Die Farbe Grau von Cocos ================================================================================ Kapitel 1: Coming Home ---------------------- ~ Wie leicht doch bildet man sich eine falsche Meinung, geblendet von dem Glanz der äußeren Erscheinung. (Molière) ~ Gähnend streckte Schuldig die Arme von sich und warf einen Blick in die triste Gegend, in der es vor Regen nur so strotzte. Vor ein paar Stunden hatte es angefangen und seitdem nicht mehr aufgehört, mit dicken, lauten Tropfen auf die Blätter ihrer Hecken und Bäume zu tropfen, die ihr ehrenwerter Anführer ja unbedingt in ihrem Garten hatte haben wollen. „Ekelhaft“, befand der Telepath laut und grollte probeweise gen geöffneter Terrassentür. Grundsätzlich wäre ihm das auch egal, wäre diese verdammte Tür nicht schon seit Stunden, also seit es begonnen hatte, auf und würde der Ire nicht draußen stehen und wie blöde in den Regen starren, als gäbe es auf der ganzen weiten Welt nichts Schöneres als die nasse Suppe, die vom Himmel fiel. Schuldig rollte mit den Augen und verdrehte den Kopf. „Komm rein oder ich sperre dich aus, Idiot.“ Seine Worte beeindruckten den Iren genauso sehr wie die der letzten Stunden auch schon: gar nicht. Jei nahm viel, aber keine Notiz von ihm und starrte einfach weiter, ließ sich durchweichen und richtete sein inneres, verrücktes Gehör auf etwas, das es sicherlich auf dieser Welt nicht gab. Für einen kurzen Moment war Schuldig wirklich versucht, seine Drohung wahr zu machen und ihn auszusperren, doch was dann kam, konnte er sich an fünf Fingern abzählen. Crawford zu erklären, warum ihre Terrassentür in Scherben lag und es in ihr großzügiges Wohnzimmer hineinregnete, wäre das nicht das, was er sich geben musste, insbesondere dann nicht, wenn ihr Anführer von seinem Einzelauftrag zurückkam. Nicht, dass er nicht sowieso schon schlechte Laune haben würde, denn Crawford hasste Verspätungen und gemessen an einem Blick auf die Uhr hatte er bereits jetzt schon eine Stunde Verspätung. Pedant, wie er war, war Crawford dementsprechend unerfreut, wenn etwas nicht nach seinen Vorstellungen lief. Eine verspätete Mission gehörte dazu. Ebenso wie eine zerbrochene Glastür. Oder das unaufgeräumte Haus. Nicht, dass es nicht Nagis Aufgabe gewesen wäre, für Ordnung zu sorgen, zumindest hatte Schuldig das so bestimmt. Und da Schuldig in Crawfords Abwesenheit das Sagen über diesen Haushalt hatte… Ein Grollen holte Schuldig aus seinen Überlegungen und seine Aufmerksamkeit ruckte zu Jei, dessen Gesicht eine Maske aus Zorn war, wie er in den Himmel starrte, die noch viel dunkler wurde, als er seine Aufmerksamkeit schließlich auf Schuldig selbst richtete. Wortlos kam er auf ihn zu, hinterließ nasse Abdrücke auf dem blitzblanken Boden. „Nagi hat da frisch gewischt, Idiot! Trockene dich ab“, war es nun an Schuldig zu grollen, doch Jei nahm keine Notiz von ihm. Schweigend starrte er ihn an, das Auge zu einem wenig erfreuten Schlitz verengt. „Passt dir das nicht? Dann kannst du ja wischen, bis Crawford…“ ~Schuldig.~ Wenn man vom Teufel sprach. Schuldig rollte mit den Augen, nachdem er ordentlich zusammengezuckt war. Als hätte er es nicht vorhergesehen, dass sich Crawford genau diesen Augenblick aussuchen würde um seine Ankunft zu verkünden und klar zu machen, dass er ein schmutziges Haus nicht dulden würde. ~Du bist spät~, spöttelte Schuldig zurück. ~Zwei Stunden, drei Minuten und achtundzwanzig Sekunden.~ „Los, wisch deine irische Seenplatte hier auf“, sagte er parallel zu Jei. ~Du wirst mich abholen.~ Schuldig blinzelte. Abholen? Ihren hochwohlgeborenen Anführer? Seit wann war er denn der Chauffeur ihres charmanten Orakels? Aber vor allen Dingen: seit wann fragte Crawford um Hilfe? Nun gut, er fragte nicht. Er forderte. Aber das tat er nicht. Nicht so. Vor allen Dingen, da er mit seinem eigenen Wagen weggefahren war. Und ein Hotel war auch nicht geplant. Ebenso wenig wie er zu spät kam. Abrupt richtete der Telepath sich auf. Irgendetwas war schief gelaufen und zwar gewaltig. Irgendetwas stimmte nicht. Jedweder Spieltrieb verließ ihn und Schuldig haschte nach der mental0en Anwesenheit seines Anführers, die er schwach, aber störungsfrei wahrnahm. ~Was ist los?~, fragte er, erhielt jedoch keine klare Antwort darauf. Nur die Adresse des Hotels, in dem sich Crawford anscheinend befand. ~Mach, was ich dir sage~, wiederholte Crawford und selbst seine mentale Stimme klang…anders. Ungewohnter. Befehlsgewohnt ja, was Schuldig wie üblich mit den Augen rollen ließ, doch da war noch etwas, das er schwer ausmachen konnte. Was genau es war, sagte ihm schlussendlich nicht Crawford. Es war Jei, der langsam den Kopf schüttelte und seine Lippen zu einem missbilligenden Zischen zurückzog. „Bring ihn zurück“, wisperte er beinahe lautlos. Stumm maß Schuldig den Iren und erhob sich schließlich abrupt. „Komm mit.“ ~Du kommst alleine~, ließ Crawford im gleichen Moment vernehmen, wie Jei den Kopf schüttelte und mit einem knappen Nicken in Richtung Garage deutete. Auch wenn er sich Crawford gegenüber gewohnt abfällig geäußert hatte, so wusste Schuldig es besser, als seinen Anführer warten zu lassen. Allerdings musste das Orakel mit seinem Schlabberlook leben, ebenso wie mit der Tatsache, dass Schuldig Crawfords ach so geliebten Erstwagen nahm. Und wenn das Orakel etwas dagegen gehabt hätte, dann hätte er ihm das sicherlich schon mitgeteilt. Sehr logisch, das Ganze, befand Schuldig und zog sich die Schuhe an. Mit einem finsteren Blick nach draußen ging er in die Fuhrparkarage, die sich direkt an ihr Haus anschloss und griff sich den Schlüssel für den gehegten und gepflegten Wagen seines Anführers. Sein eigenes Auto sah nicht so aus, als käme er direkt vom Autohaus, was auch einer der Gründe dafür gewesen war, dass Crawford es für gewöhnlich nicht erlaubte, dass Schuldig sich seinen fahrbaren Untersatz nahm. Für Schuldig war es ein Gebrauchsgegenstand. Mit Macken, Müll und mächtig viel Schund, den er schon längst hatte wegwerfen sollen. Doch so oft er auch versuchte, Crawford das klar zu machen, so oft war er auch gescheitert und gegen die Sturheit seines Anführers kam er nicht an. Schuldig drehte die Anlage auf laut und fuhr aus der Garage, fädelte sich von ihrem Anwesen in einem der verschwiegeneren Tokyoter Vororte in den Verkehr, der um diese Uhrzeit noch nicht gänzlich schlimm, aber weitab von der Bezeichnung angenehm war. Stundenlange Staus waren jetzt dennoch nicht zu erwarten. „Wo bist du denn gerade?“, murmelte er, während er die Adresse des Hotels, zu dem Crawford ihm, freundlich wie er war, keine Wegbeschreibung mitgeliefert hatte, in das Navi hackte und feststellte, dass es sich am anderen Ende der Stadt befand. Am. Ganz. Anderen. Ende. Dieser. Verdammten. Metropole. ~Von noch weiter her hättest du dich nicht abholen lassen können?~, schickte Schuldig an seinen Anführer. Er wusste, dass dieser es durchaus gehört hatte, aber der Sack antwortete ja nicht. Wie immer nicht, wenn er eine Konversation nicht für antwortwürdig hielt. Sturer, arroganter Bock. Es nervte Schuldig, insbesondere in diesem Moment, wo sein Instinkt ihm einflüsterte, dass etwas nicht nach Plan gelaufen war. ~Du würdest mir aber sagen, wenn du Scheiße gebaut hast, oder?~, versuchte er es erneut und wieder erhielt er keine Antwort. Unbefriedigt grollte er. ~Hör mal zu, du arroganter Mistbock, wenn du es nicht für nö....~ ~Du hast einen klaren Auftrag, Schuldig. Halte mich nicht mit deinem unnötigen Unsinn auf~, fiel ihm Crawford mit neuerlicher Eiseskälte ins gedankliche Wort und Schuldig war im ersten Moment unbewusst erleichtert. Da war es wieder, das unfreundliche Orakel, das dieses Team mit seinem ihm gänzlich angeborenen Stock im Arsch führte. Weg war die Unsicherheit, weg der Unterton in Crawfords Gedanken, der darauf hingedeutet hatte, dass er vielleicht unter Schmerzen war. Im zweiten Moment fluchte Schuldig sehr wortgewaltig über eben jene Charaktereigenschaft und beschloss, das Orakel Orakel sein zu lassen für den restlichen Teil der Fahrt. Womit genau er so einen Anführer verdient hatte... das fragte er sich und die Einplaner von Rosenkreuz immer wieder, kam er weder zu einer Antwort noch zu einem Ergebnis. Sie alle hatten doch sehen müssen, dass dieser Mann und er nicht sonderlich kompatibel waren und dass es vermehrt Kämpfe zwischen ihnen geben würde, wenn sie nicht gerade gemeinsam an einem Ziel arbeiteten. Denn das konnten sie gut. Gemeinsam sich der lächerlichen Menschen entledigen, die sich den Zielen ihrer Organisation in den Weg stellten. Schuldig stellte die Musik noch lauter und kämpfte sich durch den Straßenverkehr Tokyos, gegen dessen blechlawinengefüllte Masse auch ein Telepath machtlos war. ~~**~~ Als wäre die Abholforderung des älteren Mannes nicht genug gewesen, stellte Schuldig beim Ankommen fest, dass es sich bei diesem Hotel noch nicht einmal um einen Standort von Rosenkreuz handelte. Nichts davon war ihm bekannt, es gab keine Anzeichen dafür, dass dieses Hotel hier jemals überprüft worden war. Weit und breit war niemand zu sehen oder telepathisch zu scannen und Schuldig lümmelte hinter dem Lenkrad herum und sah dem Regen zu, als er auf Crawford wartete, der seine Ankunft bereits vorhergesehen haben musste. Fünf Minuten wartete er... zehn... in der zwölften Minute wurde es ihm zu bunt. ~Bequemst du deinen Arsch jetzt endlich mal zum Parkplatz, Orakel, oder soll ich wieder fahren?~, grollte er und erhielt zunächst natürlich keine Antwort. Vermutlich hatte sein Anführer gerade Besseres zu tun. Mit dem Panda telefonieren zum Beispiel. Oder sonstige, wichtige Telefonate mit Rosenkreuz führen. Den Mann, der schlussendlich keine Eile hatte, durch den strömenden Regen zu seinem Auto zu laufen, erkannte Schuldig erst gar nicht. Da war die Kleidung, die so unüblich für Crawford war, dass es Schuldig alleine schon aus der Ferne in den Augen schmerzte. Schlechtsitzend, billig und wo zur Hölle war sein Anzug? Also welcher von Crawfords 351 Anzügen, Zahl stetig wachsend? Dann war da der Gang, der langsamer nicht hätte sein können, gerade so, als wollte das Orakel in absichtlich warten lassen. Was Schuldig aber nicht glaubte, denn schließlich war es Crawford, der hier gerade nass bis auf die Knochen wurde. Zum Schluss, als der Mann seine Beifahrertür öffnete, waren da die Hämatome und Abschürfungen auf dem abgewandten Gesicht. Überhaupt die nicht mal mehr vornehme Blässe, beinahe schon fiebrig und krankhaft. Und nicht zu vergessen... Crawford verjagte ihn nicht vom Fahrersitz seines Lieblingswagens. Im Gegenteil. Wortlos setzte er sich auf den Beifahrersitz und zog die Tür hinter sich zu. Schuldig starrte. Den Blick unbeirrt nach draußen gerichtet, hielt es Crawford noch nicht einmal für nötig, Schuldig in die Augen zu sehen. Vom Danke sagen ganz zu schweigen; nicht, dass Crawford das jemals gekonnt hatte. Aber gänzlich ignoriert zu werden, war schon eine Klasse für sich. „Hast du mir nichts zu sagen, oh großer Anführer?“, schnarrte Schuldig, als ihm die bedeutungsschwangere Stille zu bunt wurde, und ließ sich Zeit, das ihm präsentierte Profil zu betrachten. „Zum Beispiel, warum du aussiehst, als hätte dich eine Dampfwalze überrollt. Oder als hättest du in der letzten Woche kein Auge zugetan. Oder wer dich aufgemischt hat, wo dein Auto ist, warum ich dich hier abholen muss und warum zur Hölle du diese potthässlichen Klamotten trägst?“ Crawford schloss die Augen, gerade so, als würde er es kaum ertragen, Schuldigs durchaus berechtigten Fragen ausgesetzt zu sein. Doch kein Wort verließ seine Lippen, kein Laut, keine Regung, nichts. Nur seine Atmung ging schneller als normal. Alles in allem ein wenig beruhigender Anblick, der von Schuldig Antworten verlangte. Es dauerte seine Zeit, bis sich die hellen Augen erneut öffneten und Crawford sich straffte. Er schluckte schwer und griff zum Anschnallgurt. Das minimale Zusammenzucken konnte er vor Schuldig dabei nicht verbergen, auch wenn er es sicherlich gerne getan hätte. „Wir erörtern meinen Zustand und die Folgen dessen zuhause, Schuldig. Nun würde ich es schätzen, wenn du meinem Wagen nicht weiter diesen gottverlassenen Parkplatz mitten in der Peripherie dieser Stadt zumutest. Wenn es denn schon nötig war, ausgerechnet meinen zu nehmen.“ „War es. Für dich nur das Beste, oh großer, mysteriöser Anführer“, schnaubte Schuldig und startete den Mercedes. Irgendetwas war passiert und es musste ernster sein, als er es zunächst angenommen hatte, wenn Crawford schon bereit war, darüber zu sprechen. Ansonsten war es schon ein Kampf, ihrem Orakel zu entlocken, ob er gerade einen hellseherisch bedingten Migräneanfall hatte. Wieder fädelte er sich in den Verkehr ein und beobachtete über den Stau und die anhaltende, bedeutungsschwangere Stille hinweg ausgiebig, wie sich der Zustand seines nassgeregneten Anführers von Minute zu Minute verschlechterte und er sich schließlich, kaum dass sie in ihre Garage fuhren und Schuldig den Motor ausstellte, aus dem Auto kämpfte. Anders konnte Schuldig das nicht nennen. Flach atmend hielt sich Crawford am Dach seines Wagens fest, die Augen wieder einmal geschlossen. Ein beinahe unsichtbares Zittern durchlief seinen Körper und wenn Schuldig genauer hinsah, erkannte er, dass der Mann sich nicht gänzlich gerade hielt. Es war schlimmer, als er bisher befürchtet hatte und das machte Schuldig mehr Sorgen, als er es bereit war zuzugeben. Wieder setzte Crawford sich quälend langsam in Bewegung, dieses Mal in Richtung Tür. Mit spielender Leichtigkeit überholte Schuldig ihn und hielt mit seinem ausgestreckten Arm die Tür zu ihrem Wohnbereich zu. Für einen kurzen Moment schien Crawford verwirrt und stirnrunzelnd starrte er den Arm an, der ihm den Weg versperrte. Dann schien er sich zu erinnern, dass zu diesem ja noch ein Telepath gehörte. Wütend sah er hoch. „Was soll das, Mastermind?“, fragte er rau und konnte für den Bruchteil eines Augenblickes den deutlichen Schmerz in seiner Stimme nicht verbergen. Es reichte Schuldig, um nicht zurück zu treten. Es reichte ihm, um Crawford nicht aus seinen Fängen zu lassen. Es reichte ihm, um der Wut Stand zu halten, die sich anhand seiner Befehlsverweigerung gegen ihn aufbaute. Ein wütender Crawford war nie zu empfehlen, doch momentan war Schuldig mehr als bereit, eben jenen in Kauf zu nehmen. „Du wirst nicht vor den Antworten fliehen, die du mir noch geben wirst.“ Crawford schnaubte abfällig. „Und du entscheidest plötzlich, wann ich sie dir zu geben habe?“ Nun war es an Schuldig, wütend zu werden und das ließ er Crawford auch sehen. „Ist das die Art, wie du mich abspeisen wirst, nachdem ich dich durch die ganze Stadt kutschiert habe, deine schmerzgebeutelte Schweigsamkeit geduldet habe und nun berechtigter Weise wissen möchte, ob dein Zustand etwas mit deinem vergangenen Auftrag zu hat und ob sich dadurch Schwierigkeiten ergeben werden, auf die wir jetzt reagieren müssen?“ Crawford hielt inne und richtete den Blick wieder auf die Tür, als könnte er sie mit reiner Willenskraft öffnen. Anscheinend erörterte er gerade mit sich selbst, wie er Schuldigs Ungehorsam am Besten ahnden konnte. Oder wie er ihn am Schnellsten loswurde. „Wir werden reden, Schuldig. Nicht jetzt. Nicht hier. Ja, der Auftrag ist schief gelaufen. Ja, ich wurde „aufgemischt“, wie du dich so schön ausdrückst. Nein, das wird keine akuten Auswirkungen haben. Und nein, ich will keine Hilfe. Das, was ich will, ist Ruhe. Ich will diese Kleidung loswerden und duschen. Danach will ich einen Kaffee trinken. Und dann, Schuldig, können wir reden. Habe ich mich klar ausgedrückt?“ Als Schuldig nicht reagierte, weil er zu sehr in den Worten des Mannes gefangen war, knirschte Crawford mit den Zähnen. „Und ich wäre dir äußerst dankbar, wenn du mir bis dahin Nagi und Jei vom Hals hältst. Haben wir uns verstanden, Schuldig?“ Die spottgetränkten Worte des Orakels waren nicht wirklich eine Bitte, sondern eine eiskalte Drohung in seine Richtung und das machte Schuldig mit einem Mal umso wütender. Undankbares Stück. Verflucht undankbares Stück. „Wie du es befiehlst, oh großer Anführer“, schnaubte Schuldig verächtlich und riss die Tür auf. Mit einem letzten Blick auf Crawford ging er an diesem vorbei in ihren Wohnbereich. „Nagi, Jei, verzieht euch in die Küche, damit unser wohlbehalten zurückgekehrter Anführer eure Gesichter nicht sieht, weil er auf dem Weg in seine Königsgemächer nicht gestört werden will“, rief er laut ins Wohnzimmer und begab sich mit einem zynischen Mittelfinger selbst zurück in die Küche. ~~**~~ Mit größtmöglicher Bedachtheit stieg Crawford die Treppenstufen zu ihrer oberen Etage hinauf. Zu seinen Räumen, seinem Zuhause. Er war in Sicherheit, er war bei seinem Team, er war außerhalb der Reichweite von Lasgo, Fujimiya und Kritiker. Er war tatsächlich wieder hier. Crawford atmete zittrig ein. Vier Stufen noch. Drei. Zwei. Die Letzte. Ein paar Schritte noch, dann war er in seinem Zimmer. Als seine Hand nach der Klinke langte, griff er zweimal ins Leere, bevor er das kühle Metall der Türklinke zu fassen bekam. Fahrig drückte er sie hinunter und betrat seine Räumlichkeiten. Beinahe schon verzweifelt schlug er die Tür hinter sich zu und tat die letzten unsicheren Schritte in Richtung seines Bettes, bevor sein verräterischer und schwacher Körper beschloss, nicht mehr zu wollen. Nun unkontrolliert zitternd ging er vor dem Bett zu Boden und stützte sich mit seinen Händen auf dem Teppich ab. Er war da. Zuhause. In Sicherheit, auch wenn sein gesamter Körper schmerzte und er vor Schmerzen kaum noch klar denken konnte. Die Tabletten, die Fujimiya ihm besorgt hatte, hatten nicht lange genug gewirkt. Was er gewusst hatte, als er sie eingenommen hatte. PSI benötigten spezielle Medikamente, die mit ihren Fähigkeiten harmonierten, nicht das wirkungslose Rattengift, was normale Menschen einnahmen. Crawford hatte eine genau auf sich abgestimmte Mischung aus Tabletten in seinem privaten Badezimmer, doch dafür musste er erst einmal den Weg dorthin schaffen und danach sah es in diesem Moment nicht aus. Und morgen… wenn er den Rest des Tages und der kommenden Nacht geschlafen hatte, würde er zum Arzt gehen, damit dieser sich seine Verletzungen besah. Nicht zu ihrer Rosenkreuzklinik, nein. Zu seinem normalen Arzt, den er hütete wie seinen Augapfel und der schon seit längerem sein kleines, schmutziges Geheimnis war. Doch wenn er ehrlich war, hätte Crawford sich am Liebsten für die kommenden Wochen selbst behandelt, auch wenn er wusste, dass es in seiner momentanen Verfassung ein weiteres Epitom an Dummheit sein würde. Viel zu groß war die Gefahr, dass Lasgo ihn mit etwas angesteckt oder dass etwas in ihm gerissen war durch die Brutalität des Anderen. Ganz zu schweigen von Antibiotika und der Versorgung der Folterspuren. Crawford würgte, als er an den kommenden, notwendigen Schritt dachte und ihn als nichts anderes als eine neuerliche Demütigung ansah, die er über sich ergehen lassen musste. Er ahnte, wie solch eine Untersuchung aussehen würde und das ließ Widerwillen in ihm aufkommen, den seine Vernunft eisern niederkämpfte. Bevor er sich in seinem Selbstmitleid verlor, schraubte sich das Orakel erneut hoch. Es war eher ein Akt der Rebellion gegen seinen eigenen Körper und gegen sich selbst, als ein notwendiges Erfordernis. Insbesondere dann, als er sich zu seinem Spiegel kämpfte, als müsse er sich beweisen, dass er nicht so schlimm aussah, wie er sich gerade fühlte. Mühevoll schälte er sich zuerst aus dem Shirt, das Fujimiya ihm gekauft hatte, dann aus der Hose und entblößte den geschundenen Körper, welcher darunter lag. Unstet hielt sich Crawford am Rand des Spiegels fest, während er sein Ebenbild betrachtete, das ihn aus braunen, unsteten Augen, mit harten Gesichtszügen und einem zusammengezogenen Mund entgegenstierte. Im regnerischen Dämmerlicht seines Raumes sah es beinahe nicht schlimm aus. Beinahe. Eine Täuschung, wie Crawford wusste. Er konnte die stechenden Schmerzen, welche sich von seiner Kehrseite aus durch seinen gesamten Körper zogen, nicht verneinen. Lasgos Werk. Er konnte die Wundschmerzen der Striemen auf seinem Oberkörper, die Kratzspuren an seinen Seiten nicht verneinen. Ebenfalls Lasgos und Birmans Werk. Lasgo... Er war so auf seine Flucht fixiert gewesen, dass er den älteren Mann vollkommen aus dem Fokus verloren hatte. Seinen Auftrag hatte er in den Sand gesetzt, der Mann war ihm entkommen und zusätzlich hatte er auch noch die Hilfe des Weiß in Anspruch nehmen müssen. Crawford spürte abrupt die überschäumende Lust zu duschen, sich das Sperma abzuwaschen, das ihm schon seit Stunden nicht mehr anhaftete. Es juckte, auch wenn es nicht mehr da war. Lächerlich war diese Phantomempfindung, einfach nur lächerlich und dennoch wusste er, dass er dem nachgeben musste, wenn er schlafen wollte, also ließ er ein einziges Mal seinen Körper entscheiden, was zu tun war. Kurz darauf ließ Crawford warmes Wasser über seinen Körper rinnen, als wäre es seine Rettungsleine. Es beruhigte und schmerzte ihn zugleich, doch er hieß den Schmerz mit offenen Armen willkommen. Er war zuhause, bei seinem Team, zu dem Fujimiya ihn trotz aller Befürchtungen zurückgebracht hatte. Den Grund dafür konnte er sich nicht ausmalen, wirklich nicht. Wollte er auch nicht. Er öffnete seinen Mund, ließ Wasser hinein. Ließ es die restlichen, schon lange weggespülten Spuren des älteren Mannes fortspülen, die nun ungehindert von seinen Lippen hinab an seinem Körper hinunter in den Abfluss rannen. Er war zuhause...in Sicherheit. Nun konnte ihn niemand mehr so einfach überwältigen. Niemand. Weder Lasgo noch Fujimiya, denn Schwarz war stark und er würde es auch bald wieder sein. Crawford wusste nicht, wieviel Zeit er dieses Mal unter der Dusche verloren hatte, bevor er das Wasser abstellte, sich vorsichtig abtrocknete und in seine eigene Kleidung schlüpfte. Während er trocken die für ihn entworfenen Schmerztabletten nahm, warf er einen ausdruckslosen Blick in Richtung seines Bettes, welches ihm nun wie ein Sanctuarium vorkam, sein Heiligtum, die Stätte seines Schlafes, in der er unangreifbar war. Wohlriechender, bekannter Stoff, kühle Seide. Recht kühl für diese Jahreszeit und dennoch das, was er jetzt brauchte. Crawford ließ sich langsam auf das wundervoll kühle Laken gleiten und zog sich die seidene Decke über den Körper. Zuhause. Langsam schloss er seine Augen und horchte den Geräuschen des Hauses, welche gedämpft zu ihm drangen. Dem lauschte er und seinem Schmerz, der zu allgegenwärtig in seinem Körper tobte. ~~**~~ Aya konnte nicht sagen, wie lange er in der Nähe des Konekos zugebracht hatte um zu beobachten, was dort vor sich ging. Wie ein Ausgestoßener beobachtete er sein Team bei der Arbeit und suchte nach jedem kleinsten Anzeichen dafür, dass sie ihn verraten hatten. Er fand nichts, aber der Anteil an Restunsicherheit ließ sein Herz schmerzhaft schnell schlagen. Er wusste nicht, was Birman als Nächstes tun würde. Er wusste nicht, ob sie seine Schwester angehen würde. Und ebenso wenig wusste er, was Crawford zusammen mit seinem Team plante. Nichts wusste er und die Antworten würden ihm nur auf eine einzige Art und Weise zufallen. Tief durchatmend trat er aus dem Schatten seines Beobachtungspunktes heraus und kam zum Hintereingang des Blumenladens. Wie unterschiedlich es doch zu dem Areal war, auf dem Lasgo seine Geschäfte durchgeführt und geplant hatte. Wie sehr sich doch der Geruch ihres Hauses von dem der Wohnung, in der er die letzten Wochen verbracht hatte, unterschied. Hier…hier war er zuhause. Die Frage war aber, wie lange noch, wenn Birman wirklich mit Lasgo unter einer Decke steckte und sie nicht die Einzige war. Beinahe schon dämmrig lag der unbeleuchtete Flur vor ihm und Aya blieb einen Moment lang stehen. Nach fast sechs Wochen war er wieder zuhause. Vertrautes Chaos und ebenso vertrauter Geruch umgaben ihn und hießen ihn willkommen. Jetzt, in diesem Moment des nach Hause Kommens war Aya bereit, alles dafür zu tun, dass es so blieb und dass dieses warme, zufriedene Gefühl nicht durch Birman zerstört werden würde. Er wollte sein Team nicht missen. Lautlos begab Aya sich hinauf zu seinem Zimmer. Die Tür seines Zimmers öffnete sich ohne Geräusch und Aya betrat den kalten Raum, der sich doch so grundlegend von dem anderen Apartment unterschied. Immer wieder mal hatte er etwas an Dekoration hinzugefügt, seitdem er hier eingezogen war und bisher hatte ihn das bunte Durcheinander, das daraus entstanden war, nicht gestört. Jetzt, nach der langen Zeit, die er nicht hier gewesen war, wurde ihm der brachiale Unterschied zu dem kühlen Apartment bei Lasgo bewusst. Vielleicht war es eben jener Unterschied, der ihn sich für einen Moment zu fremd fühlen ließ, als dass er sich wohlfühlen konnte. Den Gedanken schüttelte er ab. Jetzt im Augenblick braucht er nur sein sauberes, perfekt gemachtes Bett, auf das er sich fallen lassen konnte um nachzudenken und einen klaren Kopf zu bekommen. Birman wusste, dass er noch lebte, davon konnte er ausgehen. Birman wusste ebenso, dass er Crawford nichts getan hatte. Was also würden ihre nächsten Schachzüge sein? Ihn als Verräter brandmarken? Es so darstellen, als hätte er mit Schwarz gemeinsame Sache gemacht? Aya seufzte tief und vergrub sich in seine beiden Kissen. Er fuhr sich mit einer Hand müde über die Augen. Er musste mit Weiß sprechen, bevor Birman dazu die Gelegenheit erhielt. Wer, wenn nicht sein Team, könnte ihm helfen, heraus zu finden, was die Frau antrieb, ausgerechnet mit ihrer Zielperson gemeinsame Sache zu machen. Doch konnte er sie überhaupt einweihen, ohne sie unwillkürlich zur Zielscheibe zu machen, in die sie blindlings hineinstolpern würden? Aya war sich nicht sicher und die Unsicherheit verursachte ihm Bauchschmerzen. Sein Team war das, was einer Familie am Nächsten kam, einer Heimat und er war nicht bereit, das einfach so aufzugeben. Ob Crawford wohl schon zuhause war, in Sicherheit bei seinem Team? Aya runzelte die Stirn, als die Frage ihn ungebeten überkam. Er öffnete die Augen und starrte frustriert an die Zimmerdecke. Das sollte ihn wahrlich nicht beschäftigen, nun, wo er wieder zuhause war. Der Amerikaner war nicht mehr seine Sorge und würde es auch nicht mehr sein. Und doch konnte er ihn nicht gänzlich abschütteln, ihn und die Erinnerungen an die letzten drei Tage. Der rothaarige Weiß grollte und rollte sich aus dem Bett. Bevor er weiter in die Gedanken an den Amerikaner versank, kümmerte er sich lieber um sein Team. Prioritäten, Fujimiya, schnaubte er innerlich und ging hinunter zu ihrer Küche, in der sich Youji gerade etwas zu trinken aus dem Kühlschrank nahm. Überrascht hob der Mann die Augenbrauen, als er Ayas Erscheinung analysierte und ganz der Privatdetektiv, der er mal gewesen war, seine eigenen Schlüsse zog. Angefangen vermutlich bei den Augenringen über die zerknitterte Kleidung… Dann brach ein Grinsen über das ihn musternde Gesicht herein und ehe sichs Aya versah, wurde er in eine würgende Umarmung gezogen. Innerlich grollte der rothaarige Mann. Youji konnte es nicht lassen, egal, wie sehr er versuchte, sich dem zu entziehen. Egal, wie subtil oder deutlich er in der Vergangenheit sein Missfallen darüber ausgedrückt hatte. Doch manchmal… „Youji!“, ächzte er den Namen des ihn würgenden Mannes hervor und wurde schließlich losgelassen. Bevor er sich aus dem Grabschradius entfernen konnte, wurde er auch schon auf eventuelle Verletzungen abgetastet und konnte Youji gerade noch davon abhalten, seine Zähne zu kontrollieren. Grollend schlug Aya nach den ihn anfassenden Händen und wich auf die andere Seite des Tisches zurück, in Sicherheit. Der andere Mann lachte und widmete seine Aufmerksamkeit wieder der Kaffeemaschine, der er eine Tasse schwarzen Kaffees entlockte, um sich dann anschließend auf einen der Stühle fallen zu lassen und die Beine auf den Tisch zu legen. „Wie ist es gelaufen, du fieser Buchhalter?“, grinste Youji und Aya hob die Augenbraue, während er noch damit beschäftigt war, seine Kleidung zu richten. Als er in das offene Gesicht seines Teammitgliedes und Freundes sah, wusste er, dass er ihn noch nicht da mit hereinziehen konnte. Er durfte es nicht, um ihn nicht zu gefährden. Er nickte knapp. „Gut, alles nach Plan gelaufen. Das Areal wurde komplett in die Luft gesprengt.“ Es war keine komplette Lüge und eben der Teil der Wahrheit, mit dem Aya leben musste. Youji musste noch nicht wissen, dass er das Orakel getroffen hatte, gezwungen gewesen war, drei Tage mit ihm zu verbringen. Er musste nicht wissen, was er selbst darüber hinaus getan hatte. Auch nicht, dass Birman abtrünnig geworden und Aya nicht imstande gewesen war, sie und selbst Lasgo zu beseitigen. Er glaubte nicht, dass er es Perser verheimlichen könnte. Doch auf der anderen Seite war er sich noch nicht einmal sicher, dass ihr Auftraggeber überhaupt wusste, dass sie ihn verraten hatte oder ob er nicht mit drinsteckte. Aya spürte, dass das Wissen darum sein Team und seine Freunde in Gefahr bringen würde, so würde er es ihnen verschweigen solange es ging oder bis er eine Lösung gefunden hatte, das auf seine Art klären, auf seine Verantwortung. Er wollte sich zunächst einmal selbst ein Bild von der Situation machen, jetzt, wo es nicht mehr darauf ankam, den Drogenring zu sprengen. Wo er nicht mehr dafür verantwortlich war, dass Crawford zurück zu seinem Team kam: ein weiterer Verrat an Kritiker, wenn man es genau nahm. Aya driftete mit seinen Gedanken zurück zu den letzten drei Tagen. Es war gelinde gesagt ein Schock für ihn gewesen, Crawford so zu sehen. Es hatte Mitleid in ihm geweckt, das den Hass auf Schwarz in den Hintergrund hatte treten lassen. Niemals würde er in Zukunft dem Orakel mit Häme entgegentreten. Auch nicht mit Schadenfreude. Mit Ekel vor dieser Greueltat, ja. Auch das war etwas, das er erst einmal mit sich selbst ausmachen müsste, wenn er es denn je seinem Team preisgab. „...s klar bei dir, Aya?“ Eben jener schreckte aus seinen Erinnerungen an Crawford und der Tatsache, dass dieser ihn vor dem sicheren Tod bewahrt hatte, hoch. Was war? Youji war, offensichtlich beunruhigt über die abwesende Stille, welche Aya ausstrahlte. Nichts war klar, erwiderte Aya in Gedanken, nickte aber. „Sicher“, war daher die knappe Antwort, die Youji wie üblich zufrieden stellte. Zumindest redete sich Aya das ein. Ebenso wie er sich einredete, dass er das wissende Lächeln um die Kaffeetasse herum nicht sah, kurz bevor Youji sich abwandte. Aus dem Laden heraus erklang mittlerweile der übliche Lärm der Schulmädchen und Aya nickte in die betreffende Richtung. „Du solltest Ken nicht mit der geifernden Meute alleine lassen“, schlug er vor und sah sein Gegenüber herausfordernd an. Sie beide wussten genau, wieviel Spaß es Youji machte, den pubertierenden Mädchen ein Idol zu sein, das sie anhimmeln und anquietschen konnten. Unwillkürlich fragte sich Aya, ob seine Schwester, wenn sie ihre Augen wieder aufschlug, ebenso sein würde. „Schon gut, schon gut!“, lachte dieser nun und erhob sich lapidar lächelnd. Er stürzte den Rest seines Kaffees hinunter. „Aber hey, Rotschopf. Wenn du noch weiter brütest, hast du das Ei bald zum Schlüpfen gebracht.“ Damit war er verschwunden, eben jenen indignierten Rothaarigen zurücklassend. ~~**~~ Wird fortgesetzt. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)