschauen können.« Mit einem tiefen Seufzen senkte sie den Kopf. Für einen Augenblick sah sie weder ihre Röcke, noch die Holzbohlen, die man zu einem behelfsmäßigen Boden zusammengenagelt hatte, sondern nur Wasser. Tiefes, nachtschwarzes Wasser. Die Bilder dieser Nacht immer noch vor Augen, schüttelte Leta den Kopf. Die Lippen aufeinandergepresst, zwang sie sich dazu, aufzusehen. Der Blick, mit dem Lieutenant Scamander den ihren erwiderte, erinnerte sie an Newt. Besser war das nicht. Nicht nach alldem, was in ihrem letzten, gemeinsamen Schuljahr vorgefallen war. »Es tut mir leid.« »Tut es nicht«, erwiderte er. Sachte neigte er den Kopf, blickte nun selbst auf die Wundauflage. »Aber das muss es auch nicht. Ich bin derjenige, der sich entschuldigen sollte. Die Realität dieses Krieges ... Sie ist in Großbritannien so unglaublich weit entfernt. Nach allem, was ich in den letzten Tagen gesehen habe, hätte ich mir dessen im Klaren sein müssen. Genauso, wie mir hätte bewusst sein müssen, wie heikel dieses Thema für Sie sein muss. Ich entschuldige mich dafür, ohne die nötige Weitsicht geredet zu haben. Ich hoffe, Sie verstehen, dass ich die Frage dennoch stellen musste.« Sie nickte dumpf. Dass er sprach, half sogar, irgendwie. Es riss ihre Gedanken los, weg von stürmischen Wassern, weg von Newt und von Jarveys. Sie zwang sich dazu, dem Gespräch zu folgen. »Natürlich«, erwiderte sie, ohne sein Lächeln zu erwidern. »Sie sind immer noch Archer Evermondes Feldmaus, Lieutenant.« »Diese Berufsbezeichnung werde ich nicht mehr los, oder?« Leta schnaubte. »Nein«, stimmte sie ihm zu. Noch während sie sprach, hob sie die Pinzette. Erneut fasste sie damit nach der Wundauflage und zog daran, sorgsamer dieses Mal. Bei der Wunde darunter handelte es sich um einen langen, glatten Schnitt. Er zog sich quer über seinen Handballen und spiegelte sich in einer Linie weiterer Risse auf seinen Fingerkuppen. Mit der Wundauflage noch immer im Griff ihrer Pinzette, führte Leta ihren rechten Arm über den Berg mit gebrauchten Bandagen. Unzeremoniell ließ sie sie darüber fallen. »Wissen Sie«, sagte sie schließlich, »die Magier hier draußen sind sich ihrer Pflicht bewusst, das Geheimhaltungsabkommen zu wahren. Jeder hier weiß das. Grelle Zauberduelle werden Sie hier nicht finden. Wenn Sie das Geheimhaltungsabkommen schützen wollen, Lieutenant Scamander, dann tun Sie uns beiden einen Gefallen. Gehen Sie nach Hause.« In ihrem Augenwinkel beobachtete sie ihn dabei, wie er die Verletzungen auf seiner Handfläche musterte. Unter ihrem Blick zog er die Stirn kraus. Dann jedoch bemerkte er sie und sah auf. Er schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, das wird nicht möglich sein.« Etwas in seinen Augen, in der Art, wie er seine Augenbrauen ein wenig zusammenzog, sagte ihr, dass dieser Punkt nicht diskutabel war. Er erinnerte sie an Newt und die Frage, ob er seinen Nifflerwelpen nicht lieber bei seiner Hauslehrerin abgeben sollte. Vielleicht hätte sie es wissen sollen, als sie die beiden vorhin im Schnee miteinander verwechselt hatte. »Hören Sie, Scamander. Ich weiß nicht, ob es Ihr Protego war, der Sie gerettet hat, oder Ihr magischer Selbsterhaltungstrieb. Sie hatten da draußen nahezu unverschämtes Glück. Diese Kugeln haben keine größeren Gefäße verletzt und dieser Schnitt hier ist nicht tief, auch wenn er gräulich anzusehen ist. Der Schuss dort hat Ihren Knochen dennoch nur um Millimeter verfehlt. Und hätten Sie diese Wunden nur mit einem Heilzauber geschlossen, ohne sie vorher umfassend zu reinigen, hätten Sie sich wer weiß welche Krankheiten einfangen können. Sie können sich nicht darauf verlassen, dass Sie dieses Glück begleitet.« »Dessen bin ich mir bewusst.« Leta öffnete den Mund zum Protest, verwarf die Worte, die ihr bereits auf der Zunge brannten, dann aber doch wieder. Sie kannte Newt und sie kannte seine Entschlossenheit. Der Blick seines Bruders gab ihr keinen Grund zur Annahme, dass sich die beiden Brüder in diesem Punkt unterschieden. Scamanders. Anstatt ihm zu antworten, besann Leta sich auf ihre Aufgabe und warf den Schnitten auf seiner Handfläche einen kritischen Blick zu. Ohne aufzusehen legte sie die Pinzette zur Seite und tauschte sie gegen ein feineres Exemplar. Sorgsam begann sie damit, die sichtbaren Verunreinigungen aus der Wunde zu entfernen. Für einen langen Moment waren das Klirren des Operationsbestecks und das ferne Grollen der Artillerie die einzigen Geräusche, die die Stille zwischen ihnen unterbrachen. Ihrem Patienten warf sie nur von Zeit zu Zeit Blicke zu. doch dieser schien mit ihrem Schweigen zufrieden zu sein. Er beobachtete ihre Arbeit mit derselben Neugier wie zuvor, die Augen wach, die Lippen nur von Zeit zu Zeit aufeinandergepresst und ohne einen Laut. Selbst den Reinigungszauber, den sie nach einem knappen Blick in Richtung Tür sprach, nahm Lieutenant Scamander klaglos hin, genauso wie die in Diptam getränkte Wundkompresse. Erst, als sie die neue Bandage mit einer Klammer fixierte, ergriff er das Wort. »Das war es?« Leta nickte. »Wenn Sie unter der Uniform keine weiteren Wunden verstecken, ja, das war es«, stimmte sie zu. »Der Heiltrank wird die Wundheilung unterstützen. Wenn Sie bis morgen Abend keine Anzeichen einer Infektion zeigen, können Sie die Wunden mit einem der üblichen Heilzauber schließen. Bis dahin erwarte ich, dass Sie sich schonen. Keine Apparationen. Kein Zauberstabgefuchtel. Keine Feldmäusereien. Haben Sie mich verstanden?« »Ja, Ma’am«, antwortete er und salutierte dabei. Es war eine ungeschickte Geste, noch dazu mit links. Mit einem leisen Prusten schüttelte Leta den Kopf. »Sie üben noch, hm?« Leise lachend fuhr er sich mit der Hand durchs Haar. »Vielleicht?« »Lassen Sie das nicht Ihren Captain sehen«, antwortete Leta mit einem dünnen Lächeln. Sie stand auf. »Kommen Sie, ich zeige Ihnen Ihr Bett.« IV -- Sie kam nicht dazu, ihren Worten Taten folgen zu lassen. Just in dem Moment, in dem auch er aufstand, bewies Sergeant Dunn doch noch sein Gespür für Gespräche, die Leta nicht führen wollte. Die Türklinke quietschte. Ein harscher Tritt gegen Metall folgte ihr. Dann ein fernes Grollen. Die Luft, die der Ofen mittlerweile auf Arbeitstemperatur erwärmt hatte, verschwand in einem kalten Windzug voller Schnee. Unweigerlich zuckte Leta zusammen. Nur widerwillig drehte sie sich in die Kälte. Unter ihrem vorwurfsvollen Blick sackte Dunn in sich zusammen, wie der Schuljunge, der er beinahe noch war. Schnee rieselte ihm von den Schultern. »Es tut mir leid«, stammelte er, ohne einen von ihnen anzusehen. »Captain Lynch hat mich endlich aus dem Operationssaal entlassen. Ich dachte, ich könnte nach Ihnen schauen. Außerdem habe ich die heiße-« Stolz präsentierte er das Tablett in seinen Händen, stockte aber, als er merkte, dass aus den beiden Schalen, die er darauf balancierte, kein Dampf mehr aufstieg. Mit einem schweren Seufzen verbesserte er sich. »Ware. Ähm ... vielleicht stand sie ein wenig zu lange im Empfangszelt.« Leta schüttelte den Kopf. Sie unterdrückte das Lachen nur, weil ihr Magen selbst beim Gedanken an kalten Eintopf rumorte. Und weil Scamander neben ihr jedes Wort hören konnte. »Sergeant Dunn? Sie wissen, das war ein Scherz. Das tun Sie doch?« Dunn nickte. »Natürlich.« Ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht. »Wissen Sie, Schwester Leta, es ist Captain Lynchs Eintopf.« Jetzt lachte sie doch. »Billy!« »Drei Operationen und Schwester Fletcher assistiert ihm«, verkündete er, während er sein Tablett abstellte. »Es wird dauern, bevor er irgendetwas vermisst, das nicht aus geschliffenem Stahl besteht«, antwortete er unschuldig. »Bei Ihnen ist alles in Ordnung?« »Besser als erwartet«, antwortete sie. »Keinen Bruch, keine feststeckenden Kugeln. Captain Lynch muss also keine vierte Operation fürchten. Ich war gerade dabei-« Der Rest ihres Satzes ging in einem ohrenbetäubenden Grollen unter. Einen Moment lang bebte alles - die Hütte, die beiden Soldaten, Letas Trommelfell. Vielleicht war es nur Letas Trommelfell. Sie riss die Arme über den Kopf, duckte sich. Ihr Puls dröhnte in ihren Ohren. Langsam zählte sie bis drei. Nichts geschah. Keine Explosion, keine Trümmer, keine Schreie. Zögerlich spähte sie an ihren Armen vorbei in den Raum. Durch die Fenster drang kein Licht. Kein Feuer. Die Regale standen alle noch. Billy lag flach auf dem Boden, die Hände über dem Kopf. Scamander stand als einziger von ihnen aufrecht. Die Hand am Zauberstab, huschte sein Blick durch den Raum. Fenster zu seiner Linken, Tür, Fenster zu seiner Rechten, Leta, Billy- »Was war das?«, hörte sie ihren Kollegen flüstern, doch es war Scamander, der antwortete. »Das werde ich gleich herausfinden«, verkündete er. »Sie bleiben hier.« Leta stockte, nur für einen Augenblick. »In Ihrem Zustand wäre das lebensgefährlich!« Sie stand auf, doch Scamander erwiderte ihren Blick. »Sie können nicht-« Und ob er das konnte. Ohne eine Diskussion zu suchen, ohne überhaupt eine zuzulassen, schob er sich an Leta vorbei. »Scamander! Bleiben Sie sofort-« Er riss die Tür auf und verschwand im Schnee. »Scamander!« Leta versetzte der nächsten Pritsche einen Tritt. »Argh! Genauso halsstarrig wie sein verfluchter Bruder!« »Leta?«, hörte sie Billy fragen. Sie riss ihren Blick von der Tür und den hereinwehenden Schneeflocken los. Auf der anderen Seite des Raumes rappelte Billy sich gerade wieder auf. In seiner Miene spiegelte sich ein Teil der Verblüffung, die sie selbst noch spürte. »Unser Patient ist nicht gerade da rausmarschiert, oder?«, fragte er und deutete mit dem Daumen auf die Tür. »In etwas, das ein Zeppelin sein könnte?« Leta nahm einen tiefen Atemzug. »Doch«, erwiderte sie. »Doch. Das ist er.« In der Ferne grollte es wieder, leiser, dieses Mal. Sie zuckten beide zusammen. »Wir müssen das melden.« Einen Moment lang überschlug Leta ihre Optionen. Sie enthielten einen Captain Lynch, der womöglich gerade in Blut schwamm, und Oberschwester Gwendolyne, die sicher längst wusste, dass eines ihrer Schäfchen fehlte. Und Captain Lynchs Eintopf. Sie hätte einem Norwegischen Stachelbuckel den Vorzug gegeben. Vor beiden. »Nein«, entschied sie schließlich, Schwester Gwendolynes letzte Predigt noch im Ohr. »Sie müssen das melden, Billy.« Noch während sie sprach, griff sie nach der Decke, die Scamander zurückgelassen hatte. Entschlossen durchquerte sie den Raum. Billy folgte ihr. An der Tür angekommen, starrten sie beide in die Nacht. Da war nichts. Nur das Artilleriefeuer, das sich wie Wetterleuchten über den Horizont zog. Und Schnee. »Leta-« »Geben Sie Captain Lynch Bescheid. Lassen Sie die Lichter löschen.« Auch wenn sie es nicht sah, wusste sie, dass Billy den Mund zum Protest öffnete. Er sprach ihn nicht aus. Sie wusste, was er sagen wollte. Er wusste, was sie antworten würde. Einen Augenblick lang sprachen nur seine Hand auf ihrer Schulter und ihr Blick in die Finsternis. »Schlechtes Wetter für einen Zeppelin«, murmelte Billy stattdessen. Leta drückte die Decke fester an sich. Ihr Zauberstab drückte sich unangenehm in ihr Handgelenk - und in ihr Bewusstsein. In der Ferne wurde der Schatten, der Scamanders Silhouette sein musste, kleiner. Ein weiteres Grollen beendete die Debatte. Laut. Nah. Peitschend. Kein Zeppelin. Definitiv kein Zeppelin. Während sie sich noch duckten, tauschten sie einen Blick. Sie rechnete es Billy an, dass er es nicht aussprach. Er nickte einfach nur. Ein letztes Mal spürte Leta, wie seine Hand auf ihre Schulter klopfte, dann verschwand der Druck. Ihre Wege trennten sich. In ihrem Augenwinkel folgte Billy dem Weg herum um die Wellblechhütte, der ihn zu der Operationsbaracke bringen würde. Sie sah nicht mehr, wie er in den Schatten verschwand. Die Decke in den Armen und eine gehörige Portion Frust im Bauch, marschierte Leta geradeaus ins Schneegestöber. Bereits die ersten Schritte ließen sie mit ihrem Entschluss hadern - vornehmlich, weil jeder dieser Schritte knöcheltief im Schnee versank. Und der Schnee sickerte nicht nur durch ihre Schuhe, in denen er dank diverser Wärmezauber zwar mollig warm, aber auch nass blieb, er nahm ihr auch die Sicht. Zunächst sah sie nicht mehr als dicke, weiße Flocken, unterbrochen nur vom gelegentlichen Flackern der Artillerie. Erst nach mehrfachem Blinzeln kristallisierten sich die Lichter der Messe aus den Flocken. Die Schemen der Schwesternbaracken folgten ihnen, nur eine Nuance dunkler als das Schwarz des Himmels. Kein Zeppelin. Kein anderes, modernes Kriegsgerät, dessen Namen Leta möglicherweise noch nicht kannte. Leider fehlte auch von ihrem Patienten jede Spur. »Lieutenant Scamander!« Keine Antwort. Nur ein Zischen, das von einem fernen Geschütz herrühren mochte. Einen Moment lang hielt sie inne und legte den Kopf in den Nacken. Der Himmel über ihr starrte mit hunderten, leise zur Erde rieselnden Augen zurück. Auch keine Antwort. Sie hätte Billy gehen lassen sollen. Mit einem Schnauben wandte sie sich ab. »Lieutenant Scamander!«, versuchte Leta es erneut. Keine Reaktion. Die Lippen aufeinander pressend, verlagerte sie die Decke auf ihren rechten Arm. Noch in derselben Bewegung warf sie einen knappen Blick über ihre Schulter. Als sie weder Billy noch einen seiner Kameraden ausmachen konnte, ließ sie ihren Zauberstab aus ihrem Ärmel gleiten. Ein harscher Schlenker mit dem Stab tauchte sie in kaltes, blaues Licht. Es half nur bedingt. Im ersten Augenblick sah sie nicht mehr, sondern weniger. Geblendet von tausenden Flocken, die im Lichtschein funkelten, stolperte sie durch den nächsten Schneehügel. Leta strauchelte erst, erwischte eine der zugefrorenen Pfützen, rutschte- Sie fing sich gerade so. Fluchend warf sie einen Blick zurück. Unter dem harschen Licht ihres Zaubers warf jede noch so kleine Erhebung groteske Schatten. Der Schnee vereinnahmte jede Kontur. Jede Anhäufung wurde zu einer verzerrten Masse, unter der sich weiß Merlin was verbergen mochte. Vergessenes Werkzeug. Die Kreuze, die Tom und Rick am Vormittag zusammengenagelt hatten. Granaten, die im Herbst nicht explodiert waren. Seltsam grollende Dinger. Blauäugige Hufflepuffs, die nicht wussten, wann sie sich übernahmen. Da war nichts dergleichen. Nur Schnee. Dann sah Leta sie. In ihrem Augenwinkel waren sie zunächst nicht mehr als ein paar weitere, scharfkantige Schatten. Doch als sie sich umdrehte, wurden aus den Schatten erst eine und dann eine ganze Reihe von Vertiefungen. Wie auf eine Schnur gefädelt, zogen sie sich an ihr vorbei durch den Schnee. Sie waren nur etwas größer als die Abdrücke, die ihre eigenen Schuhe hinterließen, und noch so frisch, das Leta die Schneefähnchen sehen konnte, die sie hinter sich herzogen. »Scamander!«, rief sie in die Richtung, in die die Fußspuren führten, auch wenn ihr nur das ferne Dröhnen der Artillerie antwortete. Die Decke an sich gepresst und den Zauberstab hoch erhoben, stapfte sie ihnen hinterher. »Sie sind nicht in der Verfassung, um hier herumzuwandern! Zumal Sie das Lager nicht kennen. Sie könnten stürzen. Möglicherweise in eines der frisch ausgehobenen Gräber. Oder in einen der Granatentrichter. Wussten Sie, dass sich Rotkappen in Granatentrichtern ausgesprochen heimisch fühlen? Ich habe gehört, sie hätten gelernt, wie man Handgranaten zurückwirft. Ihr Verhalten ist-« Sie verstand erst, dass der äußerste Lichtschein nicht zu den Nissenhütten der Schwesternquartiere gehörte, da lief sie bereits beinahe in ihn hinein. Nur wenige Schritte vor ihr formte sich ein Schatten aus der Nacht. In der Dunkelheit wirkte seine Uniform beinahe schwarz. Nur sein rechter Arm bildete einen scharfen Kontrast. Die Bandagen leuchteten schwach im Licht ihres Zauberstabs. Der gesamte Arm zitterte. Leta presste die Lippen aufeinander. Kaum einen Schritt von ihm entfernt, blieb sie stehen. Nah genug, damit er ihren Atem auf seiner bloßen Schulter spüren konnte. «-unverantwortlich«, beendete sie ihren Satz, doch er reagierte darauf nicht. Statt sich zu ihr umzudrehen, hob er lediglich den linken Arm vor sich. Die Geste, mit der er seinen Zauberstab hielt, wirkte seltsam linkisch. Kopfschüttelnd verdrehte sie die Augen. Wenn er jetzt auch noch irgendein Tierwesen aus einem der Granatentrichter zog, die vor ihnen liegen mussten, würde sie ihn schütteln. Am liebsten würde sie ihn schon jetzt schütteln. Statt dem Impuls nachzukommen, griff sie nach der Decke. Mit einer geübten Bewegung entfaltete Leta sie und warf sie ihm über den Rücken. Endlich reagierte er doch. Kaum berührte der dicke Wollstoff seine Schultern, zuckte er zusammen. Langsam drehte er sich um, gerade genug, um ihr einen Blick zuwerfen zu können. Mit aufgerissenen Augen sah er sie an. »Leta?« Sie schnaubte. Der bissige Kommentar lag ihr bereits auf der Zunge, doch die letzten Monate hatten sie gelehrt, sich bei Patienten zurückzuhalten. Wortlos richtete sie den Zauberstab auf den Saum seiner Decke und sprach einen der Klebezauber, die Mister Black ihr freundlicherweise beigebracht hatte. Mit einer sachten Berührung klopfte sie erst auf seine linke, dann auf seine rechte Schulter. Die Decke saß. »Sie holen sich hier draußen noch den Tod«, erklärte sie, als er sie weiter anstarrte. Nur in seinem Augenwinkel huschte sein Blick immer wieder zurück zu der Dunkelheit, die sich vor ihnen erstreckte. »Wenn Ihnen nicht vorher ein Zeppelin irgendwelche Bomben auf den Kopf wirft, heißt das.« Lieutenant Scamander schluckte. »Es ist kein Zeppelin.« In der Ferne krachte etwas, das Leta im ersten Moment als ein weiteres Geschütz der Muggel abtun wollte. Längst war sie das ständige Bombardement gewöhnt. Seit Monaten stand sie mit ihm auf, arbeitete, aß und schlief unter seinem Dröhnen. Längst filterte die Routine das beständige Donnern in den Hintergrund. Doch dieses Krachen wollte sich nicht fügen. Sie stockte. Langsam ließ sie die Hand von seinen Schultern gleiten. Einen Moment noch musterte sie sein Gesicht, die aufgerissenen Augen, die leicht geöffneten, spröden Lippen. Schließlich hob sie selbst ihren Zauberstab und trat an ihm vorbei. »Was ist kein-« Sie verstummte. Nein. Kein Zeppelin. Das, was sich vor ihnen im Flackern der Artillerie wand, war definitiv kein Zeppelin. Dafür war es sicher so groß wie ein Gemeiner Walisischer Grünling. Ein düsterer Schweif peitschte über den Horizont. Leta konnte keine Flügel ausmachen, aber das war auch das einzig Positive, das ihr auffiel. Sie wollte gar nicht wissen, wie dieses Ding an die Front kam. Vielleicht waren es die Australier. Seit dem Känguru traute sie ihnen alles zu- Für einen Moment glaubte sie, ein paar riesiger Augen zu sehen, doch das Biest drehte sich, bevor sie sich sicher sein konnte. »Oh süßer Merlin«, flüsterte sie. Ein tiefes Fauchen antwortete ihr. Für einen Wimpernschlag ragte eine Pranke über den Horizont. Irgendetwas quiekte. Leta öffnete den Mund, doch sie bekam keinen Ton heraus. Ihr Herz schlug ihr bis zum Hals, trieb ihr ein scharfes Brennen in die Brust und eisige Schauer über den Rücken. Den Blick auf den Punkt gerichtet, an dem die Pranke verschwunden war, macht sie einen Schritt zurück. Und noch einen. Und- Lieutenant Scamander stöhnte, als sie gegen ihn stieß. Sein Arm. Scamander. Sie drehte sich zu ihm. Er erwiderte ihren Blick nicht. »Sie«, sagte sie und hörte sich selbst dabei kaum. »Sie haben einen Plan. Den haben Sie doch?« »Ich-«, antwortete er und allein dieses Wort ließ sie Schlimmstes ahnen. Er öffnete den Mund, schloss ihn wieder. »Oh, Scheiße.« Endlich erwiderte er ihren Blick. In seinen Augen spiegelte sich der Ausdruck eines Nifflers, dessen mühsam erbeutetes Gold sich gerade zurück in Stein verwandelte. Sie fasste nach seinem gesunden Arm. Hoffentlich fiel er ihr hier nicht um. »Scamander?« »Ich habe mich gerade gefragt, was Newt jetzt tun würde.« Ein Laut, der weder Lachen noch Seufzen war, entkam ihrer Kehle. »Oh«, stimmte sie ihm zu. »Scheiße.« Scamander nickte. »Für ihn wäre das sicher nur ein überdimensionales-« In ihrem Augenwinkel hob sich eine Pranke. Wieder ein Krachen. Dann Quietschen. »Miezekätzchen.« Noch eine Pranke. Noch ein Krachen. Mit einem schrillen Schrei trat ein unförmiger Schemen über den Horizont. Er stieg höher und höher, einen Moment lang nahezu schwerelos- »Protego Maxima!« Scamanders Stimme schnitt durch die Luft. Der magische Schild folgte der Bewegung seines Zauberstabs, stieg vor ihr auf, glänzte bei jeder Schneeflocke, die ihn berührte. Der Schemen kam immer näher. Leta riss die Hände über den Kopf- KRACK! Silberne Funken sprühten in alle Richtungen. Der Schild hielt. Eine hässliche Kreatur tauchte aus den Funken auf, kaum eine Armlänge über ihrem Kopf und platt. Sie war so groß wie ein Hauself und alles an ihr - Kopf, Körper, selbst die eingedellte, rote Kappe - war platt. Einen Moment lang starrte das Wesen sie aus aufgequollenen Augen an. Langsam, ganz langsam, rutschte es an Scamanders Schildzauber hinab. Leta starrte zurück, selbst, als seine Augen in seinen Hinterkopf rollten und es reglos liegen blieb. Irgendetwas hatte sich durch die gestohlene, blaue Uniform geschnitten - und durch die Eingeweide darunter. Sie öffnete den Mund. Langsam, vorsichtig, hob sie den Blick. In der Ferne leuchteten zwei riesige Augen, die Pupillen zu schlitzen verengt. Hinter ihnen peitschte ein Schweif über den Horizont. »Ich habe eine bessere Idee«, murmelte sie. Ihre Stimme kratze in ihrem Hals. In ihrem Augenwinkel sah sie, wie Scamander den Zauberstab senkte. Beinahe zeitgleich drehten sie sich um. »Laufen Sie!« V - »Laufen Sie!« Ein Grollen unterstrich ihre Aufforderung, doch da war Leta längst in Bewegung. Scamander sah sie nur in ihrem Augenwinkel. Die Vorsicht, mit der sie den Schnee zuletzt bei jedem Schritt beäugt hatte, war vergessen. Den Zauberstab noch immer in der Hand, raffte sie die Röcke und rannte. Schnee drang in ihre Schuhe. Egal. Sie stolperte, mehrfach. Auch egal. Das Licht in den Hütten vor ihr flackerte und erlosch. Die einzigen Lichter, die blieben, waren die ihrer Zauberstäbe. Selbst das war egal. Hinter ihnen klirrte der Schildzauber, doch sie blieb nicht stehen, um es sich anzusehen. Scamander war nicht mehr als das Knirschen von Stiefeln im Schnee. Er schloss nicht zu ihr auf. Wollte es vielleicht nicht. Konnte es vielleicht nicht. Doch er blieb hinter ihr, laufend, japsend, knirschend. »Leta! Wenn wir-«, ein Klirren übertönte ihn, »-rden wir die Muggel!« In ihrem Augenwinkel sah sie das blaue Leuchten von Scamanders Zauberstab. Es gestikulierte an ihm vorbei und schwankte bei jedem Schritt. Sie erkannte die Richtung, auf die er wies, auch so - und schüttelte den Kopf. »Nein« Klirr! »-Friedhof-« KLIRR! »-noch nicht in ein Grab-« KRACK! Der Schild explodierte in einem Funkenregen. Leuchtende Magiepartikel stoben über sie hinweg und verglommen in der Nacht. Ein neues Geräusch gesellte sich zu ihren Schritten. Pfoten - Pranken - im Schnee. Scamander vergaß seinen Protest. Die erste Blechhütte tauchte im Licht ihres Zauberstabes auf. Noch zwanzig Yards. Ihre Lungen brannten. Fünfzehn Yards. Das Dröhnen von Pranken auf Schnee wurde lauter. Zehn Yards. Sie rutschte- Acht Yards. -stolperte- Sechs Yards. -fiel- Fünf Yards. Scamanders Hand schloss sich um ihren Oberarm. Der Boden kam näher. Ein Ruck durchfuhr sie. Einen Moment lang fielen sie beide- Ihr Fuß fand Halt. Drei Yards. Da war ein Schatten in ihrem Augenwinkel. Zwei Yards. »NYAUUU!« Ein Yard. Ihre Hand schloss sich um die Klinke. Das Metall gab unter ihrem Druck nach. Vielleicht auch unter ihrem Gewicht. Leta knallte gegen die Tür, spürte den Schmerz nicht. Nur vage war sie sich bewusst, wie sich die Klinke erst in ihre Handfläche bohrte, wie sie an ihr vorbeiglitt, der Druck nachließ. Dann trat sie auf Holz. Leta wirbelte herum. Das Licht ihres Zauberstabs fiel auf Scamander, der vor der Tür stehen geblieben war. Vor ihm - eine Katze. Eine riesige, missgestaltete Katze. Obwohl sie vor ihnen kauerte, war sie immer noch so groß wie ein kleiner Drache. Reißzähne ragten aus ihrem Maul. Ihr langer Schwanz peitschte durch die Luft. Schnee stob in alle Richtungen. Newt hätte sie geliebt. »NYAN!« Der Boden unter ihren Füßen bebte. Die Mähne der Katze leuchtete auf und Leta wusste, was kommen würde. Scamander hob den Zauberstab. Mit links. Eine unsichere Bewegung. Linkisch. Leta stürzte sich vor. Als sie Stoff unter ihren Fingern spürte, griff sie zu. Sie hatte nur die rechte Hand, aber sie zog. Das Wesen sprang. Scamander verlor das Gleichgewicht. Stolperte. Fiel. Hinter ihr her. An ihr vorbei. Sie riss den Zauberstab hoch- »Protego Totalus!« Die Tür knallte zu. Ein dünner Schleier glitt über Holz und Metall. Dann schlug das Vieh ein. Die ganze Hütte bebte. das Regal, das man in die Ecke hinter der Tür gezwängt hatte, stürzte um. Staub rieselte von der Decke. Mit einem ohrenbetäubenden Kreischen drangen Krallen durch das Blech, schlugen tiefe Löcher, drückten den Rahmen ein, rissen die halbe Tür aus den Angeln. Als Letas Denken wieder einsetzte, stand sie in der Mitte der Hütte. Vornüber gebeugt schnappte sie nach Luft, glaubte, nicht genug einatmen zu können. Ihre Schulter pochte, dort, wo sie mit der Tür kollidiert war. Ihr linker Arm, den sie immer noch auf die Tür - die halbe Tür - hielt, zitterte so stark, dass der Lumos an der Spitze ihres Zauberstabs tanzende Achten auf ihre Netzhaut zeichnete. Es ließ nur langsam nach. Schnee stob durch die Tür. Sie konnte Fell sehen. »Argh«, kommentierte Scamander das Geschehen. Oh. Verdammt. Ihr Blick huschte durch die Hütte, doch obwohl sie ihn hörte, brauchte sie einen Moment, bis sie ihn sah. Er lag auf dem Boden, die gesunde Hand über dem Kopf, den verletzten Arm von sich gestreckt. Sein Zauberstab lag eine Armlänge von ihm entfernt und flackerte. »Scamander?«, flüsterte sie. »Leben Sie noch?« Er ließ die Hand von seinem Kopf gleiten und stöhnte. »Weiß ich nicht«, gestand er. Mühsam drückte er seinen Oberkörper hoch, bis er sie ansehen konnte. Er schüttelte den Kopf, blinzelte mehrfach. »Ugh. Warnen Sie mich das nächste Mal vor.« Unwillkürlich atmete Leta auf. Doch die Erleichterung hielt nicht lange. Da war ein Auge vor der Tür. Und es sah sie. Leta dachte nicht nach. »Aguamenti!« Der Wasserstrahl traf erst die Decke, dann die Wand. Die Tür traf sie erst im dritten Versuch. Es war ein Volltreffer, der mit einem Fauchen belohnt wurde. Das Auge verschwand. »Also?«, fragte sie, während sie den Zauberstab erneut auf die Tür richtete und ihren Blick durch die Hütte schweifen ließ. »Was würde Newt jetzt tun?« Vier Betten, notdürftig mit einem Paravent voneinander getrennt. Die Decken waren ordentlich zusammengelegt, der Koffer, den sie sehen konnte, geschlossen. Außer ihnen war niemand im Raum. Noch nicht. Ihr Blick huschte zurück zur Tür. Sie konnte weder Fell noch Augen sehen, doch es grollte verdächtig. Sie hörte Scamander schnauben. »Es streicheln?«, fragte er. In ihrem Augenwinkel konnte sie sehen, wie er sich aufsetzte. Vorsichtig betastete er seinen Arm. »Was weiß ich? Bei Tierwesen beschränkt sich mein Wissen auf Hippogreife und auf alles, was in einen Koffer passt.« Leta schnalzte missbilligend mit der Zunge, doch letztendlich ging es ihr nicht anders. Hogwarts mochte der sicherste Ort Großbritanniens sein - Tierwesen, die größer waren, als ein handelsübliches Klassenzimmer, begegnete man dort in der Regel nicht. Nicht einmal mit Newt. Und der war nicht hier. Ihr Blick fiel auf den Hocker, der zu ihrer Linken als Nachttisch fungierte. Er reichte gerade so für einen Krug mit Wasser und eine einsame Photographie. Es war nichts Besonderes. Leta erkannte es nur, weil Stella es ihr vor ein paar Tagen gezeigt hatte. Die Schwestern vom London First General. Aber wenn das Stellas Photographie war- »Nyauuuu«, forderte es von der anderen Seite der Tür. Leta warf ihr nur einen knappen Blick zu. Ein Auge blickte zurück. Natürlich. »Aguamenti!« Der Wasserstrahl zog einmal quer über die Tür. Ein unglückliches Fauchen antwortete ihm, doch Scamander schnaubte nur. Er saß immer noch auf dem Boden, doch sein Zauberstab lag sicher in seiner Hand. Auch das leichte Schwanken, mit dem er sich aufgerichtet hatte, war verschwunden. Langsam ließ er den Stab sinken. »Das wird Shere Khan nicht ewig aufhalten«, stellte er fest. Shere Khans Grollen nach zu urteilen, hatte er damit recht. »Ich frage Sie ungern, aber fällt Ihnen vielleicht etwas ein?« »Ich fürchte, mein Wissen über Tierwesen übersteigt auch nichts, was in einen Koffer-« Sie drehte sich um, zu dem Bett in der hinteren, rechten Ecke. Hinter dem Paravent konnte sie es kaum sehen, doch sie kannte den Koffer, der am Fußende stand. Das war ihre Hütte. Und ihr Koffer. Leta wirbelte herum. Mit straffen Schritten durchschritt sie den Raum. Vor ihrem Koffer ließ sie sich auf die Knie fallen. Routiniert öffnete sie die Schnallen. »Leta, was haben Sie vor?« »Wonach sieht es aus?« Sie griff nach allem, was ihr in die Finger kam. Bücher, Bleistifte und ein Mieder - alles landete ohne einen weiteren Blick hinter ihr auf dem Barackenboden. »Shere Khan mag nicht Newts Problem sein. Aber ich mache es jetzt zu seinem. Sagen Sie, Lieutenant, wie gut sind Sie in Expansionszaubern?« »Expan...sions...zau...ber...?«, stotterte er. Ob es das Wort war, an dem er sich verschluckte, oder der Anblick ihrer Unterwäsche, vermochte sie nicht zu sagen. Es war ihr auch egal. Resolut griff sie nach ihrem Koffer und drehte ihn einfach um. Papier flatterte ihr entgegen. Ein beherztes Schütteln später lösten sich noch ein paar Sickel aus der Innentasche. Dann war der Koffer leer. »Das ist gesetzlich streng reglementierte Magie, Leta.« »Sind Sie der Auror, oder ich?« Er öffnete den Mund, doch ein Kratzen von Krallen über Holz schnitt ihm das Wort ab. Nahezu zeitgleich blickten sie zur Tür. Gerade noch rechtzeitig, um einer Pfote, die so groß war wie Letas Koffer, dabei zuzusehen, wie sie sich durch die halboffene Tür schob. Bedächtig, beinahe schon vorsichtig, tastete sie über das Holz. »Nyauuuuuu.« In ihrem Augenwinkel presste Scamander die Lippen aufeinander. Er schluckte. »Ich ... kenne die Grundlagen.« »Wunderbar« Sie gab dem Koffer einen Stoß. Mit einem lauten Schaben kratzte er über die Holzdielen. »Hier.« »Was haben Sie vor?« »Das sagte ich doch schon.« Leta wandte sich von ihm ab, begutachtete stattdessen das Chaos, das sie auf dem Barackenboden hinterlassen hatte. Kurzentschlossen griff sie nach einem der Stifte. Einen Moment lang fuhr sie über das raue Holz. Sie hob den Zauberstab. Wenn Scamander recht hatte und das da draußen wirklich eine überdimensionale Miezekatze war ... »Sie wollen nicht wirklich-?«, fragte er. »Das ist lebensmüde, Leta.« Der Stift in ihrer Hand formte sich zu einem Ball. Ein stiller Engorgio ließ ihn zu einer Größe anschwellen, die sie bequem werfen konnte. »Dann sind Sie ja in bester Gesellschaft, Lieutenant.« Probeweise warf sie den Stiftball in die Luft und fing ihn wieder auf. In Slytherins Quidditchmannschaft zu spielen, wäre hier sicher von Vorteil gewesen. Doch da Letas Interesse für Mannschaftssport im Allgemeinen und Quidditch im Besonderen sich immer in Grenzen gehalten hatte, musste es so gehen. »Leta!« Sie stand auf. »Hey, Shere Khan!« Neben sich hörte sie Scamander seufzen. Noch einmal warf sie den Ball, fing ihn wieder. Das Geräusch, das dabei entstand, war laut genug, damit sie es selbst hörte. Und die Katze hörte es auch. Die Pfote, die gerade noch über den Rücken des Regals tatzte, hielt inne. Über dem Katzenarm schob sich ein Auge in ihr Blickfeld. Leta warf den Ball hoch, höher diesmal. Das Auge folgte der Bewegung. Auf. Und ab. Sie warf nochmal. Und nochmal. Die Pfote zog sich zurück. Dafür tauchte ein zweites Auge im Türloch auf. Auf und ab. »Na, interessiert dich das?« Auf. Und ab. »Und ob es das tut.« Und auf. Und ab. »Hier.« Leta streckte ihren Arm aus. Den Ball balancierte sie behutsam auf ihrer Handfläche. Mit der anderen Hand hob sie den Zauberstab. Sie atmete aus. Richtete den Stab auf den Ball. Atmete ein. Der Ball glomm unter ihrem Zauber in einem satten Orange. Sie riss den Stab durch die Luft. »Fang!« Der Ball zischte durch den Raum. Er verfehlte den oberen Türrahmen um wenige Zentimeter - und traf. Mit einem leisen Klonk! prallte er an Shere Khans Kopf ab und verschwand in der Dunkelheit. Die Riesenkatze starrte noch einen Moment lang in den Raum, dann setzte sie hinterher. Der Boden bebte. Ein purpurfarbener Schwanz jagte an der Tür vorbei und außer Sicht. Leta atmete durch. Der Auror hinter ihr schwieg. Vielleicht war er genauso entgeistert, wie sie. Sie ignorierte ihn. Langsamen Schrittes ging sie zurück zur Tür. Auf der anderen Seite konnte sie hören, wie einige hundert Kilo Katze durch den Schnee sprangen. Es kostete Überwindung, um den Zauberstab zu heben und durch die Tür zu spähen. Der Ball leuchtete immer noch. Gerade konnte sie ihn sehen, wie er durch die Luft flog. Mit dem Schlenker ihres Zauberstabes versetzte sie ihm einen Drall. Shere Khan landete, wo der Ball hätte aufkommen sollen. Einen Moment lang starrte er durch seine Pfoten, dann wirbelte er herum. Ein Sprung katapultierte ihn außer Sicht. Vielleicht konnte sie... Kurzentschlossen verpasste sie dem kläglichen Rest ihrer Eingangstür einen Tritt. Mit einem leisen Knarren gab er nach. Dumpf landete er im Schnee. Leta folgte ihm hinaus ins Freie, gerade weit genug, um dem dunklen Schatten dabei zuzusehen, wie er nach der kleinen, leuchtenden Kugel schlug. Erneut hob sie den Zauberstab. Der Zauber war schnell gesprochen, der Ball genauso schnell unterwegs. Es war einfach. Rechts. Links. Hoch. Wieder rechts. Weg von den anderen Hütten. Weg von Billy, Stella und den Patienten. Bedächtig folgte sie der Katze und ihrem Spielzeug. Katze. Tsk. Miezekatze. Dass ihre ... Freundschaft zu Newt ihr noch einmal den Hals retten würde. Es war beinahe zu einfach. Sie hätte beinahe gelacht. Sie schwang den Stab. Hoch. Links. Zu spät realisierte sie, das Shere Khan die Bewegung dieses Mal nicht beobachtete. Statt dem Ball zu folgen, setzte er nach rechts und vor. »Was zum-?!« Sie spürte noch das Beben des Sprungs. Dann war das Katzenwesen über ihr. Sie hörte sich nicht schreien. Sie hörte sich nicht fallen. Einen Moment lang hörte sie gar nichts. Wusste sie gar nichts. Leta schlug die Augen auf. Ihr Rücken pochte. Ihr Kopf dröhnte. Da war eine Pranke direkt neben ihrem Gesicht. Und überall ein tiefes Grollen. Sie stöhnte. Nur langsam hörte die Welt auf, sich zu drehen. Irgendwo musste ihr Zauberstab sein. Sein Lichtschein drang an der Pfote vorbei zu ihr. Er flackerte gerade noch hell genug, um die Fangzähne glänzen zu lassen, die kaum eine Handbreit über ihr schwebten. Fangzähne. Sie riss die Augen auf. Die Zähne blieben, wo sie waren. Um sie herum materialisierten sich Fell, Mähne, weitere Zähne. Und Augen. Sie schluckte. »B-braver S-Shere K-k-khan«, stotterte sie. Die Katze blinzelte, langsam. Das Grollen blieb. »G-Guter Shere K-khan. Friss mich- AH!« Ihr Schrei ging in einer Katzenschnauze unter, die sich in ihr Gesicht drückte. Eine feuchte Nase drückte gegen ihre Stirn. Fell füllte ihren Mund. Sie konnte nicht atmen- Leta hob die Arme, drückte, schlug, traf nur Fell- Gerade, als sie glaubte, zu ersticken, hob sich die Schnauze, gerade weit genug, um sie eine Reihe spitzer Zähne sehen zu lassen. Langsam, wie in Zeitlupe, öffnete das Monster sein Maul- Es waren nicht die Zähne, die ihr näherkamen. Einen Moment lang verstand sie nicht, was geschah. Irgendetwas drückte fest gegen ihre Brust, schob sich hoch bis zu ihrem Kinn und darüber hinweg. Nass und rau fuhr es über ihre Haut, über Mund, Nase, Stirn. Senkte sich wieder. Strich wieder über sie, über ihre Brust, ihre Schulter, ihr Ohr. Das Grollen wurde lauter. Zufriedener. Es erinnerte sie an Newt. Und an ... sie schloss die Augen. George. Verdammt. Sie wusste nicht einmal mehr, wo ihr Freund den alten, räudigen Knieselkater aufgegriffen hatte. Sie erinnerte sich nur noch daran, wie er ihr damals manchmal in den Gemeinschaftsraum gefolgt war. Morgens war sie dann aufgewacht, einen warmen, fetten Katzenleib auf der Brust und Fell im Mund. Wieder senkte sich die Zunge über ihren Oberkörper und strich über ihren Wollmantel. Vorsichtig streckte sie die Hände aus und strich über das lange Mähnenfell. Sie kicherte. »Du bist wirklich nur eine überdimensionale Miezekatze, hm?«, fragte sie leise. Ein grollendes Schnurren antwortete ihr. Leider beantwortete das nicht die Frage, wie sie unter ihrem neuen, pelzigen Freund jemals wieder hervorkommen sollte. Einen Augenblick lang verharrten sie deshalb so. Reglos. Kraulend. Sie hoffte nur, dass Shere Khan nicht auf die Idee kam, sich auf sie- »Hey!«, drang eine entfernte Stimme durch all das Fell. Wer-? »Suchst du den?« Scamander. Theseus Scamander. Über ihr hob Shere Khan den Kopf. Leta konnte nicht sehen, was Scamander tat, doch sie sah Shere Khans Reaktion. Langsam drehte er den Kopf. Links. Rechts. Irgendwo außerhalb ihres Blickfeldes leuchtete etwas, das kein Lumos war. Links. Es kam Bewegung in Shere Khan. Erst war es Anspannung, dann die Gewissheit, dass sein Schweif zuckte- Rechts. Leta riss die Arme über den Kopf. Eine Woge Schnee schwappte über sie, als sich das Katzenwesen abstieß. Sie hörte ihn aufkommen. Einmal. Zweimal. Scamanders Stimme dazwischen. Schnee hustend wälzte sie sich herum, sah den purpurnen Schweif, die Flanken, Scamander, ein letzter Satz- Der Ball verschwand vor Scamanders Füßen. Shere Khan folgte ihm. Tatzen voran verschwand auch er. Kopf. Rumpf. Schweif. Nyau. Scamander stürzte nach vorn, drückte auf etwas- Natürlich. Ihr Koffer. Leta rappelte sich auf, robbte auf allen Vieren in seine Richtung. Einen Moment lang sah sie dabei zu, wie seine rechte Hand mit den Verschlüssen rang. Sie streckte die Hände aus. Unter ihren Fingern klackten die Schnallen gehorsam. Unter ihnen fauchte es wütend, dann war alles still. Die Hände noch immer auf ihrem Koffer, atmete Leta durch. Jeder ihrer Muskeln brannte. Überall - in ihren Schuhen, unter ihren Röcken, in ihrem Mantel, war Schnee. »Geht es Ihnen gut?«, fragte Scamander, wie sie, über den Koffer gebeugt und japsend. »Vollgesabbert.« »Vollgesabbert?« Leta nickte. Sie konnte förmlich spüren, wie der Katzenspeichel auf ihrem Gesicht festfror. »Ich bringe Shere Khan heute Nacht nach Paris«, sagte sie in Richtung Koffer. »Wenn ich Glück habe, bekomme ich morgen früh einen Portschlüssel nach London.« Ihr Gegenüber prustete. »Sie wollen ihn wirklich zu Newts Problem machen.« »Haben Sie eine bessere Idee?« Ihre Blicke trafen sich. Da war dieses belustigte Funkeln in seinen Augen. »Nun, Sie könnten mich Theseus nennen.« Leta zog die Augenbrauen hoch. Sie war Slytherin genug, um ein Friedensangebot zu erkennen, wenn man es ihr unterbreitete. Sie schnaubte. »Sie könnten mich nicht beim Ministerium anschwärzen.« Scamanders Mundwinkel zuckten. Ein dünnes Grinsen schlich sich auf seine Lippen. »Einverstanden.« Dieses Mal erwiderte Leta das Lächeln. »Einverstanden. Theseus.« Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)