Die Farbe Grau von Cocos ================================================================================ Kapitel 38: Offenbarungen ------------------------- Zu sagen, dass Omi die vergangene Nacht auch nur ein einziges Auge zugetan hatte, wäre eine gnadenlose Übertreibung gewesen. Er hatte Stunde um Stunde wachgelegen und das Für und Wider eines erneuten Eingreifens in seinen Gedanken durchgespielt. Die Argumente waren zum Schluss immer die gleichen gewesen, was sich aber veränderten, waren die Emotionen. Was zu Beginn seiner Überlegungen undenkbar gewesen war, hatte zum Ende der Nacht hin an Notwendigkeit gewonnen. Aya hatte ihm den notwendigen Freiraum gegeben, sich darüber im Klaren zu werden und Omi war dankbar für das Schweigen des anderen Mannes gewesen, dessen ruhige Atmung ihm eine stetige Beruhigung gewesen war, während seine Gedanken in ängstlichen wie auch wütenden Kreisen gelaufen waren. Die Sicherheit, die Aya ihm vermittelte, hatte ihn vor einer durchdringenden Panik bewahrt, auch wenn Omi wusste, dass es nicht mehr als eine emotionale Sicherheit war. Gegen Schwarz konnten sie alle nichts ausrichten, wenn diese es wirklich darauf anlegten. Auch ein Vertrag würde jemanden wie den Telepathen oder auch den verrückten Iren des Teams nicht aufhalten. Und dennoch schien sein eigener Anführer eine Art Dompteur für zumindest diejenigen Schwarz zu sein, die ihn gefoltert hatten. Sobald Omi dazu den Mut gefunden hatte, seinen Blick nicht vor dem Anführer von Schwarz zu senken, sondern ihn auch zu beobachten, war ihm über die letzten Tage eines aufgefallen, das ganz deutlich aus all dem Chaos herausstach, das ihre Zusammenarbeit definierte: das Orakel orientierte sich an seinem Anführer. Wie ein Lot tarierte Aya den Schwarz aus und schien alleine durch seine Gegenwart einen Einfluss auf ihn auszuüben. Beruhigenden Einfluss auf den immer angespannten Mann, dessen zerstörerischer Zorn soviel Schlimmes anrichten konnte. In Ayas Gegenwart kehrte jedoch Ruhe in den Mann ein, die Omi beinahe schon körperlich spürte. Das galt zwar nicht für Schuldig, doch auch dem Telepathen trat Aya schier furchtlos gegenüber und das, obwohl er sich in der Gewalt der Schwarz befunden hatte. Länger als er. Er hatte keine Angst vor ihnen. Auch nicht vor Schuldig, dessen sadistischem Grinsen und dessen bissigen Kommentaren. Aya hatte keine Angst, weil er wusste, dass die beiden Schwarz ihm nichts tun würden und daran labte sich Omi, vielmehr Omis Angst vor den beiden Männern, die er mit dem Glauben an Aya in Schach hielt. Eben jener Mann tauchte nun aus seinem tiefen Schlaf auf und runzelte noch nicht gänzlich wach seine Stirn. Er lang zu Omi gewandt und rollte sich nun auf den Rücken, grollte unerfreut über das morgendliche Aufwachen. Omi musste unwillkürlich schmunzeln und legte seinen Kopf auf den Oberarm. Stumm und geduldig wartete er, bis Aya gänzlich wach war und sich mit dem Gedanken angefreundet hatte, seine Augen zu öffnen. Komisch… er hatte immer angenommen, dass ihr Anführer wach werden und gleich aufstehen würde. Dass dieser sich aber so dagegen sträuben würde, auch nur das zweite Auge zu öffnen, war unerwartet und hochgradig amüsant. „Guten Morgen“, murmelte er dem Mann entgegen, der seinen Kopf gerade wieder in das Kissen vergraben wollte und dessen Blick ihm nun nur so zuflog. „Omi“, krächzte Aya und räusperte sich, bevor er sich ihm zudrehte und sich über die Augen wischte. Ausgiebig gähnte er. „Warum bist du schon wach? Es ist viel zu früh.“ So früh war es auch nicht mehr mit sieben Uhr, doch Omi hatte das untrügliche Gefühl, dass es nichts brachte, mit Aya über diesen Punkt zu diskutieren. „Ich habe nachgedacht, über das, was Schuldig gestern gesagt hat“, erwiderte er anstelle dessen und Aya wurde mit einem Schlag hellwach. Aufmerksam und scharf lagen die violetten Augen auf Omi und ließen ihn unter der besorgten Wucht beinahe in sich zusammenschrumpfen. „Du musst das nicht tun, Omi. Niemand zwingt dich dazu.“ „Das weiß ich, Aya. Trotzdem wären es Informationen, die nützlich wären, Takatori zu finden und ihn endgültig zu vernichten. Ganz zu schweigen von Lasgo.“ Sorgenvoll runzelte Aya die Stirn. „Nicht um jeden Preis.“ „Das ist richtig. Aber der Preis ist zahlbar.“ „Bist du dir da wirklich sicher?“ Omi lächelte schief. „Nein, ganz und gar nicht. Ich habe Angst davor. Vor dem Gefühl und vor Schuldig.“ „Dann steht es außer Frage, ob du ihn in deine Erinnerungen lässt“, grimmte Aya. „Ja, das tut es, weil es einen wichtigen Beitrag für unsere Arbeit liefern kann, was sich hinter der Mauer befindet. Ich werde das durchstehen, Aya, mit deiner Hilfe und Unterstützung.“ Omis Ton machte deutlich, dass er in dieser Angelegenheit keinen Widerspruch mehr zuließ. Das Nicken des rothaarigen Mannes war Labsal für Omis innere Unruhe. „Immer. Wann und wo du mich brauchst.“ Der jüngste Weiß lächelte. „Danke dir.“ Er schloss die Augen, als sich die Erschöpfung der vergangenen Nacht breitmachte und die Erleichterung über die Entscheidung und Unterstützung durch Aya an seiner minimal vorhandenen Kraft zerrte. „Gute Nacht, Aya“, murmelte Omi und das amüsierte Schnauben seines Anführers schickte ihn mühelos in den Schlaf. ~~**~~ „Hier gibt es Krebse.“ Als wenn in dieser Situation potentielle Krebse wirklich das größte Problem waren, grollte Omi gedanklich und ließ seinen Blick über den die Rase rümpfenden Telepathen schweifen, der es sich nicht hatte nehmen lassen, seine Ortswahl auf jedem Schritt die Klippen hinunter mit Murren zu kommentieren. Dessen nicht genug, war ihm der Strand zu überlaufen von den paar Krebsen, die um sie herum auf dem Strand unterwegs waren und sich nicht an ihnen störten, sie höchstens als zu umlaufendes Hindernis wahrnahmen. Omi wiederum störte sich nicht an dem Gemurre des Schwarz. Ihm oblag die Wahl des Ortes, an dem Schuldig erneut in seine Gedanken eindringen würde und er hatte sich für diesen Strand am Fuß der Klippe hinter dem Haus entschieden, der am Wenigsten Ähnlichkeit mit dem Keller hatte, in dem Mastermind ihn gefoltert hatte. Die Weite und das Rauschen des Meeres überdeckten ohne Mühe die Stille, die ihm so bedrohlich vorkam. Der salzige Geruch und das Gefühl von Sand unter seinen nackten Füßen vermittelten ihm ein Gefühl von Freiheit. Beides benötigte er um seine eigene Angst auszutricksen und sich auch nur im Ansatz auf das einlassen zu können, was ihm bevorstand. „Jede Wette, dass ich wegen dir hier einen Sonnenbrand bekomme“, hielt sich Schuldig weiterhin mit Nichtigkeiten auf und Ken neben ihm schnaubte. Auch das war eine seiner Bedingungen gewesen. Zwei zu eins, auch wenn es eine trügerische Sicherheit war. Doch so hatte er eben jenen Freund bei sich, der auch schon im Krankenhaus nach seiner Rückkehr für ihn dagewesen war und ihn getröstet hatte. Der ihm auch jetzt Stärke gab, auf die er zurückgreifen konnte, wenn die Angst zu dominierend wurde. Bisher hielt eben diese sich in Grenzen. Was auch, das musste er ganz klar sagen, daran lag, dass sich der Telepath größte Mühe gab, nicht so auszusehen, wie er es in dem Keller getan hatte. Wie auch der Anführer des gegnerischen Teams hatte Schuldig sich dazu entschlossen, seine formelle Kleidung gegen etwas Legeres zu tauschen, gerade so als würde er hier Urlaub machen. ~Natürlich ist das Urlaub hier. Gutes Essen, mehr Freizeit als in den letzten zehn Jahren, eine nette Aussicht, ein Swimming Pool und ein Streichelzoo.~ ~Streichelzoo?~, echote Omi skeptisch und das stygische Grinsen des Schwarz warnte ihn davor, auf diese Frage eine Antwort zu wollen. „Wollen wir beginnen?“, fragte Schuldig anstelle dessen laut und er nickte mit einem plötzlich erdrückenden Kloß im Hals. Besser jetzt als später. Langsam ließ sich Omi mit Blickrichtung auf das Meer auf dem warmen, feinen Sand nieder. Ken setzte sich hinter ihn und zog ihn zwischen seine Beine. Fest hielt er ihn an seine Brust gepresst und Omi ließ sich in die Umarmung fallen. Unweit von ihnen stand Schuldig und starrte nachdenklich auf sie herab. „Es wird wie folgt passieren: ich dringe in deinen Geist ein und gehe in deinen Erinnerungen bis zur Mauer zurück. Ich werde mir darin die schwächste Stelle suchen und dort eindringen. Das wird sich in ungefähr so anfühlen wie das, was du bereits von mir kennst. Je nach Stärke kann es aber schmerzhafter sein.“ Omi schluckte. Gerade jetzt vermochte er es nicht, dem Schwarz in die Augen zu sehen, sondern labte sich an der engen Umarmung. „Wie lange wird es dauern?“, fragte Ken an seiner Statt. Schuldig schnaubte. „Bis zum Abendessen sind wir wieder da“, erwiderte er lapidar und tauchte ohne weitere Vorwarnung in Omis Gedanken ab. ~~**~~ An der Klippe zu stehen und auf Omi hinunterzusehen, wie dieser sich in Kens Armen wand und schrie, war definitiv nichts, Aya jemals hatte sehen wollen. Eisern hatte er seine Hände zu Fäusten geballt, als es begonnen hatte und nun bohrten sich seine Nägel schmerzhaft in die Haut seiner Handflächen. Der Schmerz war eine willkommene Abwechslung für das, was er unten am Strand nicht verhindern konnte, aber es reichte nicht. Auch Youjis Anwesenheit direkt neben ihm reichte nicht um ihn zu beruhigen und so knirschte Aya unablässig mit seinen Zähnen, um zu verhindern, dass er dort hinunterstürmte und den dummen Plan durcheinanderbrachte, Omi seine Erinnerungen wieder zu geben. In diesem Moment hasste er Schuldig wie nichts Anderes auf der Welt, dafür, dass er ihrem Jüngsten wehgetan hatte und es gerade jetzt wieder tat. Ohne Probleme und ohne Rücksicht auf ihren Vertrag hätte er den Deutschen mit seinem Katana durchbohren können, damit das alles hier, diese Farce, ihr Ende fand. Was konnte es schon hervorbringen, was nützlich für sie war? Natürlich, Aya kannte den Ablauf. Sie hatten ihn Schritt für Schritt vorher besprochen, ebenso wie sie über Vor- und Nachteile gesprochen hatten. Seine rationale Seite wusste das. Das löschte aber ihre Vergangenheit nicht aus und nichts von dem, was zwischen ihnen vorgefallen war. So kämpfte er mit seinen Emotionen und drohte just in diesem Moment, eben jenen Kampf zu verlieren. „Sie sind stärker als das, Fujimiya-san“, drang die Stimme der Telepathin zu ihm, noch bevor sie neben ihn trat und zum ihm aufsah. Aus seinen Gedanken gerissen erwiderte er ihren durchdringenden Blick. Aya fand keine Antwort auf ihre Worte, so ließ er seinen Blick wieder zurückkehren zu Omi, der sich nicht mehr in der ihn stärkenden Umarmung Kens wehrte, sondern zitternd in dessen Armen hing. „Er wird es überstehen. Ihr Taktiker ist stark und entschlossen. Diese Fähigkeit trägt ihn schon seit seiner Kindheit durch das Leben und sie wird ihm helfen, auch hierüber hinwegzukommen. Zumal Schuldig ihm die Erinnerung an den Schmerz seines Eindringens nehmen wird, wenn es sich als ein Problem herausstellen wird“, erläuterte sie weiter und Aya atmete tief ein. Noch bevor er etwas erwidern konnte, lag Youjis Hand auf seinem Arm. „Natürlich wird er es, so wie er alles überstanden hat, was Schuldig und Schwarz ihm bisher angetan haben“, merkte er ungewöhnlich ernst an und Aya sah seinem Freund in die wütenden, grünen Augen. „Andernfalls wäre er schon lange nicht mehr hier. Oder wir. Doch das macht es nicht im Geringsten besser, was dort unten passiert, Crawford-san.“ Die Rosenkreuzagentin steckte ihre Hände in die Taschen ihrer Tweedhose, die sie trotz der Sommerhitze trug. „Ich kann nicht ungeschehen machen, was Mastermind und Oracle Ihrem Taktiker zugefügt haben. Die Vergangenheit ist nicht zu ändern.“ So versöhnlich ihr Ton auch war, so wenig war Aya geneigt, dem nachzugeben. Doch eine erneute Diskussion über dieses Thema wäre hier nicht zielführend. „Warum stehen Sie nicht da unten?“, fragte Aya entsprechend ungnädig und sie lächelte nachsichtig. „Das ist nicht meine Aufgabe hier, Fujimiya-san. Ich beobachte und unterstütze, doch ich handle nicht. Das fällt in die Zuständigkeit des örtlichen Teams.“ Stirnrunzelnd maß Aya sie. „Entspricht das den Statuten Ihrer Organisation?“, fragte Youji und Aya wurde sich bewusst, dass der andere Mann den diplomatischen Teil ihrer Konversation übernahm, aus Gründen, die ihnen allen nur zu bewusst waren. Aya war ihm dankbar dafür. Er war momentan nicht gut auf die Familie Crawford zu sprechen, nicht nachdem, was ihr Sohn am gestrigen Abend gesagt und getan hatte. Nicht nachdem, was Omi dort unten erleiden musste, nur weil es gegen die Statuten von Rosenkreuz sprach, dass sich die einzig andere Telepathin vor Ort einmischte. Vermutlich waren es seine Gedanken, die sie dazu brachten, näher an ihn heran zu treten, als es ihm lieb war. Offen und zerstörerisch ruhig sah sie ihm in die Augen und hielt seinen Blick mit Leichtigkeit dort. „Was wäre die Welt ohne Regeln, Abyssinian?“, fragte sie zu sanft und trocken schluckte Aya. „Was wären Menschen wie wir, Abyssinian, PSI-Begabte, ohne Regeln?“ Er wollte antworten, doch sie gebot ihm mit einer schneidenden Geste zu schweigen. „Wir wären das Chaos, wir wären Zerstörung und Vernichtung. Wir würden unseren Launen und Gefühlen zügellos nachgeben, ohne Rücksicht auf die Welt und die normalen Menschen, die in ihr leben. Wäre das wünschenswert? Nein. Und dazu muss es Regeln geben. Zu den Regeln gehört, dass ein Team den Anweisungen des Rates zu gehorchen hat. Zu den Regeln gehört auch, dass das Team, so es noch arbeitsfähig ist, Fehler ausgleicht, die es selbst begangen hat.“ Stille folgte ihren Worten und Aya schluckte vergeblich, seine Kehle wie zugeschnürt. „Was passiert, wenn die Regeln nicht befolgt werden, haben Omi-kun und Sie am eigenen Leib miterlebt“, schloss sie und wandte ihre Aufmerksamkeit dem zu, was am Strand passierte. Aya war froh darum, denn es schien ihm, als würde eine Last von ihm abfallen, die alleine mit dem Abgrund hinter ihren Augen kam. „Es ist zuende“, merkte Siobhan mit einem nunmehr wieder sanften Lächeln an und drehte sich vom Abgrund weg. Ihre Augen hatten nichts mehr von ihrer Härte, sondern ruhten amüsiert und wohlwollend auf ihm. „In drei Stunden gibt es Abendessen.“ Erst, nachdem sie außer Sichtweite war, drehte sich Aya wieder weg und starrte auf den Strand, an dem Schuldig mittlerweile im Sand kniete, den Blick abwesend auf das Meer gerichtet. Omi hatte seine Arme um Ken geschlungen und seinen Kopf in der Nackenbeuge des anderen Mannes vergraben. Crawford hatte sie davor gewarnt, zum jetzigen Zeitpunkt einzugreifen und hinunterzugehen. Sie sollten warten, bis ihr Jüngster den Weg zurück fand, doch Aya konnte sich schwerlich zurückhalten. Er sah nicht, warum sie ihn nicht jetzt schon im Schutz ihres Teams trösten sollten. Schnaubend setzte er sich in Bewegung, kam jedoch noch nicht einmal einen Schritt weit, als ihn ein eiserner Griff um seinen Oberarm zurückhielt. „Was habe ich dir gesagt, Fujimiya?“, grollte es an Youjis Statt und Aya fuhr herum, begegnete überhaupt nicht amüsierten, beinahe goldenen Augen, die ihm missmutig zu verstehen gaben, dass sie es nicht schätzten, wenn ihren Befehlen nicht gefolgt wurde. Das Orakel, natürlich. „Ich hätte dich nicht für so dumm gehalten.“ „Sie sind fertig dort unten. Ich sehe keinen Grund, dort nicht hinzugehen.“ „Ich schon.“ „Welchen?“ Für einen Moment lang sah es so aus, als würde Crawford ihm aus reiner Arroganz keine Antwort geben und es war genau das, was Aya mehr als alles andere erzürnte. Er riss sich los und grollte unwillig, verzog unerfreut seine Lippen. „Tsukiyono ist in diesem Moment noch instabil. Er hat sich alleine auf Hidaka fixiert, auf dessen Geruch und Nähe. Kommt nun einer von euch oder aber ihr beide hinzu, verwirrt das seinen noch empfindlichen Geist und gefährdet die kommende Stabilität“, erklärte der Anführer von Schwarz ruhiger und ohne jedwede Arroganz in seiner Stimme. Vermutlich war es die wissende Gelassenheit eines Hellsehers, die Aya selbst nach und nach zur Ruhe führte. „Ihr schadet ihm, wenn ihr dort hinunter geht.“ Beinahe beschwörend richteten sich Worte und Aufmerksamkeit des Orakels auf ihn. Schweigen baute sich zwischen ihnen beiden auf, nur durchbrochen durch Youji, der sich schlussendlich vernehmlich räusperte. „Ich störe nur ungerne euer nonverbales, intimes Vier-Augen-Gespräch, aber wie wäre es, wenn wir dem ursprünglichen Plan folgen und ins Haus gehen?“ Aya drehte sich um und warf seinem grinsenden Freund einen äußerst schmutzigen Blick zu. Intim? Was war daran intim? Nichts. Er teilte mit dem Schwarz nichts Intimes. Anscheinend war eben jener der gleichen Meinung, denn Aya spürte das Missfallen des Orakels wie einen kalten Hauch in seine Rücken. Nichtsdestotrotz folgte er Youjis Vorschlag und ging kopfschüttelnd ins Haus, ließ die beiden Männer dort stehen, wo sie sich feindselig anstarren konnten. ~~**~~ Sie waren wieder da. Aufmerksam lauschte Nagi den Geräuschen Tsukiyonos und Hidakas, die schweigsam das Haus betraten. Hätte er raten müssen, hätte er auf Fujimiya und Kudou getippt. Allerdings musste er nicht raten, hatte er doch vom Küchenfenster aus beobachtet, dass die beiden vom Strand unterhalb des Hauses nach oben gekommen waren. Hidaka stützte Tsukiyono und führte ihn hinein, direkt zur Treppe, damit der jüngste Weiß eine Dusche nehmen und sich aufwärmen konnte, so wie es Crawford vorhergesehen hatte. Deswegen hing auch das Handtuch des Weiß auf dem Handtuchwärmer. Crawford hatte auch noch vorhergesehen, dass der Weiß im Anschluss an die lange Dusche wieder hinunterkommen und sich im Wintergarten niederlassen würde. Entsprechend hatte Crawford ihm Dinge aufgetragen und Nagi machte sich nach einer weiteren Minute des unschlüssigen Starrens an die Zimmerdecke daran, eben jene zu überprüfen, ob er sie auch auf die richtigen Positionen gelegt hatte. Stück für Stück Schritt er ab, immer wieder einen Blick auf seine Uhr werfend, auch wenn er diese Rückversicherung eigentlich nicht benötigte. Sein Zeitgefühl war wie das seines Pendants auch exzellent. Zumal es nicht das erste Mal war, dass er das Arrangement kontrollierte, wenn er es sich ehrlich eingestand und es mithilfe seiner Gabe noch ein wenig exakter in eine ordentliche Linie brachte, als es ohnehin schon war. Die Decke lag da, wo sie griffbereit war. Die Flasche Wasser und die Schmerztabletten direkt daneben. Der Thermobecher mit dem Tee stand neben dem Glas für das Wasser und diese wirklich abartig klebrig-süßen Süßigkeiten ebenfalls, für die Nagi nach einem ersten Probieren so überhaupt gar nichts übrig hatte. Siobahn hatte schon das Essen aufgesetzt und dieses Mal war leichte Kost dabei, die den Magen des Taktikers nicht zu sehr belasten, ihm aber dennoch schmecken würde. Ebenfalls auf Anraten des Orakels. Für sie gab es Haggis. Im Hintergrund lief einmal nicht Schuldigs Gedudel, sondern Musik, die dem Weiß als Entspannung diente. Nagi hatte das Licht im Wintergarten reduziert und die Kerzen angezündet, ganz, wie es Crawford ihm aufgetragen hatte. Was für ein Unterschied zum letzten Mal, in dem der Weiß der Leidtragende von Schuldigs Gabe geworden war. Mit einem unzufriedenen Murren rückte er den Thermobecher noch etwas näher an den Rand des Tisches. Es war leichter, sich hierum zu kümmern als sich um seine eigenen, dunklen Gedanken und Selbstvorwürfe Sorgen machen zu müssen, die ihn nicht losließen, wenn er gerade nichts zu tun hatte. Oder die ihn einfach so überfielen, unmittelbar und ohne Anlass. Es stärkte ihn, dass Crawford seine Nähe wieder zugelassen hatte und er die Verbindung mit seinem Anführer halten durfte. Es vermittelte ihm Ruhe und Gelassenheit, doch auch das half ihm nicht immer. Insbesondere nicht in den Nächten, in denen er schweißgebadet neben Schuldig aufwachte und der Telepath alle Hände voll zu tun hatte, ihn zu beruhigen. „Was machst du da?“, ertönte es hinter ihm und erschrocken schubste Nagis Gabe den Becher von der Tischkante, der unbeirrt unter die Couch rollte. Wenig erfreut über diese abrupte Störung seiner Einsamkeit fuhr er herum und sah sich Hidaka gegenüber, der mit einer Flasche Wasser an der Anrichte lehnte und ihn mit erhobener Augenbraue musterte. „Was geht dich das an?“, fragte Nagi ungnädig zurück und trat automatisch einen Schritt aus der Küche heraus, weg von dem Anderen. Seitdem er mit Tsukiyono zusammenarbeitete, schien der klauenbewehrte Fußballer ein besonderes Interesse daran zu haben, ihn bei jeder sich bietenden Gelegenheit zu sezieren mit seinen nachdenklichen Blicken. Bisher hatte Nagi Schuldig noch nicht gefragt, was der Weiß in solchen Momenten dachte, aber ihm gefiel der kritische Blick der braunen Augen so ganz und gar nicht. So wie gestern nicht und vorgestern und davor auch nicht. Nagi verschränkte die Arme, als der Weiß ihm nachsetzte und sich mit einem taxierenden Blick an ihm vorbeidrückte. Wortlos ging er zur Couch und kniete sich davor nieder und erst jetzt begriff Nagi, dass er den Thermobecher darunter hervorholen wollte. Eher aus Reflex als aus wirklicher Bosheit zog er ihn mithilfe seiner Gabe hervor und stellte ihn auf den Tisch zurück, während Hidaka sich noch unter der Couch zu schaffen machte, dann erkannte, dass er ihn nicht finden würde und mit einem Grollen wieder auftauchte. Die sturmgeweihten Augen maßen dunkel. „Findest du das witzig?“, fragte Hidaka herausfordernd und für einen Augenblick war Nagi versucht, die Frage mit einem Ja zu beantworten. Das wäre jedoch der Situation unangemessen, wenn nicht sogar kontraproduktiv. Nein, er fand es nicht amüsant, was Schuldig und Crawford Tsukiyono angetan hatten. Ebenso wenig fand er ein erneutes Durchleben dieses Traumas zum Lachen. Dazu gehörte, in einer kruden Argumentationsweise auch das Auflesen des Bechers unter der Couch. „Nein“, erwiderte Nagi daher schlicht und musterte den Weiß ausdruckslos, der nun langsam wieder auf die Beine kam und mit seinem Abstützen auf dem Tisch und der Couch sowohl die Decke als auch die Süßigkeiten aus ihrer richtigen Position brachte. Nagi richtete mithilfe seiner Gabe beides, ganz zum erneuten, unnötigen Erstaunen Hidakas, der ihn daraufhin unangenehm eindringlich musterte. „Warum machst du das?“ Nagi runzelte die Stirn ob der ruhigen Frage, die sich ihm hier entgegentrug. Der Weiß wollte reden? Das war ja etwas ganz Neues. Seitdem das gegnerische Team hier war, hatte Hidaka bis auf ihre Missionsbesprechungen kein einziges Wort mit ihm gewechselt. Gestarrt, ja, das hatte er. Aber sonst? Nichts. „Das geht dich nichts an“, erwiderte Nagi und sah, dass er sich wiederholte und sich beste Mühe gab, die Konversation zwischen ihnen eindimensional zu halten, geradeso, als würde sein Wortschatz nur aus diversen Varianten der Aussage bestehen. Hidaka nickte sein komisches, in sich gekehrtes Nicken, bevor er sich wieder erhob und zu ihm kam. Es war Nagi zu nah, doch er sagte nichts. Noch nicht. „Omi hat gesagt, dass du ihn geheilt hast in dem Keller.“ So langsam wünschte sich Nagi doch, dass der andere Mann einfach verschwinden würde und eben nicht das Gespräch mit ihm suchte. Es konnte nur in eine schlechte Richtung gehen und darauf hatte er in diesem Moment wenig Lust. Nicht, wenn eben jenes Subjekt ihres Gespräches jeden Augenblick aus der Dusche hinunter in den Wintergarten kommen würde. „Ja“, erwiderte er entsprechend wortkarg. „Warum?“ Die Antwort darauf war einfach. „Crawford wollte es so.“ „Ansonsten hättest du ihn sterben lassen?“ Was war das für eine Frage? Wenn Crawford gewollt hätte, dass Tsukiyono starb, dann hätte er ihn getötet. Das war ihr Auftrag hier in Japan. Würde Hidaka sich Fujimiya verweigern? Oder Perser? „So wie du mich auch getötet hättest, hätte ich dir jemals die Gelegenheit dazu gegeben, Siberian“, zog sich Nagi auf ihre einzige Verbindung, die sie zueinander hatten, zurück. Natürlich trachteten sie einander nach dem Leben, das war natürlich. Dass sie nun zusammenarbeiteten, war lediglich der Situation geschuldet. Der Schuld, die beglichen werden musste. Hidaka überraschte ihn und nickte. „Wohl wahr. Aber wie passt das mit deinem Interesse an ihm zusammen?“ Mit Mühe konnte sich Nagi von einem verräterischen Zusammenzucken abhalten. Er schluckte trocken und erwog für einen Moment tatsächlich, den Weiß einfach so stehen zu lassen. Doch das konnte er nicht tun, ohne dessen Verdacht weiter zu nähren und das durfte nicht sein. Woher wusste Hidaka das? Bis auf Schuldig war das niemandem bekannt. Gut, Jei noch, weil Jei alles wusste. Doch Jei würde nicht mit Hidaka sprechen, ebenso wenig wie Schuldig. War er also so auffällig in seinem Verhalten, mit dem Weiß umzugehen? Hidaka schnaubte und maß ihn mit hoch erhobener Augenbraue. „Während du uns andere mit keinem Wort bedenkst, spielst du mit Omi Konsolenspiele. Das ist offensichtlich.“ Indigniert verschränkte Nagi die Arme. „Er hat mich gezwungen“, klärte er diese impertinente Falschbeobachtung auf und der Weiß nickte bedächtig. „Gezwungen“, echote er und Nagi hatte das Gefühl, dass ihm kein Wort geglaubt wurde. „Ihr habt herumgealbert.“ „Ich habe ihn geschubst.“ Wieder nickte Hidaka bedächtig und in den braunen Augen lag ein Ausdruck, den Nagi schwerlich missinterpretieren konnte. Es wurde sich über ihn lustig gemacht. Zeit, dass er nun mit seinem Wissen aufwartete, was er über die beiden Weiß gesammelt hatte. „Keine Sorge, ich spanne dir deinen Freund schon nicht aus“, merkte Nagi mit einem unmerklichen Lächeln an, dass er nicht wirklich fühlte. Dachte Hidaka etwa, er wüsste nicht, dass Tsukiyono und er sich im Geheimen näher waren, als sie es zugeben wollten? Heute war nicht das erste Mal, dass sie sich körperlich nahe waren oder dass der Fußballer Tsukiyono tröstete, in den Arm nahm, ihm über die Haare strich oder Ähnliches. Es geschah ständig. Natürlich hatte sich Tsukiyono in seinem Team jemanden gesucht, dem er nahe sein konnte, auch wenn Nagi nicht ganz wusste, wie Bombays Stelldichein mit Lasgo da hineinpasste. Führten sie eine offene Beziehung? Hidakas Grinsen sagte ihm, dass ihm etwas verborgen blieb, was er nicht berechnet hatte, doch Nagi hatte keine Ahnung, was das sein konnte. Und das gefiel ihm nicht, er hasste es, im Dunkeln zu tappen. „Omi und ich? Ja, wir sind Freunde.“ Die Art, wie Hidaka das Wort betonte, ließ Nagi die Röte ins Gesicht kriechen. Freunde wie in platonisch, das stand in großen Lettern auf den Lippen des Weiß und Nagi schluckte. Er konnte sich doch nicht so vertan haben. Die Anzeichen waren doch offensichtlich. Was sollte denn sonst das gegenseitige Berühren und Miteinanderlachen? Unwirsch verzog er die Lippen. Dieses Mal drehte er sich wirklich weg und ließ den Weiß dort stehen, wo er war. Bevor er sich noch einer weiteren, peinlichen Situation hingab, konnte er besser eruieren, welche Limonade Siobhan heute zubereitet hatte und sich vor dem Essen schonmal ein Glas nehmen. An den Geräuschen hinter ihm konnte Nagi hören, dass sich Hidaka eben nicht damit zufrieden gab, sondern anscheinend glaubte, dass sie ihr Gespräch noch weiter fortführen würden. Genervt rollte Nagi mit den Augen, den Blick nach draußen gerichtet und ließ das Glas vor sich schweben, während er daraus trank. Manch einer würde dies als Warnung verstehen, nicht jedoch der Weiß. „Eigentlich würdet ihr euch gut verstehen“, machte dieser nahtlos dort weiter, wo er aufgehört hatte und Nagi war sich sicher, dass er nichts von dem, was nun kam, hören wollte. Bestimmt setzte er das Glas ab und drehte sich zurück. Hidaka lehnte am Tisch und hatte die Beine lässig überkreuzt. Mitnichten sah es so aus, als würde er sich vor ihm fürchten. „Ihr habt die gleichen Interessen, ungefähr das gleiche Alter, wenn es sein muss, könnt ihr zusammenarbeiten und ihr könnt euch gegenseitig die Nachmittage mit Konsolenspielen um die Ohren schlagen oder mit euren Hacks angeben.“ „Was willst du mir damit sagen, Weiß?“ Hidaka zuckte mit den Schultern. „Vielleicht siehst du das genauso. Deswegen siehst du ihn auch so an, wenn ihr etwas gemeinsam macht. Nur eine Sache stört mich.“ „Das wäre welche?“ Der Weiß stieß sich vom Tisch ab und nun war es Nagi, der sich mit einem Mal bedroht fühlte. Er konnte noch nicht einmal genau sagen, warum das so war, ob Gestik oder Mimik, ob schlicht das Fehlen von jedwedem Lächeln auf dem sonst so zufriedenen und fröhlichen Gesicht, das man für naiv halten konnte, wenn man den Mann dahinter oberflächlich betrachtete. „Die Tatsache, dass dein Anführer und dein Telepath ihn gefoltert haben. Die Tatsache, dass du beiden loyal ergeben bist. Die Tatsache, dass du nun hier bist und dich darauf einlässt, dass er mit dir Konsolenspiele spielt. Dass du ihn selbst dazu bringst. Das stört mich. Denn du meinst es garantiert nicht ernst mit ihm. Du bist der Taktiker von Schwarz und seine Gegenwart ist nützlich für dich. Wenn du ihn nicht mehr brauchst, lässt du ihn fallen oder versuchst sogar ihn umzubringen.“ Ungläubig und stumm starrte Nagi auf die Lippen, die Worte äußerten, die er so noch nie gehört hatte. Er meinte es nicht ernst mit Tsukiyono? Es wäre nur ein Plan, eine Hinterlist, was er tat? Dabei hatte Crawford ihm noch nicht einmal den Auftrag gegeben, sich dem Weiß zu nähern. Er hatte es freiwillig getan, aus eigenen Stücken. Nagi wollte etwas sagen, vermochte es aber nicht. Er wusste auch nicht, was er gegen solche Vorwürfe vorbringen konnte, ohne essentielle Dinge über sich und sein Team zu verraten. Hidaka ersparte ihm das unwürdige Gestarre mit einem weiteren, freudlosen Lächeln. „Nähere dich ihm ruhig weiter, wenn du glaubst, dass du damit Erfolg hast. Ich habe dich im Auge und zur Not werde ich eingreifen, das verspreche ich dir.“ Die Drohung war lächerlich angesichts der Übermacht von Schwarz und Nagi wollte ihm genau das mitteilen, als ihm ein Blick auf die Uhr unmissverständlich mitteilte, dass Tsukiyono bald die Treppe hinunterkommen und wie von Crawford vorhergesehen in den Wintergarten kommen würde, die Haare noch nass von der Dusche, die Strähnen wild und ungeordnet. Er würde die Decke aufnehmen und sich darin einwickeln. Ein Teil von Nagi war stolz darauf, dass das auf sein Konto ging. Ein anderer jedoch schmeckte den schalen Geschmack der falschen Verdächtigung. Er hätte nicht gedacht, dass es so bitter sein und dass sein Schweigen ihn soviel Kraft kosten würde. So drehte er sich schlicht um und verließ das Haus zugunsten des Swimmingpools, in dem er hoffentlich keinen weiteren Weiß finden würde, der ihm – zumindest dieses Mal – zu Unrecht Vorwürfe machen würde. ~~**~~ Die Dusche hatte gut getan gegen die innere Kälte, die ihn schier nicht aus seiner Umklammerung gelassen hatte, seitdem Schuldig es geschafft hatte, die Mauer um seine Erinnerungen zu durchbrechen und die Reminiszenzen an längst vergangene Zeiten hervor zu holen. Omi wusste nicht, was schlimmer war: das Echo des vergangenen Schmerzes oder die Kälte als solche und so war er froh um das heiße Wasser gewesen, das seinen Körper Stück für Stück erwärmt hatte. Auch wenn alles in ihm schrie, dass er sich ins Bett legen und verkriechen sollte, so hatte Omi sich aus reiner Sturheit und Pflichtbewusstsein wieder nach unten begeben, froh darum, dass er gerade niemandem begegnete, der ihn nach seinem Befinden fragte. So sehr er auch Kens Nähe gesucht hatte, so intensiv musste er nun die Bilder in seinem Kopf sortieren, die ihm fremd vorkamen und die doch die seinen waren. Sein Weg führte ihn in den Wintergarten, zu der Couch und zu der Decke, die darauf lag, akkurat gefaltet. Sie war weich und Omi war sich nicht sicher, ob er sie schon einmal hier gesehen hatte. Was er auf keinen Fall gesehen hatte, war das Arrangement auf dem Tisch daneben, das ihn mit Schmerztabletten, Wasser und einem Thermobecher begrüßte. Anscheinend war sein Geist noch nicht ganz aufnahmefähig, als er für Momente nur schweigend darauf starrte und sich fragte, ob es für ihn sei und warum es für ihn sein sollte. Die Tablettenart deutete darauf hin, ebenso wie der, wie er durch Aufschrauben erkannte, gesüßte Tee, den er jeden Abend trank. Die Süßigkeiten, die er gerne aß. Das hier war für ihn hierhin gelegt worden, erkannte Omi und blinzelte irritiert. Trotzdem griff er schließlich zu den Schmerztabletten gegen seine Kopfschmerzen und machte es sich schließlich mit dem Tee auf der Couch gemütlich, zog die Beine an und richtete den Blick nachdenklich in die aufkommende Dunkelheit. Entspannt legte er seine Arme auf die Knie und ließ den Thermobecher in seiner rechten Hand kreisen. Die Geste diente mehr als Kompensation für das Chaos seiner Gedanken als für alles andere und sie verschaffte Omi innere Ruhe und Gelassenheit. Schuldig musste ihm einen Teil seiner Erinnerungen an sein Eindringen genommen haben, anders konnte er es sich nicht erklären, dass er so ruhig war. Eigentlich hätten ihn die Parallelen zu Schuldigs Folter um Längen zurückwerfen müssen in seinem Bestreben, die dunklen Gedanken an seine Zeit im Keller zu bewältigen, doch das taten sie nicht. Wie als wenn dieser Gedanke sich direkt außerhalb seiner Reichweite befinden würde, konnte er nicht auf das volle Begreifen zurückgreifen und in diesem Moment war es auch gut so. Omi störte es nicht und er war froh darum. Viel zu sehr war er damit beschäftigt, den ungehemmten Bildern seines Zuhauses zu folgen. Die Erinnerungen an seine Mutter, ihren Geruch, ihr Aussehen, die so frisch waren, als hätte er sie gestern das letzte Mal gesehen. Seltsam war das, wie klar alles war, an das er sich erinnern konnte. Da war sie, die Frau, die ihn auf ihren Armen durch ihr Haus trug und mit ihm lächelnd durch die Gänge Schritt. Die Frau, die ihm im Garten die Bäume und Blumen erklärte. Die mit ihm spielte. Die ihn sanft in den Schlaf sang. Beinahe war es ihm, als könne er sie berühren, wenn er nur den Arm ausstreckte. Doch neben den schönen Erinnerungen waren da auch unschöne Momente. Takatori Reiji, den er für seinen Vater gehalten hatte, der ihn schon früher mit verachtenden Blicken gestraft hatte. Eine große, dunkle Figur, die über ihm thronte und ihm Angst machte. Omi kannte diese Figur nur zu gut. Sie war über Jahre hinweg fester Bestandteil seiner Alpträume gewesen und bisher hatte er angenommen, dass es einer seiner Entführer gewesen war. Dass es sein Onkel war, ließ ihn bitter schnauben. Aber wunderte es ihn? Nein. Takatori war ein durch und durch böser Mensch, wieso sollte er das damals nicht schon gespürt haben? Omi folgte den Erinnerungen an den Mann und stieß auf Gespräche hinter verschlossenen Türen, auf Geschrei und auf laute Geräusche, die auf umgestoßene Möbel hindeuteten. Er stieß auf Besucher, die sie hatten und die er nicht hatte sehen dürfen. Seine Mutter hatte ihn wieder und wieder beiseite genommen und immer öfter hatte er sich weggestohlen um hinter den Türen zu lauschen oder durch Ritzen zu spicken. Er hatte andere Männer gesehen, geflüsterte Gespräche mitangehört, die im Nachhinein nichts Gutes verhießen. Schon damals hatte der Politiker sich sein Imperium aus Verbrechen aufgebaut und er hatte es von Zuhause aus getan. Schamlos, ruchlos, ohne mit der Wimper zu zucken. Omi schluckte schwer. Über seine Überlegungen hinweg hatte er nicht mitbekommen, dass er nicht mehr alleine war und zuckte entsprechend erschrocken zusammen, als es ausgerechnet das Orakel war, das sich in dem Sessel ihm gegenüber niederließ und in aller Seelenruhe die Beine übereinanderschlug. Wortlos starrte er den Schwarz an, der ihn ruhig maß und für einen irrwitzigen Moment voller Angst glaubte Omi, dass er sich wieder im Keller befand und dass das Orakel ihn erneut zu Lasgo befragen und schlagen würde. Doch nichts geschah. Crawford griff ihn nicht an. Er schlug ihn nicht. Er saß nur dort und sagte noch nicht einmal etwas, geradeso, als ob er darauf wartete, dass Omi das Wort ergriff oder handelte. Das vermittelte ihm eine trügerische Sicherheit, die er gerade jetzt nur zu gerne annahm. Er wollte sich nicht fürchten, hatte noch nicht einmal die Kraft dazu. „Du hast deine Erinnerungen zurück?“, fragte Crawford neutral. „Ja.“ Reden strengte an und fast war er versucht, einfach gar nicht zu reagieren. Sicherlich konnte der Schwarz doch durch Schuldig seine Gedanken durchsuchen lassen, warum also musste er sich mit ihm unterhalten? „Schuldig ist für die nächsten beiden Tage indisponiert. Das Durchdringen deiner Barriere hat ihn Kraft gekostet und seine Gabe ist nicht dazu bereit, sich in deine Gedanken einzubringen“, erklärte Crawford geradeso, als hätte er seine Gedanken gelesen. Vorsichtig maß Omi den Schwarz, immer noch scheute er sich davor, dem anderen Mann länger als notwendig ins Gesicht zu sehen. Ein Überbleibsel aus der Zeit im Keller. „Was ist mit deiner Mutter? Sie ist doch auch Telepathin?“ „Ihre Aufgabe hier ist es nicht, sich in die Verantwortlichkeiten von Schwarz einzumischen.“ Omi nickte in Anerkennung dessen, auch wenn er nicht verstand, warum die zweite Telepathin vor Ort ihre Gabe nicht einsetzen sollte. „Kannst du bereits etwas Konkretes ausmachen?“ Crawford wollte anscheinend keine Zeit verlieren, so schnell und zielgerichtet, wie er zur Sache kam. Omi nickte, soweit es der abklingende Kopfschmerz zuließ. „Einiges. Ich weiß aber nicht, was von all dem wichtig sein könnte.“ „Im Zweifelsfall alles.“ „Das ist wenig präzise.“ Crawford hob die Augenbraue und Omi nahm einen weiteren Schluck Tee, alleine schon, um ihr Schweigen zu überbrücken, das ihm unangenehm wurde. Crawford zu kritisieren machte ihn immer noch nervös. „Hast du Gespräche mitbekommen? Kannst du dich an Gesichter erinnern?“ „Sowohl als auch.“ „Gut, das ist ein Anfang. Ich möchte morgen mit dir Bilder von verschiedenen Personen durchgehen. Sobald Schuldig wieder einsatzbereit ist, möchte ich, dass ihr beiden im Speziellen auf Häuser und Umgebungen achtet. Befindet sich das im Bereich des Möglichen?“ Omi begriff mit einem Mal, warum Crawford hier saß. Er begriff die Bedeutung dahinter und vor allen Dingen hinter der letzten Frage und mühevoll schluckte er. Er benötigte ein wenig Zeit um zu nicken. Ja, er war bereit dazu, Schuldig noch einmal in seine Gedanken zu lassen, trotz allem, was geschehen war. War es Anerkennung, die er auf seiner kurzen Reise zu Crawfords Gesicht sah? War es ein Lob, das sich auf den scharfkantigen Zügen zeigte, bevor der Schwarz sich so abrupt erhob, wie er hierhergekommen war? Omi war sich nicht sicher und er vergaß es am besten wieder schnell. Es spielte keine Rolle und es machte ihn nur unvorsichtig in der Gegenwart des Mannes, den er zu fürchten gelernt hatte. ~Ja, es war ein Lob~, mischte sich eine Stimme in seinen Gedanken ein, die sich wie ein kühler Film über die gereizten Nervenbahnen legte und sie beruhigte. Siobhan schnaubte mit einem verschmitzten Lächeln in der Stimme. ~Aber sagen Sie ihm nicht, dass ich es Ihnen verraten habe.~ Omi hätte schwören können, dass die Telepathin ihm zuzwinkerte. Aus Angst sich zu verraten, bohrte er seinen Blick auf den Boden direkt neben Crawfords Sessel und verfluchte sich für seine warm werdenden Wangen. Mehr als dass er sah, hörte er, dass der andere Mann ging. Erleichterung ließ seine Schultern in sich zusammensacken und er lehnte sich wieder an die Couchlehne, für einen langen Augenblick die Augen schließend. ~~**~~ Seine Kopfschmerzen teilten Crawford mit, dass er schon vor einer Stunde hätte aufhören sollen, seine Gabe zu strapazieren und nach Visionen zu haschen, die ihm die Zukunft mitteilen würden. Müde rieb er sich über die Schläfen und presste die Daumen auf die Augenlider. Er sah jetzt schon doppelt und die Migräne, die hinter seinem Kopfschmerz lauerte, warnte ihn davor noch weiter zu gehen. Unter normalen Umständen hätte Crawford auf die deutlichen Warnzeichen seines Körpers gehört und sich solange Ruhe gegönnt, bis die schlimmsten Auswirkungen der Hellsicht verklungen waren, doch nicht jetzt. Nicht heute. Nicht mit der lächerlichen Ausbeute an Fetzen, die sein verstümmelter Geist von sich gab. Ein Blick auf sein Schriftbild, mit dem er sein Visionentagebuch führte, reichte, um genau das zu bestätigen, so unsauber und krakelig, wie seine Schrift war. Trotzdem trieb er sich ein weiteres Mal in die Untiefen seiner Gabe und begab sich erneut auf die Reise zu unsteten Visionen und Bruchstücken, mit denen er nichts anfangen konnte. Nichtigkeiten, die dem alltäglichen Leben angehörten, sein Team, Weiß, Perser, seine Mutter. Fetzen einer Zukunft, die ihm sagte, dass er in den nächsten drei Wochen noch leben würde. Der ihm nichts, aber absolut gar nichts von ihrer Zielperson oder Takatori zeigte. Wütend über seine eigenen Unzulänglichkeiten, ging Crawford weiter, geradewegs über den Schmerz hinaus, der seinen Schädel zu zerspringen drohte. Das, was er dieses Mal sah, ließ ihn innehalten. Er kannte die Umgebung, die sich ihm hier zeigte. Die Hallen ihrer Organisation lagen vor ihm, groß und einschüchternd, die Menschen, die auf ihren Böden wandelten, klein machend. Seine eigenen Schritte hallten über den blank polierten, weißen Marmor des Bodens, hallten an den ebenso marmornen Wänden wieder, die in einer hohen Stuckdecke mündeten. Von Beginn an hatte ihn Ehrfurcht erfasst, wenn er dieses Gebäude betreten hatte. Es war weniger die Ehrfurcht vor den Menschen, die dort arbeiteten, gewesen, sondern vor der Geschichte, die dieses Gebäude hatte und vor der Bedeutung, die ihr Werk für ihre Art hatte. Den Fortbestand ihrer Kräfte und Interessen, die sie über die ganze Welt verzweigten. Doch nun spürte er diese Ehrfurcht nicht. Da war nichts Anderes als Wut, als er auf den Jungen heruntersah, der vor ihm stand. Ein Junge von vielleicht zwölf Jahren in der typischen Uniform der Puppenspieler, der ihm in eben jener Halle ernst die Hand entgegenstreckte. Die grünen Augen in dem blassen Gesicht sprachen von einer Selbstsicherheit, die ganz sicher auf seiner Aufgabe und seiner Gabe beruhten. Crawford hörte die Worte nicht, die dieser ihm entgegenbrachte, doch er war sich beinahe unmittelbar bewusst, dass sich bei dem Jungen um seinen Puppenspieler handeln musste, seinen Koordinator. Keinen anderen Grund hätte ein Gegenübertreten in ihrer Organisation. Keinen einzigen. Das war also derjenige, der am Ende einer Neutralisierung stehen und ihn danach lenken würde, damit er weiterhin Aufträge für Rosenkreuz erfüllen konnte, trotz eines nicht mehr existierenden, bewussten Verstandes. Ein Kind. Ein verdammtes Kind. Er würde es nicht schaffen und sein Puppenspieler stand bereits fest. Crawford tauchte mit einem schmerzerfüllten Keuchen aus der Vision auf und presste die Hände starr auf seinen Schreibtisch, als ihm schwindelig wurde. Die Zukunft war nicht festgeschrieben. Die Zukunft war verdammt nochmal nicht festgeschrieben. Er konnte sie noch ändern. Er konnte noch siegreich sein. Sie waren auf einem guten Weg, warum sollten sie verlieren? Warum sollten sie es nicht schaffen, Lasgo zu vernichten? Noch war nichts in Stein gemeißelt. Über seine beinahe schon beschwörend panischen Gedanken hinweg hörte Crawford nur am Rand, wie sich die Tür zu seinem Büro öffnete. Dass er es nicht als Bedrohung wahrnahm, musste an dem Schwindel liegen, dessen war er sich sicher. Es musste an seinem Zustand liegen, dass keiner seiner Instinkte ihn vor seiner Mutter warnte, die nun in den Raum stand und ihn schweigend musterte, ihre Anwesenheit beinahe erdrückender, als es die vergangene Vision jemals hatte sein können. Sobald er die Kraft fand, hob Crawford den Blick und starrte sie wütend, ja beinahe schon hasserfüllt an. In diesem Moment rebellierte er wie nichts gegen die Statuten ihrer Organisation, die seiner Mutter die Aufgabe zukommen lassen würden, ihn zu neutralisieren. Nein, nicht der Frau, die ihn auf die Welt gebracht hatte. Thanatos. Der Dame des Hauses. Exekutorin von Rosenkreuz. Wie immer konnte Siobhan das alles sauber trennen, wie immer war sie zurecht das, was der Rat in ihr sah. Eine ergebene Dienerin ihrer Maxime, ohne Rücksicht auf ihr eigenes Leben. Und er? Verfluchte sie dafür, dass sie ihn neutralisieren würde. Blinzelnd lehnte sich Crawford zurück und brauchte einen Moment, um die Wut, die in seinem Inneren tobte, zu beruhigen um sie nicht an derjenigen auszulassen, die dafür verantwortlich sein würde. Dunkel richtete er seinen Blick auf die aufmerksamen, grauen Augen, die ihn undurchdringlich maßen und die ohne Zweifel miterlebt hatten, was er gesehen hatte. „Ein Kind als Koordinator? Das ist nicht dein Ernst, Mutter“, grollte er angewidert und erhob sich. Ruckartig drehte er sich weg und starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit seines letzten Sommers hinein, konnte für einen Moment ihren Anblick nicht mehr ertragen, der ihm rein gar nichts als Aufschluss gab, was ihm weiterhelfen konnte, eben diese Zukunft zu vermeiden. In diesem Moment überwog seine emotionale Seite bei weitem und er hasste sie mit allem, was ihm zur Verfügung stand. Nicht nur, dass sie ihm sein Leben nehmen würde, nein. Er würde auch noch zur Marionette eines Kindes werden, das noch nicht einmal die Pubertät hinter sich hatte. „Bradley“, erklang ihre Stimme hinter ihm und er schüttelte den Kopf. „Geh“, presste er hervor, doch sie rührte sich nicht von der Stelle, was ihn nur noch wütender machte. „Bradley, ich…“ Langsam drehte er sich um und ließ sie all das sehen, was in seinen Augen und seinen Gedanken stand. „Raus hier. Sofort, Mutter“, sagte er leise genug um sie die Drohung hinter seinen Worten erkennen zu lassen. Doch wie immer ließ sie sich davon nicht beeindrucken. Noch nie hatte sie das, so kam sie ohne eine Sekunde zu verlieren auf ihn zu und berührte ihn. Gerade jetzt, in diesem Moment, war es das schrecklichste Gefühl, das Crawford jemals für sich hatte verbuchen können. Die Hilflosigkeit gegenüber seinen Visionen potenzierte sich mit dem brachialen Kopfschmerz und ließ ihn zurückzucken vor dem Trost, den sie ihm spenden wollte wie auch vor dem Mitleid, das in ihren Augen stand. „Hör auf damit. Ich bin nicht schwach. Du musst mich nicht bemitleiden“, presste er hervor und taumelte unter der Wucht des Schwindels. Mit eisernen Händen hielt sie ihn und dirigierte ihn zu einem seiner Sessel, drückte ihn auf die Polster nieder, als würde er sie nicht ohne ein Leichtes in körperlicher Kraft und Gewalt übertrumpfen. Schweigend hielt sie ihn dort, eine Hand auf seiner Wange, die andere auf der gegenüberliegenden Schulter, als könne ihn das davon abhalten, sie abzuschütteln. „Ich bin nicht schwach. Ich werde nicht neutralisiert. Lass mich. Ich brauche deine Hilfe nicht“, wiederholte er wie ein Mantra, wie durch einen dichten Schleier, der sich partout nicht lüften wollte. Die Worte veräußerte er, auch wenn er sie selbst kaum zu glauben vermochte. Nicht mehr. Ihre Lippen auf seiner Stirn waren sanft und warm, ihr Geruch erinnerte ihn an seine Kindheit, als sie ihn umarmte und an sich presste. ~Natürlich bist du stark, du bist mein Sohn~, wechselte sie auf die gedankliche Ebene und er zuckte zurück vor ihrer Gabe in seinem Kopf. „Nicht“, protestierte Crawford schleppend, war sich jedoch nicht sicher, ob er es überhaupt laut ausgesprochen hatte. „Sieh dich an, was er dir angetan hat und wo du jetzt bist. Du lebst, du lässt dich nicht auf deinem Weg beirren, ihn zu fangen, du bist stark und immer noch der Anführer deines Teams. Du hast immer noch die Loyalität und Treue von Schwarz, du hast Menschen um dich herum, die sich um dich sorgen.“ „Das ist ein Fehler.“ „Das wäre es nur, wenn es sie angreifbarer macht. Aber das tut es nicht.“ Crawford schwieg und starrte abwesend auf den blank polierten Boden des Arbeitszimmers, der unter seinen nackten Füßen schwarz glänzte. Mit ihren Worten kamen aber nun auch seine Erinnerungen, die sich unaufhaltsam ihren Weg nach oben bahnten und die sich nicht aufhalten ließen in all ihrer Wucht. Es war das Leder unter seiner Haut, das ihn zu Lasgo zurückführte, ebenso, wie es ihre Berührung war, die zu der des Menschenhändlers wurde. So unsinnig und irrational der Gedanke auch war, er war nicht mehr aufzuhalten und mit ihm die Erinnerungen an die Demütigungen und die Gewalt, der er ausgesetzt gewesen war ohne die Möglichkeit, sich zu wehren. Crawford stieß sie blind von sich, als er glaubte, erneut das Glas auf seiner Zunge spüren zu können, das sich tief in seinen Rachen geschoben hatte, um ihn zu ersticken. Nein, beinahe zu ersticken, denn Lasgo hatte seinen Tod nicht gewollt. Er hatte ihm zeigen wollen, dass er nichts dagegen tun konnte, was ihm angetan wurde. Er hatte ihm Hilflosigkeit zeigen und seinen Gehorsam erzwingen wollen. Er war mehr als erfolgreich damit gewesen. Wie zugeschnürt war seine Kehle, als er ebenso blind aus dem Arbeitszimmer taumelte. Crawford stolperte mehr als dass er ging, nach draußen und es kam ihm vor wie eine Flucht vor sich und dem Schatten namens Lasgo, der in seinen Nacken atmete und den Dildo aus Glas soweit in seinen Rachen schob, dass er auch jetzt noch das Gefühl hatte, unweigerlich daran zu ersticken. Selbst die Besorgnis seiner Mutter, die ihm eigentlich sagen sollte, dass er in Sicherheit war und sich nicht mehr in der Gewalt des Menschenhändlers befand, erreichte ihn in diesem Moment nicht. Alles war eine Belastung für ihn, der er nicht standhalten konnte. Er brauchte Ruhe und hoffte, diese in der Einsamkeit der Dunkelheit hinter dem Haus zu finden, in der Nähe des Waldes, dessen Geräusche ihn womöglich beruhigen und ihm die Kraft zu atmen zurückschenken würden. Doch weit gefehlt. Fujimiya stand im fahlen Schein der Dunkelheit und maß ihn überrascht. Crawford keuchte leise, als sich das Gesicht des Weiß zu etwas Anderem wandelte und er nunmehr nur Lasgo vor sich sah, der ihn mit eben jenem zufriedenen Lächeln musterte, das er so zu hassen gelernt hatte. Erst, als der andere Mann auf ihn zukam, ergriff Überlebensinstinkt die Macht in ihm und trotzdem er nicht atmen konnte, wehrte er sich gegen ihn, mit allem, was ihm zur Verfügung stand. Bevor er erstickte, würde er den anderen Mann mit sich in die Tiefe reißen, das schwor Crawford sich, während er ihn niederrang und versuchte, ihm seine Hände um den Hals zu legen und so lange zuzudrücken, bis dieser sich nicht mehr regte. So wie er es sich in den Tagen, die er nun schon sein Gefangener war, so oft vorgestellt hatte, blind vor Hass und vor Wut. Doch er war nicht gut genug, schon wieder nicht. Er wurde niedergerungen und fixiert, befand sich im eisernen Schraubstock des Mannes, der sich ihm aufzwingen würde. Der ihm einen Schwanz aus Glas in den Rachen gesteckt hatte. Crawford keuchte und wehrte sich nach Luft schnappend, doch ohne Erfolg. Gnadenlos wurde er an die Vorderseite des anderen Mannes gepresst, der ihn wie sich selbst auch auf den Knien hielt. Seine Arme waren zu schwach, um sich gegen den Griff zu wehren und der Luftmangel nahm ihm die Kraft, sich hochzustemmen. Crawford vermochte es nicht, seinen rasenden Herzschlag zu beruhigen, während er nur zu deutlich die Worte hörte, die soviel in ihm zerstört hatten, dass er gar nicht wusste, wo er anfangen sollte, die Scherben aufzusammeln. „Du glaubst, du bist etwas Besseres? Du glaubst, ich würde dich nicht dazu bekommen, meinen Schwanz zu schlucken als wäre das Beste, was dir passieren würde?“ Crawford wehrte sich und stöhnte unwillig auf. Er konnte das nicht noch einmal zulassen. Er ertrug das nicht noch einmal. Gemurmel drang an sein Ohr, Stimmengewirr, mit dem er nichts anfangen konnte. Hatte Lasgo die Tür zu seinem Schlafzimmer aufgelassen? Waren es die Bediensteten? Seine Männer, die auch dem ersten Mal beigewohnt hatten? Der Vernarbte, der dafür zuständig war… „Na los, mach den Mund auf.“ …sich um ihn zu kümmern. Ihn fertig zu machen und zu arrangieren, wie und wo Lasgo ihn haben wollte. Wie sehr sich Crawford dagegen gewehrt hatte. Wie sehr er gekämpft und verloren hatte. Das Stimmengewirr wurde lauter und Crawford konnte einen tiefen Bariton ausmachen, der ihm Worte ins Ohr murmelte, die ihm fremd vorkamen. „Beruhige dich, Orakel. Niemand ist hier. Beruhige dich.“ Es war niemals Orakel. Lasgo hatte sich nicht damit aufgehalten, ihn bei seinem Codenamen zu nennen. Er hatte ihn direkt bei seinem Vornamen genannt, als wären sie langjährige Vertraute und als würde er alles aberkennen, was Crawford jemals seinen Feinden gegenüber an Stärke aufgebracht hatte. Als verdiene er keinen anderen Namen. „Mach den Mund auf oder ich breche dir den Kiefer, damit dieser Schwanz dorthin hineinpasst, wo er hingehört.“ Fest presste Crawford seine Lippen aufeinander und es war ihm egal, ob er daran erstickte oder eben auch nicht. Er würde sich nicht noch einmal vergewaltigen lassen, auch wenn er kaum in der Lage dazu war, sich selbst zu helfen. „Crawford, er ist nicht hier. Du bist in Sicherheit. Lasgo ist nicht hier. Beruhige dich.“ Worte, die keinen Sinn ergaben und die ihn zusammenzucken ließen. Er wollte den Namen des Mannes nicht mehr hören, der nun seinen Kopf an seinen Haaren nach hinten zog und ihm das Stück Glas zwischen die Lippen schob, die sich widerwillig, jedoch ohne weiteren Widerstand geöffnet hatten, aus Angst vor einem gebrochenen Kiefer. „Wunderschön siehst du aus. Wie meine besten Huren. Gewöhn dich schon einmal an das Gefühl, Bradley, denn ich beabsichtige, deine Lippen weitaus öfter zu nutzen als deinen Arsch. Ich nehme an, das wird dich glücklich stimmen. Und nehme das hier als eine Lektion für das, was dir blühen wird, wenn du dich mir noch einmal verweigerst.“ Das Gefühl des Riemens, mit dem das Glas an seinem Hinterkopf festgemacht worden war, war so präsent, dass er unweigerlich seinen Kopf nach hinten presste. Doch da war kein harter Pfahl, an den er gefesselt worden war, da war nur eine menschliche Stütze, die schmerzerfüllt aufstöhnte. „So ist es gut. Ich bin es. Nicht er. Ich bin nicht er, Crawford. Ich bin nicht er.“ Wieder und wieder hörte er diese Worte, lauschte ihnen und folgte ihrer Bedeutung, ihrem Klang, ihrem Aufbau. Er folgte der Stimme, die, so erkannte er schlussendlich, anders war als Lasgos. Tiefer, ruhiger, nicht mit dem unterschwelligen Sadismus unterlegt. Die Stimme gab ihm seine Fähigkeit Luft zu holen wieder und nach und nach wurden seine Atemzüge ruhiger. Sie passten sich seinem Herzschlag an, der ebenfalls zu einer Ruhe zurückkehrte, die es Crawford erlaubte, wieder in seinen Körper zurück zu kehren. Seinen von Kopfschmerzen geplagten Körper, der ihn ermattet die Augen schließen ließ. „Du bist an der Küste in Sicherheit. Das Haus hier wird von deinem Team, deiner Mutter, deren Assistenten und von Weiß bewohnt. Lasgo weiß nicht, wo du dich befindest und er kann deiner nicht habhaft werden. Du bist nicht mehr bei ihm und ich bin nicht er.“ Crawford ließ zu, dass sein Verstand die Worte verwertete. Er ließ zu, dass er seine körperlichen Reaktionen katalogisierte und verwertete. Er zitterte am ganzen Leib und klammerte sich beinahe schon an die Arme, die ihn in einem eisernen Griff hielten. Der Boden unter ihm war angenehm kühl, während die Luft noch so warm war, wie es nur ein heißer Sommer trotz Dunkelheit mit sich brachte. Er kniete, zusammengefallen wie eine Marionette, der man die Fäden durchgeschnitten hatte. „Zum Abend gab es diesen Mischmasch aus allem. Haggis nennt deine Mutter das. Du hast dazu eine Tasse Kaffee getrunken.“ Er ließ sich von der Stimme treiben, die seine dunklen Erinnerungen verscheuchte und die Stimme des Menschenhändlers verstummen ließ. Auch wenn das, was erzählt wurde, ihn nicht wirklich interessierte, weil er es schon wusste, wehrte er sich nicht dagegen. Im Gegenteil, er lehnte sich zurück, öffnete die Augen und starrte hinaus in den Sternenhimmel. Es war Ruhe, die Einzug in ihn hielt, wie auch Gelassenheit und das Gefühl, dass er verbunden war mit der Realität, die nicht Lasgo hieß. Lautlos atmete Crawford vorsichtig aus und wieder ein. Da war keine Barriere, die ihn daran hinderte. Kein Gefühl von Glas auf der Zunge. Nur Freiheit, obwohl die Arme ihn immer noch an den anderen Mann gepresst hielten, als würde er jeden Moment wieder losbrechen können. Der Gedanke, dass diese Arme eine Bedrohung sein könnten, kam ihm nicht. Sicherheit waren sie und die genoss er, auch wenn er sich bewusst war, dass es eine trügerische, fehlgeleitete Sicherheit war, die er annahm, die ihn aber etwas kosten würde. Wessen er sich bewusst wurde, war, dass es Fujimiya hinter ihm war. Mal wieder Fujimiya, der seit Beginn dieser Katastrophe ein steter Begleiter gewesen war. Auch wenn der Weiß ihn niemals so hatte sehen sollen. So nicht. Bei Lasgo nicht, danach nicht in seinen schwachen Momenten. Er hätte ihn niemals außerhalb des Bildes sehen sollen, das er ihm bereit war zu zeigen. Und dennoch hatte Fujimiya Teilhabe an all dem gehabt. Ohne zu spotten und ohne seinen Zustand auszunutzen, was etwas war, dass Crawford immer noch verwunderte. Etwas in ihm rebellierte dagegen, denn es war ebenso ungewohnt wie die Sorge seines Teams, die er schlussendlich unter Widerstand hatte annehmen können. Vielleicht machte es dieser Gedanke erträglicher, dass er nun gegen den rothaarigen Japaner gelehnt kniete und keine Anstalten machte, sich aus dessem Griff zu befreien. Trotzdem vertraute er seiner Stimme noch nicht so sehr, dass er Fujimiya auf seine Worte antworten oder dass er sich überhaupt vernünftig artikulieren konnte. Crawford hatte keine Ahnung, wieviel Zeit letzten Endes verging, bis er seinen Körper soweit unter Kontrolle hatte, dass er aufhörte zu zittern und sich räuspern konnte. Was er Fujimiya sagen sollte, stand jedoch weiterhin in den Sternen, auch wenn der Weiß ihm schlussendlich die Entscheidung abnahm. „War das ein Flashback?“, fragte er ruhig und Crawford spürte die Bewegung der Worte im Brustkorb des Weiß. Fujimiyas Atem strich ihm über die Haare und war dennoch keine Bedrohung. Crawford verwunderte das. Viel zu oft hatte sich Lasgo hinter ihm befunden, viel zu oft hatte er dessen Atem in seinem Nacken gespürt. Doch jetzt, gerade in diesem Moment, konnte er klar zwischen den beiden Männern differenzieren. „Ja.“ Crawford räusperte sich, um das Krächzen aus seiner Stimme zu vertreiben. „Möchtest du darüber sprechen?“ Er runzelte die Stirn. „Warum machst du das?“ Ein fragender Laut entkam dem Mann hinter ihm. „Was meinst du?“ „Dich kümmern.“ Die Grillen zirpten in die Stille, die daraufhin zwischen sie trat. „Ich möchte es so.“ „Dein Mitleid ist deplatziert.“ „Es ist kein Mitleid.“ „Sondern was?“ „Ein zu gutes Herz.“ Crawford schnaubte. Ja, das war es wohl. Die Frage war, ob er es annehmen konnte und wollte, was Fujimiya ihm hier anbot. Ob er überhaupt eine Wahl hatte, das abzulehnen. Ob er einen Ausgleich herstellen musste. „Erwartest du eine Gegenleistung?“, fragte er schließlich mit einem Stirnrunzeln, weil es das einfachere Thema in dem ganzen Chaos schien. Er konnte sich auf das Geschäftliche zurückziehen und feststellen, dass Fujimiya eben genau das wollte. Wie jeder andere auch. Er tat das schließlich nicht aus reiner Nächstenliebe. Es war einfacher zu begreifen, als wenn der Weiß tatsächlich so altruistisch war. „Ja, das tue ich.“ Wider Willen versteifte Crawford sich. Er hatte es geahnt, aber es zu hören, stand noch einmal auf einem anderen Blatt. „Was?“ Fujimiya lachte leise. „Eine regelmäßige Partie Schach. Und du könntest aufhören, mich umbringen zu wollen.“ Überrascht drehte sich Crawford um und dieses Mal ließen ihn die Arme los. Selbst über die Dunkelheit hinweg sah er, dass er in seinen Wahn, dass es sich bei Fujimiya um Lasgo handelte, diesem eine blutige Lippe geschlagen hatte. Stirnrunzelnd betrachtete Crawford die Blutspur, die sich über das Kinn des anderen zog. „Ersteres lässt sich einrichten. Letzteres kann ich dir nicht versprechen“, erwiderte er mit der minimalen Andeutung eines Lächelns, während er seine Hand hob. Wortlos legte er seinen Daumen auf das Kinn des Japaners und wischte vorsichtig das Blut weg. „Das solltest du kühlen.“ „Wahrscheinlich. Aber bisher hatte ich alle Hände voll zu tun.“ Es war ein Scherz, nicht mehr als ein dummes Wortspiel, das Crawford schnauben ließ und doch offenbarte es um Längen mehr. Ja, Fujimiya hatte alle Hände voll mit ihm zu tun, schon seit ein paar Wochen. Ein wenig Wiedergutmachung schadete da nicht. Crawford seufzte tief und stemmte sich vorsichtig und schwankend hoch. Mit einem weiteren Blick auf den zu ihm hochschauenden Weiß streckte er ihm die Hand entgegen. Fujimiya fixierte diese, als wäre sie das Angebot zur Weltherrschaft, bevor er einschlug und sich hochziehen ließ. „Komm mit in die Küche“, fand Crawford mit jedem Wort, das er veräußerte zu seinem alten Ich wieder. Ruhe, Gelassenheit, ja auch Überlegenheit. Er schob alles beiseite, was ihn belastete: seinen zukünftiger Puppenspieler, ebenso wie ihre Zielperson und seine Mutter, die sie sicherlich beobachtete. Sich auf den Weiß zu fixieren, half ihm, zu sich selbst zu finden und zu dem Mann werden, der er vor der Katastrophe gewesen war. Mit ein paar wenigen Änderungen. Wie zum Beispiel einem Eisbeutel, den er nun für den Weiß zusammenstellte und diesem vorsichtig gegen die geschwollene Lippe presste, unter genauer Beobachtung violetter Augen, die ihn nicht aus ihrem Fokus ließen und ihn sezierten für das, was er tat. Crawford verlor kein weiteres Wort zu seiner Schwäche und würde es auch nicht mehr tun, doch das bedeutete nicht, dass er nicht insgeheim, wenn er es sich ehrlich eingestand, dankbar war für die Hilfe des anderen Mannes, die ihn anscheinend immer wieder aus den Klauen ihrer Zielperson befreite. ~~~~~~ Fortsetzung folgt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)