Die Wölfe 1 ~Der Patenmörder~ von Enrico (Teil I) ================================================================================ Kapitel 1: ~Das Leben des Einen~ -------------------------------- Vor ihm liegt sein Scharfschützengewehr. Antonio hat den Lauf auf den Vorsprung des Dachs aufgelegt, damit ihm die Arme vom Halten nicht schwer werden. Unter sich hat er seine Lederjacke ausgebreitet, die Beine weit auseinander gestreckt, um sein Gewicht auf eine möglichst große Fläche zu verteilen. Seine Haltung ist nicht unbequem, trotzdem schlafen ihm allmählich die Gliedmaßen ein. „Ziel auf die leere Flasche!“, fordert Butch. Der dunkelhäutige Hüne, der neben ihm liegt, sieht durch ein Fernglas. Antonio sucht den erwähnten Gegenstand und findet ihn auf einer Parkbank. Er atmet tief durch. Seine Haltung verspannt sich, all seine Gedanken richten sich auf das Ziel. Sämtliche Geräusche, seine ganze Umgebung blendet er aus. Ein letztes Mal prüft er seine Haltung, ein letztes Mal die Ausrichtung des Gewehrs, dann hält er den Atem an. Sein Zeigefinger legt sich um den Abzug. Er drückt ab. Der Rückschlag des Gewehrs trifft seine Schulter. In den Mundwinkeln Butchs bildet sich ein Lächeln. „Nicht schlecht. Schaffst du auch den Kronkorken?“ Antonio schaut durch den Sucher an seinem Gewehr. Unter der Parkbank verteilen sich Glasscherben, mitten unter ihnen liegt der Kronkorken. Antonio lädt die Waffe nach. Er übt jetzt schon ein ganzes Jahr, doch noch nie hat er mit dieser Waffe auf einen Kilometer etwas so Kleines getroffen. Angespannt fährt er sich über die Lippen. Noch ein kleines Stück nach rechts. Ein starker Wind zieht an seinen Haaren, er fegt über ihn und das Dach hinweg. Antonio schießt. Der Rückschlag verzieht die Sicht im Sucher. Er muss die Waffe neu ausrichten, um sehen zu können, ob er getroffen hat. „Mhm, fast. Warte das nächste Mal, bis es Windstill ist“, rät Butch. Antonio atmet aus. Es ärgert ihn, das nicht bedacht zu haben. Er lädt neu durch. Butch rutscht vom Dachrand zurück, das Fernglas stellt er auf dem Boden ab. „Lass uns Schluss machen. Sammle die leeren Patronenhülsen ein, dann sieh zu, dass du zum Boxclub kommst. Michael wird dein Training dort fortsetzen.“ Unwillig lässt Antonio den Blick auf den verfehlten Kronkorken gerichtet. Das muss doch zu schaffen sein. „Hast du mir zugehört?“, fragt Butch. „Ja!“ Antonio drückt ab. Wieder sucht er die Bank. Als er sie gefunden hat, ist der Kronkorken verschwunden. Ein Lächeln breitet sich auf seinem Gesicht aus. Butch kommt zu ihm. Der Schatten des großen Mannes legt sich über ihn. Erschrocken richtet Antonio seinen Blick nach oben. Mit finsterer Miene reißt Butch ihm das Gewehr aus der Hand. „Zisch ab!“ Augenblicklich rutscht Antonio vom Dachrand zurück. Schnell zieht er sich die Jacke über und sammelt die leeren Hülsen ein. „Die Waffe nehme ich mit, ich habe noch was zu erledigen“, sagt Butch. Er packt das Gewehr in die mitgebrachte Tasche, dann verlässt er das Dach über die Feuerleiter. Antonio sieht ihm schweigend nach. Es ist das erste Mal, dass er dem Mann zugeteilt wurde. Bisher hat er ihn nur hin und wieder in Michaels Begleitung gesehen, wenn sie zusammen in der Kantine aßen. Was genau diese Übung hier zu bedeuten hatte, ist ihm ein Rätsel. Für gewöhnlich übt er auf einem Schießstand oder auf dem Dach des Hochhauses seiner Auftraggeber. Dort gibt es auch spezielle Ziele. So einen offenen Schuss in die Stadt hat er das letzte Mal bei der Aufnahmeprüfung abgegeben, als er den Obdachlosen erschießen sollte. Bleibt zu hoffen, dass niemand auf sie aufmerksam geworden ist. Antonio sammelt die letzten Hülsen ein und packt sie in seine Hosentasche. Er verlässt das Dach auf dem selben Weg wie Butch. Zügigen Schrittes folgt er der Straße, um möglichst schnell den Ort des Geschehens hinter sich zu lassen. Immer wieder muss er dabei an die Kantine im Hochhaus denken, wo er sein Apartment hat. Das Knurren seines Magens begleitet ihn. Wie gern hätte er am Morgen etwas gefrühstückt. Auch gestern hat er nichts gegessen. Die Typen aus dem Boxclub haben ihm die Essensmarken für die ganze Woche geklaut. Geld hat er auch keines, um sich irgendwo etwas zu kaufen. Aber zum Glück bekommt er heute von seinem Ausbilder neue Marken. Wenn er sie nur schon in den Händen halten würde. Wie gut, dass es nicht mehr weit ist. Nur noch vier Blocks, dann ist er zu Hause. Sein Magen zieht sich krampfhaft zusammen, ein Stechen zwingt ihn dazu langsamer zu gehen. Seine Kehle ist rau und wie zugeschnürt. Übelkeit überkommt ihn. Mit aller Kraft drängt er den Brechreiz zurück. Ein trüber Schleier legt sich über seine Augen. Die Welt verschwimmt. Seine Beine wollen ihn nicht mehr tragen. Er muss stehen bleiben, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Mit den Händen sucht er nach Halt und findet ihn in den Maschen eines Drahtzaunes. Immer wieder atmet er durch, nur langsam will sich das Stechen in seinem Magen beruhigen. Das Schwindelgefühl legt sich, sein Blick klart auf. Hinter dem Maschendrahtzaun erstreckt sich ein großer Basketballplatz. Etliche Jugendliche lungern dort herum. Dahinter erhebt sich ein großes Backsteingebäude. Seine alte Schule. Es ist lange her, seit er selbst Schüler hier war. Damals hatte seine Mutter noch gelebt und er war nicht auf das Wohlwollen seiner Ausbilder angewiesen. Er hat zu dieser Zeit nicht zu schätzen gewusst, wie schön es ist, zur Schule zu gehen. Der Unterricht hat ihn meist gelangweilt und er hat ihn oft geschwänzt. Jetzt wäre er froh, wenn er nur einen einzigen Tag dort verbringen dürfte. Ein ganz normaler Vierzehnjähriger sein und sich mit Freunden verabreden. Was wäre das für ein Leben? All die Jungen und Mädchen dort sind so ausgelassen. Immer wieder scherzen sie miteinander. In kleinen Gruppen stehen sie zusammen und unterhalten sich über die Belanglosigkeiten ihres Alltags. Das ist so ganz anders als seine Welt. Wenn sich überhaupt jemand mit ihm unterhält, dann im Befehlston und nur über seine nächste Aufgabe. Dabei kommt Antonio lediglich ein 'Ja' oder 'Verstanden' über die Lippen. Wirklich gesprochen hat er schon seit Wochen nicht mehr. Antonios Aufmerksamkeit bleibt an einem blonden Jungen hängen, welcher einem Ball nachläuft. Als sich ihre Blicke treffen, hält er inne. Die stechend blauen Augen des Jungen ziehen Antonio in seinen Bann. Argwöhnisch mustert der Fremde ihn, als wenn er ihm direkt in die Seele blicken kann. So finster wie möglich versucht Antonio dem Blick standzuhalten, doch es gelingt ihm nicht. Ein seltsam fremdes Gefühl nagt an ihm. Er sieht weg und kramt in der Jacke nach seiner Taschenuhr. Verdammt! Er hat fast eine halbe Stunde für den kurzen Weg gebraucht. Michael wird ihn vierteilen. Ohne noch einen weiteren Moment kostbarer Zeit zu vergeuden, rennt Antonio los. Wenig später steht er vor einer großen Eisentür. Das Herz hämmert ihm gegen den Brustkorb. Hier ist er schon so oft geschlagen worden. Michael nennt das Training, doch bis jetzt hat Antonio nichts dazu gelernt. Zögernd legt er die Hand auf die Klinke. All seine Sinne sagen ihm 'lauf weg'. Er atmet tief durch, dann zwingt er sich, die Tür zu öffnen. Er betritt eine große Halle, ein Dutzend Boxsäcke hängen hier von der Decke. In der Mitte stehen zwei umzäunte Ringe, in denen jeweils zwei Jungen mit bandagierten Händen trainieren. Sie tragen Turnschuhe und Shorts, ihre Oberkörper sind nackt. Außer den vier Jugendlichen ist noch ein Mann hier. Er steht an dem hintersten Boxsack und schlägt mit seinen Fäusten auf ihn ein. Antonio muss schlucken, als ihn die Vorahnung der Schläge überkommt, die bald ihn treffen werden. Nur zwei Schritte wagt er zu gehen, während hinter ihm die Tür ins Schloss fällt. Der Knall lässt alle Anwesenden in seine Richtung schauen. Er versucht sich klein zu machen, doch hier gibt es keine Deckung vor ihren Blicken. Obwohl Antonio nicht aufsieht, spürt er ganz deutlich, dass Michael ihn mustert. „Du bist spät dran!“, sagt er. Antonio fährt zusammen. Noch immer traut er sich nicht einen weiteren Schritt zu gehen. Ihm fällt auch keine passende Entschuldigung ein, also schweigt er. „Na wenigstens kommst du mir heute nicht mit irgendwelchen Ausreden. Los, beweg dich und komm her!“ Wie in Trance setzt Antonio seinen Weg fort. Den Blick lässt er auf den Boden gerichtet. Seine Hände sind eiskalt, seine Arme zittern. „Wie lief es mit Butch? War er zufrieden?“, will sein Ausbilder wissen. Antonio erreicht ihn. Er kennt die Antwort nicht, also hebt er die Schultern. Michael rollt mit den Augen. „Zieh deine Jacke und das Hemd aus! Ich will sehen, ob du seit gestern etwas dazu gelernt hast.“ Antonio gehorcht, nach und nach entledigt er sich seiner Sachen. Michael scheucht unterdessen die zwei Jugendlichen aus dem hintersten Ring und steigt dann selbst hinein. Antonios Oberkörper ist mit blauen Flecken übersät, ein Großer zieht sich über seinen linken Brustmuskel, ein tief lila gefärbter schlängelt sich über seine Schulter. Etliche weitere verteilen sich in allen möglichen Farben, punktuell über den Rest seines mageren Körpers. Er steigt zu seinem Ausbilder in den Ring. Ungeduldig mustern ihn die dunklen Augen Michaels. Die schwarzen Haare rahmen das kantige Gesicht ein. Seine Muskelmasse lässt Michael wie einen Schrank wirken. Er ist gut zwei Meter groß. Über seinen Oberkörper zieht sich ein asiatischer Drache, der das mit scharfen Zähnen gespickte Maul weit aufreißt. Die restlichen Jugendlichen haben ihr Training unterbrochen, sie kommen zusammen und platzieren sich jeder an einer Ringseite. Antonio wirft ihnen abschätzige Blicke zu. Wie er diese schadenfrohen Mistkerle hasst. „Hey! Sieh mich gefälligst an!“, fordert Michael. Erschrocken richtet Antonio seine Aufmerksamkeit auf ihn. Sein Ausbilder hat die Arme vor der Brust verschränkt. Abfällig schüttelt er den Kopf und befiehlt: „Greif mich an!“ Antonio zögert. Gestern hatte Michael seinen ersten Schlag geblockt, bevor Antonio zu einem weiteren Angriff gekommen war, traf ihn schon ein Tritt gegen die Beine und ließ ihn zu Boden gehen. „Nun mach schon!“, schreit Michael. Wieder zuckt Antonio zusammen, Angst kriecht ihm den Rücken hinauf und lähmt ihn. Als er sich nicht rührt, macht Michael einen Schritt auf ihn zu. Instinktiv reißt Antonio die Arme vor das Gesicht und blockt den Angriff ab. Vibrierender Schmerz verteilt sich auf seiner Haut. Ein neuer Hieb trifft ihn am Oberarm, dann einer an der Hüfte. Antonio zieht die Luft scharf ein. Scheu sieht er zu Michael auf. Es ist das erste Mal, dass er nach drei Angriffen seines Ausbilders noch steht, doch vergeblich sucht er im Gesicht des Mannes nach einem anerkennenden Blick. Michaels Miene ist so ernst wie immer. Er dreht sich einmal um sich selbst. Sein Tritt trifft Antonio in die Seite. Die Wucht hebt ihn von den Beinen und lässt ihn rücklings auf die Matte fallen. Krampfhaft umschlingt Antonio die getroffene Stelle. Die Luft bleibt ihm weg. Brechreiz steigt ihm in die Kehle, er würgt und hustet. „Steh auf!“, fordert Michael. Keuchend sieht Antonio zu ihm auf. Vergeblich versucht er sich nach oben zu drücken. Seine Muskeln wollen ihm nicht gehorchen. Lauernd beobachtet Michael ihn und legt die Hände an die Hüften. Er seufzt tief, dann sagt er: „Du bist wirklich zu nichts zu gebrauchen! Verschwinde! Deine Essensmarke für heute kannst du vergessen. Wer nicht kämpft, braucht auch nicht essen.“ Michael bedeutet ihm, mit einem Wink seiner Hand, dass er entlassen ist. Unschlüssig sieht Antonio ihn an. „Was denn? Schaffst du es nicht mal aus dem Ring raus?“, fragt Michael abschätzig. Antonio versucht aufzustehen, doch es geht nicht. Michael packt seinen Arm, mit einem Ruck stellt er ihn auf die Füße. „Los, geh mir aus den Augen!“, fordert er. Antonio beißt sich auf die Unterlippe, Tränen steigen ihm in die Augen. Stumm wendet er sich ab und schlüpft unter der Ringabgrenzung hindurch. Langsam trottet er zu seinen Sachen und zieht sich sein Hemd an. Die anderen Jungen rücken näher zusammen, sie beginnen zu tuscheln: „So ein Schwächling.“ „Aus dem wird nie ein richtiger Drache.“ Antonio greift nach seiner Jacke. So schnell ihn seine Beine tragen können, verlässt er die Halle. Was wissen diese Idioten denn schon? Bei ihnen ist Michael nie so streng. Dieser ganze Kampfsportmist liegt ihm eben nicht. Das wird er nie lernen. Eilig läuft er den Flur entlang zum Fahrstuhl. Das Gitter reißt er auf und steigt ein. Für heute hat er genug davon, ein Drache zu sein. Er will nur noch in sein Zimmer. Im Fahrstuhl wählt er den neunten Stock. Mit einem Ruck setzt sich die Kabine in Bewegung. Jetzt wo er allein ist, wo ihn keine feindseligen Blicke mehr treffen, kommt er nicht mehr gegen die Tränen an. Heiß laufen sie ihm über die Wangen. Er ist kein Schwächling, er hat die Aufnahmeprüfung bestanden und dafür sogar einen Menschen getötet. Hat das nicht gereicht? Antonio ist längst ein Drache, warum behandeln sie ihn nicht endlich so? Der Fahrstuhl stoppt, zügig setzt Antonio seinen Weg fort. Er folgt dem Flur, von welchem etliche Türen abgehen. Noch im Laufen kramt er seinen Schlüssel aus der Hosentasche. Schon von weitem kann er das Miauen seines Katers hören. Schabende Geräusche gehen von einer der Türen aus. Antonio bleibt vor ihr stehen und schließt auf. Ein weißer Perser zwängt sich durch den geöffneten Spalt. Schnurrend beginnt er Antonios Beine zu umrunden. Eng schmiegt er seinen mageren Körper an ihn. Antonio bückt sich nach dem Tier und nimmt es auf den Arm. Mit ihm geht er in sein Einzimmerapartment und knallt die Tür nach sich zu. Den Kater drückt er fest an sich und lehnt sich mit dem Rücken an die Wand. Langsam lässt er sich auf den Boden sinken. „Es tut mir leid, Snowflake. Ich habe heute nichts für dich“, flüstert er dem Kater ins Ohr. Das Tier miaut und reibt seinen Kopf an ihm. Langsam versiegen Antonios Tränen, sein Blick schweift umher. Ein einfacher Kleiderschrank, ein Bett, ein kleiner Tisch, nichts davon gehört ihm. Er ist hier nur geduldet, solange er tut, was man ihm befiehlt. „Auf der Straße war es schlimmer“, versucht Antonio sich einzureden, auch wenn er weiß, dass es nicht stimmt. Hätte er sich damals doch nur nicht darauf eingelassen Botengänge für diese Drachen zu erledigen. Jetzt wo er schon so viel gesehen hat, wo er selbst schon einen Mann getötet hat, lassen sie ihn nie lebend gehen. Seine Hand wandert an das Kreuz um seinen Hals. Mit dem Daumen fährt er über den roten Rubin in der Mitte. „Mutter“, flüstert er. Kapitel 2: ~Das Leben des Anderen~ ---------------------------------- Ich gähne herzhaft, während ich meinen Spind aufschließe, um die Schulsachen für den Unterricht zu holen. Es ist einfach unmenschlich schon um Sieben aufstehen zu müssen, nur um pünktlich acht Uhr in der Schule zu sein. Ich hätte vergangene Nacht nicht bis zwei Uhr aufbleiben und meinem Bruder in der Werkstatt helfen sollen. Aber ich wollte nicht, dass er heute wieder Überstunden schieben muss, denn dann wäre der Ausflug in den Park einmal mehr ins Wasser gefallen. Ich ziehe die Spindtür auf. Etliche gefaltete Zettel fallen mir entgegen, sie sammeln sich vor meinen Füßen. Nicht weit entfernt steht eine Gruppe Mädchen. Die Schulbücher fest an sich gepresst, schauen sie mich lachend an, während sie mit ihren Haaren spielen. Zwei von ihnen winken mir zu. Ich verdrehe die Augen und ignoriere sie. Stattdessen befreie ich meine Schulbücher von den anderen vier Zetteln, welche sich darauf türmen. Was soll ich damit? Ich kenne diese Mädchen nur vom Sehen, habe noch kein einziges Wort mit ihnen gewechselt. „Na, wie viele sind es heute?“, spricht mich mein Freund Alex an. Er öffnet den Spind neben meinem und schiebt sich die viel zu große Brille auf der Nase zurecht. „Keine Ahnung“, entgegne ich. Die Zettel lasse ich unbeachtet liegen. „Willst du nicht lesen, was drin steht?“, fragt Alex. Er bückt sich nach einem der Papierschnipsel. „Nein.“ Es ist immer dasselbe: Ob ich nicht ihr Freund sein will, wie toll sie mich doch finden, wie hübsch ich bin. Ich weiß das alles, ich brauche ihre Bestätigung nicht und ganz besonders brauche ich keine Freundin, die wie eine Klette an mir klebt. „Du kannst sie gern haben, wenn du magst. Ich kann damit nichts anfangen.“ Ich hole mein Mathebuch heraus, dann schließe ich den Spind. Die Mädchen tuscheln, sie beobachten mich noch immer. Ich schenke ihnen ein Grinsen und werfe ihnen einen Handkuss zu. Sie kichern, ihre Wangen werden rot. Warum freuen sie sich denn darüber? Ich will sie doch nur aufziehen. Weiber, ich werde aus ihnen einfach nicht schlau. „Was soll ich damit, die sind nicht an mich gerichtet. Du bist echt undankbar. Ich hatte noch nie einen Zettel in meinem Spind.“ Ich lächle, als mir eine Idee kommt. „Dann schmeiß ich dir morgen einen von meinen rein.“ „Du Arsch! Das ist doch nicht dasselbe.“ Ein Mädchen mit blonder Lockenmähne hält auf uns zu. Als sie meinen Spind erreicht, bückt sie sich nach den Zetteln. Sie sucht sich einen aus und liest ihn vor: „Du hast so schöne blaue Augen, wollen wir nicht Freunde sein?“ Abfällig schüttelt Anette den Kopf. „Denen fällt auch nichts Neues mehr ein.“ Böse funkelt sie die Mädchen an. Die Schülerinnen ducken sich unter ihrem strengen Blick. Gegenseitig schubsen sie sich an, dann verschwinden sie in ihrem Klassenzimmer. „Vielleicht solltest du mit Anette gehen, dann bist du die anderen Weiber los“, flüstert mir Alex zu. Ich schüttle abwehrend mit dem Kopf. Anette ist meine beste Freundin, das reicht mir. „Was tuschelt ihr da so geheimnisvoll?“, will sie wissen. Ich winke ab. Ein schrilles Läuten halt durch die Gänge. Mrs. Miller geht an uns vorbei. In ihrer Hand schüttelt sie eine Glocke, das Zeichen für den Beginn des Unterrichts. Anette geht zwei Türen weiter zu den Mädchen, während ich und Alex im Klassenraum der Jungen verschwinden. Mathe in der ersten Stunde, gibt es etwas Schlimmeres? Mr. Moore am frühen Morgen ertragen zu müssen, grenzt an Folter. Der steife Mann mit der Glatze, in seinem feinen Anzug, hat heute Henry als Opfer erwählt. Der arme Kerl hat sein Mathebuch vergessen, nun kassiert er dafür den dritten Rohrstockhieb auf den Hintern. Das Knallen des Stockes lässt uns alle zusammenzucken. Jeder von uns hat sich diese Strafe schon einmal eingehandelt. Alex trägt noch immer einen dunkelblauen Striemen über dem Handrücken, weil er eine Frage Mr. Moors nicht beantworten konnte. Wie oft habe ich mir schon vorgestellt, den Spieß umzudrehen und dem Kerl zu zeigen, wie weh so ein Rohrstockhieb tut. Der letzte Schlag verklingt, Henry darf sich setzen, wenn er nur noch sitzen könnte. Der arme Kerl rutscht auf seinem Stuhl hin und her und findet keine schmerzfreie Position mehr. Mr. Moor kommt in meine Sitzreihe, er sammelt die Hausaufgaben ein und teilt die Klassenarbeit der letzten Woche aus. Ich gebe meinen Zettel ab und nehme die Arbeit entgegen. Heute hat er nichts zu beanstanden. Mathe fällt mir zum Glück leicht. Mit dickem Rotstift ist auf meiner Arbeit ein A- geschrieben. Als Mr. Moore hinter mir verschwindet, schiebe ich mein Heft hoch. Darunter habe ich meinen Zeichenblock versteckt. So lange Mr. Moore mit dem Verteilen der Arbeiten beschäftigt ist, kann ich meine Zeichnung vervollständigen. Den Kopf des Wolfes habe ich schon fertig, nun arbeite ich den Flügel aus, der wie Flammen von ihm abstehen soll. Ein großer Schatten fällt auf mein Blatt. Erschrocken schaue ich auf. Ein Stockhieb trifft meinen Handrücken, ein brennendes Mal entsteht. Ich beiße die Zähne fest zusammen, um nicht aufschreien zu müssen und reibe über die wunde Haut. „Was ist das?“, will Mr. Moore wissen. Er nimmt sich die Zeichnung. Einen Moment lang sieht er sie an, dann zeigt er sie allen Schülern. „Kunst, meine Herren! Wir haben einen Künstler unter uns!“, ruft er spöttisch. Als wenn der Kerl Ahnung davon hat. Finster mustere ich ihn, eine passende Antwort liegt mir auf den Lippen, als einer der Jungen hinter mir ruft: „Das sieht toll aus Enrico!“ „Ja, zeichnest du mir einen Drachen?“, ruft sein Banknachbar. „Bekomme ich die Zeichnung, wenn du sie fertig hast?“, will ein Dritter wissen. Ich drehe mich nach ihnen um. „Was für einen Drachen willst du denn haben?“ „Einen mit weit aufgerissenem Maul und scharfen Krallen!“, antwortet mir mein Klassenkamerad. „Ruhe!“, brüllt der Lehrer. „Dreh dich um! Hände auf den Tisch!“, fordert er. Augenblicklich verstummen alle Gespräche. Ich wende mich Mr. Moore zu. „Muss das wirklich sein?“ Sein strenger Blick lässt mir keine Wahl. Gehorsam lege ich die Hände mit der Innenseite nach oben auf den Tisch. Mr. Moore hebt den Rohrstock, er holt weit aus und schlägt mit aller Kraft zu. Im letzten Moment ziehe ich meine Finger weg. Der Stock knallt auf die Tischplatte und bricht in der Mitte, das kurze Ende fliegt ihm entgegen. Grinsend sehe ich zu ihm auf. „Daneben!“, sage ich herausfordernd. Das wollte ich schon immer machen. Ich lache ihn frech an. Mr. Moor wird rot. Ein Raunen geht durch die Bankreihen, die Schüler beginnen zu tuscheln. „Das wird ein Nachspiel für dich haben, junger Mann!“, schreit Mr. Moor. Der abgebrochene Stab zittert unter seinem festen Griff. „Ja, ist gut!“, entgegne ich. Es ist nicht das erste Mal, dass mir eine Strafe aufgebrummt wird. Für diese Aktion nehme ich das gern in Kauf. „Geh mir aus den Augen!“, befiehlt er. Gehorsam erhebe ich mich, schiebe meinen Stuhl an den Tisch und setze mich in Bewegung. Im Vorbeigehen greife ich mir die Zeichnung, die er noch immer in der Hand hält, dann verlasse ich den Raum. Die Gespräche meiner Mitschüler werden lauter, während sie mir nachsehen. „Ruhe! Seid still!“, schreit der alte Mann. Ich lasse die Tür hinter mir ins Schloss fallen. Der Rohrstock-Zwischenfall ist auch in der Mittagspause noch Gesprächsthema Nummer eins auf dem Schulhof. In allen Ecken kann ich meine Mitschüler darüber tuscheln hören. Selbst das Lehrpersonal erwähnt immer wieder meinen Namen. Egal wo ich hinkomme, alle Blicke richten sich auf mich. Wenn ich das meinem großen Bruder erzähle, wird der sich sicher kaputtlachen. Mit den Gedanken an den versprochenen Tag im Park, laufe ich zu meinen Freunden, als mich einer der Jungs aus der Zehnten anspricht: „River, warte mal!“ Ich bleibe stehen. Ein Basketball schießt auf mich zu, ich schaffe es gerade noch, die Hände hochzuziehen, um ihn vor meinem Gesicht abzufangen. Irritiert betrachte ich Taylor. Der Kerl ist gut einen Kopf größer als ich, er trägt das Trikot der Schulbasketballmannschaft, deren Kapitän er ist. Sein Blick ist anerkennend auf mich gerichtet. „Gute Reaktion! Komm mal hier rüber!“, ruft er. Ich gehe zu ihm. „Stimmt es, dass du den Moore heute verarscht hast?“, fragt Taylor. „Der ist selbst schuld, wenn er nicht schnell genug zuschlagen kann“, entgegne ich und zucke mit den Schultern. „Respekt! Das hat sich bisher nicht mal einer von uns getraut.“ Taylor schlägt mir auf die Schulter. Ich lächle stolz. „Komm, spiel doch eine Runde bei uns mit!“ Ist das sein Ernst? Das durfte bisher noch keiner aus der Neunten. Ich bin mir nicht sicher, ob das Angebot ehrlich gemeint ist. Taylor lächelt und ich bekomme das Gefühl, seinen Worten vertrauen zu können. „Klar, warum nicht? Aber ich bin darin nicht besonders gut“, gebe ich zu. Es ist lange her, dass sich mein Bruder die Zeit genommen hat, mit mir Basketball zu spielen und allein habe ich ewig keine Körbe mehr geworfen. „Keine Sorge, das bringen wir dir schon bei“, sagt Taylor und legt mir seine Hand auf die Schulter, er schiebt mich zu seinen Freunden. Sie kommen alle zusammen und verteilen sich um mich. Ich bin der Kleinste in ihrer Mitte. In ihrem Schatten komme ich mir verloren vor. „Das ist der Knirps, an dem sich der Moore den Rohrstock zerbrochen hat. Sag mal, wie heißt du eigentlich mit Vornamen?“, fragt Taylor. „Enrico.“ „Okay, Enrico, du spielst bei uns mit!“, sagt einer der anderen Jungen. Über seinem Trikot hat er ein rotes Band geschnürt, wie die Hälfte der Mannschaft, sicher um die beiden Teams auseinander halten zu können. Ich nicke, dann verteilen sich alle auf dem Spielfeld. Das Spiel beginnt. Ich komme nicht mal in die Nähe des Balls. Sie alle sind viel schneller als ich. Trotzdem macht es Spaß mit ihnen zu wetteifern. Die beliebtesten Jungen der Schule und ich mitten unter ihnen, das glaubt mir morgen keiner mehr. Einer meiner Mannschaftskollegen erobert sich den Ball, er wirft ihn weit über die Köpfe aller hinweg und versenkt ihn sicher im Korb. Der Ball springt auf den Boden und rollt bis an den Zaun. „Ich hole ihn!“, rufe ich und laufe ihm nach. Als ich ihn aufhebe, fällt mir ein Junge hinter dem Maschendraht auf. Seine smaragdgrünen Augen mustern mich. Matt und müde schaut er mich an. Seine schwarzen Haare sind verschwitzt, sie kleben ihm im Gesicht. Er atmet schwer und ist leichenblass. Seine Gestalt ist dürr, die Wangen eingefallen. Als er sich meines Blickes bewusst wird, schaut er finster. Ich lächle ihn an, doch seine Gesichtszüge hellen sich nicht auf. Was für ein seltsamer Kerl. Seine Klamotten sind komplett schwarz: Die Stoffhose, das Hemd, die Lederjacke. Die Farbe lässt ihn noch dürrer wirken. Warum hat er überhaupt so dickes Zeug an, in dieser Mittagshitze? Kein Wunder, dass ihm der Schweiß aus den Haaren tropft. Dunkel kann ich mich erinnern, ihn hier schon mal gesehen zu haben. Dabei geht er gar nicht auf unsere Schule und die nächste ist zehn Busstationen entfernt. Er wendet den Blick ab und sieht auf seine Taschenuhr, seine Augen weiten sich. Wo er die wohl her hat? So etwas Teures tragen doch nur Erwachsene bei sich. Als ich ihn ansprechen will, läuft er los. Mein Blick fällt auf die Rückseite seiner Lederjacke. Ein roter Drache ist dort aufwendig hineingearbeitet. Wie toll! So eine hätte ich auch gern. Wenn ich ihn das nächste Mal sehe, sollte ich ihn unbedingt fragen, wo er sie gekauft hat. „Enrico, was brauchst du so lange?" „Wir wollen weiterspielen!" „Wo bleibt der Ball?", rufen sie. „Ich komme ja schon." Ich laufe zum Spielfeld zurück, doch als ich vor dem Kapitän stehen bleibe, kann ich nicht anders, als dem Jungen noch einmal hinterher zu schauen. „Kennst du den etwa?“, fragt Taylor. „Nein, du?“, frage ich. „Nicht wirklich, aber er ist hier mal zur Schule gegangen.“ „Wirklich? Er ist mir nie aufgefallen“, sage ich. „Kein Wunder, die meiste Zeit war er eh nicht da und wenn, hat er kein Wort gesprochen, mit niemandem.“ Die Mannschaft wird auf unser Gespräch aufmerksam. Sie kommen zusammen und verteilen sich um uns. „Der Typ ist seltsam, oder?“, fragt Einer von ihnen. „Man erzählt sich, er gehört einer Gang an“, sagt ein Anderer. Einer Gang? Der? Ist er dafür nicht zu jung und zu schmächtig? „Halt dich besser von ihm fern. Der Kerl hat sicher Dreck am Stecken“, rät der Kapitän. Ich schaue noch einmal in die Straße, in die der Junge verschwunden ist. Gefährlich? Das halbe Hemd? Kann ich mir nicht vorstellen. „Los kommt, noch ein kurzes Spiel, bevor die Pause zu Ende ist“, ruft der Kapitän. „Du auch, Enrico!“ Die Pause und der Tag mit meinen neuen Freunden gehen viel zu schnell vorbei. Irgendwann finde ich mich vor dem großen Schulgebäude wieder. Alex hat heute Schlagzeugunterricht, Anette muss arbeiten und die Basketballer haben noch zwei Stunden. So warte ich ganz allein auf meinen Bruder, der sich heute wieder viel Zeit lässt. Als er endlich in Sichtweite kommt, schauen seine blauen Augen grimmig, seine ganze Haltung ist angespannt. Bis er mich erreicht, sieht er an mir vorbei und auch als er bei mir ist, würdigt er mich nur eines kurzen Blickes. „Kein Wort will ich von dir hören!“, sagt er und geht an mir vorbei. Ohne anzuhalten verschwindet er im Schulgebäude. Ein ungutes Gefühl gräbt sich in meinen Magen. Ich schlucke schwer und sehe ihm nach. Mr. Moore spielt also seine Trumpfkarte aus. Meine Eltern kann er nicht rufen lassen, da ich keine mehr habe, aber meinen älteren Bruder schon. Was wird Raphael wohl zu dem Vorfall sagen? Ich habe angenommen wir können herzhaft darüber lachen, so wie ich es den ganzen Tag mit meinen Mitschülern getan habe. Seufzend setze ich mich auf eine der Steintreppen vor dem Gebäude. Das versaut uns sicher den Ausflug in den Park. Dämlicher Mr. Moore, kann er seine Niederlage nicht einmal auf sich sitzen lassen? Was muss er uns auch immer schlagen? Ich betrachte meinen Handrücken, über den sich noch immer ein tiefroter Striemen zieht. Soll ich mir das immerzu gefallen lassen? Manchmal wirft er sogar seinen Schlüsselbund nach uns. Einmal hat er mein rechtes Auge damit nur um Haaresbreite verfehlt. Ich habe doch nichts weiter gemacht, als meine Hände im richtigen Moment wegzuziehen. Ob Raphael das auch so sehen wird? Ich schaue zur Tür. Mein Bruder ist noch immer nicht zurück, das dauert vielleicht lange. Gibt es denn so viel über mich zu sagen? Ich schaue am Gebäude nach oben zur Uhr. Er ist da jetzt schon eine halbe Stunde drin. Ob Raphael meinetwegen Probleme bekommt? Seine Vormundschaft für mich steht sowieso auf wackligen Beinen. Ich hätte die Strafe einfach über mich ergehen lassen sollen. Seufzend sehe ich die Straße entlang. In der Ferne glänzt der große See in mitten des Central Parks. Die Sonne brennt heiß vom Himmel, die Luft über dem Asphalt flimmert. Endlich öffnet sich die Tür. Mein Bruder kommt die Treppen hinunter. Sein Blick ist nachdenklich. Ich kann nicht einschätzen, wie die Sache für mich ausgegangen ist. Rasch erhebe ich mich. „Und?“, frage ich. Der feste Blick meines Bruders lässt mich erschaudern. Er holt weit aus und schlägt mir mit der flachen Hand ins Gesicht. „Was fällt dir ein, deinen Lehrer zu demütigen?“, schimpft er. Ich reibe mir über die getroffene Wange. Schuldbewusst senke ich den Blick und suche nach einer passenden Antwort: „Vater hat immer gesagt, ich soll mich wehren, wenn mich jemand angreift.“ Unseren toten Vater ins Gespräch zu bringen, kocht ihn immer weich, doch heute bleibt Raphael ernst. „Das galt nicht für deinen Lehrer, sondern für den Nachbarsjungen, der dich verprügelt hat.“ „Soll ich mich also von dem Kerl verprügeln lassen, nur, weil er erwachsen ist?“, frage ich herausfordernd. Raphael überlegt einen Moment, er verschränkt die Arme vor der Brust. „Ich reiße mir den Arsch auf, damit du zur Schule gehen kannst und nicht ins Heim musst. Halt wenigstens noch ein Jahr lang die Füße still und mache deinen Abschluss. Ich will mir nicht auch noch über deine Zukunft Sorgen machen müssen.“ Reumütig schweige ich. Ich weiß wie hart er arbeitet, damit wir zusammen bleiben können. Er hat sogar die Schule geschmissen, um Geld zu verdienen. „Überlegen sie etwa mich von der Schule zu werfen?“, frage ich. „Nein, aber du darfst einen ganzen Monat den Schulhof fegen. Außerdem bist du in letzter Zeit ständig aufgefallen und abgesehen von Mathe, in jedem Fach um eine Note abgesackt. Ich kann dir kein College bezahlen Enrico, du musst versuchen ein Stipendium zu bekommen.“ Geht das wieder los. Es ist mir zu anstrengend in jedem Fach ein A zu schreiben. Ich will auch noch ein bisschen was vom Leben haben und nicht immer nur lernen. Reicht ein B+ nicht aus? Außerdem, wer sagt denn, dass ich unbedingt aufs College muss? „Ich könnte auch einfach Mechaniker werden, wie du“, schlage ich vor. „Nein! Du lernst was Anständiges, damit du später eine Familie ernähren kannst!“ Dieses Thema haben wir bestimmt schon hundert Mal diskutiert. Dabei bringt er uns doch mit seinem Job auch durch. Warum muss ich es denn unbedingt sein, der irgendwann viel Geld verdient? Der finstere Blick meines Bruders lässt keine Diskussion zu. „Gehen wir heim!“, sagt er streng. „Aber wir wollten doch in den Park!“, protestiere ich. „Ich muss arbeiten.“ Was? Wir haben gestern extra bis zwei Uhr geschuftet, damit er heute einen freien Tag hat. „Schau nicht so entsetzt. Mit der Sonderschicht haben wir endlich genug Geld zusammen, um das Dach reparieren zu können.“ Na toll! Das Dach ist mir egal. Dann stelle ich halt beim nächsten Regen noch einen Topf auf. Die Zeit mit meinem Bruder ist mir viel mehr wert als ein trockenes Haus. „War ja klar, dass du dein Versprechen wieder nicht hältst“, murre ich und stopfe meine Hände in die Hosentaschen. Während des Laufens trete ich einen Kieselstein vor mir her. „Wir holen das am Wochenende nach“, schlägt er vor. Gleichgültig zucke ich mit den Schultern. Als wenn er nicht auch am Wochenende arbeiten würde. Warum nimmt er sich nicht einen Schlafsack und übernachtet gleich in der Werkstatt? Verdammtes Geld, wenn wir doch nur genug davon hätten. Vielleicht hat er ja Recht und ich sollte etwas lernen, womit ich reich werde. Banker oder so. Dann reiße ich unsere alte Hütte ab und baue uns ein anständiges Haus. Kapitel 3: ~Kekse und Eis für Antonio~ -------------------------------------- Das erste Licht des Tages weckt Antonio. Er sitzt noch immer an der Wand und hat die Beine angewinkelt. Auf seinem Schoß hat sich Snoflake eingerollt, er schnurrt leise. Antonio wischt sich den Schlaf aus den Augen. Sein Kater hebt den Kopf, er brummt erst leise, dann faucht er. In großen Sprüngen verschwindet er unter dem Bett. Nur seine gelben Augen leuchten aus der Dunkelheit hervor. Auf dem Flur bewegen sich Schritte, sie kommen immer näher, bis sie vor der Tür verstummen. Ein Klopfen ist zu hören. „Antonio, bist du wach?“ Butch? Die Stimme klingt nach dem Mann, mit dem Antonio gestern auf dem Dach war. „Ja?“, entgegnet er. „Dann komm ins Büro! Ich habe einen Job für dich.“ „Ist gut!“ Antonio erhebt sich, er streckt seine verspannten Glieder. Butchs Schritte verlieren sich auf dem Flur. Als kein Laut mehr zu hören ist, kommt Snowflake unter dem Bett hervor. Er schmiegt seinen mageren Körper an Antonio und folgt ihm, wohin er auch geht. Noch auf dem Weg zum Kleiderschrank entledigt sich Antonio seiner Klamotten. Aus seiner Hose kramt er den Schlüssel, dann faltet er seine Sachen ordentlich zusammen. Er legt sie auf das Fensterbrett und holt sich neue aus dem Schrank. Während er sie sich überstreift, miaut der Kater kläglich. „Keine Sorge Snowflake, heute bringe ich dir etwas Leckeres mit und wenn ich es stehlen muss. Versprochen!“ Er streichelt dem Kater noch einmal durch das weiche Fell, dann verlässt er sein Apartment. Dem Flur folgt er bis zu einer Bürotür, die bereits offen steht. An einem Schreibtisch, gut fünf Schritte entfernt, sitzt Butch, den Blick in irgendwelche Unterlagen vertieft. Er deutet auf eine Sporttasche, die auf dem Stuhl vor dem Schreibtisch steht. „Bring das in den Park zum Denkmal. Dort wirst du dich um zehn Uhr mit einem Kunden treffen. Achte darauf, dass sich keiner den Inhalt ansieht, auch du nicht! Bis zehn Uhr hast du frei, aber sieh zu, dass du nach der Übergabe sofort wieder herkommst. Es gibt noch mehr zu tun.“ Ein Botengang, um diese Uhrzeit? Wie ungewöhnlich, normalerweise erledigt Antonio solche Dinge in der Nacht. Er geht zum Schreibtisch und hebt die Tasche vom Stuhl. Sie ist so leicht, dass er kaum glauben kann, dass sich darin etwas befindet. Aber es ist nicht seine Aufgabe sich darüber Gedanken zu machen. Mit der Tasche verlässt er das Büro. „Antonio!”, ruft Butch ihm nach. Antonio bleibt stehen und sieht durch den Türspalt zurück. „Schau bei Gelegenheit in der kleinen Tasche rechts außen nach.” Die rechte Tasche? Mit der Hand tastet Antonio hinter sich. Ja, irgendetwas ist da. Er zieht den Reißverschluss auf, ein kleiner Beutel kommt zum Vorschein. Kekse? Butch hat ihm Schokoladenkekse eingepackt? Ungläubig betrachtet er den Beutel, sein Blick geht zurück ins Büro. Butch schaut auch jetzt nicht auf, dafür hat er ein zufriedenes Lächeln im Gesicht. Der Tag beginnt reichlich seltsam und trotzdem, Antonio kann nicht anders, als über beide Ohren zu strahlen. Er öffnet den Beutel und fischt gleich zwei Kekse heraus. Im Ganzen schiebt er sich den Ersten in den Mund und bekommt ihn kaum zerbissen. Etwas Süßes hatte er schon lange nicht mehr. Wie gut das schmeckt. Er hat ihn kaum hinunter gezwungen, da schiebt er sich schon den nächsten nach. Das stechende Gefühl in seinem Magen wird erträglicher. Zufrieden setzt er sich in Bewegung und steuert den Fahrstuhl an. ...~*~... Die ersten Sonnenstrahlen blenden mich. Ist es schon Zeit zum Aufstehen? Die Zeiger meines Weckers stehen auf halb Sechs. So früh noch? Ich drehe mich auf die andere Seite, doch es gelingt mir nicht mehr einzuschlafen. Ob mein Bruder inzwischen nach Hause gekommen ist? Als ich kurz vor zwölf ins Bett bin, war er noch nicht zurück. Ich beschließe nachzusehen und stehe auf. Mein Weg zum Kleiderschrank wird durch etliche Bücher blockiert, die von meinem Schreibtisch gefallen sind. Ich muss über sie steigen, um mir frische Sachen zu holen. Zum Glück kann ich noch ein Hemd und eine Hose finden. Am Wochenende müssen wir unbedingt Waschen. Wenn Raphael auch dann wieder arbeiten muss, werde ich wohl allein den ganzen Tag in der Waschküche verbringen. Schon der Kram aus meinem Zimmer wird mich Stunden kosten. Ich gehe in den Flur. Obwohl ich versuche, so leise wie möglich zu sein, knarren die alten Dielen. Vor der rechten Wand steht ein großer Eimer, in dem sich das Regenwasser des letzten Sommergewitters gesammelt hat. Den müssen wir endlich mal ausleeren, auf der Oberfläche haben sich bereits grüne Algen angesiedelt, ein fauliger Geruch kommt aus seiner Richtung. Schnell wende ich den Blick ab und habe ihn im selben Moment vergessen. Langsam schleiche ich zum Schlafzimmer meines Bruders. Die Tür steht gerade weit genug offen, um Raphael quer auf seinem Bett liegend zu sehen. Er hat noch seine dreckige Arbeitskleidung an, selbst seine Hände und sein Gesicht sind ölverschmiert. Ich will nicht wissen, wie sein Bettzeug darunter aussieht. Das kann er auf jeden Fall selbst waschen. Wann er wohl gestern Abend heimgekommen ist? Es hat sicher keinen Sinn ihn zu wecken, zumindest nicht ohne einen guten Grund. Ich gehe weiter in die Küche und werde von einem widerlichen Gestank empfangen. Töpfe und Teller, dreckiges Besteck, alles türmt sich aufeinander. Wann haben wir eigentlich das letzte Mal abgewaschen? Ich kann mich nicht mehr erinnern. Meistens kramen wir nur eine Pfanne oder einen Teller heraus und spülen den ab. Auf dem Herd steht ein Topf, der gestern Abend noch nicht dort war. Ich schaue hinein. Der Boden ist schwarz. In der ganzen Küche riecht es verbrannt. Ich öffne das Fenster. Kühle Morgenluft flutet den Raum, die Sonne leuchtet rot am Himmel. Es wird sicher wieder ein strahlend schöner Tag. Wenn ich Raphael nur dazu bringen könnte, wenigstens heute Nachmittag keine zweite Schicht einzulegen und einfach mit mir in den Park zu kommen. Sein lautes Schnarchen ist selbst hier zu hören. Er braucht endlich mal einen freien Tag. Ob wir irgendwo noch eine saubere Pfanne haben? In der Einzigen, die ich in diesem Chaos finden kann, tummeln sich noch die Überreste der letzten Mahlzeit, was es war, kann ich nicht mehr erkennen. Ich kratze die Reste heraus, spüle die Pfanne aus und stelle sie auf den Ofen. Den muss ich ja auch noch anheizen. Als ich mich nach der Luke in der Mitte bücke und sie öffne, kommt mir ein ganzer Schwall Asche entgegen, sie verteilt sich rauchend auf dem Küchenboden. Wie lange hat Raphael den nicht mehr ausgeleert? Mal ehrlich, wenigstens das könnte er hin und wieder tun. Ich kehre die Asche auf, dann fülle ich den Ofen mit Holz und feuere ihn ein. Während die Flammen einige Zeit brauchen werden, um die Kochplatte zu erhitzen, wende ich mich unserem Vorratsschrank zu. Der einzige Ort im Haus, der aufgeräumt und gut gefüllt ist. Eier, Milch, Wurst, ich nehme von allem etwas. Zwei Omeletts werde ich braten, das ist eines der wenigen Dinge, die ich wirklich gut kochen kann. Ich stelle alles auf den Tisch. Aus dem Stapel mit dem Geschirr suche ich mir zwei Teller und Besteck, die ich sauber wasche. Ein Glas finde ich noch im Schrank und fülle es mit Milch. Für Raphael stelle ich einen Topf Wasser auf den Herd, er wird sicher einen Kaffee brauchen. Nachdem ich auch die Omeletts gebraten und alles auf die Teller verteilt habe, betrachte ich mein Werk. Das sieht gut aus. Seit langem wieder ein richtiges Frühstück. Vom Tisch wandert meine Aufmerksamkeit zum Zimmer meines Bruders. Er schnarcht noch immer, nur seine Haltung hat sich verändert. Er liegt nun auf dem Bauch, mit dem Kopf in der Decke vergraben, sein Kissen ist zu Boden gefallen. Ich schmunzle und gehe zu ihm. „Raph!“, spreche ich ihn an. Ich rüttle an seiner Schulter. Er brummt und rollt von einer auf die andere Seite. „Komm schon Bruderherz, wach auf. Ich habe Frühstück gemacht!“, versuche ich es noch einmal. „Geh weg Enrico! Ich bin erst um vier Uhr ins Bett“, nuschelt er. Ich schaue zum Wecker auf Raphaels Nachttisch. Es ist gerade mal sechs Uhr. Sinnlos ihn nach kaum zwei Stunden Schlaf aus dem Bett zu bekommen. Ich lasse es sein und kehre zum Frühstückstisch zurück. Raphaels Schnarchen wird zunehmend lauter. Ich stütze meinen Kopf in die Hand und stochere in meinem Omelett herum. Der Appetit ist mir vergangen. Wozu mache ich mir überhaupt noch die Mühe? Wahrscheinlich werden wir nie wieder zusammen am Tisch sitzen. Mein Blick fällt auf ein Bild, das auf der Anrichte im Flur steht. Es zeigt uns alle Vier, im Garten vor unserem Haus. Dad hat seinen Arm um Raphael gelegt, er lächelt in die Kamera, während ich auf dem Arm unserer Mutter sitze. Das ist schon so lange her, dass ich mich kaum noch an den Tag erinnern kann. Ich wende meine Aufmerksamkeit davon ab und stehe auf. Den Teller nehme ich mit. Mein Omelett lege ich auf Raphaels, dann werfe ich den Teller in die Spüle. Obwohl es noch viel zu früh ist, hole ich meine Schultasche und verlasse das Haus. ...~*~... Den letzten Keks schiebt sich Antonio in den Mund, die leere Tüte wirft er in einen der Mülleimer im Park. Hier, inmitten von gepflegten Grünanlagen, beginnt seine erste freie Zeit seit langem. Wohin soll er als erstes gehen, was unternehmen? Mit den Händen in den Hosentaschen schlendert er den Weg entlang, bis er an einem Basketballplatz vorbeikommt. Ein einsamer Ball liegt dort. Antonio sieht sich nach allen Seiten um. Hier sitzt nur ein Pärchen auf einer Bank und ein alter Herr führt seinen Hund spazieren. Basketball hat er nicht mehr gespielt, seit er ein Drache geworden ist. Noch einmal sieht Antonio sich um, doch niemand ist zu sehen, dem der Ball gehören könnte. Gut so, dann ist der ab heute seiner! Antonio läuft auf den Platz, die Tasche stellt er behutsam ab, seine Jacke zieht er aus und wirft sie darüber, dann holt er sich den Ball. Dieser sieht doch noch ganz in Ordnung aus. Zweimal prellt Antonio ihn gegen den Boden, zweimal springt er kräftig zurück. Antonio sieht zum Korb. Er geht die wenigen Schritte bis zur Dreipunkte-Linie. Der Korb ist jetzt gut sechseinhalb Meter von ihm entfernt. Das ist sicher zu weit weg, aber früher hat er auch von hier getroffen. Schulterzuckend versucht er es einfach. Sein Körper erinnert sich an die Bewegungen. Antonio visiert den Korb an und wirft. Der Ball fliegt weit, trifft den Rand, prallt ab und kommt zurückgerollt. Noch etwas zu wenig Schwung. Antonio holt sich den Ball und versucht es weiter. Immer wieder verfehlt er den Korb nur knapp. Verdammt, dass muss doch zu schaffen sein. Seinen fünften Wurf versenkt er endlich. Jubelnd springt er in die Luft. Er holt sich den Ball und trippelt ihn bis zum Korb. Kurz vor ihm springt er hoch und hält sich mit einer Hand am Rand fest, mit der Anderen wirft er den Ball hinein. Wie lange hat er das schon nicht mehr gemacht? Ein Strahlen erhellt seine sonst so finsteren Gesichtszüge. „Hier treibst du dich also rum? Schwänzt wohl immer noch gern die Schule, was?”, spricht ihn eine Jungenstimme an. Antonio lässt den Korb los. Er landet auf seinen Knien und bleibt auf ihnen hocken. Suchend sieht er sich nach dem Jungen um, der ihn angesprochen hat. Der Kerl lehnt am Zaun, der den Platz eingrenzt, er hat die Arme verschränkt. Seine Lippen ziert ein spöttisches Grinsen, seine eisblauen Augen funkeln zufrieden. Den Typ hat er doch gestern schon gesehen, an seiner alten Schule. Antonio wendet seinen Blick ab und versucht wieder aufzustehen, doch seine Knie brennen fürchterlich. Er schiebt die Stoffhose von seinen Beinen. Blutstropfen bilden sich auf seiner Haut. Schritte kommen auf ihn zu. Der Blonde bleibt vor ihm stehen, er reicht ihm die Hand. Antonio schlägt sie weg, allein steht er wieder auf. „Hey, ich wollte nicht, dass du fällst“, sagt der Blonde und legt die Hände hinter den Kopf. Antonios Blick bleibt finster, doch der Kerl lässt sich davon nicht beeindrucken. Einen Moment lang sehen sie sich stumm an, bis der Blonde seine Aufmerksamkeit auf Antonios Tasche und die Jacke richtet. „Du hast die Jacke ja wieder mit? Darf ich sie mal anprobieren?“ Der Blonde setzt sich in Bewegung. Augenblicklich schießt Antonio die Warnung Butchs in den Kopf. Er eilt dem Jungen nach. Als dieser sich nach der Jacke bückt, stößt er ihn grob zur Seite. Der Fremde verliert den Halt, er fällt rückwärts auf den harten Spielfeldboden. „Pfoten weg!“, brüllt Antonio ihn an. „Ich will sie dir doch nicht klauen, sondern nur den Drachen auf der Rückseite anschauen.“ „Wozu?“, will Antonio harsch wissen. „Er gefällt mir eben. Wo hast du die Jacke gekauft?“, fragt der Blonde und steht auf. Lebt der Kerl hinterm Mond? So eine bekommt man nur, wenn man das Aufnahmeritual bei den Red Dragons besteht. Gerade noch kann sich Antonio zurückhalten, seinen Gedanken auszusprechen. „Die kann man nicht kaufen“, sagt er stattdessen. „Hast du sie selbst gemacht?“ „Nein, sie war ein Geschenk!“ Das scheint ihm noch die plausibelste Antwort zu sein. „Aha, darf ich sie jetzt anprobieren?“ Als Antonio nicht antwortet, hebt der Blonde die Jacke auf und zieht sie sich einfach über. „Na, wie sehe ich darin aus?“, fragt er. Die Ärmel reichen weit über seine Hände hinaus, seine Schultern gehen in dem Leder unter. „Sie ist dir zu groß.“ „Ja, leider!“ Der Fremde streift sich die Jacke von den Armen und gibt sie zurück. Antonio nimmt sie an sich und wirft sie achtlos wieder in die Ecke. Der Blonde bückt sich nach dem Ball, er jongliert ihn in der Hand und dreht ihn an, dann setzt er ihn sich auf die Fingerspitze. „Hast du Lust auf ein Match? Der Verlierer spendiert dem Gewinner ein Eis“, schlägt er vor. „Ich habe kein Geld!“, sagt Antonio schnell. Alles was er braucht, bekommt er von den Drachen, meistens zumindest. Eigenes Geld hat er lange nicht mehr in der Hand gehabt. „Dann spielen wir eben nur so. Du fängst an!“ Irritiert sieht Antonio ihn an. Ist das Eis jetzt nicht mehr wichtig? Warum hat er dann erst darum wetten wollen? „Komm schon, wir werfen abwechselnd Körbe, wer zuerst Zehn hat, gewinnt!“ Das klingt leicht. Antonio nickt und folgt dem Blonden bis knapp zwei Meter vor den Korb. Von so nah will er werfen? Ist das nicht ein bisschen zu einfach? Fragend betrachtet Antonio den Fremden, dessen Blick auf den Korb gerichtet ist. Es ist ihm also wirklich ernst mit der Entfernung? Antonio zuckt mit den Schultern und wirft den Ball. Er fällt in den Korb. Die eisblauen Augen des Blonden weiten sich. „Anfängerglück!“, sagt er. Von wegen! Aus der Entfernung wäre es seltsam, wenn Antonio einen der zehn Würfe versauen würde. Als der Blonde mit dem Ball zurückkommt, verschränkt Antonio die Arme vor der Brust, er tritt einen Schritt beiseite. Mal sehen, ob der Kerl so gut ist, wie seine große Klappe vermuten lässt. Seine Haltung ist verkrampft, er visiert den Korb an und wirft. Der Ball springt mit Schwung an die Platte dahinter und prallt zurück. Ein flüchtiges Lächeln huscht Antonio über die Lippen. Der Blonde brummt in sich hinein, dann macht er ihm Platz. Wieder versenkt Antonio den Ball ohne Probleme im Korb. Die Gesichtszüge des Fremden Jungen versteinern. „Da gibt’s doch `nen Trick dabei, oder?“, fragt er. „Ja, zielen“, entgegnet Antonio. „Klugscheißer!“ Der Blonde ist dran, seine Haltung ist dieses Mal noch verkrampfter, sein zweiter Wurf verfehlt den Korb um einen ganzen Meter. Antonio muss schmunzeln. Der Kerl hat wirklich so gar keine Ahnung von diesem Spiel. „Sag nichts!“, murrt der Blonde. Auch seinen dritten Wurf versenkt Antonio im Korb. „Das gibt’s doch nicht! Wie machst du das?“, will der Blonde von ihm wissen. Antonio zuckt mit den Schultern. Das weiß er selbst nicht so genau. Alles, was mit Zielen zu tun hat, liegt ihm einfach. Um was es dabei geht, spielt eigentlich keine Rolle. Selbst beim Dart trifft er stets die Mitte. Es liegt ihm im Blut. ...~*~... Das gibt es doch nicht! So langsam geht mir der Kerl auf die Nerven. Wie kann es sein, dass er mit jedem Wurf einen Treffer landet? Fünf Mal hintereinander. Wenn ich meinen jetzt nicht versenke, hat er schon gewonnen. Ich atme tief durch und visiere den Korb an. „Du bist viel zu verkrampft!“, spottet er. Ja klar, er hat leicht reden, mit fünf Punkten Vorsprung. „Dann zeig mir doch wie es geht, anstatt nur kluge Sprüche zu klopfen!“, fordere ich. Er seufzt und löst die Verschränkung seiner Arme. Mit langsamen Schritten kommt er zu mir. „Du hältst den Ball schon ganz falsch“, tadelt er. „Ach ja? Wie soll ich ihn denn sonst halten? Das ist ein Ball, den nimmt man einfach nur in die Hand. Was gibt es da schon groß zu beachten?“, frage ich in einem genervten Unterton. Er kommt wortlos zu mir und stellt sich hinter mich. Seine Hand legt er auf meine, meinen Arm zieht er ein Stück zurück. „Aus dem Handgelenk, so“, rät er und bewegt meine Hand. Ich drehe mich zu ihm. Er ist gut einen halben Kopf größer als ich, ich muss aufschauen, um ihm in die Augen sehen zu können. Verdammt sind die grün! Ich habe noch nie eine so leuchtende Augenfarbe gesehen. Seine Hand ist warm und er riecht unglaublich gut. Sein Blick ist noch immer spöttisch, doch je länger ich ihn ansehe, umso mehr verschwindet es von seinen Lippen. Sein Atem ist so nah, dass ich ihn auf meinem Gesicht spüren kann. Mein Herz beginnt zu rasen. Seine Wangen werden rot, betreten wendet er den Blick ab und gibt meine Hand frei. „Jetzt wirf!“, sagt er. Ich erinnere mich daran, dass ich den Korb treffen wollte. Konzentriert richte ich meinen Blick nach vorn und werfe. Der Ball fliegt los, er kracht an den Rand des Korbes und rollt darüber hinweg. „Na ja, fast“, kommentiert er. Ich gebe mich geschlagen. Daneben ist daneben und Wettschulden sind Ehrenschulden. „Okay, du hast gewonnen. Gehen wir uns ein Eis kaufen!“ Ungläubig betrachtet er mich. „Was denn, willst du etwa Keines?“, frage ich. Er zögert, schließlich läuft er los und holt seine Sachen. Gemeinsam verlassen wir den Basketballplatz. Ich sehe mich im Park nach Fabio um. Er ist der Einzige, der auch um diese Zeit am Rande des Parks Eis verkauft. So kann er die Kinder auf ihrem Weg zur Schule abfangen. Auch ich schaffe es nur selten an ihm vorbeizugehen, ohne anzuhalten. Als wir den Wagen und seinen Besitzer erreichen, hat er ein breites Grinsen im Gesicht. Wir sind seine einzigen Kunden. „Guten Morgen, Enrico. Eine Kugel Vanille, wie immer?“, fragt er. Ich nicke und sehe hinter mich. Mit langsamen Schritten schleicht mir mein neuer Freund hinterher. Als er bei mir ankommt, steckt er die Hände in die Hosentaschen. „Was willst du haben?“, frage ich ihn. Unschlüssig sieht er in die Auslage und betrachtet die Zettel mit den Namen der Eissorten. Er braucht eine gefühlte Ewigkeit, sich zu entscheiden. „Schokolade?“, sagt er. „Eine Kugel Schokolade für meinen Freund!“ Der Eisverkäufer füllt die Hörnchen mit den gewünschten Kugeln. Ich krame einige Centmünzen aus meiner Hosentasche und tausche sie gegen das Eis. Das Hörnchen mit der Schokoladenkugel reiche ich weiter, doch der Junge zögert sie zu ergreifen. „Freund?“, fragt er mich. Ich nicke und lächle, doch er nimmt mir das Eis noch immer nicht ab. „Und ich muss auch nichts dafür tun?“, will er wissen. Was für ein seltsamer Kerl. Er hat doch schon etwas dafür getan, er hat unsere Wette gewonnen. „Jetzt nimm schon, bevor es schmilzt!“ Endlich greift er zu. Argwöhnisch betrachtet er die Kugel. Ich lecke über mein Eis, es schmilzt bereits, die ersten Tropfen laufen an dem Hörnchen herunter und mir über die Finger. Er sieht mir zu und ahmt mich nach. „Das schmeckt ja wirklich nach Schokolade!“, stellt er fest. Erstaunt betrachte ich ihn. Natürlich schmeckt das nach Schokolade, immerhin ist das die Sorte, die er wollte. Ich muss schmunzeln und kann schließlich nicht anders, als über ihn zu lachen. „Du bist schon in Ordnung!“, presse ich heraus und kann einfach nicht aufhören zu lachen. ...~*~... Was gibt es da so blöd zu lachen? Das ist eben das erste Eis in Antonios Leben. Es hat noch nie jemand für nötig gehalten, ihm eines zu kaufen. Er hat sich einfach nicht vorstellen können, dass etwas so Kaltes auch nach Schokolade schmecken kann. Grimmig betrachtet er den Blonden, doch dieser lacht einfach weiter. „Du bist schon in Ordnung!“, sagt er. Ehrlich? Das ist Antonio bisher für niemanden gewesen. Es gibt doch immer etwas an ihm auszusetzen. Ob der Kerl das vorhin wirklich ernst gemeint hat? Sind sie jetzt Freunde? Gedankenverloren leckt Antonio über das Eis. Es schmeckt wirklich gut. Jetzt kann er verstehen, warum alle immer davon schwärmen. Als der Blonde sich wieder in Bewegung setzt, folgt Antonio ihm. „Wie heißt du überhaupt?“, fragt der Blonde und lässt sich auf einer Bank nieder. „Antonio.“ „Das ist mir zu lang, ich werde dich einfach Toni nennen.“ Toni? War das gerade ein Spitzname? Ein anständiger? Nicht Feigling, Dummkopf oder Waschlappen? Einfach nur Toni? Das gefällt ihm. Er nickt. „Ich bin Enrico!“, stellt sich der Blonde vor. Kapitel 4: ~Hunger und tote Tauben~ ----------------------------------- Nachdenklich läuft Antonio nach Hause. Die Tasche hat er übergeben, doch mit den Gedanken ist er die ganze Zeit bei dem blonden Jungen. Enrico war seltsam. Nicht nur, dass er ihm ein Eis ausgegeben hat, er hat ihn heute Abend auch noch zum Basketball spielen eingeladen. Einfach so hat Enrico entschieden, dass sie jetzt Freunde sind. Bisher ist der Blonde der Erste gewesen, der ihn angesprochen hat, der ohne besonderen Grund freundlich zu ihm gewesen ist. Begegnet Antonio sonst anderen Jungen, sehen die ihn misstrauisch an, als würden sie ahnen, in welch finstere Machenschaften er verwickelt ist. Enrico aber hat sich noch nicht einmal mit Unfreundlichkeit vertreiben lassen. Antonio kann das Hochhaus sehen, gleich ist er wieder zu Hause, zurück in seiner persönlichen Hölle. Widerwillig geht er dem Eingang entgegen und durch die Drehtür ins Innere. Neben dem Fahrstuhl kann er Butch erkennen. Ohne Umwege hält er auf den dunkelhäutigen Mann zu. „Komm mit mir!”, sagt der und geht voraus. Mit dem Fahrstuhl gelangen sie in den zehnten Stock. Die Cafeteria? Butch drückt ihm eine gelbe Papiermarke in die Hand, dann öffnet er ihm das Fahrstuhlgitter. Ein Lächeln begleitet sein Tun, als er sagt: „Geh und hol dir dein Mittagessen. Wenn du fertig bist, komm in mein Büro, ich bring dich dann aufs Dach.” Von der Marke in seiner Hand sieht Antonio fragend auf. Darf er die wirklich haben, ohne etwas dafür zu tun? Der Duft der Speisen dringt bis zu ihm, Antonio läuft das Wasser im Mund zusammen. Sein Magen knurrt. Er kann das Essen schon förmlich auf der Zunge schmecken, doch noch zögert er. Bisher ist es nie so einfach gewesen, da muss es einen Haken geben. „Nun geh schon!”, sagt Butch. Jetzt kann Antonio nicht länger widerstehen. Er greift die Marke fest in seiner Faust, dann stürmt er aus dem Fahrstuhl und der Cafeteria entgegen. Wie ein Fest erscheint es ihm, als er vor der großen Auswahl stehen bleibt. Was soll er nehmen? Alles sieht köstlich aus und riecht so gut. Die Kekse und das Eis allein haben seinen Hunger nicht stillen können. Eine große Portion Nudeln hingegen, genau, darauf hat er jetzt Appetit. Der Verkäuferin deutet er mit einem Fingerzeig an, welches der drei Nudelgerichte er haben will, dann reicht er ihr die Essensmarke. Sie füllt den Teller und hebt ihn über den Tresen. Er nickt dankend. Endlich satt essen. Strahlend nimmt er den Teller entgegen und trägt ihn, wie ein Heiligtum vor sich her, zu einem freien Platz. Behutsam stellt er ihn auf dem kleinen Tisch ab und setzt sich in den Holzstuhl dahinter. Messer und Gabel liegen an jedem Tisch aus und sind schnell ergriffen. „Ach, das schaffst du doch gar nicht allein”, wird er angesprochen. Antonio sieht auf. Andy, der Chef einer kleinen Clique von Michaels Straßenkämpfern ist auch zum Mittagessen hier. Er tritt an den Tisch und nimmt sich Antonios Teller. „Stell’s wieder hin!”, fordert Antonio. „Willst du dich etwa mit mir anlegen, kleiner Laufbursche?” Anstatt den Teller zurückzugeben, nimmt sich Andy eine Gabel und lässt die ersten Nudeln in seinem Mund verschwinden. Das ist zu viel! Antonio klettert auf den Tisch und greift nach seinem Essen. Andy dreht sich von ihm weg und schiebt sich eine weitere Portion in den Mund. „Was soll der Scheiß?”, tönt eine raue Stimme, so dunkel und bedrohlich, dass Antonio vor Schreck zusammenfährt. „Runter vom Tisch!” Noch bevor er erkennen kann, aus welcher Richtung der Ruf kommt, packt ihn ein harter Griff am Handgelenk. Er wird vom Tisch gezerrt und stolpert nach vorn. Mit der Schulter stößt er gegen Andys Arm und reißt den Teller zu Boden. Antonio knallt auf die Knie. Michael hat ihn noch immer im festen Griff, er zieht ihn auf die Beine. Antonio sieht ihn nicht an, sein Blick ist auf den zerbrochenen Teller gerichtet. Die Nudeln liegen auf dem Boden verteilt, Tränen fluten seinen Blick. Das kann doch nicht sein, nicht einen Bissen hat er davon genommen. „Das ist echt das Letzte! Nichts als Ärger hat man mit dir!”, donnern die Worte Michaels auf ihn ein. Antonio wagt nicht aufzusehen oder etwas zu erwidern. Der Blick seines Ausbilders wandert zu den restlichen Jungen. Finster mustert er auch sie. „Habt ihr nichts Besseres zu tun? In zehn Minuten will ich euch unten im Ring sehen. Bis ich zu euch komme macht ihr Liegestütze und jetzt geht mir aus den Augen.“ Die Jungen schauen zu Boden und schleichen an ihnen vorbei. Einen finsteren Blick werfen sie Antonio zu. „Das bekommst du noch zurück“, flüstert Andy im Vorbeigehen und stößt Antonio an der Schulter an. „Hör auf zu heulen! Kein Wunder, dass sie dich ständig als Ziel für ihre Späße nehmen”, richtet sich Michael an ihn. Antonio betrachtet seine verlorene Mahlzeit. Was weiß Michael denn schon? Als einer der großen Drei kennt er keinen Hunger. Es wagt auch niemand ihm zu widersprechen oder ihm sein Mittagessen streitig zu machen. „Ich verstehe echt nicht, warum Butch so einen Narren an dir gefressen hat. Los komm!” Michael setzt sich in Bewegung, er geht zum Fahrstuhl. Während er ihn öffnet, wischt sich Antonio die Tränen aus den Augen. Michael steht bereits in der Kabine und schiebt einen Schlüssel in das Schloss, unterhalb der Tastatur. Nur damit können sie die obersten drei Etagen des Hochhauses erreichen. Antonio steigt ein und schließt das Gitter. Der Fahrstuhl setzt sich in Bewegung und bringt sie aufs Dach. Lediglich Michael, Butch und ihr Chef haben das Recht, sich hier oben aufzuhalten. Nur im Rahmen seines Scharfschützentrainings, ist es auch Antonio gestattet. Fröhliche Gedanken überkommen ihn. Endlich was, das er kann, wo ihm keiner etwas vormacht. Hier ist er ein Meister, der beste Schütze des Clans. Sein Blick geht zu Michael. Vorfreude lässt ihn seinen leeren Magen vergessen. Ungeduldig wartet Antonio auf neue Anweisungen. Michael öffnet das Fahrstuhlgitter, dann läuft er zu einem Lüftungsrohr, auf dem ein Gitarrenkoffer liegt. Antonio folgt ihm. „Mach ihn auf!”, fordert Michael. Antonio öffnet die Verschlüsse und klappt den Deckel hoch. Anstatt einer Gitarre, liegt in dem Koffer ein zerlegtes Scharfschützengewehr. Obwohl Antonio sich bestens mit Schusswaffen auskennt, jede Marke auswendig weiß, ist ihm diese Waffe fremd. Noch nie hat er ein Gewehr gesehen, dass in seine Einzelteile zerlegt ist. Es gibt nicht einmal einen Herstelleraufdruck. Dafür ist ein Schalldämpfer dabei. „Das ist eine Spezialanfertigung. Es ist um einiges leichter und präziser als dein altes Gewehr. Pass auf! Zusammengebaut wird es so.” Michael drängt ihn beiseite. Mit geübten Handgriffen schraubt er die Waffe zusammen. Antonios Blick folgt jeder seiner Bewegungen, während er sich alles einzuprägen versucht. Kaum ist die Waffe vollständig zusammengesetzt, baut Michael sie wieder auseinander und legt die einzelnen Teile in die Fächer des Koffers zurück. „Jetzt du!“ Etwas umständlich beginnt Antonio die Waffe zusammenzubauen. Ab und an greift ihm Michael dazwischen, bis sie wieder vollständig ist. „Gut, das wirst du jeden Tag üben, bis du es im Schlaf kannst! Und nun will ich sehen, ob du damit zurechtkommst.“ Antonio nimmt die Waffe hoch, sie ist tatsächlich viel leichter als sein altes Gewehr, wiegt nicht einmal die Hälfte. Die Tage des Zitterns bei langem Halten, sind damit gezählt. Nach einem Blick durch den Sucher ist Antonio von seinem neuen Werkzeug fasziniert. So weit kann er damit sehen? Er kann sogar die Tauben auf den Dächern, am anderen Ende der Straße anvisieren. Das Bild ist so scharf, dass er sein Ziel sicher nicht verfehlen wird. „Wenn du schon dabei bist, die Tauben hier oben nerven mich gewaltig. Mal sehen wie viele du triffst, bevor sie davonfliegen!” Das ist also sein Ziel für Heute? Tauben? Achselzuckend macht sich Antonio keine weiteren Gedanken darüber, nimmt stattdessen den Schwarm ins Visier, der über dem Dach kreist. Während er eine Taube nach der anderen vom Himmel holt, geht Michael einige Schritte zurück, um von Weitem sein Können zu beurteilen. Mit verschränkten Armen bleibt er neben dem Fahrstuhl stehen, als dieser sich öffnet. Butch gesellt sich zu ihnen. „Und? Kommt er damit zurecht?”, will er wissen. „Ich verstehe echt nicht, warum du ihm so eine Waffe besorgt hast“, sagt Michael. „Weil er der Beste ist!“, erwidert Butch, mit seltsam stolzem Unterton. Wirklich? Und das, obwohl Antonio beim Training mit ihm den Kronkorken erst beim zweiten Versuch getroffen hat? Ein zufriedenes Lächeln überkommt Antonio, während er eine weitere Taube anvisiert. „Genau das macht mir ja Sorgen. Ich habe noch nie jemanden so mit Schusswaffen umgehen sehen. Egal, wie schnell das Ziel auch ist und wie schlecht seine Ausrüstung, er trifft fast immer ins Schwarze. Mit dem Gewehr jetzt ist er gefährlicher, als jeder meiner Straßenkämpfer da unten.” Das ist neu für Antonio. Bisher ist er nie auf die Idee gekommen, dass Michael ihn fürchten könnte, doch die Vorstellung gefällt ihm. Schade nur, dass er nicht immer eine Waffe bei sich haben darf. Sicher wären dann auch Andy und seine Kumpel respektvoller. „Und jetzt machst du dir Sorgen, er könnte auch uns gefährlich werden?”, fragt Butch. Auf die Antwort ist Antonio gespannt. Er wartet absichtlich mit dem nächsten Schuss, um sie hören zu können. „Das mache ich mir, seit ich ihm das erste Mal eine Waffe in die Hand gegeben habe”, sagt Michael. Ein breites Grinsen schleicht sich in Antonios Gesicht. Erst jetzt wird ihm bewusst, dass es ein Leichtes wäre, die Waffe nicht auf Tauben oder leere Flaschen zu richten. Er könnte auch einen der beiden Männer ins Visier nehmen. Danach würde Antonio zwar vom Clan ausgelöscht werden, aber die Möglichkeit gefällt ihm trotzdem. Das Gefühl von Macht durchströmt Antonio. Er schießt noch eine Taube vom Himmel. Seine Ausbilder schweigen einen Moment, dann ist es wieder Butch, der zu sprechen beginnt: „Er ist keine Gefahr!” „Ja, noch nicht! Lass ihn älter werden.” Genau, wenn Antonio sein Handwerk noch weiter verbessert hat und endlich eine eigene Waffe führen darf, dann sollten sie sich ihre Wortwahl gut überlegen. Antonio drückt ab. Eine weitere Taube fällt vom Himmel. „Dann solltest du ihn bis dahin vielleicht besser behandeln, damit er nicht auf die Idee kommt, es dir heimzuzahlen.” Butchs Einstellung gefällt Antonio immer besser. Der Kerl wird ihm zunehmend sympathischer. „Willst du mir schon wieder vorschreiben, wie ich meinen Job zu machen habe?”, fragt Michael schroff. „Nein, ganz ehrlich Butch. Er ist mir als Laufbursche lieber. Einen Tiger lässt man schließlich auch nicht aus seinem Käfig.” „Ach komm schon, gib dir 'nen Ruck! Er ist wirklich gut.” „Du gehst mir auf die Nerven, weißt du das?” Wenn Antonio nur wüsste, was die Beiden ausgeheckt haben. Seit er mit Butch auf dem Dach war, liegt schon etwas in der Luft, dass er nicht greifen kann, doch danach zu fragen wagt er nicht. Michaels Schritte kommen auf ihn zu. Noch bevor er ihn erreicht, sagt er: „Antonio, es reicht! Ich habe genug gesehen.” Langsam hebt Antonio das Gewehr von der Schulter. Bisher hat er nur acht Tauben vom Himmel geholt und das reicht Michael? „Bau´ es auseinander und dann verschwinde! Für heute habe ich genug von dir!”, sagt Michael. Jetzt schon? Es ist erst ein Uhr! Dabei hat es gerade angefangen Antonio Spaß zu machen. Gehorsam baut er das Gewehr auseinander, die Einzelteile legt er in die Schaumgummifächer zurück. Den Koffer klappt er zu, dann geht er zum Fahrstuhl. Während er das Gitter öffnet und einsteigt, unterhalten sich die beiden Männer weiter: „Also bist du jetzt endlich dafür?“, fragt Butch. „Nein! Er ist noch lange nicht so weit“, entgegnet Michael. Noch immer wird Antonio nicht schlau aus ihren Worten. Wofür denn bereit? „Ich werde ihn Danijel trotzdem vorschlagen.“ Danijel? Wenn Antonio sich richtig erinnert, ist das doch der Name ihres Chefs. Seit wann interessiert der sich denn für ihn? Obwohl Antonio jetzt schon gut drei Jahre dem Clan angehört, hat er noch kein Wort mit dem Chef gewechselt. „Mach, was du nicht lassen kannst! Er wird auch einsehen, dass es zu früh ist“, sagt Michael. Antonio zieht das Gitter zu, der Fahrstuhl setzt sich in Bewegung. Kapitel 5: ~Raphaels Entschuldigung~ ------------------------------------ Toni ist gar nicht so schlimm, wie Taylor und seine Freunde behaupten, er ist ganz nett. Sein überraschtes Gesicht, während er das Eis gegessen hat, war zum Schreien komisch gewesen. Schade, dass er noch nicht wusste, ob er heute Abend Zeit hat in den Park zu kommen. Die Jungs aus der Zehnten würden sicher über sein Können staunen und dann nicht mehr so schlecht über ihn sprechen. Ob ich ihn wiedersehen werde? Gedankenverloren zeichne ich den Drachen seiner Jacke. Den Block habe ich auf meine Sporttasche gelegt und mich auf die Treppe vor dem Schulgebäude gesetzt. Während ich das Maul des Drachen ausmale, öffnet sich die Tür hinter mir, ein Schatten fällt auf mein Blatt. „Hey, das sieht gar nicht schlecht aus. Zeichnen liegt dir deutlich besser als Basketball spielen“, spricht mich Taylor an. Ich lächle verlegen. Nach ihm verlassen seine Freunde das Gebäude, auch sie schauen sich die Zeichnung an. „Ist das nicht der Drache von der Jacke des unheimlichen Kerls, der gestern vor unserer Schule herumgelungert ist?“ „Jab!“, entgegne ich und radiere die überflüssigen Bleistiftstriche weg, „Aber er ist nicht unheimlich, sondern ganz lustig.“ Der Kapitän setzt sich zu mir auf die Stufe. „Hab´ ich dir nicht gesagt, dass du dich von dem fernhalten sollst? Der hat Dreck am Stecken.“ „Das haben mir die Jungs aus der Neunten über euch auch gesagt“, erwidere ich. Taylor und seine Freunde schmunzeln. „Toni kann unglaublich gut Körbe werfen. Ich habe ihn für heute Abend eingeladen. Vielleicht hat er ja doch Zeit und kann vorbeikommen“, berichte ich. „Ach ja? Da bin ich gespannt. Wenn du so große Stücke auf ihn hältst, könnt ihr ja zu zweit gegen uns antreten“, schlägt Taylor vor. Mit Tonis Treffsicherheit nehmen wir es locker mit den älteren Jungs auf. „Abgemacht!“, erwidere ich. „Du bist echt Größenwahnsinnig, weißt du das?“ Ich grinse breit. Ja, das ist mir schon oft gesagt wurden. „Na dann, bis heute Abend, Kurzer.“ Taylor erhebt sich. Als er geht wuschelt er mir durch die Haare. „Hey!“, murre ich und stoße seine Hand weg. Er lacht, dann schließt er zu seinen Freunden auf, mit ihnen tritt er den Heimweg an. Ich versuche meine Frisur zu richten, als ein Motorrad auf mich zuhält. Es kommt direkt vor der Treppe zum Stehen. Raphael? Woher hat er denn die Maschine? Ist das etwa der Schrotthaufen, an dem er schraubt, seit er Mechaniker geworden ist? Das Teil fährt endlich? Er nimmt die Schutzbrille ab und sieht den Jungs aus der Zehnten nach. „Bist du etwa mit denen befreundet? Sind die nicht eine Stufe über dir?“, will er wissen. „Ja, wieso?“ „Ach, schon gut.“ „Was machst du hier?“, frage ich. Meinen Zeichenkram packe ich in meine Schultasche. „Ich komme, um dich abzuholen“, entgegnet er. Aus seiner Jackentasche zieht er eine Schutzbrille und wirft sie mir zu. „Aber ich hab´ doch noch Training.“ Hat Raphael vergessen, dass ich immer freitags Baseball spielen gehe? „Das wirst du heute schwänzen. Los komm, steig´ auf!“ Er klopft auf den Sitz hinter sich. Ich lege mir meine Sporttasche um, dann gehe ich zu ihm. „Darf ich fahren?“, frage ich. Raphael lacht spöttisch. „Du hast keinen Führerschein.“ „Na und? Ich kann es trotzdem schon. Der große Bruder von Alex hat es mir gezeigt.“ „Ich habe nein gesagt!“ „Ach bitte!“ „Jetzt hör auf zu quengeln und steig‘ auf!“ Ich setze mich hinter meinen Bruder. „Musst du heute nicht arbeiten?“ Raphael lenkt das Motorrad auf die Straße. „Ich habe verschlafen. Mein Chef meinte, dann kann ich auch gleich daheim bleiben. Ich soll erst heute Abend die Schicht für Maik übernehmen, er hat sich wohl an der Hebebühne verletzt.“ Erst heute Abend? Das heißt ich habe den ganzen Nachmittag mit meinem Bruder? „Außerdem habe ich was wieder gut zu machen“, fügt Raphael an. „Ja, hast du! Ich hab´ mir voll Mühe mit dem Frühstück gegeben.“ „Ich weiß, tut mir leid. Dafür habe ich eine Überraschung für dich, wenn wir zu Hause sind.“ Raphael nimmt den kürzesten Weg. Als wir in unsere Straße einbiegen, fällt mir ein Berg Dachschindeln auf, der neben unserem Haus aufgetürmt liegt. Ist das etwa die Überraschung? Irgendwie habe ich mir mehr erhofft, als ein Wochenende auf unserem Dach zu verbringen. Einen Dachdecker können wir nicht bezahlen, die Schindeln werden teuer genug gewesen sein. „Was hast du?“, fragt Raphael. „Haben wir jetzt überhaupt noch Geld fürs Essen?“, will ich wissen. So, wie ich unsere Finanzen kenne, geht nur Essen oder ein trockenes Haus. Ich für meinen Teil habe lieber etwas zu Essen auf dem Tisch. „Ja, du sechsköpfige Raupe. Der Vorratsschrank ist voll.“ Ich atme erleichtert durch. „Ich habe mit der Überraschung aber was Anderes gemeint“, sagt mein Bruder. „Wirklich? Was denn?“, frage ich euphorisch. Raphael parkt das Motorrad in unserer Einfahrt, wir steigen ab. Er schweigt und grinst dabei, ich muss es wohl selbst herausfinden. Eilig laufe ich zur Haustür und schließe sie auf. Ein Duft nach Blumen und Reinigungsmittel schlägt mir entgegen. Der Boden ist blankpoliert, ich trete ein. „Zieh gefälligst die Schuhe aus!“, meckert Raphael. Die Vorschrift ist neu, aber in Anbetracht des sauberen Bodens verständlich. Ich streife mir die Schuhe von den Füßen. Mein erster Weg führt mich in die Küche. Das dreckige Geschirr ist verschwunden, ich kann den Ofen und die Spüle erkennen. In den Regalen stapeln sich saubere Tassen und Teller. Unser Esstisch hat eine blanke Oberfläche. Auch der Boden, der sonst mit den unterschiedlichsten Flecken gesprenkelt war, ist nun gescheuert. Mir bleibt der Mund offen stehen. Wie hat Raphael das in so kurzer Zeit geschafft? Allein die Küche muss ihn Stunden gekostet haben. Ob das Wohnzimmer auch so ordentlich ist? Ich laufe den Flur entlang, in den zweiten Raum links. Der Teppich ist gefegt, unser Couchtisch ist sauber. Ob er auch mein Zimmer aufgeräumt hat? Verstohlen sehe ich durch den Spalt meiner Zimmertür. Natürlich nicht! Abgesehen von den Wäschebergen, die verschwunden sind, tobt dort das übliche Chaos. Als ich zu meinem Bruder zurückschaue, sagt er: „Dein Zimmer kannst du selber aufräumen!“ Na gut. Er hat wirklich schon genug gemacht. Als ich nicht sofort losstürme, betrachtet Raphael mich mahnend. „Was ist? Du kannst gleich damit anfangen. Ich mache uns in der Zeit etwas zu essen.“ Ehrlich? Er kocht? Wenn er nicht gerade todmüde von der Arbeit heim kommt, kann Raphael ganz vernünftig kochen. „Okay, einverstanden!“ Ich laufe in mein Zimmer. Meine Sport- und die Schultasche werfe ich aufs Bett, dann schaue ich aus dem Fenster. Auf etlichen Wäscheleinen hängen alle Kleidungsstücke, die sich zuvor in unserem Haus verteilt haben. Hat er etwa alles gewaschen? Ganz allein? Das ist einfach unmöglich! Aber umso besser, so kann ich mir das am Wochenende sparen. Was kann es Schöneres geben? Das bisschen Zimmer aufräumen ist dagegen ein Witz. Raphael folgt mir, in den Händen hält er einen Eimer mit Wasser und einen Lappen, in ihm schwimmt ein Stück Seife. „Wenn du schon dabei bist, dann mach es ordentlich!“, verlangt er. Ich nicke, den Eimer nehme ich ihm ab. „Und vergiss die Fenster nicht!“, fügt er an. Ich lege mir die flache Hand mit der Kante an die Stirn. „Aye, aye, Sir!“, sage ich und mache mich ans Werk. Während meine Möbel langsam zum Vorschein kommen und das Licht nun ungehindert durch meine sauberen Fensterscheiben dringt, duftet es bereits köstlich aus der Küche. Irgendetwas brät Raphael. Es wird also Fleisch geben? Ich beeile mich die letzten Bücher ins Regal zu räumen und die Schallplatten vom Boden aufzuheben. Als auch sie verstaut sind, muss ich noch mein Bett richten und den Boden wischen. Der köstliche Duft wird intensiver. Jetzt bin ich mir sicher, dass es Hase geben wird. Mein Lieblingsgericht, aber der braucht doch länger als ein paar Minuten. Hat Raphael auch den schon vorbereitet? Er muss Hilfe gehabt haben, eindeutig. Ich nehme mir fest vor, ihn danach zu fragen. Den letzten Fleck auf dem Boden wische ich weg. Jetzt kann man wieder gefahrlos mein Zimmer betreten, ohne über irgendetwas zu stolpern oder kleben zu bleiben. Stolz betrachte ich mein Werk, dann frisst mich die Neugier auf. Den Putzlappen werfe ich in den Eimer und laufe in die Küche. Ich schaue um den Türrahmen. Raphael holt tatsächlich einen Hasenbraten aus dem Ofen. Auf unserem Tisch sind bereits zwei Plätze eingedeckt. In einer dampfenden Schüssel liegen Kartoffeln, auf den Tellern häuft sich jeweils ein Berg Rotkraut. „Bist du schon fertig?“, fragt Raphael. Mir läuft bei dem Anblick des Essens das Wasser im Mund zusammen. Ich vergesse zu antworten und setze mich auf meinen Platz. „Enrico?“ „Ja, bin fertig, jetzt schneide an, ich hab´ Kohldampf!“ Ich greife mein Besteck. „Du bist wahrlich eine zehnköpfige Raupe“, tadelt mein Bruder. Er holt ein Messer und eine große Gabel. Ich grinse, während ich mir ein paar der Kartoffeln aus der Schale fische. Eine von den kleinen schiebe ich mir im Ganzen in den Mund. „Kannst du nicht warten?“, fragt Raphael ärgerlich. Ich schüttle mit dem Kopf. Die ganze Zeit habe ich diesen leckeren Geruch in der Nase, da kann ich einfach nicht anders. Mein Bruder rollt mit den Augen und schneidet eine Keule vom Hasenbraten ab. Raphael mustert mich einen Moment lang, dann gibt er mir die erste Keule. Ja! Als er die Zweite abschneidet, schaue ich weiter auffordernd. Ohne ein Wort sagen zu müssen, gibt er mir auch diese. Super! Ich bemühe mich zu warten, bis er sich ebenfalls etwas auf seinen Teller gepackt hat, doch es fällt mir so schwer, dass ich auf meinem Stuhl hin und her rutsche. Als er endlich Platz nimmt, stürze ich mich auf die Mahlzeit. „Das Tischgebet können wir uns wohl sparen, was?“, fragt er. Als wenn wir seit Vaters Tod je eines gesprochen hätten. Ich lasse mich von seinem Einwand nicht beim Essen stören. Er kann ja eines sprechen, wenn ihm danach ist. „Wie war die Schule?“, fragt er schließlich. Es ist lange her, dass wir uns richtig unterhalten haben. Da gibt es so vieles, was ich ihm noch nicht erzählt habe. „Ich bin der Basketballmannschaft beigetreten! Und heute Abend treffe ich mich mit den Jungs aus der Zehnten im Park. Ach ja, und Toni kommt vielleicht auch vorbei.“ „Toni?“, fragt er. Stimmt ja, der Name ist neu für ihn. „Eigentlich heißt er Antonio, aber das war mir zu lang. Ich habe ihn heute Morgen im Park kennengelernt. Ab und zu habe ich ihn auch schon bei uns vor der Schule gesehen. Er hat 'ne echt coole Lederjacke, außerdem kann er wahnsinnig gut Basketball spielen. Die anderen Jungs halten ihn alle für gefährlich, aber er scheint ganz okay zu sein.“ „Warum halten sie ihn denn für gefährlich?“, fragt Raphael, Sorge ist seiner Stimme anzuhören. Ich zucke mit den Schultern. „Keine Ahnung! Vielleicht weil er immer so grimmig schaut.“ Ich stopfe mir ein großes Stück der Keule in den Mund. Meinen Blick lasse ich durch die Küche schweifen. Raphael hat sogar die Fenster geputzt und alle Schränke sind abgewischt. „Sag Mal, du hattest doch Hilfe beim Aufräumen, oder?“, frage ich. „Ja, Simone und ihre Mutter haben sich angeboten.“ Die hübsche Blonde von nebenan, hinter der er schon seit einem Jahr her ist? Na, wenn das Putzen nicht ein Vorwand war, ihr näher zu kommen. „Aha!“ Ich setze einen vielsagenden Blick auf. „Was denn?“, fragt Raphael, während seine Wangen rot werden. „Also, wenn sie dir freiwillig bei dem Saustall hier geholfen hat, dann solltest du sie wirklich nach einem Date fragen“, schlage ich vor. Raphaels Blick wird nachdenklich. Einen Moment grübelt er über meine Worte, dann schaut er grimmig drein. „Seh' ich so aus, als wenn ich Beziehungstipps von meinem kleinen Bruder brauche?“ Und wie er die braucht. Während ich mich vor Liebesbriefen nicht retten kann, hat er noch nie eine Freundin mitgebracht und das, obwohl er sieben Jahre älter ist als ich. „Du brauchst dringend 'ne Freundin, Bruderherz!“ Raphael zieht eine Augenbraue fragend in die Höhe, er mustert mich verständnislos. „Wie kommst du darauf?“ „Na ja, wenn du 'ne Freundin hast, die uns im Haushalt hilft, bleibt nicht mehr so viel an mir hängen. Außerdem bist du dann kein verbitterter Griesgram mehr.“ „Idiot, ich schleppe dir bestimmt keinen Mamaersatz an“, schimpft er. „Warum nicht?“ „Weil meine Freundin, wenn überhaupt, nur für mich putzen und kochen soll.“ Wir schauen uns einen Moment lang schweigend an, dann müssen wir Lachen. Als ob sich in unseren Männerhaushalt tatsächlich eine Frau verirren würde. Hier hält es doch kein weibliches Wesen auch nur eine Woche aus. Wir brauchen eine gefühlte Ewigkeit, bis wir uns wieder beruhigen, dann schaut Raphael so ernst wie immer. „Mal was anderes, kannst du in deinem Freundeskreis nachfragen, ob jemand am Wochenende Zeit hat?“ „Wofür?“ „Laut Wetterbericht soll es nächste Woche regnen, ich wollte das Dach bis dahin fertig haben.“ „Was ist denn mit deinen Leuten?“ Die sind alle viel älter und stärker als meine Freunde. „Die haben schon was vor oder sind nicht schwindelfrei.“ Stimmt ja, seine Freunde kommen höchstens zum Party machen vorbei, weil wir hier immer sturmfrei haben, aber wenn es um Arbeit geht, sind sie selten zu gebrauchen. „Ich höre mich mal um“, sage ich. Keine Ahnung ob sich einer meiner Freunde das Wochenende auf diese Art versauen will. Es ist Freitag, etwas kurzfristig, um da jemanden zu mobilisieren. „Gut, ich hab` mir zwar extra Morgen und am Sonntag frei genommen, aber wenn wir eher fertig werden, können wir endlich den Ausflug in den Park machen, der schon so lange aussteht.“ Das ganze Wochenende hat er frei? Das ist seit gut einem Jahr nicht mehr vorgekommen. „Ich finde jemanden, der uns hilft!“, verspreche ich. Kapitel 6: ~Hotdogs~ -------------------- Ob Antonio wirklich auf den Basketballplatz gehen soll? Er hat nur Enrico dort erwartet und gekonnt ignoriert, dass der am Morgen auch von Freunden gesprochen hat. Schon eine halbe Stunde steht Antonio in sicherer Entfernung und beobachtet die Jungen, die mit Enrico Körbe werfen. Hin und wieder hat er die Kerle hier schon gesehen. Für gewöhnlich dulden sie keine anderen Jungen auf dem Platz. Den ganzen Tag hat sich Antonio darauf gefreut, seinen neuen Freund wiederzusehen und jetzt machen ihm diese Kerle alles kaputt. Die lassen ihn doch nie mitspielen. Es grenzt an ein Wunder, dass sie Enrico dulden. Der spielt noch immer so miserabel wie am Vormittag. Die Mannschaft hat alle Hände voll damit zu tun, seine Fehler auszugleichen. Nur zögernd wagt Antonio sich aus seiner Deckung und geht, mit den Händen in den Taschen seiner Hose, dem Platz entgegen. Keiner nimmt von ihm Notiz, selbst als er den Drahtzaun erreicht, sind alle in das Spiel vertieft. Antonio betritt den Platz und bleibt etwas abseits stehen. Sein Blick ruht unentwegt auf Enrico, bis dieser ihn schließlich bemerkt. Er bleibt stehen, lächelt und setzt dazu an, etwas zu sagen, als ihm einer der älteren Jungen einen Pass zuwirft. Der Ball trifft Enrico hart am Arm. Erschrocken fährt er zusammen und sieht zu dem Jungen, der geworfen hat. „Pass doch auf!“, murrt er. „Konzentriere du dich lieber auf das Spiel!“, sagt der Andere. „Können wir 'ne kurze Pause machen?“, bittet Enrico und deutet in Antonios Richtung. Während sich alle Blicke auf ihn richten, bildet sich ein dicker Kloß in Antonios Kehle. Nur mit Mühe kann er ihn hinunterwürgen und sich ein zaghaftes Lächeln ins Gesicht zwingen. Die Mannschaft unterbricht tatsächlich das Spiel, sie kommen mit Enrico an der Spitze zu ihm. Automatisch weicht Antonio zurück, bis er den Zaun im Rücken spüren kann. „Das ist Toni!“, stellt Enrico ihn vor. Schon wieder dieser Spitzname, an den hat Antonio sich noch nicht gewöhnt. Sein Blick streift die Runde. Einer der Jungen reicht ihm die Hand. „Freut mich! Ich bin Taylor. Der Kurze hat ganz schön hohe Töne über dich gespuckt. Bin gespannt, ob er nur übertrieben hat.“ Fragend sieht Antonio seinen Freund an, doch dieser beachtet ihn nicht, stattdessen schlägt er Taylor auf den Oberarm und sagt: „Das war nicht übertrieben. Egal von wo wir geworfen haben, er hat immer getroffen. Du wirst schon sehen, wir werfen mindestens einen Korb gegen euch!“ „Alles klar! Wie du willst. Wir spielen bis zwanzig. Zwei gegen zwei. Mitchel, du und ich gegen die beiden Knirpse!“, beschließt Taylor. Die Jungen verteilen sich den Zaun entlang, nur Taylor und ein anderer Junge bleiben im Spielfeld. Antonio wird aus dem Gesprochenen nicht schlau und schaut von einem zum anderen. Enrico kommt zu ihm, seinen Arm legt er Antonio auf die Schulter und nimmt ihn beiseite. „Du, ich habe was ziemlich dummes gemacht“, sagt Enrico flüsternd, „Ich habe ein bisschen vor den Jungs geprallt, wie toll du werfen kannst, da wollten sie unbedingt gegen dich spielen. Wenn wir wenigstens einen Korb hinbekommen, stehe ich nicht ganz so dumm da. Meinst du, du schaffst das?“ Antonio sieht über die Schulter zu Taylor und Mitchel. „Aber die spielen viel besser als wir!“ „Na und?“ „Wir haben überhaupt keine Chance gegen die.“ „Ach, das wird schon. Wir müssen ja nicht gewinnen.“ Enrico schlägt ihm freundschaftlich auf den Oberarm. „Komm schon, wir zeigen es den Großmäulern!“ Er streckt ihm seine geballte Faust entgegen. „Bist du dabei?“, will er wissen. Ob Antonio jetzt seine Faust an die des Blonden legen muss? So etwas hat er schon oft unter den Jungen auf dem Schulhof gesehen. „Na schön, von mir aus“, stimmt er zu und ballt unsicher die Faust, dann drückt er sie an die von Enrico. „Super, ich wusste auf dich ist Verlass.“ Mit der flachen Hand schlägt Enrico ihm auf den Rücken. Antonio zuckt erschrocken zusammen. Er sieht Enrico nach, während der zurück auf das Spielfeld läuft. Na, wenn das mal gutgeht. Mit langsamen Schritten folgt Antonio ihm. „Ihr fangt an!“, entscheidet Taylor, er wirft Enrico den Ball zu. „Zu gütig“, sagt dieser schnippisch. Kann Enrico nicht einmal seine große Klappe halten? Warum lässt sich Taylor das gefallen? Es wäre für ihn doch ein Leichtes Enrico zu verprügeln. Warum tut er es nicht? Noch während Antonio dieses Geheimnis zu ergründen versucht, beginnt das Spiel. Enrico trippelt den Ball nach vorn, auffordernd sieht er Antonio an. Er soll ihm scheinbar folgen. Ein richtiges Spiel hat Antonio schon lange nicht mehr bestritten. Wie waren gleich noch die Regeln? Einfach den Ball nach vorn und in den Korb? Noch bevor er sich sicher ist, hat sich Taylor den Ball geholt und stürmt an ihm vorbei. Er ist kaum hinter ihm verschwunden, da wirft er schon seinen ersten Korb. Das geht ja gut los! Das sind dann zwei Punkte für die Anderen. So langsam erinnert Antonio sich wieder. Seufzend sieht er Mitchel und Taylor zu, wie sie sich abklatschen. Nur zögernd wagt er es, Enrico anzuschauen. Ist er jetzt sauer auf ihn? „Nicht so schlimm. Die wollen nur angeben. Weiter!“, ruft Enrico ihm zu. Glaubt er wirklich noch immer, sie haben eine Chance? Sein Optimismus ist wirklich zu beneiden. Doch egal, wie oft Taylor ihnen den Ball zugesteht, es dauert keine Minute, bis sie ihn wieder verloren haben. Vom ständigen hin und her rennen, geht Antonio langsam die Puste aus. Der Schweiß läuft ihm in Strömen über das Gesicht, sein Hemd ist durchgeschwitzt. In seinem Magen sticht die Leere, die ihn schon seit Tagen begleitet, ihm ist ganz schlecht davon. Er muss sich auf die Knie stützen. Sein Blick trübt sich, er blinzelt. Nicht hier und jetzt. Nur langsam verschwindet das flaue Gefühl, er kann sich wieder aufrichten. Enrico rennt den Kerlen verbissen hinterher. Sein Kampfgeist ist auch bei einem Spielstand von vierzehn zu null noch immer ungebrochen. Während Antonio an der Dreipunkte-Linie angehalten hat, läuft Enrico Taylor nach. Als dieser werfen will, springt er ihm in den Weg und sichert sich tatsächlich den Ball. Das war gar nicht schlecht! Enricos eisblaue Augen richten sich auf Antonio. Oh je, das ist keine gute Idee, jetzt den Ball zu ihm zu spielen. Er ist noch immer völlig außer Atem und seine Beine fühlen sich an wie Wackelpudding. Enrico spielt den Ball zu ihm. Sicher fängt Antonio den Pass, aber was soll er jetzt damit machen? Taylor und Mitchel kommen schon wieder auf ihn zu gerannt. „Wirf einfach!“, ruft Enrico. Auf Taylor und Mitchels Gesichtern breitet sich ein belustigtes Lächeln aus, sie halten an. „Von da trifft er doch nie!“, sagen sie und lachen. Finster sieht Antonio an ihnen vorbei und wirft den Ball über ihre Köpfe hinweg. Er fliegt bis an den Rand des Korbes und rollt auf ihm entlang. Antonio hält den Atem an, auch die übrigen Jungen versteinern. Der Ball kippt zur Seite, er fällt in den Korb. Wer trifft jetzt nicht von dieser Entfernung? Herausfordernd sieht Antonio sie an. Fassungslos mustern sie ihn. „Ich hab's euch ja gesagt!“, jubelt Enrico und kommt auf ihn zugelaufen. Ohne anzuhalten, rennt er Antonio um, gemeinsam knallen sie auf den harten Boden. „Du bist echt der beste Basketballspieler, den ich kenne! Wenn du kein Kerl wärst, würde ich dich jetzt küssen!“, sagt Enrico. Was? Erschrocken sieht Antonio in die eisblauen Augen. Er kann Enricos Atem im Gesicht spüren. Ein Kuss von ihm, von diesen nahen Lippen? Antonio schlägt das Herz bis zum Hals. Nein, so was geht doch nicht. Verschämt wendet er den Blick ab. Enrico löst sich von ihm, er steht auf und reicht Antonio die Hand, um ihm auf die Beine zu helfen. „Das sind zwei Punkte für uns, vielleicht schaffen wir ja noch einen Korb“, sagt er. „Das waren drei Punkte“, belehrt Taylor. Er sieht anerkennend auf Antonio herab. „Drei?“, fragt Enrico. „Ja, alle Würfe die von, oder hinter dieser Linie geworfen werden, zählen drei Punkte“, erklärt Mitchel. „Ach, deswegen hast du heute Morgen von hier aus geworfen, als ich zu dir gekommen bin. Du wolltest das üben.“ Antonio nickt. Sein Magen knurrt, das flaue Gefühl von eben kehrt unbarmherzig zurück. Dem Brechreiz folgt ein heftiger Schwindel. Antonio greift nach Enricos Schulter. Seine Beine wollen sein Gewicht nicht mehr tragen, er sackt auf die Knie. Schwer atmend bleibt er auf ihnen hocken. „Toni?“, fragt Enrico besorgt, er legt seine Hand auf Antonios Rücken. Warum muss ihm das ausgerechnet hier passieren? In diesem Zustand kann Antonio doch keinen einzigen Korb mehr werfen. Enrico nimmt es ihm sicher übel, wenn sich Taylor und seine Freunde deswegen über sie lustig machen. „Hey, Toni, was ist los?“, fragt Enrico. Die anderen Jungen verteilen sich um ihn herum. „Hey Mann, du siehst ganz blass aus. Alles in Ordnung?“ „Was hast du?“ „Alles okay bei dir?“, rufen sie durcheinander. „Es geht gleich wieder“, zwingt Antonio sich zu antworten. Der Schwindel wird nachlassen, wenn er sich einen Moment ausruht, das Stechen in seinem Magen nicht. „Hast du etwa Hunger?“, fragt Enrico. Antonio meidet seinen Blick. „Ein bisschen“, gibt er zu. „Wegen einem bisschen Hunger bricht man nicht zusammen“, sagt Taylor. Enrico schaut erst zu ihm und dann wieder auf Antonio. „Wie lange hast du schon nichts mehr gegessen?“, will er wissen. Antonio muss sich anstrengen, wenn er sich an seine letzte Mahlzeit erinnern will. „Heute Morgen, das Eis von dir.“ „Nein, ich mein was Richtiges.“ Antonio überlegt, es ist schon so lange her, dass er es nicht mehr genau sagen kann. „Ich glaube vor drei Tagen.“ Die Jungen sehen ihn erschrocken an. Schwerfällig kämpft Antonio sich auf die Beine. „Es geht schon wieder“, sagt er und zwingt sich ein Lächeln ins Gesicht, doch die besorgten Blicke bleiben. „Wir geben auf!“, sagt Enrico. Sie tun was? Es geht Antonio doch schon wieder besser, sie können ruhig weiterspielen. Enrico legt seine Hand auf Antonios Schulter. „Komm, gehen wir dir was zu essen kaufen.“ Das kann Antonio unmöglich annehmen. Enrico hat ihm doch heute Morgen schon etwas ausgegeben. „Aber... “, versucht er zu protestieren. „Keine Widerrede!“, sagt Enrico streng. „Ja, kümmere dich um ihn, wir hätten so oder so gewonnen“, sagt Taylor. Enrico schlägt ihm auf den Oberarm, grimmig schaut er ihn an. „Gar nicht wahr! Das Spiel holen wir nach und dann ziehen wir euch ab!“ „Schon klar, Kurzer!“ Lachend bringt Taylor Enricos Haare durcheinander. „Lass das!“ Enrico richtet seine Frisur, dann wendet er sich an Antonio: „Na komm, gehen wir, bevor du mir nochmal zusammenbrichst!“ Gemeinsam lassen sie den Basketballplatz hinter sich. Während sie durch den Park laufen, kramt Enrico eine Geldbörse aus seiner Hosentasche. Er sieht den Inhalt durch, ein Seufzer kommt ihm dabei über die Lippen. „Enrico, ist schon gut. Ich bekomme vielleicht Morgen wieder was, du musst wirklich nicht...“, sagt Antonio, doch Enrico fällt ihm ins Wort: „Vielleicht? Sind deine Eltern so arm?“ Was soll Antonio ihm darauf antworten? Er kann ihm ja schlecht erklären, dass ihm seine Essensmarken und seine letzte Mahlzeit von Andy gestohlen wurden. So wie er ihn einschätzt, würde Enrico sich wohl selbst mit der Dreierbande anlegen und die sind bei weitem nicht so tolerant, wie Taylor und seine Freunde. Wenn er denen dumm kommt, prügeln die ihm sicher die Seele aus dem Leib. Also beschließt Antonio besser zu schweigen. „Schon gut, das muss dir nicht peinlich sein“, sagt Enrico. Antonio wendet den Blick ab. „Ich hab´ nicht mehr viel Geld, aber für ein paar Hotdogs reicht es noch. Ich hoffe, die magst du.“ Antonio ist ganz egal, was Enrico kauft, er kann im Moment alles essen und trotzdem fühlt es sich beschissen an, so etwas von ihm anzunehmen. „Danke!“, sagt Antonio. Enrico lächelt. „Schon gut, wofür hat man denn Freunde?“ Wenn Antonio das nur wüsste. Bisher gab es nur Snowflake, den er als Freund bezeichnet hat, aber dem muss er Futter mitbringen. Ohne Umwege geht Enrico auf einen Verkäufer zu, an dem Antonio schon oft vorbeigekommen ist. Aus seinem Wagen duftet es köstlich nach gebratenen Würstchen. Enrico leert seine Geldbörse auf dem Tresen des Mannes. „Wie viele Hotdogs bekomme ich dafür?“, fragt er. „Drei!“, antwortet der Verkäufer. „Dann drei, bitte!“ Antonios Magen knurrt erwartungsvoll. Während der Verkäufer die Brötchen füllt, läuft ihm bereits das Wasser im Mund zusammen. Wenn er nur schon einen davon in der Hand hätte und damit verschwinden könnte. Seine Bedenken von eben sind wie weggeblasen. Der köstliche Geruch und die Aussicht auf eine Mahlzeit bestimmen sein ganzes Denken. Als Enrico ihm den ersten Hotdog reicht, nimmt er ihn schnell an sich und flüchtet auf die nächste Parkbank. Der Blick seines Freundes folgt ihm, doch Antonio beachtet ihn nicht. Er stopft sich das Brötchen samt Wurst in den Mund, gierig schlingt er es hinunter. Endlich etwas essen, endlich das unerträgliche Stechen bekämpfen, dass ihn schon seit Tagen quält. „Schmeckt es?“, fragt Enrico und setzt sich neben ihn. Antonio schaut auf. Ob es schmeckt weiß er gar nicht, so schnell hat er alles hinunter geschlungen. Trotzdem nickt er. „Du hast wirklich Hunger, was?“, fragt Enrico. Er hält ihm einen zweiten Hotdog hin. Antonio zögert. „Nimm nur!“, sagt sein Freund. Das Lächeln ist aus Enricos Blick verschwunden, die eisblauen Augen schauen besorgt. Es ist sicher unverschämt, den auch noch zu essen, doch Antonios Magen verlangt nach mehr. Er kann nicht widerstehen und greift zu. Doch dieses Mal lässt er sich Zeit. Das schmeckt richtig gut. Wenn er doch nur Geld anstatt Marken bekommen würde, dann könnte er sich so etwas öfters kaufen. Das Essen in der Kantine ist immer gleich und Hotdogs und Eis gibt es dort auch nicht. Als Antonio den halben Hotdog gegessen hat, fällt ihm sein Kater wieder ein. Erschrocken betrachtet er den Rest des Würstchens im Brot. Wie kann er nur so egoistisch sein? Das Tier hat auch seit Tagen nichts mehr gegessen. Wenigstens das halbe Würstchen sollte er ihm mitbringen. Er fischt es aus dem Brot und legt es in die Serviette, die der Verkäufer um jeden Hotdog gewickelt hat. „Magst du die Wurst nicht?“, fragt Enrico. „Doch, aber mein Kater hat auch schon lange nichts mehr gegessen“, erklärt Antonio. Enrico nickt. „Dann nimm den auch mit!“, sagt er und legt den letzten Hotdog vor Antonio auf die Parkbank. „Willst du den denn nicht?“ „Nein danke, ich bin satt. Bestell deinem Kater liebe Grüße von mir!“ „Das werde ich“, erwidert Antonio. Er wickelt den Hotdog mit in die Serviette und verstaut sie in seiner Jackentasche, dann stopft er sich den Rest des Brötchens in den Mund. Enrico steht auf. „Ich muss langsam heim. Bevor die Sonne untergeht, soll ich heute zu Hause sein.“ Antonio erhebt sich ebenfalls. Lächelnd sagt er: „Enrico, danke! Ich werde mich irgendwann revanchieren, versprochen!“ Enrico schaut nachdenklich vor sich hin. „Hast du morgen früh Zeit?“, fragt er. „Wenn ich nicht arbeiten muss.“ „Du arbeitest und dann auch noch am Wochenende?“ Wieder so eine Frage, die Antonio nicht ehrlich beantworten kann, so sagt er nur knapp: „Ja!“ „Na ja, wenn du es einrichten kannst. Mein Bruder und ich könnten Hilfe beim Decken unseres Daches brauchen. Du bist doch schwindelfrei, oder?“ Ist er, Antonio hat sein halbes Leben auf Dächern und Mauern verbracht. „Ich habe keine Angst vor Höhen oder so, aber ich habe auch noch nie ein Dach gedeckt.“ „Ich auch nicht“, sagt Enrico und lacht, „Mein Bruder ebenfalls nicht. Es reicht, wenn es dicht ist, hübsch muss es nicht aussehen.“ „Na gut, ich werde es versuchen“, verspricht Antonio. „Sehr gut! Es gibt auch selbstgemachte Limonade und was zu essen.“ Die Aussicht auf noch mehr zu Essen, lässt Antonio freudig Lächeln. „Ich werde es einrichten, irgendwie!“, sagt er. Kapitel 7: ~Neue Pflichten~ --------------------------- Antonio hat jetzt einen Freund, keinen der nur Schnurren kann, sondern einen richtigen. Der ganze Tag spukt immer wieder aufs Neue durch seine Gedanken. So gern möchte er den noch einmal erleben dürfen, am besten jeden Tag so verbringen. Schade, dass Enrico schon nach Hause musste, aber zumindest kann Antonio nun endlich seinen Kater füttern. Etwas schneller läuft er dem Hochhaus entgegen und betritt es durch die Drehtür. Die Empfangshalle ist dunkel, nur der Wachmann sitzt auf seinem Posten und liest die Tageszeitung. Antonio steigt in den Fahrstuhl und wählt den neunten Stock aus. Mit einem Ruck setzt sich die Kabine in Bewegung. Stock Sieben, Acht, die Anzeige springt auf Neun, er schiebt das Gitter auf. Antonio geht weiter bis zur Tür seines Apartments und kramt in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel. Hinter der Tür hört er die Pfoten des Katers über das Parkett tapsen, gefolgt von einem kläglichen Miauen. Antonio legt seine Hand auf die Klinke. Der Kater faucht, er flüchtet. Eine Hand berührt Antonio an der Schulter. Entsetzt hält er den Atem an und dreht sich um. „Du bist ganz schön früh zurück”, sagt Butch. Antonio atmet aus und greift sich an sein bebendes Herz. „Ich… ich wollte nur Snowflake füttern!” „Das wirst du verschieben müssen. Wir haben Besprechung und du musst mich begleiten.” Antonio steckt den Schlüssel wieder ein. „Worum geht es denn?”, will er wissen. „Um dich!”, antwortet Butch. Ein großer Kloß bildet sich in Antonios Hals. Ist es jetzt soweit? Kommt jetzt diese große Sache, gegen die sich Michael so gesträubt hat? Mit einem Lächeln sieht Butch auf ihn herab, antwortet aber nicht, sondern geht zum Fahrstuhl. Antonio folgt ihm mit weichen Knien. Im inneren der Kabine beobachtet er, wie Butch das Schloss entriegelt und den zwanzigsten Stock auswählt. Dort hat die Führungsspitze des Clans Büroräume gemietet. Es ist eine Ehre hier her eingeladen zu werden. Wieder sieht Antonio fragend zu Butch auf. Der dunkelhäutige Hüne verschränkt die Arme hinter dem Rücken und lächelt geheimnisvoll. Die Kabine setzt sich in Bewegung. Antonio schlägt das Herz bis zum Hals, seine Hände sind nass und eiskalt. Die Anzeige springt auf die Zwanzig, Butch öffnet das Gitter und geht voraus. Antonios Beine zittern, wollen ihn kaum tragen. Sie nähern sich zwei großen Türen. Schon von weitem kann Antonio im Raum dahinter eine Unterhaltung hören: „Ich bin immer noch dagegen!” Das ist Michaels Stimme. „Es ist aber nicht deine Entscheidung!” Ist das ihr Chef? „Ihr Beide macht einen großen Fehler. Er ist noch lange nicht so weit”, protestiert Michael. Sie sind da. Butch öffnet die Türen. Antonio folgt ihm in den hell erleuchteten Raum. Ein langer Tisch erstreckt sich durch das ganze Zimmer, an ihm stehen viele Stühle, aber nur einer ist besetzt. Ganz am Ende des Raumes, an der Stirnseite, sitzt ein großer Mann. Er trägt seine schwarzen Haare lang und zu einem Zopf zurückgebunden. Seine dunkelbraunen Augen durchbohren Antonio. Neben ihm steht Michael, sein Blick ist finster und herablassend, wie immer. Butch geht um den Tisch herum, bis zum Stuhl des Chefs. Mit einem Schwenk seines Kopfes bedeutet er Antonio, dass er ihm folgen soll. „Setz dich!”, befiehlt Butch, als Antonio ihn erreicht. Er selbst nimmt auf einem Stuhl daneben Platz. Antonio tut was er verlangt. Sein Blick bleibt respektvoll auf die Tischplatte gerichtet. „Du bist also Antonio Bandel? Butch hat mir schon viel von dir erzählt“, beginnt der Chef zu sprechen. Antonio sieht seinen Gönner fragend an. Butch lächelt zufrieden. „Michael im Übrigen auch”, fährt der Chef fort. Großartig! Antonio will nicht wissen, was sein Ausbilder über ihn erzählt hat. Etwas Gutes wird es sicher nicht gewesen sein. Michael hat die Arme verschränkt und gibt ein abfälliges Schnauben von sich. Er geht um den Stuhl des Chefs herum und stützt sich mit einem Arm auf die Lehne. Alle Blicke ruhen auf Antonio. Er sieht wieder auf die Tischplatte. Wenn sie nur endlich sagen würden, worum es geht. Er fühlt die Anspannung im ganzen Körper, seine Hände ballt er auf den Knien zu Fäusten. „Man erzählt sich du wärst der beste Schütze meines Clans. Schön dich endlich persönlich zu treffen”, sagt der Chef. Nur zögernd wagt Antonio, dem Mann ins Gesicht zu schauen. „Danijel…!”, sagt Michael. „Sei still!” „Aber er ist noch viel zu jung!” „Ich sagte, du sollst deine Klappe halten!” Ein Seufzer verlässt Michaels Lippen, während er die Arme in die Seiten stemmt. Antonio muss schmunzeln. Noch nie hat er mitansehen dürfen, dass jemand Michael die Stirn bietet, ihn sogar zum Schweigen bringt. Das gefällt ihm. „Okay, zum Geschäftlichen!“, richtet sich Danijel an ihn. „Ich beobachte deine Aktivitäten schon länger und mich erstaunt die Präzision, mit der du schießt. Für einen Vierzehnjährigen eine beachtliche Leistung.” „Glaub ja nicht, dass er dich wegen deines Könnens befördern will. Unser bester Cleaner ist uns lediglich abhandengekommen”, fährt Michael dazwischen. Finster sieht ihn Danijel an. „Was denn? Ist doch wahr!”, knurrt Michael. „Muss ich meine Anweisung wirklich wiederholen?“, fragt Danijel schroff Michael schweigt. „Auch, wenn ich es nicht gern zugebe, aber Michael hat Recht. Wir mussten uns unseres besten Cleaners entledigen. Die Einzelheiten sind für dich nicht von Belang. Wichtig ist nur, dass seine Stelle frei geworden ist. Wir haben lange diskutiert, wer seine Nachfolge antreten soll. Wie du sicher schon bemerkt hast, hast du hier einen Fürsprecher und einen der strikt dagegen ist.” Butch legt seine rechte Hand auf Antonios Schulter. Die Last scheint Antonio genauso bedrückend, wie die Erkenntnis, die sich langsam aber Sicher in ihm breit macht. Sie wollen einen professionellen Killer aus ihm machen? „Ich persönlich habe mich dafür entschieden, es mit dir zu versuchen. Du arbeitest schon lange für uns und weißt, worauf es uns ankommt. Da Michael dich ausgebildet hat, habe ich auch keine Zweifel an deiner Loyalität dem Clan gegenüber. Laut Butch triffst du einen Kronkorken auf einen Kilometer Entfernung. Das hat bisher noch keiner meiner Männer geschafft. Ich hoffe du enttäuschst mich nicht!” „Falls doch, gehörst du wieder mir!”, knurrt Michael. Irritiert sieht Antonio ihn an. Wenn nicht Michael, wer wird dann seine Ausbildung fortsetzen? „Du bist still und hörst zu, das gefällt mir. Wenn nur alle in diesem Raum so wären“, sagt Danijel und tauscht einen feindseligen Blick mit Michael. Daran zuzusehen, wie Michael zurechtgewiesen wird, könnte Antonio sich gewöhnen. Doch nur allzu schnell richtet sich die Aufmerksamkeit des Chefs wieder auf ihn. „Ab Morgen will ich dich hier jeden Tag nach dem Frühstück sehen. Du nimmst an unseren Sitzungen teil und wirst von Butch alles Wichtige lernen.“ Danijel legt Antonio einen Schlüssel auf den Tisch. „Von heute an wirst du den immer bei dir tragen. Damit entriegelst du den Fahrstuhl. Ich habe keine Lust jedes Mal Michael oder Butch zu schicken, wenn ich dich sehen will.“ Antonio nickt und nimmt den Schlüssel an sich. So etwas Wichtiges hat ihm noch nie jemand anvertraut. Er ist sich nicht sicher, was er dazu sagen soll, also schweigt er weiterhin. „Gut!“, Danijel schaut zufrieden, „Dein Codename lautet Polarwolf. Sollte dich jemand ohne diesen Namen kontaktieren, leg ihn um, wenn es geht, oder suche das Weite.“ Antonio graut es bei der Vorstellung, doch er bemüht sich darum, sich nichts anmerken zu lassen. „Von jetzt an will ich dich nur noch anständig gekleidet sehen. Anzug und Krawatte sind das mindeste. Sieh zu, dass du einmal am Tag die Dusche von innen siehst. Du repräsentierst in Zukunft unseren Clan und hast somit einen Ruf zu verlieren.“ Antonio sieht an sich hinab. Vom rauen Spiel mit den Jungs, ist seine Kleidung dreckig. Er riecht sicher auch unangenehm, immerhin war er nach dem Spiel komplett durchgeschwitzt. Verlegen sieht er unter dem Blick Danijels hinweg. Hätte er gewusst, dass ihm heute ein so wichtiges Treffen bevorsteht, dann wäre er noch einmal duschen gegangen. „Aus dem Grund hat mich Butch um das hier gebeten.” Danijel legt zwei weitere Schlüssel an einem Ring auf den Tisch. „Die sind für dein neues Apartment.” Antonio nimmt auch diese Schlüssel entgegen. „Butch wird dir alles zeigen, er ist von nun an dein Mentor.” Antonio lächelt unwillkürlich. Nie wieder Training mit den älteren Jungen, nie wieder Prügel? „Das heißt aber nicht, dass du nicht mehr trainierst“, sagt Michael. Antonio seufzt. Es wäre auch zu schön gewesen. „Zweimal pro Woche wird Michael deine Ausbildung ergänzen“, fährt der Chef fort. Michael grinst gehässig. „In deinem Apartment wirst du zwei Gitarrenkoffer finden. In einem ist das Gewehr, im anderen eine Gitarre. Ich will, dass du spielen kannst, deswegen wirst du einen Hauslehrer bekommen, der dir das Gitarrenspielen beibringt. Das ist weniger auffällig, wenn du später mit dem Scharfschützengewehr unterwegs bist. Alles, was sonst noch wichtig ist, steht in deinen Zimmern. Den Rest erklärt dir Butch, wenn ihr dort seid.” Der Chef erhebt sich. „Danijel!”, sagt Butch. „Ach ja. Butch hat mich auch um die hier gebeten.” Danijel legt eine Karte auf den Tisch. Sie ist aus Plastik und sieht wichtig aus. „Mit der kannst du überall im Hochhaus kostenlos essen.” Das ist irgendwie viel zu viel Freundlichkeit auf einem Haufen. Was genau muss Antonio dafür tun? So ganz ist ihm das bisher noch nicht klar geworden, aber er traut sich auch nicht zu fragen. „Ihr zwei kennt ja eure Aufgaben für heute Abend. Ich ziehe mich fürs Erste zurück”, richtet sich Danijel an Butch und Michael. Sein finsterer Schatten legt sich über Antonio. „Enttäusche mich nicht!”, sagt er, dann verlässt er den Besprechungsraum. Stille breitet sich aus. Ungläubig betrachtet Antonio die erhaltenen Gegenstände. „Kommst du allein klar?”, fragt Butch Michael. „Sicher, ich freue mich schon den ganzen Tag auf nichts anderes. Immer wieder schön, dass die Drecksarbeit an mir hängen bleibt.” Er verlässt den Raum. „Butch… ich… also ich weiß nicht, was ich sagen soll”, beginnt Antonio. Er kommt sich zunehmend verloren vor. Was genau erwarten die großen Drei jetzt von ihm? „Wie wäre es mit danke?”, fragt Butch. „Danke?”, bringt Antonio mit brüchiger Stimme heraus. Butch schmunzelt. „Na komm! Ich zeig´ dir deine neuen Zimmer“, schlägt er vor. Gemeinsam verlassen sie den Besprechungsraum. Den Schlüssel verstaut Antonio in seiner Hosentasche. Sorgfältig packt er den Ausweis für die Cafeteria in seine Jacke. Über den Fahrstuhl gelangen beide in den 22. Stock. Nach ein paar Schritten durch den Flur stehen sie vor einer weißen Tür. „Na schließ schon auf!”, sagt Butch. Stimmt ja, Antonio hat den Schlüssel. Er holt ihn aus der Tasche und öffnet die Tür. Dahinter befindet sich ein großes Wohnzimmer. In der Mitte ist ein gläserner Tisch aufgestellt, Blumen sind auf ihm hergerichtet. Unmittelbar davor steht ein weißes Sofa und neben diesem zwei Sessel. Kunstvoll verzierte Möbel, Bücherregale, Schränke und ein großes Radio möblieren das Apartment. Auf dem Boden liegt ein flauschiger Teppich und hinter all dem kann man die Stadt sehen. Wände gibt es keine, nur große, gläserne Fassaden. Staunend sieht Antonio sich um. „Na komm, es gibt noch mehr zu sehen!”, sagt Butch und legt seinen Arm um ihn, dann drängt er ihn einzutreten. Antonio fällt ein Fressnapf und mehrere Dosen Tunfisch auf dem Boden neben der Tür auf. Darf Snowflake etwa mit umziehen? Hat Butch auch daran gedacht? Mit einem Lächeln beobachtet der dunkelhäutige Hüne ihn, wie er seine neuen Zimmer erkundet. Zwei Türen führen aus dem Wohnzimmer heraus. Neugierig wagt Antonio sich an die Erste. Ein Badezimmer, ganz in weiß gefliest. Das ist nicht zu vergleichen mit den Gemeinschaftsduschen, ein paar Stockwerke tiefer und das darf er von nun an benutzen? Wann immer er will? Aber sicher, Danijel hat ja gesagt, er müsse von nun an immer gepflegt aussehen. Am Boden neben der Dusche steht ein Katzenklo. Nun ist er sich ganz sicher, sein Kater darf auch hier wohnen. Was sich wohl hinter der zweiten Tür verbirgt? Antonio öffnet sie. Auch hier sind die Möbel außergewöhnlich schön verziert. Ein großes Doppelbett steht in der Mitte, darauf liegen zwei Gitarrenkoffer. Vom Bett wandert Antonios Blick zum Kleiderschrank. Als er ihn öffnet, enthüllt er eine große Auswahl an allen möglichen Kleidungsstücken. Von festlichen Anzügen bis hin zu normaler und Sportkleidung. „Na, gefällt es dir?”, fragt Butch und lehnt sich an den Rahmen der Tür. „Sicher, aber ich verstehe es nicht. Warum hilfst du mir?” Schon lange liegt Antonio diese Frage auf dem Herzen. „Weil ich dich als Partner will“, antwortet Butch. Antonio macht große Augen. „Partner? Aber wofür denn?“ „Ich werde einen Cleaner aus dir machen!“ Entsetzt sieht Antonio ihn an. Nun ist es also ganz offiziell, er soll wirklich ein Mörder werden. „Ein Cleaner, ich?“ „Ja! Was dachtest du denn, warum wir dir den Umgang mit all diesen Waffen beibringen?“, fragt Butch belustigt. Antonio hat zwar diesen einen Mann bei der Aufnahmeprüfung umgebracht und musste auch schon beim Training auf Obdachlose und Einwanderer schießen, aber das hat er als notwendiges Übel angesehen. Dass er wirklich für die Ausbildung zum Killer in Frage kommt, damit hat er nie gerechnet. Er lässt sich in einen der Sessel sinken. Butch bleibt hinter ihm stehen, er legt ihm seine Hand auf die Schulter. Wie eine zu schwere Last fühlt sie sich an. „Keine Sorge, du wirst dich schon daran gewöhnen, dafür werde ich sorgen. Aber jetzt freu‘ dich erst einmal über dein neues Zuhause. Über alles andere sprechen wir morgen. Dein Hauslehrer kommt erst Ende der Woche, bis dahin solltest du mit der Gitarre üben. In der untersten Schublade deines Schreibtischs liegt ein Buch dafür. Deinen Kater musst du im Übrigen selber holen. Das ist das Einzige, was mir nicht gelungen ist.” Demonstrativ erhebt Butch seinen rechten Arm und schiebt den Stoff des Hemdes zurück. Lange Kratzspuren ziehen sich über seinen Unterarm. Antonio muss schmunzeln. „Er mag eben keine Fremden”, erklärt er. „Ich hoffe, er weiß das Futter und sein neues Zuhause zu würdigen. Sonst muss ich in Zukunft mit Schutzanzug hier herkommen, um dir was beizubringen.” Sie lächeln beide, doch nur allzu schnell werden sie wieder ernst. „Butch, ich… ich werde mir Mühe geben!” „Das will ich hoffen.” Butch öffnet die Tür. „Ach, da fällt mir ein: Das hier waren die Zimmer deines Vorgängers. Ich habe zwar alles durchgesehen, solltest du dennoch etwas finden, lass es mich wissen.” „Geht klar!” Butch geht, er schließt die Tür, dann verlieren sich seine Schritte auf dem Flur. So ruhig ist es in Antonios altem Zimmer nie gewesen. Die Wände waren so dünn, dass er jeden Schritt der Nachbarn hören konnte. Auch so viel Platz ist Antonio nicht gewohnt. Seufzend sieht er sich in dem großen Wohnzimmer um. So ganz allein kommt er sich hier verloren vor. Wenn wenigstens Stimmen den Raum erfüllen würden. Aber Moment, Snowflake - kein Wunder, dass er sich nicht wie zu Hause fühlen kann. Obwohl sie gerade über ihn gesprochen haben, hat Antonio den weißen Perser fast vergessen. Mit dem Schnurren des Katers ist es hier sicher viel angenehmer. Antonio erhebt sich und verlässt sein Zimmer. Über den Flur läuft er zum Fahrstuhl und fährt mit ihm in den neunten Stock. Sicher wird Snowflake schon sehnsüchtig auf ihn warten. Besonders auf die Mahlzeit, die er ihm mitgebracht hat. Schnell ist der Schlüssel im Schloss gedreht und die Tür geöffnet. Stürmisch kommt der Perser ihm entgegen. In fließenden Bewegungen schmiegt sich der magere Kater an seine Beine. Als Antonio in die Knie geht, um ihn zu streicheln, springt Snowflake ihm in den Schoß. Der ganze Kopf des Katers verschwindet in seiner Jackentasche. „Hey, du Vielfraß, warte doch ab!”, schimpft Antonio, als der Kater damit beginnt die Serviette mit den Zähnen zu zerlegen. „Du sollst das lassen!” Antonio muss Snowflake mit aller Kraft seiner Jackentasche entreißen. „Wir packen das oben aus.” Mit dem Kater auf dem Arm erhebt Antonio sich. So hungrig, wie das Tier ist, wird er wohl noch eine Dose Tunfisch aufmachen müssen. Besser, er bringt das flauschige Bündel rasch in sein neues Apartment. Antonio fährt wieder nach oben. Als er aus dem Fahrstuhl steigt, dringt ihm ein seltsamer Geruch in die Nase. Es riecht verbrannt. Antonio sieht sich um. Weder Qualm noch Rauch. Hat er sich getäuscht? Ein Schrei durchdringt die Dunkelheit und lässt ihn zusammenzucken. Ein weiterer folgt. Der Gestank nach verbranntem Fleisch wird stärker. Was, wenn es doch brennt? Dem muss er auf den Grund gehen! Antonio läuft los, den Flur entlang. Da, ganz hinten, da dringt doch Licht aus einem der Zimmer. „Waren es die paar mehr Kröten wirklich wert? Was nützt dir die Kohle jetzt?” Das ist doch Michaels Stimme. Der Gestank von Verbranntem ist hier am stärksten. Antonios Magen rebelliert, Brechreiz steigt ihm in die Kehle. Vorsichtig späht er durch die offenstehende Tür in den Raum dahinter. Tatsächlich steht dort Michael. „Das ihr Auftragskiller den Hals nie voll genug bekommen könnt!”, sagt er. In der Hand hält er einen glühenden Schürhaken. Am Boden liegt ein Mann. Sein ganzer Körper ist von Schnitt- und Brandwunden übersät. An den Wänden und auf dem Boden klebt sein Blut. Wie angewurzelt bleibt Antonio vor der Tür stehen, dabei sagen ihm all seine Sinne, dass er fliehen muss, aber er kann sich nicht rühren. Selbst dann nicht, als Michael sich ihm zuwendet. Mit langsamen Schritten nähert sich sein Ausbilder der Tür. Antonios Herz setzt aus, sein Atem stockt. Lauf, ermahnt er sich immer wieder, während er am ganzen Körper zu zittern beginnt. Seine Beine sind schwer wie Blei, sie gehorchen seinem Willen nicht. Als sein Ausbilder die Tür aufzieht, drückt Antonio seinen Kater fest an sich. Snowflake faucht, kratzt und beißt, doch Antonio spürt den Schmerz nicht, zu entsetzt ist er von dem Anblick des verletzten Mannes. Michael zieht Antonio am Kragen ins Zimmer. „Schön, dass du so neugierig bist. Das erspart mir lange Erklärungen”, sagt er und zwingt Antonio den am Boden liegenden Mann anzusehen. „Das ist dein Vorgänger”, haucht er ihm ins Ohr. Hilfesuchend sieht der Kerl am Boden zu ihm auf. Sein Blut fließt bis an Antonios Füße. Er macht einen Schritt zurück. „Das Eine kann ich dir versprechen: Solltest du den Clan in Gefahr bringen oder uns verraten, blüht dir das Gleiche”, droht Michael. Noch enger drückt Antonio den Perser an sich. Die Panik in seinem Herzen betäubt alle Gefühle. Er hat nichts falsch gemacht, redet er sich immer wieder ein. Stets war er dem Clan treu ergeben. Michael hält ihm den Schürhaken nah ans Gesicht. Antonio spürt die Hitze der glühenden Spitze an der Wange. Eisige Schauer rinnen ihm den Rücken hinab. „Merk dir das gut, Grünschnabel!”, schnauzt Michael ihn an. „J-ja!“, stammelt Antonio. „Gut! Und jetzt verschwinde!”, weißt Michael ihn an und drängt Antonio zur Tür zu gehen. Wie gelähmt sieht er Michael an. „Ich sagte raus!” Sein Ausbilder stößt ihn in den Flur. Die Tür schlägt er ihm vor der Nase zu, dann sind wieder diese fürchterlichen Schreie zu hören. Sie werden schwächer und leiser, bis es schließlich wieder still ist. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)