Die Farbe Grau von Cocos ================================================================================ Kapitel 2: Am Abgrund --------------------- ~~**~~ Der Tag begann für Crawford alles andere als angenehm. Gemessen an dem Nebel, der durch seinen Kopf waberte und ihm Konzentration und Denken erschwerte, hatte er viel zu lange geschlafen. Wobei man das nicht hatte schlafen nennen können. Seine Träume waren durchsetzt gewesen von Schattenwesen, die ihn immer wieder halb in die Welt der Wachen geschleudert hatten, nur damit er unruhig wieder zurück in eben jene sank. Die Muskeln seines Körpers waren angespannt und sandten wieder und wieder Impulse des Schmerzes aus, die sich trotz seiner eisernen Kontrolle steigerten und ihn wie Fieber einnahmen. Sie schwächten ihn und ließen ihn an nichts anderes mehr denken, als dass er den Schmerz endlich loswerden musste, zur Not mit allen Mitteln. Wie sollte er seinem Team gegenübertreten und so tun, als wäre alles normal, wenn er sich noch nicht einmal gerade halten können würde? Crawford schälte sich ungelenk aus der dünnen Decke und strauchelte ganz seiner Vermutung folgend mehr als dass er ging in sein Bad, um sich dort für einen Moment an die wohltuend kühlen Kacheln zu lehnen. Wie beruhigend sie doch seinem gefühlten oder tatsächlichem Fieber entgegenwirkten. Er musste sich aufraffen und so früh wie möglich den Arzt aufsuchen. Er brauchte Gewissheit über die ihm zugefügten Verletzungen und nicht nur das. Er brauchte einen Test, ob Lasgo ihn mit einer übertragbaren Krankheit angesteckt hatte. Zittrig griff Crawford zu den Tabletten, die ihm zumindest gestern ein paar Stunden Ruhe verschafft hatten und schluckte zwei von ihnen mit einer übelkeitserregenden Handvoll Wasser. Er hatte noch genug, würde aber über kurz oder lang nicht mehr von ihnen nehmen dürfen, da er seinen Verbrauch des speziell für ihn hergestellten Mittels Rosenkreuz dokumentieren und melden musste. Ein zu hoher Verbrauch würde zu Fragen führen, Fragen zu Untersuchungen, Untersuchungen zu Schlussfolgerungen. Also würde er seinen Arzt um etwas Mundanes bitten müssen. Sein Blick schweifte zur Dusche. Alleine der Gedanke an den anderen Mann ließ in ihm erneut den Wunsch aufkommen, sich zu duschen, sich von Grund auf zu reinigen. Doch er ließ von dem beinahe schon neurotischen Drang ab. Viel zu groß waren die Schmerzen, als dass er es wagen würde, sich zu berühren oder etwa, Wasser an die Abschürfungen und Schnitte zu lassen. So begnügte er sich damit, seinem Gesicht etwas Frische zuzuführen und schließlich in sein Zimmer zurück zu wanken. Crawford fluchte unterdrückt, da es ihm von Minute zu Minute schwerer fiel, den Schmerz in sich soweit zu verbannen, dass er es wenigstens an seinem Team vorbei bis zu seinem Arzt schaffte. Doch im Moment überforderte ihn selbst die simple Aufgabe des Anziehens. Frustriert schlug er mit seiner Faust auf die weiche Unterlage seines Bettes. Sein Körper hatte ihm zu gehorchen, nicht anders herum. Er würde sich nicht von derart profanen Bedürfnissen unterwerfen lassen. Trotzdem brauchte er schier eine Unendlichkeit um sich in den üblichen Dreiteiler zu zwingen, den er sonst innerhalb von Minuten überstreifte. Bereits jetzt schon wusste er, dass ihn die strenge Steife des Kragens und des Anzugjacketts, die seine Position und seine Aufgabe hier in Japan unterstrich, nur schmerzen würde. Der sonst so bequeme Stoff rieb sich an jeder seiner Wunden, insbesondere bei dem nutzlosen Versuch, sich vernünftiges Schuhwerk anzuziehen. Crawford schloss für einen Moment die Augen und versuchte, bis zehn zu zählen um nicht vor Frust lauf aufzuschreien. Alles, was an Wut und Hass in ihm schwelte, ließ er durch sich hindurchwaschen und vergehen. Als er ruhiger wurde, versuchte es mit dem Schmerz ebenso und scheiterte daran. Das Stechen und Brennen in und auf seinem Körper, das Feuer in seinen Nervenbahnen, seinen überlasteten Synapsen wollte immer noch nicht vergehen, wollte sich seinem Diktat nicht unterordnen. Frustriert widmete er sich schließlich den Kontaktlinsen, benutzte sie anstelle seiner sonstigen Brille, auch wenn er lange brauchte, sie mit seinen zitternden Händen in seine Augen zu befördern. Er wagte gerade den Versuch, sich in seine Hausschuhe zu begeben, als es an seiner Tür klopfte und einen Moment später Schuldig in seinem Raum stand. Crawford sah über das Pochen in seinen Ohren hinweg auf und runzelte die Stirn. War die Tatsache, dass er von Schuldig verlangt hatte, ihn abzuholen, nun auch gleichzeitig eine unausgesprochene Erlaubnis, sein Zimmer ohne seine Einwilligung zu betreten? „Ich kann mich nicht daran erinnern, dich hineingebeten zu haben“, sagte er dementsprechend unterkühlt. Anstelle mit Spott darauf zu reagieren, wie es Crawford von dem Telepathen erwartet hatte, begrüßte dieser ihn aber mit einem ruhigen, gar ernsten Blick. „Ich wollte sehen, wie es unserem Anführer geht, der sich seinen versprochenen Kaffee nicht holt und den Nachmittag, Abend und die Nacht durchschläft und trotzdem noch aussieht wie ausgekotzt. Anscheinend hast du den Auftrag ja gründlich in den Sand gesetzt.“ Crawford schnaubte verächtlich und wandte seinen Blick von dem sich gegen die Tür lehnenden Mann ab. Wenn Schuldig wüsste, WIE gründlich. Doch das ging den Telepathen nichts an. Niemanden aus seinem Team ging das Geschehene etwas an. Und Rosenkreuz würde, wenn er es verhindern konnte, niemals etwas davon erfahren, was ihm angetan worden war. „Wäre das alles?“, fragte Crawford entsprechend ungnädig und Schuldig bedachte ihn mit einem wissenden Lächeln. „Wann soll ich dich zur Klinik fahren?“ Der Anführer von Schwarz hielt für einen Moment inne und maß seinen Telepathen mit hochgezogener Augenbraue. Ausgerechnet jetzt erkannte Schuldig die Regeln von Rosenkreuz an und pochte darauf? Ausgerechnet dann, wenn Crawford sich mit allen Mitteln dagegen sträubte. Die Frage, ob sein Zustand so offensichtlich war, schwelte in den Gedanken des Orakels. Nein, Schuldig konnte außer dem Offensichtlichen nichts wissen. Und das Offensichtliche war bereits genug. „Du siehst fiebrig aus“, erläuterte Schuldig schließlich Crawfords Vermutungen und brachte den Hellseher zu einem rauen Lachen. „Ich wusste gar nicht, dass du die Rolle der Hausglucke angenommen hast“, erwiderte Crawford und erhob sich, um - einem plötzlichen Schwächeimpuls zufolge – sich erneut auf das Bett niederzulassen zu müssen, was ihm jedoch einen schmerzhaften Muskelkrampf im Hüftbereich bescherte. Ohne es wirklich zu wollen und zu merken, stöhnte er leise auf und verlor für einen Moment die Kontrolle über seinen Körper, als dieser den schier unmenschlichen Schmerz zu kompensieren versuchte und sich seinerseits zusammenkrümmte. Das Nächste, dessen er sich gewahr wurde, war Schuldigs ruhiger, wissender Blick. „Kannst du zum Auto laufen oder muss ich dich tragen, Crawford?“ Es hatte keinen Sinn zu diskutieren, das erkannte er. Es hatte keinen Sinn, seinen Zustand wegzudiskutieren, auch das wurde ihm bewusst. Er musste mitspielen und irgendwie zu seinem Arzt gelangen, während er vorgab, sich in ihrer Klinik untersuchen zu lassen. Schuldig würde sie nicht betreten, wenn er es nicht müsste, das wusste Crawford. Also würde der Telepath draußen im Wagen warten und das war seine Chance, durch den Hintereingang des Gebäudes in die U-Bahn zu kommen, die unweit von der Klinik eine Haltestelle hatte. So nickte Crawford schweigend und folgte Schuldig langsam zu dessen Wagen und ließ sich vorsichtig hineingleiten. Schweigend überließ er dem Telepathen die Führung. Seine Kraft brauchte er für die kommende Zeit und fast wünschte er, dass der Schwindel ihn nun schon hier und jetzt übermannen würde. ~~**~~ Aya atmete auf, als der schier unendliche Mahlstrom an aufgedrehten, quietschenden Mädchen in den Nachmittagsstunden endlich abnahm und ihnen ein wenig Ruhe gönnte. Er hatte sich trotz seiner freien Zeit nach der Mission schließlich auch zu seinen Team gesellt, als diese mit dieser Masse nicht mehr fertig wurden und ein paar Momente später den Preis dafür bezahlt, als auch ihn seine ganz eigene Fangruppe umringte und mit Fragen über seine lange Abwesenheit belästigten. Aber gut, das war ihr Job und ihre Tarnung. Gestatten, die freundlichen Blumenhändler, die nebenbei als Auftragsmörder arbeiteten. Oder war es genau anders herum? Aya wusste es schon lange nicht mehr. Das, was er wusste, war, dass beides zu gleichen Teilen zu seinem Leben gehörte. Gerade deswegen konnte er nicht verhindern, dass seine Gedanken ständig zu seinem vergangenen Auftrag glitten. Das, was er getan hatte, hatte ihn zweifeln lassen: an sich, seinem Weg, seinen Moralvorstellungen. Spätestens, als er all seine Kraft dazu genutzt hatte, sich beinahe dem Amerikaner aufzuzwingen, hatte er für einen kurzen Moment sich selbst verloren. Er war nicht er selbst gewesen, doch nun war das vorbei. Nun war er zurück, bei seinem Team, seinem normalen Leben, seiner Schwester, die ihm alle Kraft gaben, die ihm sein ich zurückgaben. Er würde nie wieder derart die Beherrschung verlieren. Das nicht, aber er war zurück auf dünnem Eis. Alles musste so weiter gehen, wie bisher, bis er an zuverlässige Informationen herankam. „Guten Tag, Weiß.“ Mitten in seiner Bewegung hielt Aya inne und sah abrupt auf. In der Tür stand der Teufel in Person, die Verräterin höchstpersönlich. Birman, als wenn nichts passiert wäre und sie Kritiker nicht hintergangen hätte. Natürlich war sie der Explosion entkommen und mit ihr aller Voraussicht nach auch Lasgo. Aya überließ es seinen Teamkollegen, die Frau zu begrüßen und erwiderte den herausfordernden Blick aus schwarzen Augen scheinbar ruhig, doch innerlich kochend. „Schön zu sehen, dass du unversehrt von deiner Mission zurückgekehrt bist, Aya“, lächelte sie ein durch und durch falsches Lächeln und am Liebsten hätte Aya ihr den Hals dafür umgedreht. „Komm bitte zur Missionsnachbesprechung nach unten, Abyssinian.“ Aya folgte ihr wortlos und schloss die Tür sorgsam hinter sich, als sie sich auf die bereits an vielen Stellen lädierte Ledergarnitur fallen ließ. Er erwiderte ihren mittlerweile taxierenden Blick kalt, mit unverhohlener Wut dahinter. „Wie ich hörte, hast du deine Mission nicht ganz erfolgreich beendet, Abyssinian. Lasgo lebt noch.“ Aya hätte nicht gedacht, dass Birman derart dreist und verlogen mit der Tür ins Haus fallen würde. Zumal er nicht erwartet hatte, dass sie es wagte, ihn direkt darauf anzusprechen. Aber gut, dann würde er darauf einsteigen, wenn sie dieses Spiel spielen wollte. Kälte hielt in seine Stimme Einzug, eisig und schneidend. Kälte, die er auch in sich selbst fühlte und die sich zu einem schmerzenden Klumpen in seinem Inneren zusammenballte. „Wir wissen auch beide, warum dem so ist. DU hast ihm daraus verholfen und meinen Auftrag durch deine Anwesenheit ad absurdum geführt.“ Sie nickte wohlwollend, all ihre Freundlichkeit eine einzige Lüge. „Das mag stimmen, Aya.“ Ungläubig schüttelte er den Kopf. Er hatte erwartet, dass Birman log, dass sie sich herausredete. Oder auch, dass sie ihn auslachte. Doch dass sie so verdammt ruhig blieb, machte ihn über alle Maßen wütend. „Warum, Birman? Warum hast du Kritiker verraten?“, platzte Aya heraus. Er hatte keine Lust auf Spielchen und auf Halbwahrheiten unter dem Deckmantel der Gerechtigkeit. Es war die entscheidende Frage. Es war das, was bisher wortlos zwischen ihnen geschwebt hatte. Er wollte ihr keine Gelegenheit geben, ihn zu überrumpeln, er wollte Klarheit. „Was soll ich verraten haben, Aya?“, erwiderte sie mit ruhiger Stimme und maß ihn mit einem spöttischen Blick. „Perser? Sag mir, Aya, hältst du ihn wirklich für den Guten in diesem Spiel? Da muss ich dich leider enttäuschen. Er hat seine eigene Agenda, er spielt seine eigenen Spielchen schon seit Jahren und missbraucht Weiß dafür! Er ist Egoist und das mit Leidenschaft. Genau wie ich. Genau wie du mit deiner ewigen Fürsorge für deine Schwester.“ Aya knurrte. „Lass sie daraus, Birman. Was getan hast, ist gegen alles, für das wir stehen, gegen das Gesetz!“ Birman lachte hell auf, während sie sich durch die kurzen, strubbeligen Haare strich. „Und das, was Weiß macht, ist nicht gegen das Gesetz? Ihr mordet, Aya, falls dir das nicht bewusst ist. Nach dem Gesetz steht Mord unter Strafe, also erzähle mir nicht, dass ich mich gesetzesuntreu verhalte.“ Angewidert schüttelte Aya den Kopf und schnaubte verächtlich. „Weiß und Kritiker töten im Namen der Gerechtigkeit, nicht für eine persönliche Agenda.“ Amüsiert schüttelte Birman den Kopf und schlug ihre Beine provozierend übereinander. „Und das rechtfertigt das Morden, die vielen Witwen, Witwer und Waisen, die ihr zurücklasst? Wie naiv du bist, Aya. Wie äußerst naiv." Sie pausierte, geradeso, als müsse sie sich besinnen, und schnaubte schließlich. „Aber ich bin nicht gekommen, um mit dir darüber zu streiten, was Recht und Unrecht ist oder was ich getan habe, um meiner Sache gerecht zu werden. Ich habe meinen Weg gefunden, so wie du deinen gehst. Ich bin hier, um dir einen Deal anzubieten.“ Aya lachte verächtlich. „Du oder Kritiker, Birman? Wer bietet mir den Handel für mein Schweigen in dieser Angelegenheit an?“, fragte er lauernd und ebenso lauernd war das Grinsen, das sie ihm schenkte. Er musste wissen, wer noch mit drinsteckte, er brauchte Klarheit über das Ausmaß des Verrats, auch wenn er bereits an den ihn messenden Augen erkannte, dass sie ihm keine eindeutige Antwort geben würde. Beinahe gelangweilt betrachtete sie ihre Finger, schnippte sich imaginären Schmutz von ihren Nägeln. „Die Antwort überlasse ich dir, Abyssinian.“ Dunkel grollte er. „Was für einen Handel könntest du schon für mich haben, Birman? Was wäre es wert, meinen Auftrag nicht gleich hier an Ort und Stelle zu beenden und dich umzubringen, dann zu Perser zu gehen und ihm von deinem Verrat zu berichten?“ Langsam erhob Birman sich und anstelle von Angst erkannte Aya Triumph in ihren Augen. Noch bevor die Worte ihre Lippen verließen, wusste er, was sie sagen würde und fand all seine Befürchtungen bestätigt. „Deine Schwester, Ran. Die kleine, süße Aya, die sich im Moment noch bester Gesundheit erfreut. Aber wie du weißt, kann sich das bei Komapatienten stündlich, wenn nicht sogar minütlich ändern, wenn man nicht aufpasst. Aber keine Sorge, meine Männer und Frauen passen sehr gut auf sie auf, Aya, schützen sie vor Angriffen von außen.“ Alles in dem Weiß kam zu einem Halt, als die zuckersüß-verächtlichen Worte an sein Ohr drangen. Birman wagte es tatsächlich. Sie wagte es, ihn mit seiner Schwester zu erpressen. Sie wagte es, Ayas Namen mit ins Spiel zu bringen und ihre Gesundheit zu bedrohen. Seine Hände ballten sich zu Fäusten, als er sich mit Gewalt davon abhielt, Birman hier und jetzt den Hals dafür umzudrehen und sie zu töten, egal, was die Konsequenzen für ihn wären. Es kostete ihn beinahe seine Zähne, so sehr presste er sie in dem nutzlosen Versuch, sich zurück zu halten, aufeinander. „Lass sie da raus, Birman, ich warne dich“, sagte er schließlich mit eiskalter, äußerer Ruhe, die so brüchig war wie die Stufen zu ihrem Dachboden. Er könnte nicht für viel garantieren, wenn sie ihre Drohung weiter auf die Spitze trieb. „Sehen wir es doch mal so, Abyssinian. Du kannst wählen. Entweder, du leistest mir Widerstand und hast schließlich niemanden mehr, für den du kämpfen musst. Oder aber du gehorchst mir aufs Wort, wie der brave, gehorsame Hund, der du schon immer warst, seit du ein Katana in die Hand genommen hast um zu töten. Denkst du, ich habe mich nicht vorbereitet? Deine Schwester befindet sich in meiner Obhut, wie du weißt. Und ich habe die Möglichkeit, sie jederzeit verlegen zu lassen. Ich habe Leute, die hinter mir stehen, Aya. Du bringst mich um… deine Schwester wird sterben. Du arbeitest gegen mich und gehorchst mir nicht… deine Schwester wird sterben. Du versuchst sie verlegen zu lassen… sie stirbt. Welch tragische Wendung, meinst du nicht auch?“ Aya konnte für einen Moment nicht glauben, was er dort hörte, was Birman mit einem Lächeln aussprach. Nun war es eingetroffen...das Undenkbare. Das, was Schwarz und Schreiend nicht zu tun vermochten. Seine Schwester war in Gefahr, er selbst war machtlos, konnte gegen Birman nichts ausrichten, nicht, wenn er nicht mit dem Leben Ayas spielen wollte. In diesem Moment hasste Aya aus voller Seele. Er fühlte rasende, blinde Wut in sich, bereit zu zerstören und zu vernichten, was ihm in den Weg trat. Es brauchte alles, was er aufzubieten hatte, dass nicht sein Hass und sein zerstörerischer Zorn gewannen. Eben jener, der ihn fast hätte Crawford zerstören lassen. Doch nun war er anders, brutaler und primitiver. Er wollte Birman tot sehen, wollte erleben, wie die Agentin langsam an den Verletzungen krepierte, die er ihr eine nach der anderen zufügte. Er ergötzte sich an der Vorstellung, sie mit seinen bloßen Händen zu töten. Doch nein, das durfte nicht sein, seiner Schwester zuliebe nicht. Er konnte sich Birman nicht widersetzen, solange er das Ausmaß ihres Verrates nicht kannte und solange er nicht wusste, wer noch auf ihrer Seite war. Es war ein Schachspiel. Sie war die Dame und durch verschiedenste Figuren geschützt, die er alleine nicht besiegen konnte. Und würde er seinen Platz verlassen, um sie zu töten, wäre der Weg auf seine Schwester freigegeben. „Woher weiß ich, dass du sie nicht auch so tötest, wo du schon versucht hast, mich zu töten?“, fragte er mit mühevoll unterdrücktem Hass und spürte, wie sich bei diesen Worten ein eiserner Ring an Verzweiflung um seinen Hals legte, ihm praktisch die Luft abschnürte. Birman stand auf und ließ ihren Blick durch das dämmrige Zimmer gleiten. Sie atmete schwer aus, so als ob sie sein jugendliches Ungestüm vollkommen unverständlich fand. Ihr Lächeln war genauso süßlich wie es falsch war. „Ich habe mich umentschieden, Aya. Ich will dich lebend und habe noch nichts davon, wenn das komatöse Schwesterchen stirbt. Allerdings nur solange, wie du mir auch wirklich gehorchst. Solltest du dich mir verweigern, Abyssinian, garantiere ich dir den Tod deiner kleinen, süßen, geliebten Schwester. Sieh es doch einfach mal so. Dein Herrchen, das deine Leine hält, wird dich einfach hin und wieder in eine andere Richtung zerren. Und dich über gewisse Situationen in Schweigen hüllen.“ Ein Knurren, war das Einzige, was ihr darauf entgegnet wurde, als Aya sich besiegt zurückfallen ließ und die Stirn in seinen Händen vergrub. Für Aya....für seine Schwester. Wieder einmal würde er sich durch sie binden lassen. Birman musterte ihn für einen Moment und kniete sich schließlich vor ihn, strich ihm mit falscher Zärtlichkeit sanft über seine Wange. Aya zuckte zusammen, doch als er ihre Hand wegschlagen wollte, hielt die Warnung in ihren Augen ihn davon ab. „Es fällt mir nicht leicht, Aya. Ich mag deine Schwester, das weißt du. Aber ich habe unsere Interessen zu wahren, ein Ziel und das werden ich und die Anderen erreichen. Sei also dankbar um die Chance, die sich dir hier auftut und widme dich weiterhin deinen täglichen Aufgaben, gerade so, als wäre nichts gewesen.“ Angewidert schnaubte Aya. „Als wäre nichts gewesen? Du hast einen Mann vergewaltigt“, presste er hervor und ihr Gesicht erhellte sich, als sie amüsiert und überrascht lachte. „Wohl kaum, Aya. Er war nicht Manns genug um einen hochzukriegen, als ich meine Hand um seinen Schwanz gelegt habe. Dafür brauchte es tatsächlich den Schwanz in seinem Arsch.“ Aya blinzelte ungläubig. Zweimal musste er sich räuspern, um den Kloß in seinem Hals hinunter zu schlucken. „Das ist widerlich, Birman. Weißt du, was du da redest?“ „Oh ja, das weiß ich sehr gut. Es ist Crawford, über den wir hier reden. Das Orakel von Schwarz. Der Anführer eines sadistischen, feindlichen Teams. Ich weiß, wer er ist und ich weiß, was diese Woche, die sich Lasgo um ihn gekümmert hat, Kritiker für Vorteile bringt.“ Entsetzt starrte Aya die Agentin an und konnte nicht glauben, was ihren Mund verließ und mit welcher Selbstverständlichkeit sie ihre und Lasgos Taten rechtfertigte. Betäubt schüttelte er den Kopf. „Er hat ihn vergewaltigt. Wieder und wieder.“ „Geschieht ihm recht.“ „Crawford ist ein Mensch! Er hat das nicht verdient!“ Birman horchte auf und lachte dann schallend. „Oh, Mitleid, Abyssinian? Hast du deswegen keinen hochbekommen und dich nicht an ihm bedient, als Lasgo ihn dir geschenkt hat? Bedauernswert. Dabei ist er so ätherisch, wenn er leidet und merkt, dass seine Arroganz ihn kein Stück weiterbringt. Im Gegenteil…“ Aya war zu perplex um ihr zu antworten, also erhob Birman sich schließlich und tätschelte ihm ein letztes Mal über seine Haare. Sie verließ das Zimmer und das leise Schließen der Tür war wie ein Donnerschlag in der Stille des Raumes. Passend dazu war es Ayas Faust, die nun mit einem unbefriedigenden Laut erst gegen das Leder des Sofas traf und als das nicht mehr reichte, sich die Wand als Opfer auserkor. Einmal. Zweimal. Dreimal. Wieder und wieder. Solange, bis er blutete, solange, bis er ihr nicht hinterherstürmen und ihr das Leben aus dem Gesicht schlagen wollte. ~~**~~ „Wir sind da.“ Crawford nickte wortlos. Auch wenn die Schmerztabletten ihren Dienst aufgenommen hatten, hatte sich sein Zustand in der letzten Stunde der Fahrt nicht wesentlich verbessert. Ihm war übel, sein ganzer Körper zitterte unmerklich vor unterschwelligem Schmerz und Fieber. Seine Hände lagen ruhig auf den Oberschenkeln, waren aber klamm vor Schweiß. Die Aussicht darauf, dass er von diesem Gebäude aus noch weitermusste, verlangte alle Kraftreserven von ihm, die er noch aufzubieten hatte und das waren wahrlich nicht mehr viele. Sich der Tatsache unbewusst, ließ Schuldig den Wagen langsam ausrollen und parkte auf einem der raren Plätze direkt vor der unscheinbaren Klink. Sie lag inmitten von Tokyo mit guter Anbindung an den Nahverkehr, der Crawford schließlich zu seinem endgültigen Ziel bringen würde. „Warte hier“, war das Einzige, was Crawford hervorbrachte, bevor er mit einiger Mühe das Auto verließ und aufrechten Ganges das kurze Stück zum Gebäude hinter sich brachte und hineinging. Die Dame am Empfang kannte ihn bereits und erhob sich, um ihn zu begrüßen. Wie gewohnt nickte Crawford der Rosenkreuzagentin, einer schwachen Empathin, die nicht in der Lage war, seine Schilde zu durchdringen, knapp zu und begab sich zum Aufzug. Erst als sich die Türen hinter ihm schlossen, drückte er den Knopf für den ersten Stock, von dem aus ein abgelegener Notausgang in dem hinteren Gebäudeteil zu erreichen war. Fast verschwamm die Umgebung vor seinen Augen, als er die wenigen Treppenstufen hinunterstieg und sich zur Bahnstation begab. Schuldig würde keinen Verdacht schöpfen, so konzentrierte Crawford sich mit aller Macht darauf, nicht das Bewusstsein zu verlieren, als er sich ein Ticket kaufte und die Bahn in Richtung Außenbezirke nahm, schlussendlich in der Nähe der Praxis ausstieg. Trotz des Schwindelgefühls, was ihn nun beherrschte, trotz des allzu präsenten Zitterns, schaffte Crawford es tatsächlich bis zu dem großzügigen Gebäude. Zittrig legte er seine Hand auf die messingbeschlagene Klinke, drückte diese hinunter und betrat die leere Praxis. Der Arzt hatte sich ausschließlich auf die Behandlung von wohlhabenden Patienten spezialisiert und war dementsprechend teuer und verschwiegen. Er war jemand für die Untersuchungen, die Rosenkreuz nichts angingen. Crawford war dankbar, dass ihn in diesem Moment nur die Arzthelferin am Empfang begrüßte und ihn freundlich anlächelte. „Mr. Roberts, schön Sie zu sehen. Wie geht es Ihnen?“, fragte sie in perfektem Englisch und er nickte schwach. Ihr Lächeln hingegen erwiderte er nicht, da er wusste, dass der allzu evidente Schmerz es unstet und flatterig gemacht hätte. Für die junge, rundliche Frau war er ein einflussreicher, amerikanischer Geschäftsmann der Tokioter High Society, ein Bild, das er selbst erschaffen hatte, um seine wahre Tätigkeit zu verschleiern. Und es funktionierte perfekt. „Sehr gut. Und Ihnen, Ayako-san?“ Sie plauderte kurz über dieses und jenes, über das Wetter und sonstige Nichtigkeiten. Crawford belastete das bis über seine Grenzen hinaus, es ließ ihn sich unbemerkt an den Tresen klammern. Lange konnte er das Bedürfnis seines Körpers, sich einfach abzuschalten und ihm Erlösung in Form von Bewusstlosigkeit zu schenken, nicht mehr ignorieren. „Ich möchte zu Doktor Martinez“, beendete er abrupt ihren sonst so geschätzten, kleinen Flirt und war sich erst hinterher bewusst, wie gepresst es geklungen hatte. Ayako hatte es anscheinend auch gemerkt, denn ihr Blick fuhr abrupt zu seinem hoch, während sie schuldbewusst nickte und um den Tresen herumkam. Ohne viel Federlesens fasste sie ihn an seinem Oberarm und führte ihn zu einem der Stühle. Erst als er sicher saß, eilte sie zu dem Wasserspender und gab ihm ein Glas Wasser, welches er in seinen zitternden Händen barg. Auch jetzt brachte er es nicht über sich, das Wasser zu schlucken. „Warten Sie bitte, ich benachrichtige sofort den Doktor.“ Crawford seufzte und schloss für einen Moment die Augen, um das Flimmern aus seinem Sichtfeld zu vertreiben. Nicht mehr lange und der Schmerz hätte ihn tatsächlich in die wohlverdiente Bewusstlosigkeit geschickt. Mit Bedacht stellte er das Wasser neben sich ab, bevor es ihm aus seinen flatterigen Händen gleiten konnte und wartete auf seinen Arzt. Doktor Allessandro Martinez. Ein Spanier, der vor zehn Jahren beschlossen hatte, nach Japan auszuwandern und nach einer zweifelhaften Vergangenheit hier ein neues Leben als Mediziner zu beginnen. Sie hatten sich durch Zufall in einer Bar kennengelernt und seitdem hatte Crawford einen kompetenten, verschwiegenen Mediziner weit ab von Rosenkreuz und seinem Team. „Mr. Roberts, kommen Sie bitte?“ Ihm wurde jetzt erst bewusst, dass sie tatsächlich akzentfrei Englisch sprach. Crawford nickte, erhob sich von seinem Stuhl und folgte ihr in einen der hellen Behandlungsräume, der ihm freundlich entgegenstrahlte. Das machte es nicht leichter für ihn, ebenso wie die Tatsache, dass ihn jemand untersuchen würde, dem er vertraute, seine Daten und Ergebnisse nicht in seiner Rosenkreuzakte zu vermerken. Das freundliche Gesicht des älteren Mannes tauchte vor ihm auf, lächelte ihn an und begrüßte ihn mit dem typischen beschwingt-leichten, spanischen Akzent. Crawford erwiderte diese Geste zurückhaltend wie immer, reichte seinem Gegenüber die Hand und ließ sich erneut nieder, nur um darauf zusammen zu zucken, als seine Muskeln sich gegen den wiederholten Missbrauch wehrten. Der Arzt wartete, bis Ayako den Raum verlassen hatte, bevor er mit zusammengezogenen Augenbrauen fragte: „Sie sehen ganz und gar nicht gesund aus. “ Es war die unausgesprochene Bitte, ihm mehr über seinen Zustand zu erzählen, damit ihm geholfen werden konnte. Crawford schluckte trocken, seine Kehle war wie ausgedörrt. „Ich benötige Ihren medizinischen Rat.“ Es fiel ihm schwer, die Worte auszusprechen, um Hilfe zu bitten und sich dem zu stellen, was passiert war, was noch geschehen würde. Schon alleine der Gedanke daran, sich vor dem Mann auszuziehen und ihn nun doch derart intim an sich heranzulassen, verursachte Crawford Übelkeit. Doch es war nötig, er musste dieser Schmerzen Herr werden. Es war nötig, um weitere Vorkehrungen zu treffen. Crawfords Augen bohrten sich in die des Arztes. „Ich hatte ungeschützten und nicht einvernehmlichen Geschlechtsverkehr mit einem Mann. Zudem weist mein Körper Spuren von stärkerer Gewalteinwirkung auf.“ Ruhig maßen ihn die warmen, braunen Augen. Ebenso ruhig nickte der Arzt und erhob sich. „Bitte folgen Sie mir, Mr. Roberts“, erwiderte er sanft und führte er Crawford in den Nebenraum. ~~**~~ Crawford hatte die Untersuchung mit angespannter, mühsam aufrecht erhaltener Ruhe über sich ergehen lassen. Unendlich lange war es ihm vorgekommen, endlose Minuten, bis sein Arzt ihm bedeutet hatte, sich wieder anzuziehen und ihn ins Sprechzimmer zu begleiten. Die Erleichterung, die daraufhin in ihm schwelte, ignorierte Crawford so gut es ging. Erleichterung bedeutete Schwäche, Schwäche konnte und würde er sich nicht erlauben. Das hier musste getan werden, so unnormal und wenig alltäglich es auch war. Es würde nicht wieder vorkommen. Lasgo würde nicht noch einmal… Martinez ließ sich ihm gegenüber nieder und sah auf die Ergebnisse, die ihm jetzt schon vorlagen. Anscheinend schienen sowohl die inneren als auch äußeren Verletzungen nicht so gravierend zu sein, als dass eine Operation von Nöten war. „Sie hatten Glück, wenn Sie mir diese Formulierung erlauben. Natürlich haben Sie sich Verletzungen zugezogen, allerdings können diese ohne einen Eingriff ausheilen, wenn Sie sie regelmäßig eincremen und die Wunde sauber und elastisch halten. Ich werde Ihnen hierzu noch diverse Salben mitgeben. Das Ergebnis des Bluttests habe ich erst in ein paar Tagen vorliegen. Kommen Sie in drei Wochen noch einmal wieder und dann kann ich Ihnen sagen, ob es Komplikationen gibt. Dann werden wir auch noch den Langzeittest machen. Antibiotika und Schmerzmittel gebe ich Ihnen bereits heute mit. Die Striemen auf Ihrem Rücken und Ihrem Oberkörper müssen Sie täglich versorgen lassen.“ Crawford nickte stumm. Schmerzmittel waren eine Schwäche, wieder einmal. Eine notwendige Schwäche jedoch, damit sein Team keinen Verdacht schöpfte. Wie er die Striemen auf seinem Rücken versorgen sollte, war ihm jedoch ein Rätsel. „Zwanzig bis vierzig Tropfen pro Tag sollten ausreichend sein.“ Martinez vergrub sich in seine Notizen und grübelte einen Moment, bevor er den Blick erneut hob. „Noch ein letzter Punkt. Sie sollten für ein paar Wochen Ihre Ernährung soweit umstellen, dass Sie vornehmlich leichte Produkte zu sich nehmen, keine ballaststoffartigen Nahrungsmittel. Konkret heißt das Weißbrot, Obst, geschälter Reis, aber keine Fleisch- und Körnerprodukte oder scharfe Gewürze.“ Crawford erwiderte den sanften Blick der wissenden Augen nicht. Er war viel zu sehr damit beschäftigt sich auszurechnen, was dies für die nächsten Tage hieß. Er würde nicht in der Lage sein, seiner Aufgabe hundertprozentig nachzukommen, er musste sich einschränken. Hinzukam, dass er Schwarz nicht adäquat würde leiten können, wenn er unter dem Einfluss von Schmerzmitteln stand, die seine Gabe einschränkten. Eine gefährliche Situation war das, eine Situation, in der er unbedingt die Kontrolle behalten musste. „Ich kann Ihnen auch einen Kontakt vermitteln, der sich weniger um die körperlichen, als um die seelischen Belange nach einer solchen Tat kümmert“, entglitt ihm diese Kontrolle mit jedem Wort, das Martinez ihm wie ein Messer entgegenschleuderte und Crawford presste seinen Kiefer mit eiserner Gewalt aufeinander. „Ich danke Ihnen für Ihre Mühen“, beendete er das Gespräch abrupt mit der üblichen Höflichkeitsfloskel und erhob sich. Er wollte das nicht hören, er wollte noch nicht einmal darüber nachdenken, dass so etwas nötig wäre. Lieber krallte er sich an die organisatorischen Modalitäten. Wie gewohnt würde er die Rechnung bar bezahlen, um keine Spuren zu hinterlassen. Und dann war er weg von hier, weg von dem Mann, der ihn so derart hilflos gesehen hatte. Der Arzt seufzte, als er verstand. „Dafür nicht, Mr. Roberts. Lassen Sie sich noch einen Termin für die Besprechung der Blutergebnisse geben.“ Martinez reichte ihm freundlich die Hand und nickte mit dem Kopf zum Ausgang, dort, wo Ayako an der Rezeption wartete. Und Crawford tat, wie ihm geheißen, dankbar um die Betäubung, die er erhalten hatte und die ihn ein angenehmes Gefühl der Taubheit bescherte, was zumindest die Rückreise vereinfachen würde. ~~**~~ „Hat aber lange gedauert.....“ Crawford ging nicht auf den gelangweilten Ton seines Gegenübers ein, als er wortlos in das Auto stieg und sich anschnallte. Im Moment ging es ihm besser, was zum guten Teil dem Betäubungsmittel zu verdanken war, das immer noch in seinen Nervenbahnen schwelte. Er senkte seinen Blick auf die unscheinbare braune Papiertüte, in der sich die Medikamente befanden. Es war interessant, wie schnell die Dinge, von denen man nur gehört hatte, einen selbst einholten. „So. Was ist los?“ Crawford sah starr aus dem Fenster. Nichts war los. Nichts von Bedeutung. Nichts, was das Team gefährdete. Von nun an würde es besser werden. Redete er sich ein. „Was soll sein?“, erwiderte er dementsprechend kalt, in seinem vollen, sonstigem Ich. Hatte er nach dem gestrigen Abend gedacht, dass Schuldig sich mit seinen bisherigen Nicht-Antworten zufrieden geben würde, so hatte er sich getäuscht. Was nicht bedeutete, dass er die Neugier des allzu vorwitzigen Telepathen befriedigen würde. „Du siehst scheiße aus, Brad.“ Fast hätte Crawford diesen Satz nicht gehört, so ungewohnt leise, wie er ausgesprochen wurde. Das Radio schien mit einem Mal sehr viel lauter geworden zu sein als zuvor. Er lachte kühl. „Deine Komplimente waren auch schon mal blumiger, Schuldig.“ „Ich meine das ernst, Brad.“ Das zweite Mal, dass der Telepath ihn Brad nannte. In weniger als einer Minute. Crawford runzelte die Stirn. Ein Novum und keines, das ihm gefiel. „Schau dich doch an. Abschürfungen und Hämatome auf deinem Gesicht, das Hotelzimmer, fremde Kleidung und das Erste, was du heute gemacht hast, war freiwillig zum Arzt zu gehen. Ausgerechnet du. Und dich von MIR chauffieren zu lassen. Meinst du, mir würde der fiebrige Ausdruck in deinen Augen entgehen? Oder die Art, wie du dich heute Morgen vor Schmerz zusammengekrümmt hast. Brad, ich bin nicht blöd.“ Das dritte Mal. Es reichte. Langsam wandte sich Crawford Schuldig zu und bedachte ihn mit einem eiskalten Blick, der ihm einen grausamen Tod versprach, sollte er so weitermachen wie bisher. „Ja, der Auftrag war ein Misserfolg. Lasgo wusste Bescheid und konnte sich seinem Tod entziehen. Ja, ich wurde aufgemischt und ja, die Rosenkreuzärzte haben das in ihren Akten vermerkt. Alles Weitere geht dich nichts an.“ Flach, emotionslos, kalt, drohend. Crawford wusste, dass Schuldig diese Warnung verstand, hatten sie beide diese Art der Diskussionen doch schon oft genug hinter sich. Doch Schuldig missachtete sie. „Brad…“ „Für dich immer noch Crawford“, erwiderte das Orakel beinahe unhörbar, aber dennoch mit eindeutiger Drohung. Er konnte und wollte einfach nicht mehr zurückhalten, was in seinem Inneren tobte und ihn nicht mehr losließ. Wie KONNTE Schuldig es wagen, ihn derart zu missachten, seine Autorität wieder und wieder in Frage zu stellen? Er stand kurz davor, seinem Teammitglied die Hände um den blassen Hals zu legen und zuzudrücken, zu sehen, wie die blauen, ihn provozierenden Augen hervorquollen und sich vor Entsetzen weiteten, als ein leiser Satz durch den Orkan von Wut drang und seine rational denkenden Gehirnzellen erreichte. „Natürlich... Crawford.“ Das Orakel wusste, dass Schuldigs Einlenken keinesfalls ein Fallenlassen des Themas war. Im Gegenteil. Auf einen Schlag hatten sich alle von Schuldigs Vermutungen bestätigt. Crawford hatte noch NIE die Kontrolle so dermaßen verloren, noch nie hatte er so vehement darauf bestanden, nicht mit seinem Vornamen angesprochen zu werden. Noch nie war Schuldig so einfach durch seine stoische Gelassenheit gedrungen. „Takatori hat mich eben kontaktiert. Er will dich sehen“, holte die Stimme des Deutschen ihn erneut aus seinen Gedanken und ließ ihn den Blick seines Gegenübers mit plötzlicher Geschäftskälte erwidern. „Warum?“ „Keine Ahnung. Wir sollen auf der Stelle zu ihm fahren. Er will mit dir reden“, erwiderte Schuldig ebenso sachlich und startete den Wagen. Zeit, hier wegzukommen. Zeit, sich dem Kampf zu stellen. ~~**~~ Crawford ließ seinen Blick über die gespiegelte Fassade nach oben gleiten. Das Hauptgebäude der Takatori Holding war ein Prachtbau und eine Festung zugleich. Jeder einzelne Schutzaspekt war durch ihn persönlich überprüft und abgenickt worden. Die verschiedenen Sicherheitszyklen ließen keine Möglichkeit für einen Angreifer, durch das engmaschige Netz an Kontrolle und Schutz zu dringen. Zudem gehörte der große Bürokomplex zu den beeindruckendsten und einschüchterndsten Bauten in Tokyo, wenn nicht sogar ganz Japan. Errichtet von Takatoris unzähligen Partnerfirmen, zählte er zu den wichtigsten Wirtschaftszentren des Fernen Ostens und wurde diesem Anspruch auch mehr als gerecht. Crawford wusste nicht, wie oft er sich schon in die oberste Etage begeben hatte, selbstsicher, selbstverständlich und ohne denjenigen, die seinen Weg kreuzten, Achtung oder Aufmerksamkeit zu zollen, weil es einfache, untalentierte Menschen waren, die es sich nicht zu beobachten lohnte. Die letzten Tage hatten ihm gezeigt, dass ihm diese arrogante Selbsteinschätzung schlussendlich zu Kopf gestiegen war und dass seine Instinkte dadurch verkümmert worden waren. So verkümmert, dass Lasgo ein leichtes Spiel mit ihm gehabt hatte. Ihn betäuben, gefangen setzen, ihn… Unsicheren Schrittes betrat Crawford das Gebäude. Er kam sich fehlplatziert vor, wenig gerüstet für das, was kommen mochte. Er war noch nicht fertig damit, seine Wunden zu lecken und der Kontakt zu Takatori würde ihm alles abverlangen, was er momentan noch an Kraft aufzubieten hatte. Das konnte Crawford auch ohne seine Präkognition sagen. Das gefühlte, innere Fieber war in den letzten Momenten wieder stärker geworden, genauso wie sich nun langsam die Wirkung der Betäubung verlor und Schauer des Schmerzes durch seinen Körper wanderten. Ihm wäre jeder andere Ort lieber gewesen als dieser. Dass Schuldig ihn hierher begleitete, half ihm überhaupt nicht. Die Empfangsdamen und Sicherheitsleute kannten sie und ließen sie mit einem knappen Gruß passieren, auch wenn sie ihn selbst mit vorsichtig überraschten Blicken maßen, die sich insbesondere auf sein Gesicht richteten. Crawford schloss für einen Moment die Augen, als sie alleine und ungestört im Aufzug standen und hoch in die 56. Etage fuhren. Ein würde ein Meeting von höchstens dreißig Minuten werden, das war auszuhalten. Er hatte den Schein zu wahren. Ein sanftes Ping kündigte das Ende ihrer Fahrt und damit seiner im Kreis laufenden Überlegungen an. Schuldig und Crawford stiegen aus und schritten den Gang hinunter bis zum Ende des Flurs, um dort von Takatoris persönlicher Sekretärin begrüßt zu werden. „Mr. Crawford, Herr Schuldig“, verwendete sie die muttersprachlichen Anreden für die beiden Schwarz und lächelte freundlich. „Wenn Sie noch einen Moment Platz nehmen würden; er hat gerade noch Besuch. Möchten Sie etwas zu sich nehmen? Kaffee? Tee?“ Crawford wie auch Schuldig verneinten der Etikette ihres Auftraggebers entsprechend. Takatori hasste es, wenn seine Mitarbeiter in seiner Gegenwart oder dann, wenn sie auf ihn warteten, etwas aßen oder tranken. Das gehörte zu seinen Charakterzügen des Despoten, ebenso wie die scheinheilige Gastfreundlichkeit, es ihnen immer und immer wieder anzubieten. So blieben sie unweit der Tür stehen und warteten, bis ein ihnen unbekannter Geschäftspartner das luxuriöse Büro verließ und Takatori in der Tür erschien. „Crawford, wie schön, Sie endlich wieder bei mir begrüßen zu dürfen“, strahlte er vermeintlich freundlich, auch wenn das Orakel nur zu leicht die fehlerhafte Betonung auf dem „endlich“ heraushörte, die ihm eine Warnung war und ihm eine Gänsehaut über den Rücken jagte. Der ältere Mann deutete mit einem jovialen Grinsen auf sein Büro und Crawford wusste, dass er dem Anderen sicherlich nicht mehr erklären musste, dass er versagt hatte. „Allerdings möchte ich Sie gerne alleine sprechen“, fügte er an, während seine Augen sich mit denen Schuldigs stumm duellierten, der ihren Auftraggeber mittlerweile abgrundtief hasste. Crawford wusste, dass diese Antipathie beiderseitig bestand. Was auch nicht weiter verwunderlich war, da Schuldig für den Tod dieses Takatorimädchens mit verantwortlich gewesen war. Wie hatte sie geheißen? Ouka, genau. Es war durch Zufall geschehen, ein dummes Missgeschick und dennoch hatte Schuldig es anstelle von Farfarello bitter büßen müssen. Crawford konnte sich noch genau an die darauffolgenden Wochen erinnern, in denen sein Telepath noch nicht einmal angelehnt an einen Stuhl sitzen konnte, geschweige denn in der Lage war, Aufträge auszuführen. Langsam, bedächtig beinahe, nahm das Orakel Platz und ließ seinen Blick über die Tokyoter Skyline schweifen. Ein Anblick voller Macht und Ausdruck des unabdingbaren Herrschaftswillens, der nur den einflussreichsten Geschäftsleuten oder engsten Gefolgsleuten gewährt wurde. „Nun, wie verlief der Auftrag?“ Crawford grollte innerlich. Er würde also gleich zur Sache kommen. Gut, das vereinfachte die ganze Sache erheblich. „Das Lager wurde vernichtet und die entsprechenden, infrastrukturellen Stränge ausgetrocknet“, leitete Crawford sein Versagen mit Fujimiyas Verdienst ein, hielt sich aber noch damit zurück, seinem Auftraggeber mitzuteilen, dass Lasgo überlebt hatte. Takatori taxierte ihn mit belustigtem Blick und ließ sich ihm gegenüber mit dem Rücken zum Fenster nieder. Abwesend spielte er mit einem seiner hässlichen Briefbeschwerer. „Und weiter?“ „Die Zielperson ist entkommen und konnte nicht getötet werden“, spulte Crawford ab, als wenn er nicht auf ganzer Linie versagt hatte. Er hatte es nicht geschafft, Lasgo zu fassen oder selbst die Basis zu zerstören. Das Einzige, was ihm gelungen war, war, sich enttarnen und gefangen nehmen zu lassen. Und auf den Weiß zu treffen, doch das würde er mit keinem Wort erwähnen. „Was soll das heißen?“, erklang nun die deutlich schärfere Stimmlage des Großindustriellen und ließ ihn aufsehen. „Es ist mir nicht gelungen, den Auftrag wie von Ihnen gewünscht auszuführen.“ Crawford ahnte, dass Takatori auf eine Begründung brannte, doch die würde er nicht bekommen. Er würde dem Mann vor sich nicht mitteilen, warum er nicht in der Lage gewesen war, seinen Auftrag weisungsgemäß auszuführen. „Sie haben also versagt.“ Ein finites Satzgefüge, das dem Orakel keinen Raum zum Widerspruch ließ, selbst wenn Crawford es in Erwägung gezogen hätte. Takatori konnte sie schließlich sehen, die Hämatome, die Abschürfungen. Der ältere Mann erhob sich bedächtig und fixierte für einen Moment die grellen Kunstwerke, welche seine Wand zierten, um sich dann jedoch seinem Gegenüber zu widmen. „Ich habe Sie bisher für einen Perfektionisten gehalten, Crawford. Für jemanden, der weiß, was er tut und auch dementsprechend handelt. Und doch haben Sie mich enttäuscht. Und das auch noch auf so eine besonders bittere Art und Weise. Sie haben Ihr Zielobjekt leben lassen. Das Einzige, was Sie wissen ist, dass das Lager zerstört wurde, nichts weiter. Ihre Nachlässigkeit überrascht mich außerordentlich.“ Crawford war unwohl dabei, Takatori hinter seinem Rücken zu haben und nicht zu wissen, was der Andere als Nächstes plante. Doch dieses Gefühl wurde ihm abrupt genommen, als der ältere Mann sich lässig neben ihm an den Schreibtisch lehnte und für einen Moment den Golfschläger in seiner Hand betrachtete, den er gerade aufgenommen hatte. Ein ungutes Gefühl beschlich das Orakel, als er sich bewusst wurde, was nun fast unweigerlich folgen würde. Vielleicht war es nur eine Drohung, dazu gedacht, ihn als Warnung einzuschüchtern. Vielleicht aber auch nicht. Seine Gedanken streiften zu Schuldig und dessen Rücken. Mit Mühe unterdrückte er ein Zusammenzucken, als das stahlkalte Ende des Schlägers sich unter sein Kinn legte und ihn hieß, den Kopf zu heben um dem Anderen in die nichtssagenden, dunklen Augen zu schauen, das aufgedunsene Gesicht voller Bosheit und Schadenfreude. Und Unberechenbarkeit. Genau das also, was Crawford hasste, seitdem er keinen zuverlässigen Zugriff auf seine Gabe mehr hatte: Unberechenbarkeit. Pachelbel lief leise im Hintergrund. „Ich dulde kein Versagen. Insbesondere nicht von Ihnen.“ Das kalte Metall strich seine Wange hinab über seine Brust, ließ ihn ernst den Blick Takatoris erwidern. „Verschwinden Sie. Ich erwarte, dass Sie ihr Versagen alsbald ausräumen.“ Erleichterung ließ Crawford innerlich aufatmen. Es war nur eine Drohung gewesen. Eine Versicherung, dass er den Auftrag in den Sand gesetzt hatte. Dieses eine Mal. Ein weiteres Versagen würde es nicht geben. Natürlich nicht. Crawford nickte knapp, stand auf und wollte sich schon aus dem Büro seines Auftraggebers entfernen, als ihn die außergewöhnlich sanfte Stimme des Mannes noch einmal zurückhielt. „Ach und Crawford?“ Er drehte sich noch einmal zu ihm und spürte den überwältigenden, gleißenden Schmerz in seiner rechten Gesichtshälfte explodierten. Für einen Moment lang nahm ihm dieser seine Orientierung und Schmerz ließ ihn zur Seite taumeln. Er stolperte und stöhnte unbeherrscht schmerzerfüllt auf. Mit einem ungläubigen Blick hielt Crawford seine Wange, während er vorsichtig seinen Kiefer bewegte. Wahrscheinlich war nichts gebrochen. Wahrscheinlich. Wenn er seine Gabe gehabt hätte, hätte er dazu eine Aussage treffen oder sich darauf vorbereiten können. Durch den Nebel von stechendem Schmerz hindurch überhörte er beinahe Takatoris „Lassen Sie sich das eine Lehre sein, wenn Sie es das nächste Mal für eine kluge Idee halten, meinen Anweisungen nicht zu folgen.“ Crawford straffte sich und atmete tief ein. Er nickte und senkte seinen Kopf, auch wenn er Takatori nur zu gerne seine Faust ins Gesicht getrieben hätte. Er musste jetzt Demut zeigen, ebenso wie er schlussendlich hocherhobenen Hauptes hinausgehen musste. Takatori missbilligte es, sollte jemand Schwäche zeigen. Insbesondere das ihm anvertraute Rosenkreuzteam. Auch wenn es ihm danach verlangte, über sein Gesicht zu streichen und den Schmerz durch Gegendruck abzulenken, so hielt er sich eisern davon ab. Exakt so lange, wie er brauchte, um sich wortlos hinaus zu begeben, Schuldig einen ebenso stummen Blick zuzuwerfen und sich schließlich Richtung Ausgang zu begeben. Erst im Fahrstuhl schloss er schmerzerfüllt die Augen gab sich der Qual hin, die nun wirklich durch seinen gesamten Körper tobte. Er trug die Schuld an dem, was passiert war. Er hatte versagt, sich gefangen nehmen, foltern und vergewaltigen lassen. Und nun musste er sein Versagen schnellstens wieder ausgleichen. Ohne seine Gabe. Blicklos starrte Crawford auf die Anzeigetafel des Aufzuges und presste die Lippen aufeinander um die in ihm schreiende und tobende Stimme nicht zu Wort kommen zu lassen. ~~**~~ Wird fortgesetzt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)