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The show must go on

von

Vorwort zu diesem Kapitel:
Bitte nehmt den Ablauf der Gerichtsverhandlung nicht allzu ernst. Ich habe die Abfolge und den Inhalt der Zeugenaussagen so gewählt, wie sie emotional am besten zu dem gepasst haben, was ich mit diesem Kapitel darstellen wollte. Dass meine Gerichtsverhandlung sehr wenig mit Verhandlungen, wie sie tatsächlich in Japan stattfinden, gemein hat, ist mir bewusst. Ich hoffe, ihr lasst mir diese künstlerische Freiheit durchgehen. ;) Komplett anzeigen

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Der erste Akt

„Das kann nicht dein Ernst sein!“ Tatsuros Hände landeten mit einem dumpfen Schlag auf dem Schreibtisch, vor dem er eben noch wie ein wilder Tiger auf und ab gelaufen war. Der  schmale Mann, der dahinter saß, schob seine Brille ein kleines Stück weiter seine Nase empor und schaute ihn nur vollkommen ausdruckslos an. „Gara, ich bitte dich, ein mittelloser Straßenkünstler? Ich kann noch nicht einmal singen!“

 

„Dann lernst du es eben.“ Tatsuros Mund öffnete und schloss sich, aber kein Ton kam ihm über die Lippen. Stattdessen ging er wieder dazu über, auf und ab zu laufen und wedelte dabei mit dem Drehbuch in seiner Hand herum, als stünde es in Flammen.

 

„Dieses, dieses … Ding hier …“ Jetzt hielt er die Blätter hoch und warf einen abgrundtief abwertenden Blick darauf. „… liest sich wie die Neuauflage von Pretty Woman, nur schlechter, viel schlechter.“

 

„Wenn du willst, rufe ich den Autor gerne an und bitte ihn aus dem Straßenkünstler eine Nutte zu machen, wäre dir das lieber?“

 

„Haha, wie witzig.“ Tatsuro verschränkte die Arme vor der Brust und tippte ungeduldig mit der Schuhsohle auf den Boden. „Hast du dir den Schluss schon einmal durchgelesen?“ Mit großer Geste schlug er die letzte Seite auf und musste sich zurückhalten, dass sie ihm nicht aus Versehen zerriss … ganz aus Versehen. Er räusperte sich, bevor er besagte Stelle vorzulesen begann.

 

Lächelnd legt Akihiko die Hand an Junjis Wange, nähert sich ihm und versiegelt seine Lippen in einem zärtlichen Kuss, während hinter ihnen die rote Abendsonne im Meer versinkt.

 

Gara konnte die Abneigung in den Augen seines langjährigen Klienten und ja, vielleicht auch Freundes, nur zu genau sehen, als er ihm das Drehbuch auf den Schreibtisch warf. Untermalt natürlich mit einem theatralischen Schnauben, das verstand sich ja von selbst.

 

„Noch mehr Kitsch und ich breche diesem Junji vor die Füße.“ Er raufte sich die Haare. „Und das ist nur die Spitze des Eisbergs. Diese Farce eines Drehbuchs wimmelt nur so von schnulzigen Szenen und unglaubwürdigem Plot. Hast du denn nichts Besseres finden können?“

 

„Tatsuro, dein letzter Film war ein Totalausfall. Die Leute wollen dich nicht mehr als den tragischen Helden sehen. Das Thema ist durch, ausgelutscht. Damit lockst du niemanden mehr ins Kino. Wir brauchen etwas Neues, Innovatives.“

 

„Aber doch nicht so eine, eine … Liebesschnulze!“ Tatsuros Stimme überschlug sich fast und hektische rote Flecken zeigten sich auf seinen Wangen. „Such mir ein Drehbuch, in dem ich den Bösewicht spiele. Einen Yakuza-Boss vielleicht? Blutrünstig und ein bisschen irre, das krieg ich hin. Bitte Gara.“ Tatsuro stützte sich erneut mit den Händen auf dem Schreibtisch ab, diesmal jedoch sanft, genauso sanft wie auch der Ausdruck auf seinem Gesicht wurde, als er seinen Manager aus großen Augen anschaute. „Bitte Gara, du musst mir helfen.“ Eine dramatische Pause folgte, in der Gara seine liebe Mühe damit hatte, Tatsuros Blick weiterhin unbeeindruckt zu erwidern. Verdammt, der Kerl wusste schon, wie er es anstellen musste. „Hilf mir, bitte.“ Gara, der jedoch genau diese Masche von Tatsuro schon Inn und auswendig kannte, blieb ruhig, lehnte sich nur in seinem Ledersessel zurück und verschränkte die Finger.

 

„Nein.“ Tatsuros Augen weiteten sich. „Die Rolle ist perfekt für dich.“ So schnell, wie das Blut aus den Wangen des exzentrischen Schauspielers gewichen war, kehrte es nun zurück und ließ seinen Kopf in sattem Rot erstrahlen.

 

„Perfekt für mich?“ Tatsuro vergrub die Finger in seinen langen Haaren und zog an den schwarzen Strähnen, was ihm in Garas Augen tatsächlich etwas leicht irre Anmutendes verlieh. „Meine Fans wollen mich also nicht mehr als tragischen Helden sehen, aber als Straßenmusiker, der einem reichen Schnösel vor die Füße fällt und sich Hals über Kopf in ihn verliebt? Das kannst du einfach nicht ernst meinen! Wer bitte schaut sich in der heutigen Zeit noch so eine klischeebehaftete Schnulze an? Das kann einfach nichts werden, du ruinierst meine Kariere damit, ist dir das überhaupt klar?“

 

„Du übertreibst mal wieder maßlos.“ Gara kämpfte gegen den Drang an, mit den Augen zu rollen und deutete auf den Stuhl, der vor seinem Schreibtisch stand und den Tatsuro die ganze Zeit über geflissentlich ignoriert hatte. „Nun setz dich erst einmal, bevor du dir noch ein Aneurysma einfängst.“

 

„Wie kannst du so ruhig bleiben?“

 

„Einer von uns muss es ja sein.“ Tatsuro schüttelte den Kopf, während ihm mittlerweile die Haare wild in alle Richtungen abstanden und ihn, gepaart mit dem hitzigen Funkeln in den dunklen Augen, irgendwie … lecker aussehen ließen. Garas mildes Lächeln weitete sich, während er sein Kinn in die Handfläche seiner Rechten stützte und sein Gegenüber weiterhin betrachtete.

 

„Warum wehrst du dich plötzlich so gegen diese Rolle. Es ist doch nicht das erste Mal, dass du in einer Liebesromanze die Hauptrolle spielen sollst.“ Für einen Moment war es in dem kleinen Büro ganz still geworden, nur das Ticken der Uhr, die hinter Gara an der Wand hing, war zu hören; dann platzte es plötzlich aus Tatsuro heraus.

 

„Ich küsse keinen Mann vor der Kamera!“ Mit diesen Worten rauschte er aus dem Zimmer und ließ die Tür mit lautem Krachen ins Schloss fallen, während sich ein breites Grinsen auf Garas Lippen schlich.

 

„Ach, und hinter der Kamera schon?“ Das leise Lachen des Managers erfüllte den Raum, als er das Drehbuch an sich nahm und beinahe liebevoll darüber streichelte. „Ich glaube, das werden interessante Monate werden.“

 

 

-_-_-_-_-

 

So, das hier wird mein Beitrag zum [U]Visual Kei goes deep inside/ to Hollywood[/U] Wettbewerb. Wenn euch der Einstieg in die Story gefällt, hinterlasst mir doch einen Kommentar und/oder einen Favoriteneintrag, darüber würde ich mich sehr freuen. Außerdem weiß ich dann, dass euch die Geschichte interessiert und Feedback ist einfach so unglaublich hilfreich, gerade wenn eine Story noch nicht fertiggestellt ist. ^^ Vielen Dank schon mal. ;D                            

Klappe, die Erste

Als sein Handy auf dem niedrigen Couchtisch zu vibrieren begann, warf er dem Gerät nur einen verächtlichen Blick zu und lenkte seine Aufmerksamkeit wieder auf seine Lieblingszeichentrickserie, die über die Mattscheibe flimmerte.

Vielleicht sollte er sich ja wirklich nach einem neuen Job umsehen? Synchronsprecher für Animes beispielsweise. Das würde ihm zwar nur einen Bruchteil des Geldes einbringen, welches er die letzten Jahre über verdient hatte, aber dafür müsste er sich wenigstens nicht mit Drehbüchern herumschlagen, mit denen er einfach nichts anzufangen wusste. Und wenn er ehrlich war, war nicht einmal mehr das geringere Einkommen ein Argument dagegen – denn,  wie Gara während ihres letzten Treffens schon so unverblümt formuliert hatte – sein letzter Film war eine Katastrophe gewesen und die Angebote, die sein Manager seitdem an Land gezogen hatte, nicht minder miserabel. Zwei Jobs hatte er in den letzten Monaten schon verloren, weil die Produzenten nach wenigen Drehtagen zu der Überzeugung gekommen waren, dass er doch nicht für die Rolle geeignet war. Gara behauptete zwar jedes Mal, es wäre seine eigene Schuld und er müsse endlich damit aufhören, seine Star-Allüren ausleben zu wollen, worauf er jedoch nur immer wieder aufs Neue mit den Augen rollen konnte.

Welche Star-Allüren, bitte? Er hatte so etwas gar nicht. War doch nicht seine Schuld, dass in letzter Zeit wirklich niemand erkannte, was in ihm steckte. Er brauchte Rollen, die ihn forderten, die zeigten, wie gut er in dem war, was er tat und nicht 08/15 Charaktere, die er selbst zu Schulzeiten in der Theater AG besser hätte darstellen können, als der Autor sie geschrieben hatte.

 

Mit deutlicher Abneigung im Blick schaute er auf den braunen Umschlag, den er heute Morgen erhalten hatte und in dem sich aller Wahrscheinlichkeit nach der Vertrag für den Film befand, in dem er partout nicht die Hauptrolle spielen wollte. Was zum Geier hatte sich Gara dabei gedacht, ihm überhaupt erst dieses Drehbuch unter die Nase zu halten und nun noch die Frechheit zu besitzen, ihm tatsächlich einen Vertrag zu präsentieren? Wenn sein Manager allen Ernstes glaubte, dass er so mit sich umgehen ließ, hatte der sich aber ordentlich geschnitten.

 

BLP stand in großen, geschwungenen Lettern Links oben auf dem Umschlag und darunter die Anschrift des Firmensitzes. Mit einem verärgerten laut, der nun weniger Gara, als seiner eigenen Neugierde gelten sollte, griff er nach dem Couvert und ließ wenigstens einen Teil seiner Frustration daran aus. Einige braune Papierfetzen flatterten auf den Teppich zu seinen Füßen und das vormals glatte, weiße Papier, das er nun in Händen hielt, zerknitterte leicht unter der groben Behandlung seiner Finger.

Gelangweilt überflog er die Zeilen, wobei er allein schon bei dem Namen der Produktionsfirma hätte kotzen können.

Boys Love Productions

Schmieriger hätte die Firmenbezeichnung nicht sein können, oder? Tatsuro verzog missbilligend das Gesicht, bevor er den Vertrag wie etwas Giftiges zurück auf den Tisch warf.

Ein langgezogenes Seufzen erfüllte den Raum, während er einen großen Esslöffel ergriff und ihn  nicht zum ersten Mal an diesem Abend in die Familienpackung Schokoeis tunkte, die er praktischerweise gleich neben der Fernbedienung auf dem Tischchen platziert hatte. Kurz betrachtete er die braune Masse, zögerte sogar für einen Moment, nur um die kalte Süßigkeit anschließend doch in seinen Mund zu befördern. Wenn er so weitermachte, würde er noch fett werden, aber selbst diese Erkenntnis schaffte es nicht ihn aus seiner frustbedingten Lethargie zu holen. 

 

Das Telefon hatte schon vor einigen Minuten wieder aufgehört auf sich aufmerksam machen zu wollen und er war gerade dabei, den Monolog des Hauptcharakters seines Lieblingsanimes mitzusprechen – mit deutlich mehr emotionaler Tiefe, wenn er das mal so anmerken durfte – da fing es doch tatsächlich erneut zu vibrieren an.

 

„Himmelherrgott! Kann man hier denn nicht einmal gepflogen im Selbstmitleid versinken, ohne dass schon wieder irgendwer was will?“, keifte er das unschuldige Handy an und nahm den Anruf entgegen, ohne sich die Mühe gemacht zu haben, auf das Display zu sehen. „Was ist denn?“, raunzte er ziemlich unfreundlich in den kleinen Apparat und runzelte genervt die Stirn, als ihm ein heiteres Lachen entgegengebracht wurde, das er im ersten Augenblick tatsächlich nicht einzuordnen wusste. War das etwa Gara? Dem würde er mal gehörig die Leviten lesen.

 

Doch kaum hatte er diesen Gedanken zu Ende gedacht, veränderte sich sein Gesichtsausdruck, wurde beinahe ängstlich. Was, wenn es nicht Gara, sondern dieser durchgeknallte Fan war, der ihm nun schon seit Monaten das Leben schwer machte? Verdammt, was sollte er tun, wenn es dieser Verrückte war? Warum hatte er nicht erst auf das Display geguckt, bevor er einfach abgenommen hatte? Gerade holte er Luft, um dem Anrufer energischer, als er sich fühlte mitzuteilen, wie wenig er von dessen Störung hielt, da erklang nun endlich eine Stimme, die er doch nur zu gut kannte. 

 

„Hey Kleiner, du solltest wirklich an deinen Manieren arbeiten. Begrüßt man so etwa seinen großen Bruder?“ Auf Tatsuros Lippen schlich sich ein kurzes und eindeutig erleichtertes Lächeln, bevor er seine mürrische Miene von gerade eben wieder aufsetzte.

 

„Natürlich“, erwiderte er trocken und rollte mit den Augen. „Besonders wenn besagter Bruder bei jeder sich bietenden Gelegenheit erwähnen muss, dass er ja älter ist.“ Tatsuro erhob sich von der Couch und ging langsam in seinem Wohnzimmer auf und ab.

 

„Ich bin nun mal der Ältere.“

 

„Neun Tage, Satochi, es sind neun Tage!“

 

„Du sagst es. Neun Tage, die mich zum großen Bruder machen.“

 

„Wenn auch die Körpergröße etwas anderes sagt.“

 

„Kann ja nicht jeder so eine übergroße Bohnenstange sein, wie du eine bist.“ Sein Gesprächspartner lachte erneut auf und auch wenn er es nicht so ganz zulassen wollte, allein die Tatsache, seinen Stiefbruder wieder so unbeschwert Lachen zu hören, zauberte auch auf seine Lippen ein kleines Grinsen. Mal ganz davon abgesehen, dass die Erleichterung nur Satochi an der Strippe zu haben ihn noch immer durchflutete, als hätte er sich gerade einen Joint gegönnt.

 

„Wie geht es dir, Satochi?“

 

„Gut, gut. Du weißt ja, Unkraut vergeht nicht.“ Wieder lachte Sato, aber neben diesem fröhlichen Laut konnte er auch nur zu gut die Erschöpfung heraushören, die seit dieser Sache ständig in der Stimme seines Bruders mitzuschwingen schien. Wieder kam er nicht dazu die Worte auszusprechen, die ihm gerade auf der Zunge lagen, denn nun schallte das Läuten seiner Türglocke durch das Apartment, worauf er sich selbst mit einem unwilligen Murren unterbrach.

 

„Was ist denn nun schon wieder?“ Kurzzeitig spielte er mit dem Gedanken die Tür einfach nicht zu öffnen und wen auch immer davor verrotten zu lassen, aber sein Besucher war hartnäckig und drückte erneut auf die Klingel. „Sorry, Sato, ich muss nur schnell an die Tür, bin gleich zurück.“

 

Das Smartphone noch in Händen durchquerte er hastig Wohnzimmer und Flur, nur um an der Gegensprechanlage angelangt mit Schweigen am anderen Ende begrüßt zu werden. „Hallo!“, knurrte er ein weiteres Mal in den weißen Hörer, aber auch diesmal meldete sich niemand, nur die Türklingel läutete erneut. Jetzt erst deutete er das Geräusch richtig und zuckte unwillkürlich zusammen. Das war nicht die Klingel, die anzeigte, dass ein Besucher vor der Haustür des Appartementblocks stand, nein, der Besucher stand genau vor seiner Wohnungstür.

 

„Du solltest dir wirklich eine Wohnung mit Portier suchen, Tatsuro. Nach allem was vorgefallen ist, wäre mir doch deutlich wohler, wenn ich wüsste, dass niemand unangekündigt plötzlich vor deiner Tür auftauchen kann.“ Garas Stimme hallte wie aus weiter Ferne in seinem Kopf nach, während seine Handflächen feucht wurden und sein Atem immer schneller ging. Verdammt, vielleicht hätte er doch auf Gara hören sollen?

 

„Tatsuro? Nun mach schon auf, ich bin es!“ Tatsuro blinzelte, blickte erst auf die weiße Eingangstür und dann auf das Handy, dass er noch immer fest umklammert hielt.

 

„Satochi?“

 

„Ja.“

 

„Du verdammter Idiot!“ Mit Schwung riss er die Tür auf und sah sich tatsächlich niemand anderem als seinem Stiefbruder gegenüber, mit dem er eben noch telefoniert hatte.

 

„Hast du dir in die Hosen gemacht?“

 

„Du hättest sonst wer sein können!“ keifte Tatsuro noch immer aufgebracht zurück, beruhigte sich aber langsam wieder. „Gerade du solltest wissen, dass man darüber keine Scherze macht.“ Mürrisch drückte er auf seinem Handy herum und steckte das Telefon im Anschluss in die hintere Hosentasche seiner Jeans. „Fuck, ich werde hier noch paranoid, wenn das so weitergeht.“ Unwirsch fuhr er sich durch sein langes, schwarzes Haar, bevor er die eben noch fest zusammengekniffenen Augen wieder öffnete und einmal tief durchatmete.

 

„Tatsue, du übertreibst mal wieder maßlos, ehrlich mal. Außerdem hättest du dir so eine Gelegenheit doch auch nicht entgehen lassen, wären unsere Rollen vertauscht gewesen. Stimmt’s oder hab ich recht?“ Satochis Hand landete mit ordentlichem Schwung auf seiner Schulter, bevor er sich in einer herzlichen Umarmung wiederfand.

 

„Idiot“, murrte Tatsuro erneut, musste sich jedoch ein Grinsen verkneifen, weil Satochi mit seiner Behauptung wirklich nicht so ganz Unrecht hatte. Nicht zuletzt deswegen erwiderte er den festen Druck ebenso herzlich und schob seinen Bruder dann eine Armeslänge auf Abstand. „Was machst du eigentlich hier? Ich dachte, sie wollten dich erst Ende nächster Woche entlassen?“ Kritisch musterte er den kleineren Mann, von den nackenlangen, brünett gefärbten Haaren, deren schwarzer Ansatz davon zeugte, dass Satochi schon länger nicht mehr beim Friseur gewesen war, bis hin zu dem markanten Gesicht, welches nun so schmal und hager wirkte, wie er es noch nie gesehen hatte. Unter den Augen lagen tiefe Schatten und die purpurne Narbe, die sich vom rechten Wangenknochen bis beinahe hinunter zum Mundwinkel zog, leuchtete regelrecht im ansonsten eher blassen Gesicht. „Du siehst echt scheiße aus.“

 

„Charmant wie immer.“ Satochi grinste nur, was die Narbe auf irritierende Weise noch wulstiger erscheinen ließ und rempelte ihn auffordernd an. „Na, was ist? Willst du einen alten Invaliden nicht endlich hereinbitten?“ Überfordert mit der Situation und Satochis Anblick nickte er nur geistesabwesend und trat dann ein paar Schritte zur Seite, um seinem Bruder Platz zu machen. Schwerfällig setzte sich dieser daraufhin in Bewegung, begleitet von leisem, rhythmischem Klacken, immer wenn die Krücke auf den Holzboden im Flur auftraf. Erst als Satochi sich, wenn auch umständlich, die Schuhe von den Füßen gestreift hatte und kurz davor war im Wohnzimmer zu verschwinden, kam wieder Leben in ihn. Schnell schloss er die Wohnungstür und legte diesmal die Sicherheitskette vor, bevor er seinem Bruder folgte.

 

„Sag mal, solltest du dich nicht noch schonen? Ich glaube kaum, dass die Ärzte dich mit dem Hinweis entlassen haben, dass du unbedingt durch halb Tokyo spazieren sollst.“

 

„Nee, die Ärzte haben mich eher mit dem Hinweis entlassen, dass alles auf meine eigene Verantwortung geschieht.“

 

„Bitte? Du hast dich selbst entlassen? Bist du von allen guten Geistern verlassen?“ Er schaute Satochi für einen Moment nur fassungslos an, bevor er seufzte und den Kopf schüttelte. „Natürlich bist du das. Vermutlich muss ich froh sein, dass du überhaupt so lang im Krankenhaus geblieben bist.“

 

„Du sagst es.“ Sato lehnte sich seufzend gegen die Rückenlehne und schloss die Augen. „Haben sie den Typen jetzt schon gefunden, der deinen Wagen manipuliert hat?“ Tatsuro war zum offenen Küchenbereich hinübergegangen, hatte zwei Dosen Bier aus dem Kühlschrank geholt und ließ sich nun Sato gegenüber in den weichen Sessel fallen.

 

„Wir reden hier von der Tokioter Polizei.“

 

„Auch wieder wahr.“ Der dumpfe Laut, als sie die Dosen aneinanderstoßen ließen, hörte sich irgendwie jämmerlich an – genauso jämmerlich, wie er sich im Moment fühlte. Die ganzen Monate über, in denen sein Bruder im Krankenhaus gelegen hatte, hatte er die Geschehnisse, die zu diesem schrecklichen Unfall geführt hatten, verdrängen können, aber jetzt stürmten sie erneut mit voller Wucht auf ihn ein. 

 

„Es ist alles meine Schuld. Hätte ich dich nicht gebeten, meinen Wagen zur Inspektion zu fahren, wäre das alles nicht passiert.“

 

„Stimmt“, meinte Sato und zuckte nonchalant mit den Schultern. „Hätte ich an dem Tag den Wagen nicht zur Inspektion fahren wollen, wäre ich nicht verunglückt. Aber dafür hätte es dann ziemlich wahrscheinlich dich erwischt und das nicht auf gerader Strecke, sondern während deiner geliebten Serpentinenfahrten in den Bergen. Einen Krankenwagen hättest du dann zumindest nicht mehr gebraucht.“ Gluckernd leerte er seine Bierdose zur Hälfte und schaute Tatsuro dann ernst an. „Gib dir nicht die Schuld für die Taten eines verrückten Stalkers. Vermutlich hätte der Typ nicht mal selbst damit gerechnet, dass seine kleine Manipulation gleich solche Auswirkungen hat.“ Satochi stellte die Dose ab und lächelte ihn nun verständnisvoll an. „Sieh es als Glück im Unglück an. Ich für meinen Teil bin jedenfalls froh, dass es nur meine Visage erwischt hat.“ 

 

„Aber … ich …“

 

„Nix aber. Und jetzt hör auf so ein Gesicht zu ziehen und freu dich lieber für mich.“ Fragend hob Tatsuro eine Augenbraue, was wohl als Aufforderung ausreichte, denn sogleich begann Satochi begeistert davon zu erzählen, dass er ab nächster Woche wieder einen Job hatte.

 

„Solltest du wirklich schon wieder hinter der Kamera stehen?“ Zweifelnd wanderte sein Blick zu Satochis Bein, das bei dem Unfall am stärksten in Mitleidenschaft gezogen worden war. Die Nervenschäden waren so ausgeprägt gewesen, dass die Ärzte anfangs sogar daran gezweifelt hatten, ob Sato jemals wieder würde laufen können.

 

„Ach Quatsch. Ich stehe hinter der Kamera und mache keinen Dauerlauf, das wird schon klappen. Außerdem freut sich mein Bankkonto, wenn es endlich mal wieder gefüttert wird.“

 

„Du weißt, dass du dir über Geld erst mal keine Gedanken zu machen brauchst.“

 

„Und du weißt, dass ich es nicht  leiden kann, von meinem jüngeren Bruder abhängig zu sein.“

 

„Arsch.“

 

„Hab ich. Und einen schöneren als du, wenn ich das mal so anmerken darf.“ Tatsuro rollte nur mit den Augen und trank nun selbst von seinem Bier.

 

„Dann erzähl mal, was für ein Film soll das sein?“

 

„Keine Ahnung.“ Sato zuckte nur wieder lapidar mit den Schultern. „Irgendwas Seichtes fürs Hausfrauenfernsehen. So ein bisschen homoerotisch angehaucht. Das, was die Mädels halt gerne sehen.“ Während Satochi vielsagend mit den Augenbrauen wippte, spürte Tatsuro, wie ihm das Blut aus den Wangen wich.

 

„Wie heißt die Produktionsfirma noch gleich?“

 

„Äh …“ Satochi kratzte sich am Hinterkopf und legte grübelnd die Stirn in Falten. „BLP glaube ich. Irgendwas mit Boys Love oder so?“

 

„Shit.“

 

~*~

 

Satochis schadenfrohes Gelächter hallte noch in seinen Ohren nach, als er nun, zwei Tage später, gemeinsam mit Gara in einem Büro der BLP saß und auf den Produzenten wartete. Sein Bruder hatte sich wirklich köstlich darüber amüsiert, dass er – Iwakami Tatsuro – Frauenschwarm und Held zahlloser Actionfilme, Dramen und Komödien nun plötzlich die Hauptrolle in einem schnulzigen Boys Love Drama spielen sollte.

 

„Oh mein Gott, sie werden dich lieben“, hatte Satochi aufgekratzt von sich gegeben und sich die Fäuste in bester Schulmädchenmanier vor den Mund gepresst.

 

„Sie werden sich wohl einen anderen zum Lieben heraussuchen müssen, ich mach da nämlich bestimmt nicht mit.“ Bockig hatte er die Arme vor der Brust verschränkt und war der festen Überzeugung gewesen, dass das Thema damit erledigt wäre. Aber nein, natürlich nicht. wäre vermutlich viel zu einfach gewesen, besonders wenn man Satochi vor sich sitzen hatte.

 

„Wie, du machst da nicht mit? Natürlich machst du da mit.“ Perplex hatte er ihn nur angesehen und war nicht einmal mehr dazu gekommen den Kopf zu schütteln, da hatte er sich schon in mitten Satochis berühmt berüchtigter Moralpredigten wiedergefunden. Ob er denn keinen Funken Solidarität in sich hätte? Dass er doch mal an ihn denken müsse und daran, wie es denn aussehen würde, würde sein eigener Bruder nicht in dem Film mitspielen wollen, für den er hinter der Kamera stehen würde.

 

„Immerhin bin ich auf den Job angewiesen. Nicht nur des Geldes wegen.“ Satochi hatte abgewunken, als er erneut hatte anmerken wollen, dass er ja noch immer über genügend Geld für sie beide verfügen würde. „Kannst du dir nicht vorstellen, wie grauenhaft die letzten Monate für mich waren? Ich muss endlich wieder raus, unter Leute, mich gefordert fühlen. Das kannst du mir nicht einfach wieder wegnehmen, nur weil du dir zu schön für diesen Film bist.“ 

 

„Bitte was?“ Tatsuro wäre beinahe von seinem Sessel aufgesprungen, nachdem ihm Satochi derartige Vorwürfe gemacht hatte. „Ich bin mir überhaupt nicht zu schön für dieses Drehbuch, es ist nur …“ So schnell seine Aufgebrachtheit gekommen war, verflog sie auch wieder. Jeden anderen, der es gewagt hätte, so mit ihm umzuspringen, hätte er schon lange zur Schnecke gemacht. Aber das hier war Sato, sein Bruder, der seinetwegen verletzt worden war, Familie. So fuhr er sich nur erneut durchs Haar und seufzte langgezogen. „Dieser Film wird meine Karriere ruinieren, das weiß ich einfach.“

 

„Ach papperlapapp. Ich sag doch, die Mädels werden dich lieben, vertrau mir da mal.“ Satochi strahlte ihn an und Tatsuro hatte das bedrückende Gefühl von Endgültigkeit denn, wenn es einen Menschen auf dieser Welt gab, dem er rein gar nichts abschlagen konnte, dann war es Sato.

 

Das Ende vom Lied war also gewesen, dass er den Vertrag unterschrieben hatte und nun auf diesem ziemlich unbequemen Besucherstuhl vor einem ausladenden Schreibtisch aus modernen Glas- und Stahlelementen saß und seinen Manager, der neben ihm Platz genommen hatte, mit Blicken zu ermorden versuchte.

 

„Das ist doch alles auf deinem Mist gewachsen, oder?“ Gara drehte den Kopf und schaute ihn so unschuldig an, dass er ihn am liebsten mit seiner Faust bekannt gemacht hätte. „Du hast Sato den Job verschafft, stimmt´s? Du wusstest, dass ich unter den Umständen nicht nein sagen konnte.“

 

„Hey, ich hab einem guten Freund nur bei der Jobsuche geholfen. Was ihr untereinander zu klären hattet, damit hab ich rein gar nichts zu tun.“

 

„Ich hasse dich.“

 

„Hach ja, es ist immer wieder schön, derart tiefe Gefühle in meinen Mitmenschen auszulösen.“

 

„Du … du …!“

 

„Guten Morgen, die Herren.“ Tatsuro schloss seinen Mund wieder, aus dem sich gerade eine wahre Schimpftirade hatte stehlen wollen und blickte zur Tür hinüber, die ein überaus kleiner Mann mit grauem Hut und Ziegenbärtchen gerade hinter sich schloss. Gara erhob sich, höflich wie der Arsch nun mal war, und für einen Sekundenbruchteil spielte er mit dem Gedanken einfach sitzen zu bleiben und dem Produzenten so zu zeigen, was er wirklich von seinem Film hielt. Aber das wäre vermutlich vielmehr bockig und kindisch rüber gekommen und so stand er ebenfalls auf, überragte beide Männer um mehr als einen Kopf. „Bitte setzen Sie sich doch.“

Der Produzent folgte seiner eigenen Aufforderung und ließ sich in den stylischen Ledersessel sinken, während Gara und er wieder auf den unbequemen Besucherstühlen Platz nahmen. Gara beugte sich nach vorne und schob seinem Gegenüber die Vertragsunterlagen zu, die er, seit Tatsuro ihm diese vor wenigen Minuten vor die Brust geknallt hatte, nicht mehr aus den Augen gelassen hatte. Immerhin konnte man bei seinem exzentrischen Klienten nie wirklich einschätzen, woran man gerade war und es wäre nicht das erste Mal, dass Tatsuro eine getroffene Entscheidung binnen Sekunden revidierte.

 

„Ah, vielen Dank … Gara-san, nicht wahr?“ Gara nickte, während der Produzent die Papiere kurz durchblätterte und sehr zufrieden damit zu sein schien. „Gut, dann würde ich sagen, lassen wir die Förmlichkeiten, immerhin werden wir die nächsten Monate eng zusammenarbeiten.“ Die letzten Worte galten eindeutig Tatsuro, dessen Kiefer mittlerweile schon schmerzte, so fest biss er die Zähne aufeinander.

 

„Klar“, presste er daher auch nur halblaut hervor und versuchte erneut Gara mit einem gezielten Seitenblick in Flammen aufgehen zu lassen – erfolglos, leider.

 
 

„Mein Name ist Yaguchi Masaaki, wobei mich hier alle Miya nennen, ist kürzer.“ Tatsuros rechte Augenbraue wanderte ein marginales Stück nach oben, hätte er dem doch recht distanziert wirkenden Produzenten, trotz dessen Ankündigung eben, einen derart legeren Tonfall nicht zugetraut. „Ich bin der Leiter dieser kleinen Produktionsfirma“, sprach Miya weiter und erzählte ihm nur das, was er eh schon wusste - na, prima. Gelangweilt lehnte er sich wieder im Stuhl zurück und studierte aufmerksam seine Fingernägel. „Lasst euch aber nicht von der familiären Atmosphäre hier täuschen, wir sind auf dem besten Wege groß herauszukommen. Die Zeiten der Indie-Produktionen werden bald passé sein und du, Tatsuro, wirst uns dabei helfen.“ Tatsuro für seinen Teil versuchte sich erst gar nicht an einem zustimmenden Lächeln, stattdessen nickte er nur knapp und dachte sich innerlich, dass ihm Dank Garas Intrige nun eh nichts anderes mehr übrig blieb. Er hatte keinen Bock auf dieses Drehbuch und allein bei dem Gedanken an den finalen Kuss stieg ein nur allzu bekanntes, aber überaus unerwünschtes Gefühl in ihm hoch. Warum nur tat Gara ihm das an? Und was war dieser Miya überhaupt für ein Vogel? Diese strengen Augen gefielen ihm ganz und gar nicht und obwohl sein Monolog – der übrigens noch immer nicht aufgehört hatte und die kleine Produktionsfirma weiterhin in den höchsten Tönen lobte – wohl einladend lebendig und durchaus positiv wirken sollte, blieb sein Gesicht seltsam ausdruckslos, beinahe kalt. Der Zwerg strahlte eine unheimliche Autorität aus und wie immer, wenn Tatsuro es in seinem Leben mit Autoritätspersonen zu tun hatte, stieg in ihm der unbändige Drang hoch sich gegen sie auflehnen zu müssen.

 

„Ich will ehrlich zu dir sein, Tatsuro.“ Miyas strenger Blick fixierte ihn, hielt ihn regelrecht an Ort und Stelle fest und verlangte seine volle Aufmerksamkeit. Die feinen Härchen in seinem Nacken richteten sich auf und es kostete ihn einiges an Selbstbeherrschung, den Blick nicht abzuwenden. „Ich habe davon gehört, dass … drücken wir es einmal höflich aus, du sehr genaue Vorstellungen dahingehend hast, wie ein Film und demzufolge auch deine Rolle in diesem Film zu sein hat und dass dein energisches Beharren auf diese Prinzipien, nun ja, in letzter Zeit nicht mehr so gut angekommen ist.“ Miyas Mundwinkel hoben sich kaum merklich zu einem Lächeln, während Tatsuro noch damit beschäftigt war herauszufinden, wie genau die Worte des Produzenten nun gemeint waren. Selbst, als er sich nach weiteren Sekunden des Schweigens dessen noch immer nicht ganz sicher war, kam in ihm ein Gefühl der Kränkung auf und der Drang, die Sache klarzustellen. Was bildete sich dieser zu kurz geratene Produzent denn ein? War doch nicht seine Schuld, wenn man ihm keine Freiräume für Interpretationen gab. Er war Künstler, verdammt noch mal, keine Maschine, die das tat, wofür sie programmiert worden war.

 

„Ich denke eher …“, fing er an und warf Gara erneut einen überaus giftigen Seitenblick zu, „mein Manager hatte in den letzten Monaten einfach kein gutes Händchen. Menschen mit fehlender Kreativität und Flexibilität scheinen meine Kunst nicht würdigen zu können.“ Nun war er es, der Miya von oben herab herausfordernd anfunkelte und eine Reaktion auf das Gesagte regelrecht einforderte. Aber für einen langen Moment tat ihm Miya diesen Gefallen nicht, stattdessen fand er sich in einem Kampf der Blicke wieder, in dem keiner von ihnen der Verlierer sein wollte. Erst als Gara sich räusperte und somit seine Konzentration brach, blinzelte er und lehnte sich wieder in seinem Stuhl zurück. Verdammt, verloren. Er hasste es zu verlieren.

 

„Deine Kunst.“ Miya nickte und nun schlich sich das erste, ehrliche Lächeln auf die sonst so starren Züge. „Du gefällst mir. Oh ja, das tust du wirklich.“ Wie der Stereotyp eines italienischen Mafiabosses rieb der Produzent die Hände aneinander und ließ im Anschluss den Vertrag in einer Schublade des Schreibtisches verschwinden. „Dann bleibt mir nur noch zu sagen, wie überaus zufrieden ich damit bin, dass du den Vertrag ohne Nachverhandlungen unterschrieben hast.“ Miya erhob sich und streckte ihm die Hand entgegen. Kurz zögerte er, fühlte sich immer noch verwirrt und so, als hätte er in den letzten Minuten irgendetwas Grundlegendes verpasst. „Auf eine gute Zusammenarbeit, Tatsuro.“ Ein fester Händedruck folgte, den er seinem Gegenüber nicht zugetraut hätte, dann wurden sie auch schon aus dem Büro komplimentiert.

 

„Was bitte meinte der mit Nachverhandlungen?“, erkundigte er sich, als sie das Büro hinter sich gelassen hatten und schon einige Meter den Flur hinabgegangen waren.

 

„Wie?“ Gara schaute ihn von der Seite her an und als er nicht weiter reagierte, weiteten sich seine Augen. „Du hast den Vertrag gelesen, oder? Sag mir, dass du ihn gelesen hast.“

 

„Überflogen, ja. Steht ja eh immer dasselbe drin.“

 

„Ich hatte dir extra Klebezettel an die wichtigen Stellen gemacht.“ Tatsuro kratzte sich an der Nase und versuchte sich daran zu erinnern, ob er besagte Klebezettel tatsächlich gesehen hatte. Da klingelte was … hatte er sich nicht noch gefragt, was diese bunten Dinger nun schon wieder sollten? Verdammt, er hätte doch nicht einfach unterschreiben sollen.

 

„Wieso?“,  hakte er lauernd nach. „Was stand denn da so Revolutionäres, was den Produzenten derart begeistert und dir den Schweiß auf die Oberlippe treibt? Wenn es so etwas Außergewöhnliches ist, hättest du mir das doch bestimmt persönlich gesagt.“ Gara rollte mit den Augen und wischte sich über den Mund, nur um festzustellen, dass sich dort keineswegs auch nur ein Schweißtröpfchen hin verirrt hatte.

 

„Du weißt, dass ich mit Yumiko Kurzurlaub in Kyoto gemacht hab. Ich bin davon ausgegangen, dass du alt genug bist, um deutlich gekennzeichnete Vertragspassagen aufmerksam durchlesen zu können. Mein Fehler, kommt nicht wieder vor, weil du vermutlich nächste Woche schon gegen eine der vertraglichen Auflagen verstößt und BLP uns dafür bis ins nächste Jahrhundert verklagt.“ 

 

„Vertragliche … Auflagen?“

 

„Ja. Beispielsweise, dass du dich ans Drehbuch zu halten hast. Oder pünktlich zum Dreh erscheinen musst. Keine Extrapausen oder früher vom Set verschwinden, nur weil was in der Glotze läuft, was du sehen willst. Um nur ein paar zu nennen.“ Tatsuros Mund öffnete und schloss sich wieder, was ihm ein derart fischähnliches Aussehen verlieh, dass Gara am liebsten losgelacht hätte, wenn die Situation nicht so vertrackt gewesen wäre. Er war es schließlich, der für Tatsuro bürgte, dafür hatte Miya schon gesorgt. In Tatsuro stiegen indes erneut die Mordgelüste hoch, nur richteten sie sich nun nicht mehr allein gegen Gara, sondern auch gleich noch gegen Miya. Hatten sich denn alle gegen ihn verschworen?

 

„Darauf lasse ich mich nicht ein.“

 

„Hast du schon, du hast unterschrieben.“

 

„Aber … Das beschneidet meine künstlerische Freiheit, so kann ich nicht arbeiten!“ Gerade hatte er sich dramaturgisch perfekt in Szene geworfen, die Arme wild fuchtelnd von sich gestreckt, während er noch immer neben Gara her den Gang hinabging. So kam es, wie es kommen musste. Er schaute nicht, wohin er ging und stieß prompt mit irgendjemandem zusammen. Die metallverstärkte Ecke eines Ordners bohrte sich zielsicher in seinen Magen und reflexartig krümmte er sich zusammen, während mit einem dumpfen Geräusch sowohl der Ordner, als auch der Mensch, mit dem er zusammengestoßen war, auf dem Boden aufkamen. Zischend atmete er ein, rieb sich über die schmerzende Stelle und öffnete erst dann die Augen wieder, die er anscheinend beim Zusammenprall reflexartig geschlossen hatte. Das erste, was er sah, war die Überschrift auf einem der Zettel, die sich wohl im Ordner befunden hatten und nun teilweise herausgetrennt daneben lagen.

 

Ame no Orchestra – das  Regenorchester. Das war doch der Titel dieses unsäglichen Drehbuchs. Mit verzogenem Gesicht, welches nicht nur das anhaltende Pochen seines Bauches widerspiegelte, richtete er sich wieder auf und bemerkte erst jetzt bewusst den Mann, mit dem er zusammengestoßen war. Dieser wiederum war gerade damit beschäftigt die losen Blätter zurück in den Ordner zu packen und sich im Aufstehen den Hosenboden abzuklopfen. Wirre, blonde Strähnen hingen ihm in die Stirn und konnten doch nicht darüber hinwegtäuschen, dass seine Haare irgendwie so aussahen, als hätte jemand einen Topf als Schablone für den Schnitt verwendet. Eine Brille mit dickem, schwarzem Rahmen verdeckte die Hälfte des etwas rundlichen Gesichts und schaffte es doch nicht so ganz von den Augenringen abzulenken, die sich unter warmen, braunen Augen tummelten.

 

„Sorry. Ich sollte nicht immer während des Laufens lesen.“ Ein verschmitztes Lächeln teilte die vollen Lippen und schaffte es nun gänzlich Tatsuro aus der Fassung zu bringen. So brachte er es nicht einmal zustande, seiner durchaus gerechtfertigten Empörung über diesen rüden Zusammenstoß Luft zu machen und bemerkte stattdessen zu seinem grenzenlosen Horror, dass er lediglich dieses … irritierende Lächeln zu erwidern begann.

 

„Solltest du wohl. Wäre gesünder für uns alle“, hörte er sich scherzen und hätte sich am liebsten selbst geohrfeigt, würde er sich nicht noch immer fühlen, als wäre er gänzlich zugedröhnt. Saßen im Magen irgendwelche Nervenzellen mit direktem Draht zum Gehirn, die nun vielleicht in Mitleidenschaft gezogen worden waren und somit seine geistige Umnachtung rechtfertigten?

 

„Ah, Yukke!“ Hinter ihm ertönte Miyas Stimme und riss ihn effektiv aus seiner Starre. „Schön, dass du schon da bist, komm gleich mit ins Büro, wir haben viel zu besprechen.“

 

„Der Boss hat gerufen“, murmelte sein Gegenüber und zwinkerte ihm zu. Er zwinkerte ihm tatsächlich zu. „Wir sehen uns, denke ich und nichts für ungut.“ Die Hand zum Gruß gehoben, klemmte sich der Fremde den Ordner unter den Arm und war dann von einer Sekunde auf die andere an ihm vorbeigegangen. Nur der Geruch eines ziemlich angenehmen Parfums lag noch in der Luft, verflüchtigte sich aber schon, bevor er einen tiefen Atemzug hätte nehmen können.

 

„Ich wusste doch, dass du nicht mit dem Hirn denkst.“ Gara neben ihm gackerte, wie ein altes Waschweib und vertrieb damit auch noch die letzten Reste seines spontanen Deliriums.

 

„Schnauze“, knurrte er und funkelte seinen Manager finster an. „Verrat mir lieber, wer zum Henker das war.“ Endlich hörte sich seine Stimme so an, wie er sie haben wollte. Aufgebracht und nicht, als wäre er gerade einem Traum entstiegen.

 

„Das?“ Gara runzelte die Stirn und blickte dem Typen ebenfalls hinterher. „Kennst du ihn nicht?“

 

„Kennen? Ihn? Muss ich jetzt schon jeden Angestellten kennen?“

                    

„Tatsuro, ich will dich ja nicht desillusionieren …“ Garas Arm legte sich etwas umständlich um seine Schulter und bugsierte ihn in Richtung Ausgang. „Nein warte, doch, das ist genau das, was ich gerade will.“ Hätte Gara noch breiter grinsen können, wäre sein Gesicht vermutlich in zwei Teile zerbrochen, was in Tatsuros Augen gerade gar nicht so unwillkommen gewesen wäre. „Das, mein Lieber, war Fukuno Yusuke, oder besser gesagt Junji, dein Drehpartner.“ Am liebsten hätte er seinem Manager nun die Zähne eingeschlagen, nur um dieses unsägliche Grinsen nicht mehr sehen zu müssen. Aber zu viel mehr, als Gara vollkommen entgeistert anzusehen, war er in diesem Moment nicht in der Lage.

 

„Mein Drehpartner?“

 

„Exakt.“

 

„Shit.“

Klappe, die Zweite

Er hatte in der Vergangenheit ja schon vieles für seine Filme tun müssen. Haare abschneiden und wieder wachsen lassen, abnehmen, zunehmen, exzessives Krafttraining und das waren nur die körperlichen Veränderungen gewesen. Für einen Historik-Streifen musste er sogar den Umgang mit einem Katana und Wurfsternen erlernen und im letzten Actionfilm hatte es eine Szene gegeben, in der er sich von einer Klippe abseilen sollte. Natürlich war dafür ein Stuntman angeheuert worden, für den er auch sehr dankbar gewesen war, aber um seine Rolle überzeugend spielen zu können, hatte er auch das Abseilen erst einmal lernen müssen.

Im Vergleich dazu hatten sich Gesangsstunden dann doch eher öde angehört, aber zu seinem größten Erstaunen machten sie ihm tatsächlich Spaß. Es war ein eigenartig befriedigendes Gefühl mitzuerleben, wie er von Stunde zu Stunde besser wurde, da störte es ihn nicht einmal, dass er lediglich einen Song im Repertoire haben musste und daher ständig das gleiche sang. Dass seine Gesangslehrerin jung und ziemlich attraktiv war und mit Lob nicht wirklich hinterm Berg hielt, trug auch nicht gerade wenig dazu bei, dass er sich tatsächlich jedes Mal auf die Stunden freute.
 

„Na schön, ich denke, du bist definitiv bereit für deinen ersten Gesangsauftritt heute.“ Sie lächelte ihn an und er erwiderte die Geste automatisch, während er zum Schreibtisch hinüberging, der in ihrem kleinen Übungsraum an der Wand stand. Anfangs war es ihm noch seltsam vorgekommen seine Gesangsstunden in den Studios der BLP abzuhalten, aber jetzt, nach über zwei Wochen, konnte er nicht leugnen, wie praktisch das war. Mit Schwung setzte er sich auf die Tischplatte und ließ entspannt die Beine baumeln.
 

Einen großen Makel hatte seine Gesangslehrerin jedoch, stellte er auch jetzt wieder fest, als sie davon zu erzählen begann, was ihr Liebster, Kenichi, fürs Wochenende geplant hatte. Ami war frisch verlobt und schwer verliebt, eine wahre Verschwendung, wenn man ihn fragte.
 

„Sollten wir den Song nicht nochmal durchgehen?“, unterbrach er also ihren Redeschwall, sich nicht darum scherend, dass dies vielleicht ein klein wenig unhöflich sein könnte.
 

„Sag nicht, der große Schauspieler hat Lampenfieber?“
 

„Quatsch, Lampenfieber. Ich meinte ja nur, weil wir noch zehn Minuten haben und …“ Sie winkte ab und verstaute ihre Gitarre, mit der sie ihn die letzte Stunde über begleitet hatte, in dem dafür vorgesehenen Gitarrenkoffer.
 

„Zehn Minuten mehr nutzen dir nun auch nichts. Der Song sitzt und ich bin um jede Minute dankbar, die ich früher nach Hause komme. Du weißt schon, packen und so.“ Sie strahlte ihn schon wieder so atomar an, dass er nur mit den Augen rollen konnte, obwohl sich auch seine Lippen zu einem Lächeln verzogen.
 

„Na, von mir aus“, seufzte er, erhob sich und ging auf die Tür zu. „Aber ich hoffe dir ist bewusst, dass ich dich dafür verantwortlich mache, wenn das heute nichts wird.“
 

„In Ordnung, ich werde ein angemessen schlechtes Gewissen haben … nach meinem Urlaub.“ Amüsiert schnaubend hob er die Hand zum Gruß und wollte gerade nach der Klinke greifen, als die Tür nach innen aufgedrückt wurde. Gerade so konnte er verhindern, dass sie schmerzhaften Kontakt mit seiner Nase machte, sah sich dann jedoch seiner persönlichen Hybris gegenüber, welche einen Schlag gegen die Nase plötzlich sehr erstrebenswert aussehen ließ.
 

Fukuno, Yusuke, sein Partner am Set und vermutlich der Grund, weshalb er im Verlauf der Dreharbeiten an Bluthochdruck erkranken würde.
 

„Yukke“, stellte er mit emotionsloser Stimme fest und grübelte erneut darüber nach, ob er diesen Spitznamen, mit dem sein Gegenüber von allen hier bedacht wurde, nun dämlich oder gar nicht so übel finden sollte.
 

„Hi.“ Warme, braune Augen blickten zwischen mittlerweile brünett gefärbten Haarsträhnen zu ihm auf und volle Lippen verzogen sich zu einer Schmollschnute, die er unter keinen Umständen liebenswert fand – nie. „Mist, hab ich’s schon wieder verpasst?“, fragte Yukke auf eine ganz und gar unschuldige Art und Weise, die Tatsuro nur ein weiteres Mal zum Schnauben brachte. Unwirsch drängte er sich an seinem Drehpartner vorbei, der es sich die letzten Tage über zur Aufgabe gemacht hatte, ihn bei seinen Gesangsstunden abzupassen. Warum eigentlich? Wollte er ihm zuhören oder was? Spinner.
 

„Mach’s gut, Tatsuro, wir sehen uns nächste Woche“, rief ihm Ami hinterher und er drehte sich noch einmal zu ihr um.
 

„Du auch. Und viel Spaß.“
 

„Ja, schönes Wochenende, Ami“, mischte sich da auch Yukke ein und schenkte ihr ein liebes Lächeln.
 

„Danke, ihr zwei, werde ich haben.“ Kurz blickte ihr Tatsuro hinterher, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder voll und ganz auf den jungen Mann lenkte, der in den letzten Wochen viel zu viel seiner Hirnkapazität in Anspruch genommen hatte, ohne, dass dieser das überhaupt ahnte.
 

„Du scheinst mir gern im Weg zu stehen?“, schnappte er genervter, als er sich wirklich fühlte. Um ehrlich zu sein, fühlte er sich nicht einmal annähernd genervt. Eher so ein bisschen geschmeichelt und ein klein wenig aufgeregt, auch wenn er letzteres auf seinen bevorstehenden Dreh schob. Wäre ja noch schöner, wenn dieser Typ ihn nervös machen würde. Und dieses flaue Gefühl in seinem Magen kam bestimmt auch nur davon, dass er den Tag über noch kaum etwas gegessen hatte. Ganz sicher.
 

„Du scheinst mich gerne umzurennen?“, konterte Yukke da, während er Ami für seinen Geschmack noch immer etwas zu interessiert hinterher blickte.
 

„Vergiss es“, murmelte er darauf hin also, bevor er sich hätte zurückhalten können und ohne auf Yukkes vorangegangene, vermutlich eh nur rein rhetorische, Frage zu antworten. „Sie ist verheiratet und Hals über Kopf verliebt. Wenn du also nicht gerade Kenichi heißt …“ Den Rest seines Satzes ließ er unvollendet, während sich ein schadenfrohes Grinsen auf seine Lippen schlich.
 

„Verdammt, was für eine Verschwendung.“ Yukke seufzte und ließ, etwas zu theatralisch um echt zu sein, den Kopf hängen.

Für einen Moment schaute Tatsuro ihm einfach nur stumm ins Gesicht, bevor er plötzlich losprustete. Er hatte es nicht tun wollen, wirklich nicht, aber das herzhafte Lachen war einfach so über ihn gekommen und selbst die verwundert hochgezogene Augenbraue seines Gegenübers konnte daran nichts ändern. Immerhin war es doch nicht von der Hand zu weisen, dass es überaus amüsant war, dass sie beide genau dasselbe dachten, auch wenn nur ihm selbst dieser Umstand bewusst war. Da er sich also eh schon zum Idioten gemacht hatte – denn so, wie Yukke ihn noch immer musterte, schien er ihn tatsächlich für nicht ganz zurechnungsfähig zu halten – griff er einfach mal frech nach dem Energydrink, den der andere schon die ganze Zeit über wie eine Trophäe in der Hand hielt.
 

„He~!“
 

„Danke“, trällerte er und trank demonstrativ einen großen Schluck, bevor er Yukke die Dose wieder in die Hand drückte. „War die Entschädigung fürs beinahe Umrennen.“
 

„Entschädigung? Kann ich riechen, dass du hinter der Tür stehst?“ Gluckernd leerte Yukke daraufhin seine Dose, ganz so, als hätte er nun Angst Tatsuro würde ihm noch mehr seines Wachmachers streitig machen.
 

„Was wolltest du eigentlich?“, erkundigte er sich dann endlich mal und versteckte sein verstohlenes Grinsen hinter seinen langen Haaren. Statt aber auf eine Antwort zu warten, schickte er gleich noch eine Frage hinterher, die ihn nun schon länger interessierte. „Und überhaupt, warum bist du eigentlich so scharf darauf mich singen zu hören? Ist ja nicht so, als würdest du das nicht eh bald mitbekommen.“
 

„Ich? Scharf darauf dich singen zu hören? Wovon träumst du nachts?“
 

„Willst du nicht wissen.“
 

„Das glaub ich allerdings auch.“ Yukke grinste ihn keck von der Seite her an und stieß ihm angedeutet den Ellenbogen gegen die Rippen, während sie sich in Bewegung gesetzt hatten. „Ich wollte Ami beim Gitarre spielen zuhören und nicht dir.“
 

„Wer’s glaubt.“
 

Es war verstörend angenehm sich mit Yukke so freimütig zu unterhalten, ganz so, als wären sie nicht nur Arbeitskollegen, die sich erst vor wenigen Wochen kennengelernt hatten. Ihre kleinen Streitgespräche gefielen ihm, aber gleichzeitig machte es ihn nicht gerade wenig unruhig, dass er sich mit diesem eigenartigen Kerl so gut zu verstehen schien. Besonders, wenn er daran dachte, wie das Drehbuch enden sollte. Er hatte da ein wirklich ganz mieses Gefühl bei der Sache. Dennoch konnte er nicht leugnen, dass er sich mit jedem Drehtag ein Stück weit wohler hier fühlte. Ihm sagte dieser familiäre und ungezwungene Umgangston, der in der gesamten BLP herrschte, durchaus zu, was wiederum allerdings im krassen Gegensatz zu dem schlechten Gefühl stand, welches immer wieder in ihm hochsteigen wollte. Darum würde er sich hüten, sich auch nur eine positive Regung in Bezug auf die BLP oder den Dreh anmerken zu lassen, besonders nicht in Gegenwart seines Managers, sonst würde sich der noch etwas darauf einbilden.

Außerdem änderte all dies auch nichts an der Tatsache, dass er dieses elende Skript noch immer schrecklich fand.
 

Gestern erst waren sie mit den Einstellungen für die Anfangsszenen fertig geworden, in denen die ach so tragische Lebensgeschichte seines Charakters, Akihiko, in allen Herzschmerz verursachenden Einzelheiten breitgetreten wurde. Es war die Hölle gewesen, ehrlich mal, und nicht nur einmal hatte er den überdeutlichen Drang verspürt dem Drehbuchautor vor die Füße brechen zu wollen. Was dem aber auch alles eingefallen war. Vom alkoholsüchtigen Vater, zur depressiven Mutter und der älteren Schwester, die sich das Leben genommen hatte, weil sie ihre Existenz in Armut und ohne Zukunftsaussichten nicht mehr hatte ertragen können. Bitte? Tiefer in die Klischeekiste hatte der Autor nicht greifen können, oder? Fehlte eigentlich nur noch, dass Akihikos Schwester – übrigens Aiko mit Namen, was der Bedeutung nach Kind der Liebe hieß, und in diesem Kontext so viele Schattierungen von Falsch war, dass er damit gar nicht erst anfangen wollte, weil das definitiv zu weit führen würde …
 

Aber er schweifte ab und regte sich innerlich schon wieder auf und das, wo er doch gerade nur über die letzten Drehtage nachdachte. Er würde hier noch eingehen, wenn das so weiterging. Nun gut, weiter im Text.
 

Ihn hätte es also auch nicht gewundert, hätte der Autor der armen Aiko noch ein Kind angedichtet, um das sich sein Charakter nach ihrem Tod aufopferungsvoll hätte kümmern müssen. Neben seiner Arbeit auf dem Fischmarkt, in einem Schnellrestaurant und den Gesangseinlagen in der Fußgängerzone, verstand sich. Ob Akihikos Tag eigentlich auch mehr als 24 Stunden hatte? Und was noch interessanter war; fielen eigentlich nur ihm diese ganzen Ungereimtheiten und Logikfehler auf? Tatsuro seufzte und erst, als Yukke neben ihm verstummte, um ihn fragend von der Seite her anzublicken, bemerkte er, dass dieser wohl die ganze Zeit über mit ihm geredet haben musste, ohne dass er es mitbekommen hatte. Sogleich wollte das schlechte Gewissen in ihm aufsteigen, welches er jedoch rigoros zurückdrängte. Wäre ja noch schöner.
 

„Hast du vorhin jetzt eigentlich nach mir gesucht oder hast du nur wegen Ami gestört?“, erkundigte er sich also, gänzlich aus dem Zusammenhang gerissen, und schaute seinen Begleiter fragend an.
 

„Ich hab nicht gestört, ihr wart doch eh schon fertig. Außerdem hab ich dir gerade erzählt, dass dein Manager dich gesucht hat. Und weil ich ein netter Mensch bin und Pause hatte, hab ich mich vorhin bereiterklärt dir Bescheid zugeben. Hast du mir nicht zugehört?“
 

„Nö“, erwiderte er mit einem nonchalanten Zucken seiner Schultern und grinste schon wieder. Eine echt dumme Angewohnheit, die in Yukkes Gegenwart irgendwie ständig zutage trat. Es war aber auch echt zu herrlich, die steigende Entrüstung im Blick des anderen mitansehen zu können.
 

„Ich glaub’s nicht. Da redet man sich den Mund fusselig und der Kerl hört einem nicht mal zu.“
 

„Wir sehen uns dann später“, trällerte er, mal wieder ohne auf das Gesagte einzugehen und bog nach links in Richtung der Maske ab, wo er Gara vermutete.
 

~*~
 

„Gibt es in dem Drehbuch eigentlich auch irgendwo mal eine plausible Begründung dafür, warum Akihiko mit fünfundzwanzig noch bei seinen Eltern wohnt?“ In dem breiten Wandspiegel, vor dem er nun schon seit knapp einer Stunde saß und sich von Yumiko aufhübschen ließ, spiegelte sich Garas Gesicht und so sah er nur zu deutlich das Augenrollen, mit dem sein Manager ihn bedachte.
 

„Nein, Tatsuro, die gibt es nicht. Genauso wenig wie es eine Erklärung dafür gibt, warum er seinen Eltern hilft, obwohl sie ihn offensichtlich nie gut behandelt haben und auch nicht, weshalb er immer wie frisch aus dem Ei gepellt aussieht, wenn er doch bestimmt essenziellere Probleme hat als gut auszusehen.“ Gara seufzte langgezogen und ließ sich auf einem der freien Plastikstühle nieder. „Aber das weißt du ja selbst, weil du das Drehbuch schon gelesen hast und weil wir diese Diskussion schon mehr als einmal hatten. Wird dir das nicht irgendwann langweilig?“
 

„Nein, weil das alles einfach hinten und vorne nicht zusammenpasst, Gara! Sieh mich doch an, wann hast du jemals einen mittellosen Straßenmusiker gesehen, der so aussieht?“ Mit großer Geste deutete er auf den Spiegel, aus dem ihm sein zurechtgemachtes Gesicht entgegenblickte. Seine schwarzen Haare waren ordentlich geglättet, nur die Enden fielen in sanften Wellen über seine Schultern, seine Haut war makellos geschminkt, die Augen gekonnt in Szene gesetzt und seine Lippen glänzten leicht, dank eines sündhaft teuren Lippenbalsams. Um ehrlich zu sein, fand er Letzteren tatsächlich sehr angenehm und würde Yumiko bei Gelegenheit mal fragen müssen, wo sie den gekauft hatte, aber das war ein anderes Thema. „Herrgott Gara, das ist alles so unlogisch, stört dich das denn nicht? Allein die Kleidung, die ich tragen soll. Ich sehe aus wie ein Werbe-Model für die neueste Teenie-Mode und nicht wie ein verfluchter Straßenkünstler!“
 

Im Gegensatz zu Tatsuro, der sich nicht zum ersten und vermutlich auch nicht zum letzten Mal in Rage geredet hatte, blieb Gara nur ruhig auf seinem Stuhl sitzen und musste sich sogar das Grinsen verkneifen, weil Yumiko ihr Lächeln gerade hinter einer Hand versteckte. Himmel, diese Frau war unglaublich, in allem was sie tat, selbst wenn es nur eine so unspektakuläre Geste war.
 

„Du sollst nicht deine Freundin anschmachten, sondern mir eine Antwort geben!“, keifte Tatsuro da auch schon wieder.
 

Ups, da waren ihm seine Gedanken wohl an der Nasenspitze abzulesen gewesen? Gara räusperte sich und stand auf, um näher an den aufgebrachten Schauspieler heranzutreten.
 

„Hör mal“, versuchte er es in einem diplomatischen Tonfall, der aber ganz offensichtlich sein angestrebtes Ziel verfehlte, da Tatsuro nur eingeschnappt die Arme vor der Brust verschränkte. „Miya und seine Crew wissen, was die Leute sehen wollen. Und wenn das ein geschniegelter und gestriegelter Straßenkünstler ist, der in Designerklamotten steckt und einem reichen Kerl den Kopf mit seinem Gesang verdreht, dann soll das so sein. Wir machen hier alle nur unsere Arbeit und das solltest du auch tun.“
 

„Aber …“
 

„Denk an den Vertrag und halt dich ans Drehbuch, alles andere ist Nebensache.“ Gara klopfte seinem Schützling aufmunternd auf die Schulter. „So, ich muss nochmal kurz weg. Tu mir einen Gefallen und mach keinen Blödsinn, bis ich wieder da bin.“
 

„Ich brauch keinen Babysitter.“
 

„Oh doch, den brauchst du. Glaub mir Tatsuro, ich hänge an meinem Job.“ Tatsuros unzufriedenes Motzen blendete er einfach mal aus – in den letzten Jahren ihrer Zusammenarbeit war er darin ein wahrer Meister geworden – und richtete seine Aufmerksamkeit stattdessen lieber auf Yumiko, um sich von ihr mit einem kleinen Kuss zu verabschieden. „Bis nachher.“
 

„Bis nachher, Schatz.“ Yumiko lächelte ihn an, während Tatsuro röchelnde Geräusche von sich gab. „Was für ein Blödmann“, dachte Gara sich grinsend und bekam im Hinausgehen noch mit, wie Yumiko drohend den Lockenstab hob, mit dem sie Tatsuros Haare bis eben noch gestylt hatte, und seinem Ohr damit gefährlich nahe kam, um ihn zum Schweigen zu bringen. Hach ja, das war sein Mädchen.
 

~*~
 

„Siehst du Yumiko, genau das meine ich.“ Kaum hatten seine Stylistin und er das Set betreten, war sein Blick auf Yukke gefallen, der am anderen Ende der weitläufigen Lagerhalle stand und gerade in ein lebhaftes Gespräch mit einigen Jungs der Kameracrew verwickelt zu sein schien. Unter ihnen auch Satochi, aber weder sein Bruder, noch Yukke selbst waren der Grund für seine Empörung. Vielmehr war es das Ensemble, welches sein Drehpartner trug und die Art und Weise, wie er zurechtgemacht war. „Junji soll angeblich ein erfolgreicher Geschäftsmann sein. Sieh ihn dir an. Sieht so jemand aus, der in der Geschäftswelt etwas zu sagen hat? Für mich sieht das eher nach einem Kellner in einem Yaoi Café aus.“ Yukke trug schwarze Businessschuhe und hellgraue Anzughosen – soweit, so gut. Auch das weiße, langärmlige Hemd war noch durchaus angemessen, allerdings nicht, dass die ersten vier Knöpfe offen standen und die dunkelblaue Krawatte nur lässig gebunden, fast wie ein Halstuch, unter dem Kragen steckte. Von der Frisur, die zwar stylisch aussah und dem anderen auch ziemlich gut zu Gesicht stand, aber absolut nicht zu einem Businessmann passte, wollte er erst gar nicht anfangen.
 

„Du übertreibst“, murmelte Yumiko neben ihm, aber er bemerkte nur zu deutlich, dass sie eigentlich seiner Meinung war. Daher ignorierte er ihren Einwand und ging stattdessen zielstrebig auf das Grüppchen zu.

Yumikos, „Tatsue, lass das lieber“, ignorierte er ebenso, wie Satochis Begrüßung und baute sich vor Yukke auf, der ihn wiederum nur überrumpelt anschaute und einem Reh im Scheinwerferlicht ziemliche Konkurrenz machte. Für einen Sekundenbruchteil brachte ihn dieser Blick vollkommen aus dem Konzept und er hätte beinahe vergessen, was er eigentlich gewollt hatte … beinahe.
 

„In dem Aufzug siehst du aus wie ein Callboy.“
 

„Eben war es noch ein Kellner in einem Yaoi Café“, hörte er Yumikos halblaute, ziemlich belustigt klingende Stimme hinter sich und strafte sie mit einem kurzen, giftigen Blick, bevor er sich wieder Wichtigerem widmete.

„Ist doch alles dasselbe. Jedenfalls …“, damit drehte er sich wieder herum und fixierte sein Gegenüber, dessen Verwunderung mittlerweile in milde Belustigung umgeschlagen war, zumindest wenn er das schiefe Lächeln richtig deutete, welches nun die vollen Lippen zierte.
 

„Callboy, hu?“, sagte Yukke leise und eine seiner Augenbrauen wanderte ein kleines Stück nach oben, während Tatsuro selbst erneut vergessen zu haben schien, was er eigentlich sagen wollte. Er räusperte sich umständlich, um sich so einige Sekunden Zeit zu verschaffen, in denen er seine Gedanken sortieren konnte und verfluchte sich innerlich dafür, dass er sich in Yukkes Gegenwart ständig ablenken ließ, bevor er energisch weitersprach.
 

„Ja, Callboy. Du siehst nicht aus wie ein Geschäftsmann. So kann ich nicht arbeiten.“ Mit diesen Worten begann er die vier Hemdknöpfe zu schließen und kaum hatte er den letzten Knopf durch das Loch geschoben, machte er sich an der nur lose gebundenen Krawatte zu schaffen. Geschickt löste er die Enden, band sie in einem legeren Knoten und nickte, als er mit seinem Werk zufrieden war. Für einen Moment ließ er seinen kritischen Blick erneut über Yukke gleiten, der bislang alles schweigend hatte über sich ergehen lassen, bevor sich seine langen Finger in den brünetten Haarschopf verirrten. „Das Gestrüpp auf deinem Kopf mag ja in Mode sein, aber so würde dich doch nie jemand ernst nehmen.“
 

Ein leises Stimmchen in seinem Hinterkopf fragte sich unaufhörlich, was er hier eigentlich machte und ob er womöglich den Verstand verloren hatte, aber ihm machte seine Verschönerungsaktion gerade viel zu viel Spaß, um sich nähere Gedanken darüber zu machen. Das Lachen der Umstehenden begleitete sein Tun und von weiter hinten konnte er eine Frau zetern hören, aber ihre Stimme war ihm gänzlich unbekannt. Allerdings schätzte er mal, dass es sich bei ihr um Yukkes Stylistin handeln musste, denn er hörte nicht nur einmal das Wort Banause und weitere Nettigkeiten, die er jedoch sehr gut ignorieren konnte. Gut nur, dass Gara meist durchsetzen konnte, dass Yumiko seine einzige Stylistin an einem Filmset war, mit derart überkandidelten Zicken, wie diese Dame eine zu sein schien, wäre er nicht klargekommen. War er in der Vergangenheit auch nicht, was vermutlich der Grund gewesen war, dass sein Manager ihm Yumiko vor mittlerweile schon drei Jahren vorgestellt hatte. Dass sich Gara allerdings in die junge Frau mit dem überaus attraktiven Lächeln vergucken würde, war wohl weniger geplant gewesen. Kurz zuckten seine Mundwinkel, als er sich daran zurückerinnerte, wie Gara über Wochen mit sich gerungen hatte, bis er endlich den Mut aufgebracht und Yumiko um ein Date gebeten hatte. Das war zu herrlich gewesen.
 

Noch immer glitten seine Finger durch die kurzen Strähnen und er stellte beiläufig fest, dass diese vermutlich deutlich weicher sein würden, wären sie nicht durch all das Haargel total verklebt. Schade eigentlich, denn selbst so fühlte sich sein Tun ziemlich angenehm an und er hätte wohl noch länger weitergemacht, hätte ihn nicht Yukkes Stimme aus seinen Gedanken gerissen.
 

„Ehm, Tatsuro? Nicht, dass es schlimm wäre von dir gekrault zu werden, aber was genau wird das, wenn es fertig ist?“ Yukke schielte zu ihm nach oben, ganz so, als würde er versuchen zu sehen, was seine Finger dort in seinem Haar veranstalteten. Tatsuro selbst war so in seinem Tun vertieft gewesen, dass ihm gar nicht wirklich aufgefallen war, dass Yukkes Frisur jetzt nun schon länger deutlich gezähmter und somit passender für seine Rolle aussah. Würde er zum Rotwerden neigen, hätten seine Wangen bestimmt schon einen gesunden Farbton angenommen, so zog er nur noch einmal etwas fester an einer Haarsträhne, bevor er zurücktrat.
 

„Autsch“, murrte Yukke leise, betastete dann aber neugierig seine Haare, bevor er ihn noch immer fragend ansah. Er versuchte sich nichts anmerken zu lassen, aber innerlich wäre er gerade am liebsten im Erdboden versunken.
 

„Ja, das sieht schon besser aus“, stellte er also fest und versuchte seiner Stimme einen eher gelangweilten Unterton zu verpassen. Gut nur, dass er darin Übung hatte.
 

„Mh“, brummte Yukke und blickte auf die Krawatte hinunter, zog den Knoten dann ein klein wenig weiter, vermutlich, um besser atmen zu können. „Ich schätze mal, jetzt bin ich an der Reihe?“
 

Noch bevor er hätte fragen können, was der andere mit dieser Aussage meinte, war Yukke schon wieder näher getreten und zog den Zipper seines roten Kapuzenpullovers auf.
 

„He!“, echauffierte er sich ganz automatisch, obwohl er darunter noch ein schlichtes, schwarzes Shirt trug.
 

„Beschwer dich nicht, Tatsuro.“ Yukke grinste ihn an und hob die Hand, um mit dem Daumen über seine Lippen zu wischen. Tatsuro schluckte und spürte, wie ein feines Kribbeln dieser so unpassenden Geste folgte, als würde es ihr nachspüren wollen. War das denn die Möglichkeit? Schnell schabte er mit den Zähnen über seine Unterlippe, ganz so, als könnte er das Gefühl dadurch vertreiben. „Du siehst aus, wie aus dem Ei gepellt, wo doch Akihiko laut Drehbuch bestimmt schon seit zwölf Stunden auf den Beinen ist und schuftet. Das passt einfach nicht“, plapperte Yukke unbeirrt weiter, als hätte er sein Dilemma gerade gar nicht bemerkt. Was vermutlich auch der Tatsache entsprach, natürlich.
 

„Ich mochte den Lippenbalsam“, murrte er daher zunächst nur, bevor sich doch noch ein breites Grinsen auf seine Züge schlich, als er feststellen musste, dass Yukke und er erneut genau die gleichen Gedanken hatten. Hatte er nicht genau das vor wenigen Minuten erst zu Yumiko gesagt? Er konnte nicht anders, als seiner Stylistin einen schadenfrohen Blick zuzuwerfen, bevor Yukke erneut seine Aufmerksamkeit einforderte.
 

„Den Balsam kannst du dir nach dem Dreh ja wieder drauf packen, jetzt bist du ein mittelloser Straßenmusiker, der kein Geld für solche Spielereien hat. Und jetzt, beug dich mal vor.“
 

„Warum?“
 

„Mach einfach.“
 

Für einen Moment spielte er mit dem Gedanken der Aufforderung nicht nachzukommen, zuckte dann aber nur mit den Schultern und tat, was von ihm verlangt worden war. Lachen und Wortfetzen der Umstehenden drangen an seine Ohren, auch wenn der Größte Teil seiner Aufmerksamkeit erneut nur Yukke und seinen Fingern galt, die damit begonnen hatten seine Haare zu verunstalten.
 

„Oh ihr Spielkinder, wisst ihr eigentlich, wie viel Arbeit das war, die Haare so hinzubekommen?“ Tatsuro lachte, als er Yumikos Motzen hörte und richtete sich mit Schwung wieder auf, nachdem Yukke ihm das Okay gegeben hatte.
 

„Viel besser.“ Yukke strahlte ihn an.
 

„Wozu hab ich mir eigentlich Mühe gegeben“, jammerte Yumiko und von Sato war nur ein gelachtes, „Vogelscheuche“, zu hören.
 

„Darf ich fragen, was genau ihr beiden hier veranstaltet?“ Miya tauchte plötzlich vor ihnen auf, als hätte er sich aus dem Nichts materialisiert und fixierte sie mit diesem strengen, unnachgiebigen Blick, der ihm bei ihrer ersten Begegnung schon sauer aufgestoßen war.
 

„Wir interpretieren nur das Drehbuch neu“, gab er daher etwas schnippischer als geplant von sich und wischte sich die Haare aus dem Gesicht.
 

„Neuinterpretieren?“ Eine stark geschminkte Frau in den mittleren Jahren hatte sich hinter Miya aufgebaut und funkelte ihn nun giftig an. „Ich hab mich genau an die Vorgaben im Drehbuch gehalten …“
 

„Ja“, unterbrach er sie, „und weder Yukke noch ich sahen wie die Charaktere aus, die wir darstellen sollen.“
 

„Das … das …“, plusterte sie sich auf, aber eine unwirsche Handbewegung Miyas ließ sie verstummen.
 

„Genug jetzt, wir hängen dem Zeitplan ohnehin schon hinterher. Geht auf eure Plätze, damit wir anfangen können.“ Alle, selbst Yukke, kamen dieser Aufforderung nach, nur Tatsuro blieb weiterhin stehen und erwiderte stur Miyas Blick. „Gibt es noch etwas, was du loswerden willst, Tatsuro?“
 

„Das Drehbuch ist Scheiße und ich hab keinen Bock darauf?“, dachte er sich, verkniff sich aber jedes weitere Wort, als er Gara in die Produktionshalle eilen sah. Auf dessen Rumgeheule hatte er nun noch viel weniger Lust, so schüttelte er nur den Kopf und verbuchte wenigstens einen kleinen Sieg für sich. Immerhin hatte Miya nicht darauf bestanden, dass Yukke und er sich wieder zu Werbemodellen aufhübschen lassen mussten.
 

~*~
 

Fußgängerzone: Akihiko singt.
 

Drei kleine Worte im Drehbuch, mit deren Durchschlagskraft wohl keiner der Anwesenden gerechnet hätte, am wenigsten Tatsuro selbst. Doch sobald er den kurzen Weg durch die Kulisse – ein Nachbau einer typisch japanischen Fußgängerzone – hinter sich gebracht hatte, um sich an den Punkt zu stellen, der mit einem X aus Tape auf dem Boden markiert war und zu singen begonnen hatte, lagen wirklich alle Augen der Anwesenden auf ihm. Selbst das kaum hörbare Raunen, welches beim Dreh immer für seichte Hintergrundbeschallung sorgte, war verstummt. Nur die leise Musik, die ihn begleiten sollte und sein Gesang hallten von den stählernen Wänden der Lagerhalle wieder. Für einen Sekundenbruchteil verunsicherte ihn dieser Umstand, aber noch bevor er aus dem Takt kommen konnte, schloss er die Augen und konzentrierte sich auf seinen Gesang. Er hatte schließlich die Gesangsstunden nicht über sich ergehen lassen, um sich nun aus dem Konzept bringen zu lassen. Egal, ob diese ihm Spaß gemacht hatten oder nicht.
 

Ursprünglich war geplant gewesen, dass er sich in dieser Szene hauptsächlich auf seine Mimik konzentrieren sollte, der Song, genau wie das Rauschen des Straßenverkehrs und andere typische Geräusche würden später als Playback über die Aufnahme gelegt werden. Aber Ami war der Meinung gewesen, er würde sich leichter tun, würde er den Song tatsächlich mit vollem Einsatz singen, denn allein dadurch wäre seine Mimik authentischer, als würde er nur die Lippen bewegen und halbherzig mitsingen. Und Ami hatte recht behalten. Es fiel ihm erstaunlich leicht, die Melancholie, nach der das Lied verlangte, nicht nur in seiner Stimme, sondern auch in seinem Gesicht deutlich zu machen und erst, als er an der Stelle angekommen war, die wieder mehr Aktion von ihm forderte, öffnete er seine Augen wieder.
 

I wasn’t surprised at all

to find you in the middle of town

where the sinners come and go

Cherry tree leaves,

wet from the early summer rain,

and I, waiting for you to come

A cat, all wet and shriveling,

joining you …
 

Künstlicher Regen hatte eingesetzt, begann sein Haar und die dünne Kapuzenjacke zu durchnässen, während er die letzten Worte der Strophe zu Ende sang. Kurz blickte er auf die Katze herab, die es sich zu seinen Füßen bequem gemacht hatte und nun eigentlich aufspringen sollte, bevor er sein Lied hätte beenden können. Aber das Zeichen der Tiertrainerin kam mit deutlicher Verspätung und er rechnete fast damit, dass Miya die Aufnahmen nun abbrechen würde, aber auch eine Sekunde später blieb es still.
 

„Tetochi!“, rief er, oder besser gesagt Akihiko, als er der Katze hinterher sah, die nun doch noch aufgesprungen war und auf eine imaginäre Straße zu rannte, die später erst noch in die Szene eingefügt werden würde. „Shit.“ Er machte einen Satz nach vorn, wollte der Katze hinterher, um das Schlimmste zu vermeiden und hätte jetzt eigentlich Junji vor die Füße fallen sollen. Aber sein Drehpartner stand bestimmt einen halben Meter von seinem, wiederum mit einem X am Boden markierten, Punkt entfernt und machte auch keine Anstalten auf ihn zuzukommen.

Tatsuro begriff nicht ganz, warum Miya die Szene nicht schon lange abgebrochen hatte, aber innerlich musste er grinsen. Nicht nur, dass Yukke irgendwie ziemlich abwesend wirkte, nein, er lieferte ihm auch die optimale Gelegenheit mal ein wenig zu improvisieren – etwas, was ihm schon immer unglaubliche Freude bereitet hatte, zu dem er jedoch nur sehr selten Gelegenheit bekam.
 

Also änderte er innerhalb eines Wimpernschlags minimal die Richtung, bis er mit Yukke weit weniger heftig, als es später auf den Aufnahmen aussehen würde, aus vollem Lauf zusammenstieß und ihn von den Beinen riss.
 

„Tut … tut mir leid“, sagte er mit Akihikos sanfter Stimme, schaute sich noch einmal hektisch nach der Katze um, die jedoch bereits am anderen Ende der Straße sitzen und ihm nur frech zublinzeln würde. „Ich wollte Sie nicht umrennen, es ist nur … die Katze, sie ist plötzlich losgerannt und ich …! Sind Sie in Ordnung?“, ließ er Akihiko einfach mal erklären, obwohl rein gar nichts von dem, was er sagte, im Drehbuch stand. Er streckte die Hand aus und lächelte zerknirscht, als Junji diese, noch immer schweigend, ergriff und sich auf die Füße ziehen ließ.
 

„Dein Gesang … das war … wunderschön“, stammelte Junji plötzlich und warme Augen blickten direkt in seine, schickten ein heißes Ziehen durch seinen Magen, als er in ihnen erkennen konnte, dass sein Gegenüber diese Worte absolut ehrlich meinte. Das war nicht Junji, der versuchte die verpatzte Szene doch noch zu retten, nein, das war Yukke, der offenbar so begeistert von dem war, was er zu hören bekommen hatte, dass er vergessen zu haben schien, wo sie sich gerade befanden. Auf Tatsuros Lippen schlich sich ein langsames, überaus selbstzufriedenes Lächeln, auch wenn er zu seinem Erstaunen merkte, wie seine Wangen langsam aber sicher heiß wurden.
 

„Vielen Dank, der Herr“, erwiderte er mit einem fast kokett anmutenden Unterton in der Stimme und ließ Yukkes Hand beinahe widerwillig los, die er unbewusst noch immer fest umklammert gehalten hatte.
 

~*~
 

Satochi wurde das Gefühl nicht los, Gara neben ihm würde jeden Moment einen Herzinfarkt erleiden, je länger sich die Szene vor ihren Augen hinzog. Sein eigener Blick flackerte immer wieder in Richtung des Regisseurs, bevor er sich wieder auf seine Aufnahmen konzentrierte. Gerade half Tatsuro seinem irgendwie ziemlich perplex wirkenden Drehpartner wieder auf die Beine und erneut verließen Worte den Mund seines Bruders, die so ganz und gar nicht im Drehbuch standen.
 

„Ich bring ihn um, ganz langsam und schmerzhaft“, knurrte Gara und er grinste nur, zoomte lieber näher an die Gesichter der beiden Schauspieler heran, um auch ja die so untypische, wenn auch eher dezente Röte auf Tatsuros Wangen für die Nachwelt festzuhalten.
 

„Du könntest ihn allerdings auch damit aufziehen, dass ihn ein Kompliment verlegen gemacht hat.“ Satochi grinste kurz, als er Gara erneut einen Seitenblick zuwarf und das böse Funkeln in den Augen des anderen erkennen konnte.

Oh ja, er hatte doch gewusst, dass dieser Dreh amüsant werden würde.
 

_-_-_-
 

Die Lyrics stammen aus dem Lied Ame no Orchestra von MUCC und die Übersetzung habe ich mir von http://www.jpopasia.com/lyrics/13936/mucc/ame-no-orchestra.html geliehen.

Wie immer würde ich mich sehr über Feedback oder einen Favoriteneintrag freuen, wenn euch dieses Kapitel gefallen hat. ;)

Klappe, die Dritte

„Tetochi? Tetochi!“

 

Tatsuro gähnte herzhaft und nahm seine überkreuzten Beine von der lehne des Stuhls, auf die er sie eben erst drapiert hatte, um es bequemer zu haben. Es war echt immer das Gleiche, kaum hatte er es sich mal gemütlich gemacht, wollte jemand was von ihm. Okay, in diesem Fall wollte die Dame, die sich gerade die Lunge aus dem Hals rief, zugegebenermaßen nicht direkt etwas von ihm, sondern von der Katzendame, die es sich vor einer ganzen Weile bereits schnurrend auf seinem Schoß bequem gemacht  hatte, aber das änderte auch nichts daran, dass er sich nun erheben musste.

 

„Na komm Süße.“ Tatsuro seufzte leise und wischte sich mit der freien Hand übers Gesicht, damit man nicht auf den ersten Blick bemerken würde, dass er gerade am Einschlafen gewesen war. „Wir sollten dich zu deinem Frauchen bringen, bevor sie noch einen Herzinfarkt bekommt.“ Die kleine blinzelte ihn nur an und murrte leise, als er sie hochhob, um aufstehen zu können. „Ich weiß, nie hat man hier seine Ruhe, aber du weißt ja, wie das im Showbiz so ist.“ Er lächelte, als die Mieze ihre Nase an seiner Wange rieb und dann Anstalten machte einfach gegen seine Schulter gelehnt weiterschlafen zu wollen. Hach ja, Katze müsste man sein.

 

„Ishida-san?“ Er winkte der in die Jahre gekommenen Tiertrainerin zu, nachdem er auf den Flur getreten war. „Die Ausreißerin hat es sich bei mir gemütlich gemacht.“

 

„Dem Himmel sei Dank.“ Schneller, als er es ihr zugetraut hätte, kam sie auf ihn zugeeilt und streckte die Arme nach der dreifarbigen Glückskatze aus, die Tatsuro ihr breit grinsend entgegenhielt. 

„Sie scheint wirklich einen Narren an Ihnen gefressen zu haben, Tatsuro-kun.“ Ishida-san lächelte ihn mütterlich an, was die Lachfältchen um ihre Augen noch tiefer werden ließ.

 

„Ja, das scheint wirklich so zu sein. Aber das beruht definitiv auf Gegenseitigkeit.“ Er kraulte Tetochi übers Köpfchen, nachdem diese es sich wieder sicher in den Armen ihres Frauchens gemütlich gemacht hatte und rieb sich dann schelmisch schmunzelnd über den Nacken. „Ich hätte Ihnen bescheid geben sollen, tut mir leid. Es war nur gerade so gemütlich und ich hatte Pause und …“

 

„Ach was, nächstes Mal, wenn die Kleine wieder ausbüxt, weiß ich ja, wo ich zu suchen habe. So, dann machen wir uns mal auf den Nachhauseweg, was Tetochi? Und Ihnen einen schönen Abend, Tatsuro-kun. Wir sehen uns am Montag wieder.“

 

„Ihnen auch Ishida-san, bis Montag.“ Tatsuro schaute den beiden noch einen Moment hinterher und hätte dann bald selbst einen Herzinfarkt erlitten, als er sich umdrehte und kein anderer als Yukke direkt hinter ihm stand. „Verdammt, Yukke! Wie kannst du mich so erschrecken?“

 

„Sorry, ich dachte, du hättest mich gehört.“ Yukke grinste und sah überhaupt nicht so aus, als täte es ihm auch nur im Ansatz leid, Tatsuro soeben einen gehörigen Schrecken eingejagt zu haben.

„Man sollte dir ein Glöckchen umbinden, damit man auch weiß, dass du da bist.“

 

„Wenn es noch ein passendes Halsband dazu gibt, trag ich auch ein Glöckchen für dich.“ Täuschte er sich oder war ihre Unterhaltung binnen einer Sekunde von harmlos in eine ganz andere Richtung abgedriftet? Bemüht ausdruckslos schaute er Yukke noch immer ins Gesicht und nein, das hatte rein gar nichts damit zu tun, dass seine Augen irgendwie gerne zum Hals des anderen wandern wollten, um sich besagtes Halsband dort besser vorstellen zu können. Nein, nie.

„Eine wirklich süße Verehrerin hast du dir da angelacht.“ Yukkes Grinsen war ungebrochen, auch wenn er glaubte, ein seltsam interessiertes Flackern in den warmen Augen erkennen zu können.

 

„Neidisch?“

 

„Immer. Besonders auf den Yeti-Look, den sie dir verpasst hat.“

 

„Mh?“ Tatsuros Stirn legte sich in Falten, als er erst nicht verstand, was sein Gegenüber meinte, so lange zumindest, bis er Yukkes Fingerzeig folgte und die vielen Katzenhaare bemerkte, die nun seinen schwarzen Kapuzenpullover und die ebenso schwarze Jeans zierten. „Ach du Schande, Yumiko macht mich einen Kopf kürzer und Miya hilft ihr dabei, wenn ich so zum Dreh erscheine.“ Vergebens versuchte er die Haare mit den Händen von seiner Kleidung zu klopfen, machte die Sache damit jedoch eher schlimmer statt besser. Yukke schaute ihm nur amüsiert dabei zu und lachte leise in sich hinein.

 

„Quatsch. Dafür brauchst du weder deine Stylistin, noch muss Miya das überhaupt mitbekommen. Und nun hör auf, an deiner Jeans herumzureiben, du verteilst die Haare so nur noch mehr.“ Plötzlich lag Yukkes Hand auf seiner Rechten, stoppte damit seine wirklich sinnlosen Säuberungsversuche, bevor sich warme Finger locker um sein Handgelenk schlossen. „Komm mit.“ und ohne auch nur die Chance auf ein Widerwort zu bekommen, zog ihn der andere hinter sich her. Eigentlich mochte er es nicht, wenn andere Leute über sein Leben bestimmten, selbst dann nicht, wenn es solch eine Kleinigkeit war, wie von seinem Kollegen über den Flur dirigiert zu werden. Aber der Unmut, mit dem er schon gerechnet hatte, wollte sich irgendwie gerade nicht einstellen. Nicht einmal ein dummer Spruch kam ihm in den Sinn, vielmehr genoss er die Wärme, die noch immer von Yukkes Hand ausging. Ohne sich darüber jedoch großartig Gedanken zu machen, schob er diese unübliche Gelassenheit darauf, dass es ihn einfach so entspannt hatte Tetochi streicheln zu können und dass er müde von einem langen Drehtag war. Das musste es sein.

 

„So, hier sind wir.“ Die Wärme verschwand und Tatsuro fand sich im Aufenthaltsraum der BLP wieder. In dem großen, aber fensterlosen Raum roch es unangenehm nach abgestandenem Zigarettenrauch und Kaffee, der schon viel zu lange auf der Wärmeplatte stand. Er rümpfte die Nase und blickte sich um, aber viel gab es nicht zu sehen. Die Wände waren mit zahllosen Filmplakaten förmlich tapeziert worden, die der sonst eher in tristen Grautönen gehaltenen Einrichtung wenigstens ein bisschen Farbe verliehen. Auf dem großen Tisch in der Mitte tummelten sich allerlei Zeitschriften, Skripte und lose Blätter und dazwischen machten benutzte Kaffeetassen, Zigarettenschachteln und ein überquellender Aschenbecher das Chaos komplett.

 

„Nett.“ Tatsuro lehnte sich mit dem Hintern gegen ein freies Eck des Tischs und verzog den Mund. „Ich weiß schon, warum ich meine Pausen lieber in meiner Garderobe verbringe“, murmelte er alles andere als angetan von seiner Umgebung und schaute sich nach Yukke um, der auf einem abgenutzten Sofa, das wohl von so ziemlich allen Mitarbeitern der BLP als Ablage für ihre Taschen und Jacken benutzt wurde, nach etwas zu suchen schien. Kurz darauf begann er in einer, vermutlich seiner, Umhängetasche zu kramen, bevor er mit einem lauten „Ha!“ einen kleinen Plastikzylinder hervorzog.

 

„Ich wusste doch, dass ich sie dabei habe.“

 

Tatsuro sparte sich jetzt einfach mal die Frage, was genau Yukke mit sie meinte, denn im nächsten Moment hatte er das Plastikteil eh schon unter der Nase. Etwas überfordert mit der Situation blieb er reglos stehen und wartete. Auch Yukke wartete, wohl auf eine Reaktion seinerseits und als diese ausblieb, schnaubte der kleinere Mann nur amüsiert, klappte den Zylinder auf und begann damit Tetochis Katzenhaare von seinem Pullover zu entfernen.

 

„Ehm“, machte er wenig intelligent und blinzelte sein Gegenüber nur weiterhin fragend an. „Du hast eine Fusselrolle in deiner Tasche.“

 

„Klar.“

 

„Und du findest das nicht irgendwie … seltsam?“

 

„Nö, du siehst doch, dass es nützlich sein kann eine dabei zu haben.“

 

„Du bist ein sehr, sehr eigenartiger Mensch“, stellte Tatsuro trocken fest, worauf der andere nur leise lachte, bevor er ihn im nächsten Moment von oben bis unten zu mustern schien. Sie standen sich plötzlich so nahe, dass ihr Größenunterschied, den Tatsuro normalerweise gar nicht wirklich bemerkte, nun umso deutlicher war. Derart deutlich sogar, dass er sich einbildete, Yukkes Atem an seinem Hals spüren zu können.

 

„Ich bin gern ein wenig eigenartig … normal ist langweilig, findest du nicht auch?“ Yukke glitt noch immer mit der Fusselrolle über sein Oberteil, auch wenn seine Bewegungen bei weitem nicht mehr so gezielt wirkten, wie gerade eben noch. Tatsuro hingegen schluckte nur und fühlte sich, wie im falschen Film. Täuschte er sich oder kam Yukkes Gesicht seinem eigenen immer näher?

 

Yukke hatte lange Wimpern, dichte, lange Wimpern. Ob seine Stylistin die für den Dreh wohl auch getuscht hatte? Yumiko tat das bei ihm immer, wirkte besser vor der Kamera, behauptete sie.

Die Fusselrolle glitt tiefer, erst über seinen linken Oberschenkel, dann über den Rechten.

Yukkes Haare sahen heute so … flauschig aus, weil sie mal nicht mit Gel in Form gebracht worden waren. Ob sie sich wohl auch so weich anfühlen würden, wenn er jetzt mit den Fingern hindurch kämmen würde?

Die Fusselrolle kam seinem Schoß immer näher …

Schluss jetzt!

 

Tatsuro blinzelte, als wäre er gerade aus einem Traum erwacht und trat einen Schritt von Yukke zurück, nur um im selben Moment nach dieser dämlichen Fusselrolle zu greifen.

 

 „Den Rest mach ich lieber selbst.“ Er zauberte ein verschmitztes Grinsen auf seine Lippen, obwohl er noch immer nicht verstand, was gerade eben eigentlich passiert war.

 

„Wie du meinst.“ Yukke zuckte mit den Schultern, überließ ihm das Plastikteil und ging zu dem niedrigen Sideboard an der gegenüberliegenden Wand, auf dem die Kaffeemaschine stand. Ganz so, als wäre gerade rein gar nichts Ungewöhnliches passiert, nahm er sich eine frische Tasse und goss sich den letzten, zähen Rest des verkochten Kaffees ein, bevor ein Schuss Milch und Zucker folgten. Unwillkürlich verzog Tatsuro erneut den Mund, ob nun wegen Yukkes Getränkewahl oder, weil er den anderen einfach nicht einschätzen konnte, war ihm selbst nicht so ganz klar.

 

„Du solltest dich beeilen“, stellte Yukke nach einem Blick auf seine Armbanduhr fest und leerte seine Tasse in einem Zug. Tatsuro schüttelte es bei diesem Anblick, bevor er sich mit schnellen Bewegungen auch noch der letzten Haare entledigte. Schließlich sollte man Miya besser nicht warten lassen – diese Lektion hatte er mittlerweile gelernt.  

 

„Die Firma dankt.“ Mit einem kleinen Schmunzeln hielt er Yukke wenig später den Plastikzylinder entgegen und zuckte dann tatsächlich leicht zusammen, als sich die Tür zum Aufenthaltsraum öffnete.

 

„Steht’s zu Diensten“, hatte Yukke noch erwidert und wollte wohl gerade wieder zu seiner Umhängetasche gehen, hielt dann aber inne und drehte sich neugierig herum.

 

Ein junger Mann trat ein, den Blick konzentriert auf die Blätter gerichtet, die er nah an sein Gesicht hielt. Das verwaschene, vormals wohl schwarze BUCK-TICK Band-Shirt hing wie ein Sack an seiner schmächtigen  Gestalt herab und die dunkle Jeans, die eigentlich hauteng sitzen sollte, an ihm jedoch mindestens zwei Nummern zu groß wirkte, verstärkte den Eindruck nur noch, dass er sich heute Morgen wohl im Kleiderschrank vergriffen haben musste.

 

„Kaisuke!“, stieß Tatsuro lauter hervor, als es nötig gewesen wäre, aber mit dem Bürschchen hatte er noch ein Hühnchen zu rupfen. Der Neuankömmling zuckte so heftig zusammen, dass die Blätter unschöne Knitterfalten davontrugen und schaute Tatsuro hinter seinen Brillengläsern aus kugelrunden Augen an. „Hatte ich dich nicht schon vor über einer halben Stunde gebeten, mir noch einen Kaffee zu bringen?“

 

„Ta… Tatsuro-san. Ich … tut mir leid, das habe ich vergessen.“

 

„Das hab ich bemerkt“, murrte er und ging auf Kaisuke zu, der ihn noch immer wie ein Reh anstarrte und sich nicht von der Stelle rührte. „Ich begreife nicht, warum Gara dich nicht endlich rausschmeißt.“

 

„Tatsuro-san, bitte. Es war so viel zu tun und da hab ich …“

 

„Was?“ Tatsuro griff nach den Blättern, die Kaisuke noch immer umklammerte und riss sie ihm aus den Händen. „Lieber wieder die Nase in Drehbücher gesteckt, als das zu tun, was man dir aufgetragen hat? Aus dir wird nie mehr als Garas Laufbursche, wenn du nicht endlich lernst bei der Sache zu bleiben.“ Tatsuro rollte die Blätter zusammen und ließ sie nicht gerade sanft auf Kaisukes Kopf hernieder fahren, bevor er ihm die Rolle gegen die Brust drückte und sich schnaubend an ihm vorbeischob, um energisch auf den Flur hinauszutreten.

 

„Tatsuro, warte“, rief Yukke ihm hinterher und ganz automatisch verlangsamte er seine Schritte, sodass der andere aufholen konnte. Es wunderte ihn nicht einmal, dass ihn sein Kollege nun strafend von der Seite her anschaute, irgendwie hätte er von ihm in so einer Situation auch nichts anderes erwartet. „War das wirklich nötig gewesen?“

 

„Vermutlich nicht“, gab er also leise zu und seufzte, „aber der Kerl treibt mich einfach zur Weißglut.“

 

„Warum?“

 

„Keine Ahnung.“ Tatsuro zuckte mit den Schultern und stopfte die Hände in die Taschen seines Kapuzenpullovers. „Wenn er sich wenigstens etwas anstrengen würde, würde er es bestimmt auf die Schauspielschule schaffen. Aber stattdessen lungert er lieber hier herum, steckt die Nase in Skripts und träumt davon groß rauszukommen.“

 

„Warst du denn nie so?“

 

„Nie.“

 

„Glaub ich dir nicht.“ Yukkes so typisches, schiefes Grinsen gehörte wirklich verboten, dachte er sich, als sein Magen mal wieder verrücktspielte. „Vielleicht nervt er dich ja nur so, weil er dich an dich selbst erinnert.“

 

„Wie kommst du denn auf den Blödsinn?“

 

„Die langen Haare, die Klamotten …“

 

„So ein Quatsch … wobei, ich glaub, das Band-Shirt hab ich sogar auch.“

 

„Siehst du, sag ich doch.“

 

„Idiot.“

 

„Gehst du mit mir heut Abend einen trinken?“, erkundigte sich Yukke aus heiterem Himmel und er brauchte tatsächlich ein paar Sekunden, bis er begriffen hatte, was der andere ihn gerade gefragt hatte. Kopfschüttelnd blieb er stehen und schaute Yukke belustigt an.

 

„und wo bitte sehr kam jetzt dieser Themenwechsel her?“

 

„Keine Ahnung, ich dachte mir, ich versuch es mal, wenn du gerade mit anderen Gedanken beschäftigt bist. Hat es funktioniert?“

 

„Nö. Ich hab dir schon die letzten acht Mal gesagt, dass ich mit Kollegen keinen Trinken gehe.“

 

„Neunmal.“

 

„Hm?“

 

„Ich hab dich jetzt schon neunmal gefragt …“

Tatsuros Lachen hallte über den Flur, dann waren die Stimmen der beiden nur noch gedämpft zu hören.

 

Kaisuke stand noch immer mitten im Aufenthaltsraum, die Papiere, die Tatsuro ihm so unsanft gegen die Brust gedrückt hatte, in zitternden Händen haltend. Seine Augen waren hinter der spiegelnden Brille kaum zu sehen, aber dennoch hätte vermutlich jeder, der in diesem Moment an ihm vorbeigegangen wäre bemerkt, dass er vor Wut kochte. Mit steifen Schritten ging er auf den Tisch zu, legte das Drehbuch darauf ab und strich es mit harschen Bewegungen glatt.

„Ich werde es dir schon noch zeigen, Tatsuro“, zischte er, „ich werde es euch allen zeigen.“ Für einen Moment noch stützte er beide Hände auf die Tischplatte, ließ den Kopf hängen und atmete einige Male tief durch. Erst dann straffte er die Schultern wieder und verließ schnellen Schrittes den Raum.

 

World of deception - Season3 - stand auf dem Skript, das nun gänzlich unbeachtet zwischen all den anderen Blättern dalag und dessen Ränder sich langsam wieder einrollten, bis es, als hätte ein Luftzug es erfasst, auf den Boden fiel.

 

~*~

 

„Miya ist echt ein alter Sklaventreiber“, motzte Tatsuro, als er einige Stunden später die Tür seiner Garderobe aufdrückte. „Es geht schon auf zehn und das an einem Freitag. Hat der Kerl noch nie was von Feierabend gehört?“ Mit einem mürrischen Schnauben ließ er sich vor dem großen Spiegel auf einen Stuhl fallen und begann damit sich sein Make-up aus dem Gesicht zu wischen. Seine Schimpftirade hatte natürlich mal wieder niemand mitbekommen, denn Yumiko hatte sich schon vor einer halben Stunde verabschiedet und Satochi war noch damit beschäftigt sein Equipment für den nächsten Drehtag herzurichten.

Irgendwie war es ein seltsames Gefühl nach so  langer Zeit wieder einmal mit Sato zusammenzuarbeiten und nun sogar auf seinen Bruder warten zu müssen, bis sie nach Hause fahren konnten. Aber über Letzteres würde er sich ganz gewiss nicht beschweren, denn er war mehr als nur ein bisschen froh darüber, dass Satochi endlich eingesehen hatte, dass es doch keine so schlechte Idee war bei ihm einzuziehen. Tatsuros Wohnung war ohnehin so groß, dass er einige Räume bislang nicht einmal in Benutzung gehabt hatte und sein Bruder konnte nach seinem langen Krankenhausaufenthalt auch wirklich jeden gesparten Yen gut gebrauchen. Außerdem hatte er Satochi auf diese Weise wenigstens ein bisschen im Blick und konnte darauf achten, dass sich der Herr nicht wieder einmal mehr zumutete, als er sollte. Nicht, dass er Sato das jemals gesagt hätte, aber wenn er sich jetzt etwas um ihn kümmern konnte, würde sein schlechtes Gewissen vielleicht endlich Ruhe geben, das hoffte er zumindest.

Endlich vom Make-up befreit erhob er sich wieder und streckte sich erst einmal ausgiebig. Himmel, wie sehr er sich doch auf sein freies Wochenende freute, das erste seit einer gefühlten Ewigkeit. Zwei ganze Tage einfach nur nichts tun. Gerade wollte er sich Akehikos Kleidung entledigen, um wieder in seine eigenen Klamotten schlüpfen zu können, da bemerkte er ein kleines, gefaltetes Stück Papier, das sich in der Bauchtasche des Kapuzenpullovers verborgen hatte.

 

„Mh?“, brummte er fragend und klappte den Zettel auf, welcher sich als Kassenbon für zwei Dosen Red Bull entpuppte. Wie kam ein Kassenzettel in die Tasche seines Drehoutfits und noch dazu einer für Energydrinks? Er mochte das Zeug doch nicht einmal. Stirnrunzelnd drehte er das Papier herum und musste dann unwillkürlich schmunzeln, als ihm aufging, wer ihm dieses untergejubelt haben musste.

 

„Hey, diesen Gesichtsausdruck habe ich ja schon ewig nicht mehr gesehen.“ Satochi stand in der Tür seiner Garderobe und strahlte ihn derart atomar an, dass er nicht anders konnte als leise zu Lachen.

 

„Du tust ja gerade so, als würde ich ständig mit einer miesepetrigen Grimasse im Gesicht herumlaufen.“

 

„Fast.“ Satochi kam langsam auf ihn zu, jeder zweite Schritt von dem mittlerweile fast schon altbekannten Klacken seines Gehstocks begleitet und hob die Hand. „Zeig doch mal.“ Schneller, als Tatsuro hätte reagieren können, hatte ihm sein Bruder den Zettel schon aus den Fingern gezupft und die wenigen Zeichen überflogen, die auf der Rückseite geschrieben standen. „Falls du es dir doch noch anders überlegst“, las Satochi vor. „Dann eine Telefonnummer und … Ich hab auch Katzenvideos, die ich dir zur Aufmunterung schicken könnte. Y.“ Satochi hob fragend eine Augenbraue, aber Tatsuro dachte ja nicht einmal daran hierzu etwas zu sagen.

 

„Wenn du noch breiter grinst, fallen dir die Ohren ab“, murrte er stattdessen und versuchte nach dem Zettel zu greifen, den Satochi allerdings wohlweißlich außer Reichweite hielt.

 

„Katzenvideos, hu? Und wer ist Y? Eine Verehrerin? Oder … vielleicht ein Verehrer?“

 

„Red keinen Dünnschiss, Satochi, und gib mir den Zettel wieder.“

 

„Was denn?“ Satochi rollte mit den Augen, streckte ihm jedoch den Kassenzettel entgegen, den Tatsuro auch sogleich in der Hosentasche verschwinden ließ. „Es würde dir echt mal guttun, wenn du mal wieder rauskommst. So ein kleiner Flirt schadet doch nicht? Seit der Sache mit …“

 

„Untersteh dich, seinen Namen zu sagen.“

 

„Ich mein ja nur. Die Sache ist jetzt über ein Jahr her und …“

 

„Ja, die Sache ist über ein Jahr her und hat mich fast alles gekostet, was mir wichtig gewesen ist. Hätte ich nicht mehr Geld bezahlt, als die Presse diesem Dreckskerl für seine exklusiven Insiderinformationen über mich geboten hat, hätte er mich vermutlich komplett ruiniert. So hab ich nur den besten Job verloren, den ich je hatte, weil der Produktionsleiter ein homophobes Arschloch ist!“ Tatsuro blinzelte und rieb sich über die Stirn. Himmel, selbst nach all den Monaten geriet er noch immer in Rage, wenn er an Nobu und daran erinnert wurde, was der Kerl alles abgezogen hatte. Und er hatte wirklich einmal geglaubt, verliebt in ihn zu sein … „Scheiße!“

 

„Tut mir leid, Tatsuro. Ich meinte doch nur, dass du endlich wieder zu leben anfangen solltest. Die Sache ist jetzt so lange her, keiner erinnert sich noch daran.“

 

„Ich hatte damals Glück, dass er ein Idiot ist, der nicht mehr als das schnelle Geld gesehen hat. Mit etwas mehr Weitsicht und ohne Garas Anwalt hätte er mich ruinieren können, Sato. So etwas steckt man nicht so einfach weg und geht wieder zur Normalität über. Ich hab mir geschworen, nie wieder etwas mit einem Kollegen anzufangen und daran werde ich mich auch halten.“

 

„Aber nicht jeder ist wie er.“

 

„Nein, vielleicht nicht, aber das Risiko ist mir einfach zu hoch.“ Tatsuro wandte sich ab und entledigte sich nun endlich seines Outfits. Wieder kam ihm dabei der Kassenzettel unter und für einen Moment war er versucht ihn einfach im Papierkorb zu entsorgen. Dann aber steckte er ihn in seinen Geldbeutel und hoffte insgeheim, dass er ihn dort einfach vergessen würde.

 

„Was hältst du von einer großen Familienpizza?“ Satochis Hand landete auf seiner Schulter und Tatsuro erkannte die Geste als das, was sie war – ein Friedensangebot.

 

„Hört sich fantastisch an, mir hängt mein Magen schon seit Stunden in den Kniekehlen“, gab er also versöhnlich zur Antwort und zauberte sogar wieder ein kleines Lächeln auf seine Lippen.  

 

„Na dann, ich lad dich ein.“ Satochi drehte sich herum und ging schon einmal langsam voraus, während Tatsuro noch seine letzten Sachen zusammenpackte und seinem Bruder dann hinterher joggte.

 

„Wochenende!“, trällerte er und bemühte sich, seine schlechte Laune und die Erinnerungen an Nobu einfach hinter sich zu lassen. „Hast du was geplant?“, erkundigte er sich, während er nun deutlich langsamer neben seinem Bruder herging. „Ich bin ja dafür einfach nichts weiter zu tun, als endlich die ganzen Serien aufzuholen, die ich in den letzten Wochen verpasst hab.“

 

„Ja~“, machte Sato langgezogen und schaute ihn schelmisch grinsend von der Seite her an. „Weil du es gerade ansprichst … also … morgen spielt ja Japan gegen Uruguay, weißt schon, die Vorrunde der Fußball WM?“ Tatsuros Stirn legte sich in Falten, zum einen, da er sich echt zu erinnern versuchte, ob er in den letzten Tagen was von der Fußball WM mitbekommen hatte und zum anderen, weil er sich ehrlich wunderte, weshalb Sato so herumdruckste. Gut, Tatsuro hatte mit Fußball nun eher weniger am Hut, aber das sollte Satochi ja nicht weiter stören.“

 

„Ja und?“

 

„Na ja, es könnte rein theoretisch sein, dass ich Miya eingeladen hab das Spiel bei uns zu gucken?“

 

~‘*~

 

Mit einer Sonnenbrille auf der Nase, die Haare unter einer Wollmütze versteckt und einem praktischen Mundschutz, der die Hälfte seines Gesichts verbarg und so seine Vermummung perfekt machte, schlängelte sich Tatsuro durch den nachmittäglichen Menschenansturm in Tokyos Elektronikmeile Akihabara.

Ein Gutes hatte es, dass er vor Satochis Gast und der geballten Fußballlaune geflüchtet war, so hatte er sich nämlich endlich neue Kopfhörer besorgen können. Außerdem war das Wetter fast zu schön, um in der Bude zu hocken, auch wenn er sich  eigentlich genau darauf gefreut hatte. Aber was tat man nicht alles, um nicht mit seinem derzeitigen Boss Fußball schauen zu müssen. Was sich sein Bruder dabei gedacht hatte ausgerechnet Miya einzuladen, verstand Tatsuro noch immer nicht. Aber ihm sollte es recht sein, solange er sich dieses Schauspiel nicht geben musste.

Umringt von Jugendlichen, Technikfreaks und der ein oder anderen Hausfrau, die hier irgendwie ziemlich fehl am Platz wirkte, wartete er an einer der vielen Kreuzungen darauf die Straße überqueren zu können. Gerade, als die Ampel auf Grün schaltete, fiel sein Blick auf eine Sendung, die über den Bildschirm im Schaufenster eines Ladens für Second Hand Spielekonsolen und DVDs flimmerte. Die Menschen um ihn herum setzten sich in Bewegung, aber Tatsuro blieb wie erstarrt stehen, nur seine linke Hand, in der er die kleine Plastiktüte mit seinem Einkauf hielt, ballte sich zur Faust. Über das allgegenwärtige Stimmengewirr, den Straßenlärm und den lautstarken Reklamen, die von allen Seiten auf ihn einstürmten, konnte er zwar kaum etwas verstehen, aber das musste er auch gar nicht. Die Szene, die gerade gezeigt wurde, konnte er auch nach all der Zeit noch immer selbst im Schlaf mitsprechen. Mit traumwandlerisch anmutenden Bewegungen bahnte er sich seinen Weg durch die Leute, bis er direkt vor dem Schaufenster stehen blieb.

Gerade sah man einen Mann, ihn, dessen Lippen sich nur noch angestrengt bewegten, während seine Geliebte die Hand auf die Schusswunde in seiner Brust presste.

 

„Kamui, verlass mich nicht“, hörte er sie nun schluchzen, auch wenn er tatsächlich nicht hätte sagen können, ob ihre Stimme vielleicht doch nur in seinem Kopf existierte.

 

Himmel, das letzte Mal, als er diese Bilder gesehen hatte, war das Staffelfinale noch nicht einmal komplett abgedreht gewesen … und einige Stunden später hatte man seiner vielversprechenden Karriere einen Riegel vorgeschoben.

Er glaubte beinahe wieder das hochrote Gesicht des Produktionsleiters vor seinem inneren Auge sehen zu können, nachdem dieser ihn in sein Büro zitiert hatte. Selbst heute noch wusste Tatsuro nicht genau, was der andere ihm alles vorgeworfen hatte, aber der Grundtenor war der gewesen, dass Tatsuro mit seiner fragwürdigen Orientierung für die Firma nicht mehr tragbar wäre. Nobu war an diesem Tag nicht am Set gewesen, aber Tatsuro vermutete stark, dass dieser sich die gleiche Tirade hatte anhören dürfen, bevor er gefeuert worden war.

Wobei er sich bis heute fragte, ob Nobu sie beide nicht vielleicht sogar selbst verpfiffen hatte, um ihm nicht nur das Herz zu brechen und ihn wie eine Weihnachtsgans auszunehmen, sondern um ihm auch beruflich einen Tiefschlag zu verpassen.

 

„… Und das war das Finale der zweiten Staffel von World of deception!“, drang die quirlige Stimme einer sehr jungen Fernsehmoderatorin durch den Nebel seiner Erinnerungen. Tatsuro blinzelte, als würde er aus einem schlechten Traum erwachen und richtete seine Aufmerksamkeit wieder auf den Bildschirm. „Über ein Jahr mussten die Fans auf eine Fortsetzung warten, doch nun ist ein Ende der Durststrecke absehbar.“ Die Moderatorin kicherte verschämt und legte sich für einen Moment die Hand vor den Mund, als müsste sie ein vorfreudiges Grinsen verbergen. „United Pictures gab heute bekannt, dass mit dem Dreh der dritten Staffel bereits im Herbst dieses Jahres begonnen wird. Die Gerüchte, Serienliebling Iwakami, Tatsuro würde sein großes Comeback feiern, wurden von U.P. jedoch dementiert …“

 

Tatsuro wandte sich ab und verschwand in einer Seitenstraße. Ziellos ging er voran, achtete weder auf seine Umgebung, noch auf die Leute, die ihm entgegenkamen. Er wollte einfach nur weg. Weg von den Menschenmassen und weg von seinen Erinnerungen, die er einfach nicht länger ertragen konnte. Nach Hause wollte er nun allerdings auch nicht. Nicht, wenn ihn dort nur ekelhaft gute Laune erwartete. Er brauchte jetzt Ablenkung, irgendetwas, das seine Nerven beruhigen würde und die Übelkeit vertrieb, die sich in seinem Magen angesammelt hatte.

Erst, als sich die Geräusche um ihn herum veränderten, hob er den Blick, den er die ganze Zeit über stur auf seine eigenen Füße gerichtet hatte. Vor ihm lag ein freier Platz, der von einigen hohen Bäumen eingefasst wurde, die ihre langen Schatten über den kopfsteingepflasterten Boden warfen. Das kleine Café ihm direkt gegenüber schien heute einen wirklich guten Umsatz zu machen, denn fast keiner der Tische, die im Freien aufgestellt worden waren, war unbesetzt. Das muntere Stimmengewirr der Gäste, die an diesem schönen Nachmittag die Frühlingssonne genossen, drang an seine Ohren und eine schwarze Kreidetafel vor dem Eingang des Cafés machte die Besucher darauf aufmerksam, dass der Matcha Latte heute im Sonderangebot zu erhalten war. Einen Moment zögerte er noch, dann aber ging er entschlossen auf die Ansammlung von Stühlen und Tischen zu. Vielleicht war Zucker ja jetzt genau das, was er brauchte.

 

Eigentlich hatte er nach drinnen gehen wollen, in der Hoffnung dort etwas mehr Ruhe zu finden, aber als er sich durch die Tischreihen schlängelte, fiel ihm ein junger Mann auf, der konzentriert auf seinem Handy tippte. Seine Lippen verzogen sich unter dem Mundschutz zu einem seichten lächeln, als er sich näher heranpirschte und dem anderen dann einfach frech von hinten über die Schulter schaute.

 

Der beste Mango-Frappuccino, den ich je getrunken habe“, las er die Nachricht und grinste dann doch breit, als der kleinere Mann heftig zusammenzuckte. „Eine uninteressante Information, nach der sich deine Fans dennoch die Lippen lecken werden, was?“ Für eine ganze Weile wurde er nur aus großen Augen angeguckt, bevor sich so etwas wie Erkennen in sie schlich.

 

„Ta…, Tatsuro?“

 

„Der einzig Wahre“, erwiderte er und deutete auf einen der freien Stühle. „Darf ich mich zu dir setzen?“

 

„Klar, bitte.“ Yukke wirkte noch immer etwas durch den Wind, auch wenn er ihm nun, da er es sich ihm gegenüber gemütlich gemacht hatte, eines seiner strahlenden Lächeln schenkte. „Das nenne ich mal einen Zufall, mit dir hätte ich nun absolut nicht gerechnet.“

 

„Ich hatte heute auch nicht wirklich vor in ein Café zu gehen, aber hey, da bin ich.“ Tatsuro zog den Mundschutz nach unten, bevor er bei der Bedienung, die gerade an ihren Tisch herangetreten war, seine Bestellung aufgab.

 

„Was soll eigentlich deine Vermummung? So kalt ist es doch gar nicht?“, fragte Yukke, nachdem die junge Frau wieder verschwunden war.  

 

„Hu?“, Tatsuro blickte fragend auf und nahm die Hand von seiner Wollmütze. Gerade hatte er noch überlegt sie abzunehmen, entschied aber, dass das wohl eher keine so gute Idee war. „Ich will nur nicht von Fans erkannt werden, das ist alles.“ Er zuckte mit den Schultern. „Du scheinst damit eher keine Probleme zu haben?“

 

„Ich? Nein. Das ist ein Vorteil, wenn man nur Rollen in Boys Love Filmen bekommt, die Leute kennen mich zwar, aber die meisten sind diskret genug, um mich nicht in der Öffentlichkeit anzusprechen, wenn du verstehst, was ich meine.“ Yukke zwinkerte ihm zu und wieder sammelte sich bei diesem Anblick eine ganz bestimmte Hitze in Tatsuros Magen. Er nickte verstehend, auch wenn ihm mehr der Sinn danach stand den Kopf zu schütteln, nur um ihn wieder frei zu bekommen. Würde er sich in Yukkes Gegenwart nicht immer seltsam wohlfühlen, wäre es beinahe erschreckend, welche Wirkung er auf ihn hatte. Um sich selbst von seinen komischen Gedanken abzulenken, ließ er seinen Blick erneut über die Gäste und den Platz schweifen und lächelte, als er in etwas Entfernung eine Handvoll Kinder entdeckte, die sich über den sandbedeckten Untergrund eines kleinen Spielplatzes jagten.

 

„Das ist ein wirklich schönes Plätzchen hier, kommst du öfter her?“

 

„Nein, ist heute das erste Mal.“ Yukke zog am Strohhalm seines Frappuccinos und gab ein leises, genießendes Brummen von sich. „Aber ich gehe mal schwer davon aus, dass ich in Zukunft öfter hier sein werde, das Zeug schmeckt echt verboten gut. Willst du probieren?“ Tatsuro schüttelte den Kopf und hob abwehrend beide Hände.

 

„Lass mal, danke, aber ich mag keine Mango.“

 

„Was?“ Yukkes Empörung war beinahe greifbar und es hätte ihn nicht gewundert, hätte er nun sein Glas umklammert, um dem armen, verschmähten Getränk darin zuzuflüstern, dass es bloß nichts auf Tatsuros Worte geben sollte. Ein amüsiertes Lachen entrang sich seiner Kehle, welches erst von der Ankunft seines eigenen Getränks unterbrochen wurde.

 

„Nun schau doch nicht so, als hätte ich dich persönlich beleidigt.“

 

„Hast du aber, wie kann man nur keine Mango mögen?“

 

„Das geht, glaub mir, und es tut nicht einmal weh.“ Tatsuro gluckste noch immer albern, bevor er einen vorsichtigen Schluck seines Lattes trank. „Aber ich muss echt zugeben, die wissen hier, wie sie ihre Getränke machen müssen.“ Er hob den Blick und sah sich Yukkes warmen Augen gegenüber, die ihn beinahe forschend betrachteten. „Was?“, fragte er, seine aufwallende Unsicherheit hinter einem Lächeln verborgen.

 

„Ich mag dein Lachen“, murmelte Yukke und schob seine Hand über den Tisch, bis seine Fingerspitzen Tatsuros eigene ganz sacht berührten. Tatsuro schluckte, als ihn die warmen Augen regelrecht gefangen nahmen. Das Stimmengewirr rückte in den Hintergrund und er hatte das eigenartige Gefühl, als würden sie beide plötzlich gänzlich alleine unter den hohen Bäumen sitzen, deren Blätter diffuse Schatten auf Yukkes Gesicht zeichneten. Er öffnete seinen Mund und schloss ihn dann doch wieder, als sich alles, was er auf Yukkes Worte hätte erwidern können, in Rauch auflöste.

 

„Ich …“, brachte er dann doch noch hervor, aber noch bevor er hätte weitersprechen können brach der Zauber, als er von einer heiteren Stimme unterbrochen wurde.

 

„Yusuke! Tut mir leid, dass du warten musstest.“ Ein hochgewachsener, schlanker Kerl mit mehr Metall im Gesicht als gesund sein konnte, ließ sich in den freien Stuhl an ihrem Tisch fallen. „Der Verkehr war mal wieder mörderisch, aber was will man an einem Samstagnachmittag auch erwarten.“

 

Tatsuro hatte seine Hand längst zurückgezogen und sie nun sicherheitshalber um sein Glas gelegt, während Yukke noch immer etwas verwirrt aus der Wäsche guckte.

 

„Ehm, ja, hey“, sagte er schließlich lahm und zauberte für den Neuankömmling ein Lächeln auf seine Lippen. „Schön, dass du da bist, darf ich dir Tatsuro vorstellen? Tatsuro, das ist Shiramizu, Takuma … ein … Freund.“

 

„Nenn mich einfach Seek.“ Tatsuro blinzelte und ergriff die Hand, die ihm entgegengestreckt wurde. Waren die Haare des Kerls tatsächlich hellgrün? Sein Blick wanderte zu seinem Matcha Latte, dann wieder zur Haarpracht des anderen. Tatsächlich, die Ähnlichkeit war frappierend.

 

„Freut mich“, presste er hervor, auch wenn ihm viel eher der Sinn danach stand, den Neuankömmling für sein wirklich mieses Timing zu verwünschen. Andererseits war es vermutlich, nein, ganz sicher war es besser, dass er nicht die Chance bekommen hatte, auf Yukkes Aussage zu antworten. Dabei wäre bestimmt nichts Gutes herausgekommen.

 

Für einen Moment schwiegen sie sich betreten an, bis es schließlich Yukke war, der das Wort an seinen … Freund richtete, um sich zu erkundigen, wie es auf der Technikmesse denn so gewesen war, die dieser heute wohl besucht hatte. Tatsuro begnügte sich damit stumm sein Getränk zu leeren, welches glücklicherweise nicht mehr besonders heiß war, während sich seine Gedanken nur um eine ganz bestimmte Frage drehten.

Warum hatte Yukke eben gezögert, als er Seek als einen Freund vorgestellt hatte?

 

~*~

 

Obwohl er sich nach Seeks Ankunft ziemlich zügig aus dem Staub gemacht hatte, dämmerte es bereits, als er den Fahrstuhl seines Appartementgebäudes verließ. Aus der Küche drangen Stimmen an sein Ohr, nachdem er die Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte und am liebsten hätte er auf dem Absatz kehrtgemacht und wäre wieder gegangen. Miya war also noch hier, großartig. Nicht, dass er direkt etwas gegen seinen Boss hatte – Miya konnte ein Sklaventreiber sein und war schrecklich penibel, dennoch schätzte Tatsuro seine ehrliche Art – was aber noch lange nicht hieß, dass er auch seine Freizeit mit ihm verbringen wollte. Da ihm sein lieber Bruder jedoch augenscheinlich keine andere Wahl ließ, seufzte er nur leise und ergab sich seinem Schicksal.

Er wuschelte sich gerade durch die Haare, die von der Wollmütze komplett zerzaust worden waren, während er der Unterhaltung lauschte, die zu ihm in den Flur drang.

 

„Du musst mir nicht helfen, Miya. Schließlich bist du Gast und ich nur ein halber Invalide.“

 

„Selbst, wenn du ein ganzer Invalide wärest, würde ich dir helfen.“

 

„Das … macht keinen Sinn.“ Sein Bruder Lachte und Tatsuro konnte sich das Augenrollen förmlich vorstellen, mit dem Miya nun vermutlich bedacht wurde.

 

„Ganz genau. Und weil es keinen Sinn macht, hab ich recht. Also lass dir gefälligst helfen, du sturer Esel.“

 

„Ach du Schande“, wisperte Tatsuro und schüttelte den Kopf. „Ich muss in der Twilight Zone gelandet sein.“ Ohne hinzusehen, legte er seine Sonnenbrille und den Mundschutz auf das niedrige Sideboard im Flur und räusperte sich dann vernehmlich. „Ich bin wieder da.“ Versucht gutgelaunt streckte er den Kopf zur Küche herein, wo Satochi gerade damit beschäftigt war irgendeine Art von Auflauf aus dem Ofen zu holen, während Miya neben ihm stand und den Eindruck machte, heldenhaft eingreifen zu wollen, sollte Satochi das Gleichgewicht verlieren. Irgendwie … machte ihn diese Geste in Tatsuros Augen wieder ein stückweit sympathischer, immerhin trug Sato den Gehstock nicht zur Zierde mit sich herum.

 

„Hey Tatsue, willst du mitessen?“ Kurz überlegte er, schüttelte dann aber den Kopf.

 

„Danke, ich hab in der Stadt schon was gegessen.“ War zwar gelogen, aber irgendwie war ihm nach allem, was heute schon wieder vorgefallen war, der Appetit vergangen. „Ich bin in meinem Arbeitszimmer.“

 

Er fühlte sich seltsam erschöpft, als er die Plastiktüte mit seinen Kopfhörern auf den Schreibtisch legte und sich in seinem Drehstuhl zurücklehnte, ohne den PC angeschaltet zu haben. Vielleicht sollte er einfach schon ins Bett gehen und hoffen, dass sich die Erholung, die er doch so dringend nötig hatte, wenigstens über Nacht noch einstellen würde. Oder vielleicht sollte er Yukke schreiben? Wenn er ihm erzählte, dass sein Bruder gerade mit ihrem gemeinsamen Boss flirtete, hätte der bestimmt Mitleid mit ihm. Und so ein lustiges Katzenvideo würde ihn ganz sicher ein wenig aufmuntern können, auch wenn er sich dann wieder nur fragen würde, ob Yukke wohl auch den Abend mit diesem Seek verbrachte.

 

Gerade hatte er sich für die vernünftigere Variante entschieden und sich erhoben, um nun doch ins Bett zu gehen, da klopfte es an der Tür.

 

„Tatsue? Das ist für dich abgegeben worden, während du weg warst.“ Sato trat ein, den Gehstock wieder in der rechten Hand, während er in der Linken ein Päckchen balancierte. Verwundert erhob sich Tatsuro von seinem Stuhl und ging Sato entgegen. Das Päckchen war erstaunlich schwer und mit rotem Klebeband verpackt, was darauf hindeutete, dass der Inhalt wohl zerbrechlich sein musste.

 

„Komisch, ich hab doch gar nichts bestellt.“ Ein wenig beunruhigt betrachtete er den Karton, der jedoch einen ganz legitimen Eindruck machte. Das Label war von der Post und auch den Absender erkannte er wieder –ein Onlineshop, bei dem er regelmäßig seine Computerspiele bestellte.

 

„Willst du es lieber nicht aufmachen?“

Tatsuro erwiderte Satochis Blick, der nun nicht minder verunsichert wirkte, als er sich fühlte. Dann jedoch gab er sich einen Ruck, öffnete die oberste Schublade seines Schreibtischs und holte eine Schere heraus, mit der er das Paketklebeband aufschnitt.

 

„Quatsch, ich hab bestimmt nur vergessen, dass ich was bestellt hab.“ Eine rote Metallbox kam zum Vorschein und wieder stockte er kurz. „Ob das das Steelbook vom neuen Tomb Raider ist? Wenn ja, werden die Dinger aber auch immer größer.“

 

„Kommt das nicht erst nächste Woche raus?“ Wohl neugierig geworden kam Satochi näher, während Tatsuro den Deckel der Metallbox anhob.

 

Im nächsten Moment passierten mehrere Dinge gleichzeitig.

 

Aus der Box war eine Melodie zu hören, die Tatsuro später als Pop goes the weasel* erkennen würde, während etwas Silbernes ganz knapp an seinem Gesicht vorbei sauste und klirrend hinter ihm auf den Boden fiel.

In einer grauenhaften Parodie eines Schachtelteufels baumelte der halb verweste Körper einer kleinen Glückskatze an der Sprungfeder, die normalerweise einen lachenden Clownskopf trug.

Der widerliche Gestank ließ ihn würgen und einen schwankenden Schritt zurücktreten, bevor er wie vom Donner gerührt erstarrte, als eine verzerrte Stimme zu sprechen begann.

 

„Du dachtest wohl, ich hätte aufgegeben? Nein, Tatsuro, ich gebe niemals auf. Ich kriege dich und wenn ich dich erst einmal habe, werde ich der ganzen Welt zeigen, was für ein mieser Heuchler du doch bist. Lass dir die Sache mit deinem Bruder eine Lehre sein, Tatsuro. Ich habe die Macht dir alles zu nehmen, was dir lieb und teuer ist.“

 

Die Stimme verstummte, dann wurde auch die Melodie immer leiser, bis auch sie schließlich nicht mehr zu hören war. Tatsuros Knie schlugen hart auf dem Parkettboden auf, aber er registrierte den Schmerz gar nicht …

 

Und in der dröhnenden Stille kam es einem Donnerschlag gleich, als das erste Blut auf den Boden tropfte.

 

-_-_-_-

 

*) [U]https://www.youtube.com/watch?v=oUqcaAocZ7s[/U]

 

Wow. Dieses Kapitel hat mich regelrecht überfallen und mich so lange nicht in Ruhe gelassen, bis ich es geschrieben habe. Aber ich muss zugeben, dass mir das bei weitem lieber ist, als wenn sich alles so schrecklich zieht.

Von daher hoffe ich wie immer, dass euch das Kapitel gefallen wird und würde mich riesig über Feedback jeder Art freuen.

Klappe, die Vierte

Mit einem lauten Klappern fiel Satochis Gehstock zu Boden, aber Tatsuro war noch immer zu geschockt, um darauf großartig zu reagieren. Nur seinen Kopf drehte er mit apathischer Langsamkeit zur Seite, die trüben Augen erst auf die Krücke, dann auf seinen Bruder gerichtet. In Satochis aschfahlem Gesicht stach die purpurne Narbe wie ein Brandmal hervor und der Schmerz verzerrte seine Züge, als er sich mit ungelenken Bewegungen hinzuknien versuchte. Tatsuro beobachtete ihn stumm dabei, fühlte sich wie ein unbeteiligter Zuschauer, unfähig etwas zu tun oder ihm Hilfe anzubieten. Sein Herz schlug erstaunlich langsam in seiner Brust und dennoch schmerzte jedes angestrengte Pochen, als würde es jeden Augenblick einfach stillstehen wollen. In seinen Ohren lag ein hohes Summen, fast schon ein Pfeifen und es verstrichen mehrere Sekunden, in denen sich Satochis Lippen zwar bewegten, er den Sinn des Gesagten jedoch nicht verstehen konnte.
 

„Atme, Tatsue, verdammt!“ Satochis Griff tat weh, als er beide Hände wie Schraubstöcke um seine Oberarme legte und ihn zweimal heftig schüttelte. Zischend sog er die Luft zwischen den Zähnen ein, schnappte im nächsten Moment auch schon gierig nach Atem, als wäre er minutenlang unter Wasser gewesen. Wie ein ertrinkender keuchte er und würgte, als der faulige Gestank des verwesenden Tierkadavers wieder in seine Nase stieg und sich mit dem kupfernen Geschmack von Blut in seinem Mund mischte. „Dem Himmel sei Dank.“ Satos Griff wurde noch fester, trieb ihm beinahe Tränen in die Augen, bevor er sich in einer verzweifelt energischen Umarmung wiederfand. Die Hand seines Bruders legte sich an seinen Hinterkopf, presste ihn noch näher und erst jetzt spürte er das Zittern, welches nicht nur von seinem Körper besitzergriffen hatte.
 

„Sato, Scheiße“, wimmerte er unzusammenhängend, hörte beinahe wie das Monster, das sich Panik nannte, seine Krallen wetzte und nur darauf wartete sie in sein Hirn zu stoßen, um ihm auch noch den letzten Rest Verstand zu rauben. Tatsuro begriff nicht, was geschehen war, traute sich nicht genauer darüber nachzudenken, aber allein die Angst, die er in Satochis Gesicht erkannt hatte, wollte ihm erneut die Kehle zuschnüren.
 

„… Ich habe die Macht dir alles zu nehmen, was dir lieb und teuer ist …“, halten die Worte in seinem Kopf nach, wurden lauter und lauter und so spürte er kaum, wie er sich immer verzweifelter im Oberteil seines Bruders verkrallte. Er wusste nicht, ob er Halt suchte oder ob er Satochi festzuhalten versuchte, damit er ihm nicht weggenommen wurde. Denn genau dies hatte diese ekelhaft verzerrte Stimme angedeutet, sie würde ihm alles rauben, alles was ihm etwas bedeutete und  … oh Gott. Er stemmte sich gegen Satochis Umklammerung, bis sie sich soweit gelockert hatte, dass er ihm ins Gesicht blicken konnte.
 

„Der Unfall …“, stammelte er, seine Gedanken überschlugen sich regelrecht und machten es ihm nicht gerade leicht sich zu konzentrieren. „Er hat es auch auf dich abgesehen … du hast es doch selbst gehört. Der Unfall war kein Versehen, er wusste genau, was er tat und … und …“ Die weiteren Worte blieben ihm im Halse stecken, genau wie die Luft, die einfach nicht mehr durch die Enge seiner Kehle passen wollte. Seine Augen weiteten sich, als er japsend versuchte wieder ausreichend Sauerstoff in seine Lungen zu bekommen.
 

„Tatsuro!“ Satos energische Stimme durchbrach den roten Schleier der Panik, der sich erneut über seinen Geist gelegt hatte. „Sch, sch, atme Tatsue, einfach nur atmen.“ Beruhigend redete sein Bruder auf ihn ein, die Arme nun locker um seine Schultern gelegt und begann ihn im Nacken zu kraulen. Genau wie er es früher, als sie noch Kinder waren, immer getan hatte, wenn ihn Albträume geplagt hatten, weil er der festen Überzeugung gewesen war schon alt genug für die Horrorfilme im Abendprogramm zu sein. Egal ob sie sich tags zuvor gestritten hatten, selbst wenn sie sich die Nasen  blutig geschlagen hatten, immer, wirklich immer, wenn Tatsuro schreiend aus einem Albtraum hochgeschreckt war, war da Satochi gewesen. Sie hatten noch nie wirklich darüber gesprochen, viel zu peinlich war es ihm immer gewesen, dass er damals seinen gerade einmal um neun Tage älteren Stiefbruder gebraucht hatte, um die Monster seiner Träume zu vertreiben und dennoch war Tatsuro ihm bis heute unendlich dankbar. Satochi war immer für ihn dagewesen, war auch jetzt der Fels in einer Brandung, die ihn in den Abgrund reißen wollte.
 

Und wo war er gewesen, als sein Bruder ihn gebraucht hatte? Als die Ärzte über Stunden alles getan hatten, um sein Leben zu retten?

Er hatte ein weiteres, sinnloses Casting über sich ergehen lassen, das Handy ausgeschaltet, um wenigstens den Eindruck zu vermitteln, vollkommen engagiert zu sein.
 

„Es tut mir so leid“, wollte er sagen, aber kein Wort kam ihm über die Lippen.
 

„Kannst du aufstehen?“ Satochis Gesicht hatte in den letzten Minuten wieder etwas an Farbe gewonnen und das Entsetzen, welches Tatsuro noch immer ganz knapp unter der Oberfläche seiner Selbstbeherrschung lauern fühlte, war aus den Augen seines Bruders gewichen. Grimmige Entschlossenheit lag nun in Satos Blick und ein großer Teil Besorgnis, als er ihn nun kritisch musterte. „Du brauchst dringend einen Arzt und …“
 

„Satochi? Tatsuro?“ Es klopfte leise am Rahmen der Tür, die Satochi vorhin wohl nur angelehnt hatte, bevor sie langsam nach innen aufschwang. „Ich wollte nur fragen, ob …“ Miya stieß einen ekelerfüllten Laut aus und hielt sich den Handrücken unter die Nase, nachdem er den Kopf ins Arbeitszimmer gestreckt hatte. „Was stinkt hier denn so?“ Keine Sekunde später konnte Tatsuro mit ansehen, wie sich die oftmals so verschlafen wirkenden Augen erschrocken weiteten und Miyas generell blasses Gesicht eine grünliche Färbung annahm. „Scheiße, was …? Kopfschüttelnd eilte er die wenigen Schritte auf sie zu und obwohl sich Tatsuro sicher war, dass Miya die Tragweite dessen, was hier vorgefallen war, noch weniger verstand als er selbst, wirkte sein Boss beinahe geschäftsmäßig, als er den Gehstock aufhob und ihn seinem Bruder hinhielt. „Wir sollten die Polizei rufen und … seid ihr beide verletzt oder nur …?“
 

„Nur Tatsue, das ist sein Blut.“ Sato deutete auf sein vormals weißes Shirt, auf dem Tatsuro nun dunkelrote Flecken ausmachen konnte. Blut? Er war verletzt? Die Information sickerte quälend langsam in sein Bewusstsein, während er dabei zusah, wie Miya seinem Bruder wieder auf die Beine half. Aber kaum begriff er, was Sato soeben gesagt hatte, machte seine linke Wange mit wütendem Pochen auf sich aufmerksam.
 

„Was …?“, wisperte er und legte zitternde Fingerkuppen an sein Gesicht. Der Schmerz verstärkte sich und er spürte die Nässe, sah nun auch das Blut, welches auf den hellen Parkettboden getropft war. Mit der Zunge tastete er nach der Quelle des metallischen Geschmacks in seinem Mund und würgte trocken, als die Haut an einer kleinen Stelle sogar nachgab. Mühsam rappelte er sich hoch, schwankte leicht, aber da war wieder Sato, der seinen freien Arm nach ihm ausgestreckt hatte und ihn sicher auf den Beinen hielt. Tatsuro schluckte, was die Übelkeit nur noch verstärkte und ging einige, langsame Schritte auf die Tür zu. Er musste hier raus, sonst würde er tatsächlich noch den Verstand verlieren.
 

Aus dem Augenwinkel sah er etwas silbern aufblitzen, was ihn unweigerlich an den Moment  erinnerte, als er die Schachtel geöffnet hatte. Das Ding, von dem er dachte, dass es ihn nur knapp verfehlt hatte, lag nun vollkommen unschuldig am anderen Ende des Zimmers und trotz seines eben gefassten Vorhabens änderte er die Richtung und ging darauf zu.
 

„Ein Wurfstern“, murmelte Sato neben ihm und machte Anstalten sich nach dem Gegenstand zu bücken, aber Miyas Stimme hielt ihn zurück.
 

„Es ist besser, wenn wir hier nichts anfassen, solange die Polizei nicht alles dokumentiert hat. Der Notarzt ist auch schon unterwegs.“  Tatsuro blickte zur Tür, in der der andere wieder aufgetaucht war, ohne dass er überhaupt bemerkt hatte, dass Miya den Raum verlassen hatte. Seine Augen richteten sich wieder auf den Gegenstand und eine weitere Welle der Übelkeit packte ihn. Das war nicht nur irgendein Wurfstern. Das war einer der Wurfsterne, mit denen er am Set von WORLD OF DECEPTION so viele Stunden geübt hatte. Kamuis Wurfstern.
 

~*~
 

Körperlich und geistig am Ende seiner Aufnahmefähigkeit angelangt schlurfte Tatsuro über den hell erleuchteten Flur der Privatklinik, in die der Notarzt ihn vor über einer Stunde gebracht hatte. Er war zu erschüttert gewesen, um überzeugend protestieren zu können, aber trotz der Tatsache, dass man ihn unter anderen Umständen nie im Leben hätte überreden können in ein Krankenhaus zu fahren, war er jetzt doch froh alles hinter sich gebracht zu haben. Der Chirurg war optimistisch gewesen, dass die Wunde, trotz ihrer Tiefe, gut verheilen würde und die Narbe, die zwangsläufig zurückbleiben würde, später mit einer Lasertherapie behandelt werden konnte. Der ältere Herr hatte noch mehr gesagt, aber Tatsuro war zu sehr damit beschäftigt gewesen nicht panisch von der Liege aufzuspringen, während er nicht nur mit Spritzen, sondern auch mit Nadeln traktiert worden war. Er hasste Nadeln, auch wenn das Nähen an sich – nach all dem Betäubungsmittel – dann gar nicht mehr so schlimm gewesen war. Nur die beiden Stiche, die in seinem Mund gesetzt werden mussten, um die Wunde endgültig zu schließen, waren grauenhaft gewesen.
 

„Sie hatten wirklich unglaubliches Glück“, hatte der Chirurg zum Abschied gesagt und Tatsuro hatte ihm da nur zustimmen können. Hätte ihn der Wurfstern nur etwas höher getroffen, hätte er sein Augenlicht verlieren können, etwas tiefer und er wäre in seinem Arbeitszimmer jämmerlich ausgeblutet. Seine Hände begannen zu zittern und er ballte sie zu Fäusten, bevor er sie in die Taschen seiner Jeans stopfte.
 

Scheiße, wie war dieser verfluchte Dreckskerl an diesen – seinen – Wurfstern herangekommen? Oder war es womöglich nur eine täuschend echte Nachbildung? Ein perfides Detail, welches ihm vor Augen führen sollte, dass der Stalker weitaus mehr über ihn wusste und ihm näher war, als Tatsuro bislang angenommen hatte? Er hatte die Gefahr unterschätzt, das stand nun definitiv fest. Der Kerl hatte gewusst, wozu die Manipulationen an seinem Auto führen würden und in Kauf genommen, dass diese auch mit dem Tod hätten enden können. Genau wie ihn der Wurfstern heute hätte umbringen können, hätte er ihm die Halsschlagader durchschnitten.

Das waren keine bloßen Einschüchterungsversuche mehr - das waren sie nie gewesen.

Himmel, er war so dumm gewesen. Er hatte darauf bestanden, dass er keinen Polizeischutz benötigte, dass der Unfall lediglich eine Verkettung unglücklicher Umstände war und der Stalker sicherlich derart abgeschreckt vom Ergebnis seiner Tat, dass er ihn in Zukunft in Ruhe lassen würde. Und Satochi hatte mitgespielt, auch wenn er noch nicht wusste, ob sein Bruder dies ihm zu Liebe getan hatte oder ob er den Gedanken, dass mehr dahinter stecken könnte, einfach ebenso wenig hatte ertragen können wie Tatsuro selbst.
 

Er verlangsamte seine Schritte, als er sich dem Wartebereich näherte. Satochi und Miya saßen auf überaus geschmackvollen, aber ziemlich unbequem wirkenden Kunststoffstühlen und unterhielten sich leise. Unter Satos Augen lagen dunkle Schatten und die tiefen Sorgenfalten um seinen Mund ließen ihn weitaus älter aussehen als seine sechsundzwanzig Jahre. Selbst Miya, sonst immer stoisch und kontrolliert, wirkte erschüttert und deutliche Besorgnis stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er nun eine Hand auf Satos Schulter legte.
 

„Ich bin froh, dass du da bist“, murmelte sein Bruder so leise, dass er ihn auf die Entfernung hin kaum verstehen konnte. So unauffällig wie möglich ging Tatsuro näher an die beiden heran, nicht weil er lauschen wollte, sondern …
 

Ach, verdammt, wem machte er hier etwas vor? Natürlich wollte er lauschen, weil es seinem Bruder schlecht ging und weil er wusste, dass Sato ihn immer beschützen würde, selbst wenn das hieß, seine eigenen Probleme hintenan zustellen, nur um ihn damit nicht zu belasten. Wie um seine Einschätzung zu bestätigen sackten Satos Schultern herab und machten nur noch deutlicher, wie schlecht es ihm ging.
 

„Ich hätte nicht gewusst, was ich tun soll, wärest du nicht da gewesen. Tatsu-“ Satos Stimme brach und Tatsuro presste die Lippen aufeinander, als das schlechte Gewissen in ihm zu einem regelrechten Orkan anschwoll. Es war seine Schuld, dass es Sato schlecht ging, dass er überhaupt erst verletzt worden war und ihn die Spuren des Unfalls für den Rest seines Lebens zeichnen würden. Seine geballten Fäuste, die er noch immer in den Hosentaschen vergraben hatte, begannen wieder zu zittern, als Wut und grenzenlose Ohnmacht in seinem inneren um die Vorherrschaft kämpften. Warum tat man ihm das an? Warum tat man ihnen das an? Er verstand es einfach nicht.
 

„Tatsuro verletzt zu sehen, Himmel Miya, ich … Das hat mich im ersten Moment alles so an den Unfall erinnert. Sein Gesicht …“ Satos Finger berührten die Narbe an seiner Wange, bevor er Daumen und Zeigefinger gegen seine geschlossenen Lider presste. „Ich hab so verfluchte Angst um ihn.“ Ein Zittern ging durch den Körper seines Bruders, bevor er tief durchatmete und mit deutlicher Anstrengung versuchte sich wieder zu beruhigen. „Aber was ich eigentlich sagen wollte - danke, danke für alles.“ Satochis Lächeln war zittrig und dennoch lag eine gewisse Wärme darin, als er den Kopf drehte, um den kleineren Mann ansehen zu können. Tatsuro schluckte, als sich Satos Hand über Miyas schob und die beiden für einen Augenblick wirkten, als gäbe es niemanden außer sie, als wären sie allein in ihrer eigenen, kleinen Welt.
 

„Schon gut. Ich bin so lange für dich da, wie du mich brauchst.“ Miyas Stimme war ungewöhnlich sanft, trug einen Unterton in sich, den Tatsuro so noch nie gehört hatte und er wusste nicht, ob er seinem Boss dankbar sein oder ihn zum Teufel wünschen sollte. Immerhin war das sein Bruder, dem er hier schöne Augen machte, zum Kuckuck.
 

Er musste unbewusst ein Geräusch gemacht haben, denn augenblicklich lag Satochis volle Aufmerksamkeit auf ihm und wäre es seinem Bruder körperlich möglich gewesen, wäre er wohl aufgesprungen und auf ihn zugeeilt. So ließ er sich von Miya auf die Beine helfen – ein deutliches Zeichen dafür, wie erschöpft er wirklich war – und humpelte, begleitet vom altbekannten Klacken seines Gehstocks, auf ihn zu. Tatsuro kam ihm entgegen und zog ihn ohne etwas zu sagen in eine feste Umarmung, in die er all das legte, was er gerade einfach nicht sagen konnte. Aber Satochi würde ihn auch so verstehen, das tat er immer, schließlich war er sein Bruder.
 

„Alles gut soweit?“ Sato musterte ihn kritisch, bis seine Augen an dem großflächigen Pflaster hängen blieben, welches sein halbes Gesicht verdeckte. Morgen schon würde er dieses durch ein weitaus kleineres ersetzen dürfen, aber heute brauchte die Wunde noch den Druck, den das Pflaster darauf ausübte.  
 

„Ja, die Medikamente wirken hervorragend.“ Tatsuro grinste schief oder zumindest versuchte er es, aber seine Gesichtsmuskulatur wollte ihm nicht so ganz gehorchen. „Hey, jetzt können wir als Zwillinge durchgehen“, versuchte er zu scherzen und Satochi tat ihm den Gefallen leise zu lachen, auch wenn er in seinem Blick nur zu deutlich erkennen konnte, dass ihm eigentlich nicht der Sinn nach dummen Witzen stand.
 

„Eher als Spiegelbilder. Fragt sich nur, wer es schlimmer getroffen hat.“
 

„Ich natürlich. Immerhin hast du mein Gesicht als Spiegelbild, gibt es etwas Schöneres?“ Er lachte leise, als ihn Satochis Faust am Oberarm traf und legte seinen Arm vertraut um die Schultern des kleineren Mannes. „Lass uns gehen, bevor mir von dem Krankenhausgeruch doch noch schlecht wird.“ Für einen Moment trafen sich ihre Blicke und so sehr er tatsächlich von hier weg wollte, so sehr scheute er wieder Fuß in seine Wohnung zu setzen. Zumindest nicht jetzt, da die Erinnerungen an das Geschehene noch so frisch waren und die Spuren noch nicht beseitigt. Satochi schien es nicht anders zu gehen, denn sein Bruder zögerte und er wollte gerade nachfragen, ob sie sich für die Nacht nicht lieber ein Hotelzimmer nehmen sollten, da richtete Miya, der sich die letzten Minuten über diskret im Hintergrund gehalten hatte, das Wort an sie.
 

„Ihr könnt auch bei mir übernachten, wenn ihr das wollt. Mein Haus ist zwar klein, aber ich kann euch ein Gästezimmer anbieten.“
 

„Gern.“ Ohne Zögern nickte Tatsuro seinem Boss dankbar zu. Nicht, weil er wirklich bei Miya übernachten wollte, sondern, weil er hatte spüren können, wie im selben Moment, als der Ältere seine Hilfe angeboten hatte, ein Teil der Anspannung aus Satochis Körper gewichen war. „Danke, Miya.“
 

~*~
 

Seufzend ließ sich Tatsuro auf die Kante des doch recht großzügigen Bettes in Miyas Gästezimmer sinken und vergrub sein Gesicht für einige Momente in beiden Händen. Er war seinem Boss wirklich dankbar, dass Sato und er die Nacht über hier bleiben konnten und dass der Ältere in den letzten Stunden auch wirklich alles getan hatte, um sie vom Grübeln abzuhalten. Besonders, dass sich Satochi auf den spontanen Videoabend mit Knabbereien und Bier hatte einlassen können, erleichterte ihn ungemein, auch wenn er selbst davon nicht viel gehabt hatte. Den Alkohol hatte er sich laut Anweisung des Arztes lieber verkniffen und auch das Essen gestaltete sich mit halb betäubtem Mund derart schwierig, dass er es sehr bald aufgegeben hatte.
 

Nachdem ihm sein Körper dann auch noch überdeutlich gezeigt hatte, dass Erholung dringend nötig war, hatte er sich von den anderen beiden verabschiedet, um ins Bett zu gehen. Aber sobald er die Tür hinter sich geschlossen und ihn die Stille im Raum umfangen hatte, hatte sich sein Gedankenkarussell erneut zu drehen begonnen. Obwohl es nun also bereits auf Mitternacht zuging, war an einschlafen nicht zu denken. So hatte er sein Smartphone zur Hand genommen, ein paar E-Mails gecheckt und dann einer spontanen Eingebung folgend den gefalteten Kassenbon aus seinem Portmonee gezogen.
 

Wieder seufzte er und nahm die Hände vom Gesicht, um erneut freie Sicht auf diesen kleinen, vollkommen unschuldigen Zettel zu haben.

Er hatte ihn bereits so oft gelesen, dass er selbst die darauf geschriebene Telefonnummer auswendig konnte, dennoch las er erneut die wenigen Zeichen, von der die Zahlenfolge begleitet wurde.
 

Falls du es dir doch noch anders überlegst.

Ich hab auch Katzenvideos, die ich dir zur Aufmunterung schicken könnte.

Y.
 

Tatsuro bezweifelte zwar stark, dass ihn Videos von Katzen im Moment aufmuntern würden – nein, vermutlich würden sie genau das Gegenteil bewirken – aber dennoch wurde der Wunsch in ihm, wenn schon nicht Yukkes Stimme zu hören, dann sich doch wenigstens mit ihm unterhalten zu können, immer präsenter. Was genau er ihm sagen wollte, wusste er selbst noch nicht, aber das war gerade auch eher unwichtig, immerhin würde Yukke sowieso nicht auf eine Nachricht von ihm reagieren, weil er vermutlich noch immer viel zu beschäftigt mit seinem Freund war.
 

»Bist du noch wach?«, tippte er, bevor er noch länger darüber nachdenken konnte und sendete die Nachricht ab. Einen Augenblick wartete er noch, den Blick starr auf das Display des Handys gerichtet, bevor er schnaubend den Kopf schüttelte und das Gerät auf den Nachttisch legte.

Gerade, als er sich hingelegt hatte und die kleine Lampe ausschalten wollte, vibrierte es neben seiner Hand. Einen Herzschlag lang wurde er ganz starr, dann griff er fast schon hektisch nach dem Telefon und rief die Nachricht auf.
 

»Ja. Wer will das wissen?«
 

Tatsuro richtete sich im Bett wieder auf, stopfte sich die Kissen in den Rücken und zog die Beine an. Kurz überlegte er, dann begann er wieder zu tippen.
 

»Hast du in den letzten Tagen so vielen Leuten deine Handynummer gegeben, dass du jetzt nicht einmal weißt, wer ich bin?«

»Ich bin gekränkt.«
 

»Tatsuro?«
 

»Na, das ging jetzt aber doch schneller als gedacht.«
 

»Ich kenne niemanden, der Fragen so oft mit Gegenfragen beantwortet, wie du. Von daher …«

»Und außerdem gebe ich meine Nummer nicht leichtfertig her.«
 

»Ach?«
 

»Ja.«
 

»Dann kann ich mir also etwas darauf einbilden, dass ich deine Nummer bekommen habe?«
 

»Ja.«

»Ich dachte schon, du hättest sie vielleicht nicht gefunden, weil du heute … gestern gar nichts gesagt hast.«
 

»Hätte ich etwas sagen sollen?«
 

»Ja.«
 

»Yukke, ich hab deine Nummer in der Tasche meines Kapuzenpullis gefunden, darum schreibe ich dir jetzt. Besser?«
 

»Besser.«

»Heißt das, du gehst doch mal nach dem Dreh mit mir einen trinken?«
 

Tatsuro lachte leise in sich hinein, als er die Nachricht las.
 

»Warum fragst du mich das immer wieder?«
 

»Ich hab zuerst gefragt … also?«
 

»Nein.«
 

»Warum nicht?«
 

»Weil du ein Kollege bist.«
 

»Das ist kein Grund.«
 

»Doch, für mich schon.«
 

»Erklär’s mir.«
 

»Was soll ich dir erklären?«
 

»Warum du mit mir keinen trinken gehen willst. Weil ich dein Kollege bin zählt nicht.«
 

»Warum willst du das wissen?«
 

»Weil … ich es verstehen will?«
 

»Mh …«

»Hat Seek denn nichts dagegen, wenn du so lange mit mir schreibst?«
 

»Seek? Wie kommst du darauf, dass er … oh.«

»Seek ist mein Freund, aber nicht mein fester Freund.«

»Dachtest du etwa, wir wären zusammen?«
 

Auf Tatsuros Lippen breitete sich ein strahlendes Lächeln aus, nachdem er die Nachricht gelesen hatte, und ein wahrer Funkenflug schien sein Inneres zu wärmen. Er wusste, was diese Reaktion zu bedeuten hatte, aber er ignorierte diese Erkenntnis genauso geflissentlich, wie seinen beschleunigten Herzschlag. Er wollte nicht darüber nachdenken, weil er sich seit Stunden endlich wieder einigermaßen wohlfühlte. Er wollte sich weiter ablenken, weiter mit Yukke schreiben und wenn das hieß, diesem Gefühl in sich freien Lauf zu lassen, dann sollte das eben so sein.
 

»Du willst also wissen, warum ich mit Kollegen keinen trinken gehe?«
 

»Du hast meine Frage nicht beantwortet.«
 

»Ich weiß, also …?«
 

»Ja.«
 

So knapp wie möglich erzählte er von Nobu und all dem, was seinetwegen geschehen war. Er wusste nicht, warum er sich Yukke nun derart öffnete, warum er ihm Dinge erzählte, die nicht einmal Satochi wusste, aber auf eine verquere Art und Weise tat es gut, auch wenn es die Erinnerungen an Nobus Verrat erneut an die Oberfläche seines Bewusstseins spülte.
 

»Verstehst du? Er war auch nur ein Kollege … am Anfang zumindest ...«
 

»Himmel, das … Du überraschst mich wirklich immer wieder, Tatsuro. Ich hätte nicht  gedacht, dass so eine unschöne Geschichte dahintersteckt.«
 

»Was hattest du denn gedacht?«
 

»Mh, dass du exzentrisch bist und mich ärgern willst.«
 

»Das auch.«
 

»Idiot.«

»Nein, ernsthaft. Tut mir leid, ehrlich.«
 

»Ist doch nicht deine Schuld.«
 

»Nein, natürlich nicht, aber es tut mir trotzdem leid, dass du so etwas durchmachen musstest.«
 

»Danke.«
 

»Ich würde so etwas nie tun.«

»Ich hoffe, du weißt das.«
 

»Ja, vermutlich würdest du das wirklich nicht.«
 

»Heißt das, ich darf dich weiterhin fragen, ob du mit mir ausgehst?«
 

»Tu, was du nicht lassen kannst.«
 

Tatsuro lächelte sein Smartphone an und war nur froh, dass Satochi sich nicht ausgerechnet diesen Moment ausgesucht hatte, um auch ins Bett gehen zu wollen. Der hätte nur wieder die falschen – richtigen – Schlüsse gezogen.
 

»Uh, ich nehm dich beim Wort Tatsuro, das war ein Fehler..«
 

»Nichts anderes hab ich erwartet.«

»Gute Nacht, Yukke.«
 

»Och, schade.«
 

»Pass auf, sonst bilde ich mir noch ein, dass du dich gern mit mir unterhältst.«
 

»Schreckliche Vorstellung, oder?«
 

»Grauenhaft.«

»Schlaf gut, Yukke«
 

»Du auch, Tatsuro. Gute Nacht.«
 

Mit sichtlicher Überwindung schaltete er sein Handy ab und legte es zurück auf das Nachtkästchen. Sein Herz wollte sich noch immer nicht beruhigen und flatterte selbst dann noch aufgeregt in seiner Brust, nachdem er bereits das Licht gelöscht und sich unter die Bettdecke gekuschelt hatte. Die Bettwäsche roch anders, als bei ihm zu Hause, die Geräusche unterschieden sich von denen in seiner Wohnung und aus dem Wohnzimmer konnte er gelegentlich Miyas oder Satochis Stimme hören. Aber trotz der unbekannten Umgebung war er binnen Sekunden in einen tiefen Schlaf abgedriftet, der erholsamer und ruhiger war, als die Schrecken des Tages hätten vermuten lassen.
 

~*~
 

„Yukke weiß Bescheid, dass der Dreh heute nicht ganz nach Skript verlaufen wird.“ Ohne einleitende Worte ging Miya auf einen der freien Stühle zu und setzte sich neben ihn, woraufhin Tatsuro nur träge die Lider hob. Er war Yumiko unendlich dankbar, dass sie ihn in Ruhe gelassen hatte, während sie sich um seine Haare und das Make-up gekümmert hatte, sodass er sich vor dem Dreh wenigstens noch etwas ausruhen konnte.
 

Der gestrige Tag hatte einem Spießrutenlauf geglichen und immer, wenn in Tatsuro die Hoffnung aufgekeimt war, dass er endlich Ruhe finden würde, um seine Gedanken sortieren zu können, hatte wieder irgendwer etwas von ihm gewollt.

Die Polizeibeamten waren in seiner Wohnung ständig ein und ausgegangen, hatten Spuren gesichert, Nachbarn befragt und wollten immer wieder aufs Neue seine Version des Tathergangs erfahren. Sato war es da kaum besser ergangen, nur hatte dieser sich nicht auch noch mit einem aufgewühlten Manager herumschlagen müssen, der ihm am liebsten einen Bodyguard auf den Bauch gebunden hätte.
 

Auch jetzt stand besagter Manager schräg hinter ihm und ließ ihn nicht aus den Augen, ganz so, als würde er sich todesmutig jedem in den Weg stellen wollen, der Tatsuro auch nur schief ansah. Es ehrte Gara wirklich, dass er sich so um ihn sorgte, aber weder wollte er Personenschutz, noch ein halbes Hemd, wie der Ältere eines war, als seinen persönlichen Wachhund.

Er murrte leise und verzog das Gesicht, als Yumiko vorsichtig damit begann das Pflaster von seiner Wange zu lösen.
 

„Tschuldige“, murmelte sie, aber Tatsuro lächelte nur abtuend, bevor seine rechte Augenbraue ein Stück weit nach oben wanderte, als er schlussendlich begriff, was ihm Miya soeben unterbreitet hatte.
 

„Was genau hast du Yukke gesagt?“, erkundigte er sich misstrauisch, immerhin hatte er keine Lust darauf, dass in wenigen Stunden die gesamte BLP darüber informiert war, dass ihm ein irrer Stalker nach dem Leben trachtete. Auch, wenn er nicht glaubte, dass Yukke mit dieser Information hausieren gehen würde, aber er wusste aus Erfahrung nur zu gut, wie schnell sich brisante Neuigkeiten verbreiten konnten, wenn zu viele Menschen Bescheid wussten.  
 

„Nichts weiter. Nur, dass ich mehr Realismus in den Film bringen will und Akihiko daher nicht immer wie aus dem Ei gepellt aussehen soll.“ Miya lächelte Verschmitzt, als er eine von Tatsuros vielen Beschwerden über das unrealistische Drehbuch zitierte. Tatsuros rechter Mundwinkel hob sich – da steckte doch tatsächlich ein kleiner Rebell in der Fassade des professionellen Produktionsleiters, wer hätte das gedacht. „Wirst du singen können?“ Der Schalk war aus Miyas Augen gewichen und hatte Platz für eine Mischung aus Sorge und Zweifel gemacht, während er Yumikos Fingern mit Blicken folgte, als sie damit begann die klebrigen Überreste des Pflasters von seiner Wange zu entfernen.
 

Tatsuro antwortete nicht sofort, drehte stattdessen den Kopf zur Seite, um seinem Spiegelbild kritisch ins Gesicht blicken zu können. Die Wunde war dunkelrot, wirkte an den Stellen, an denen sich eine Kruste gebildet hatte, fast schwarz und die ebenso schwarzen Stiche waren nur zu deutlich zu sehen.

Dank Yumikos Schminkkünsten jedoch sah auch sein linkes Auge geschwollen aus und die Haut rundherum war bläulich-violett verfärbt. Der Bluterguss würde sich später noch weiter an der Nase entlang nach unten ziehen, um gemeinsam mit der Schnittverletzung und einer aufgeplatzten Lippe dafür zu sorgen, dass Akihiko aussah, als wäre er verprügelt worden.

Kein besonders schöner Anblick, wie er fand, aber passend zu dem, was Miya sich für die heutige Szene überlegt hatte.
 

„Ich denke schon. Sprechen geht ja auch ganz gut und zur Not werden wir uns damit begnügen müssen, den Song später über die Szene zu legen.“ Ein herausforderndes Funkeln hatte sich in Tatsuros Blick geschlichen und er konnte regelrecht mit ansehen, wie sich Miya innerlich dagegen sträubte, den Dreh derart dem Zufall zu überlassen. Für einen langen Moment trafen sich ihre Blicke über den Spiegel – Tatsuros fast schon trotzig, Miyas eher abschätzig – bis sein Boss schließlich zähneknirschend zustimmte.
 

„In Ordnung.“ Miya erhob sich und nickte ihnen nochmal zu, doch bevor er den Raum verlassen konnte, richtete Tatsuro erneut das Wort an ihn.
 

„Bekomme ich das geänderte Skript nicht?“ Auffordernd streckte er eine Hand nach den Blättern aus, die der Produktionsleiter noch immer in Händen hielt und die er für den Text der geänderten Szene  gehalten hatte.
 

„Behauptest du nicht immer, dass du gut im Improvisieren bist?“ Miya hatte sich nicht nochmal zu ihnen umgedreht, aber Tatsuro hatte das Gefühl eine deutliche Herausforderung aus den Worten des kleineren Mannes heraushören zu können.
 

„Ich bin nicht gut im Improvisieren, ich bin der Beste!“
 

-_-_-_-_-

An dieser Stelle mal ein dickes, fettes DANKESCHÖN an all meine lieben Review-Schreiber.

Ich freue mich jedes Mal tierisch, wenn ich Feedback von euch bekomme und merke, dass euch die Geschichte gefällt und ihr sie auch weiterverfolgen wollt. <3
 

An alle anderen ... wenn euch die Story gefällt, würde ich mich natürlich auch hier freuen, wenn ihr mir einen Review oder einen Favoriten dalassen würdet. Das hilft einfach immer so enorm weiter und motiviert total. ;D

Klappe, die Fünfte

Bereits als Tatsuro den Titel der Produktion, Ame no Orchestra - das Regenorchester, zum ersten Mal gelesen hatte, hätte er doch eigentlich stutzig werden müssen, oder? Aber nein, soweit hatte er natürlich nicht gedacht und das hatte er jetzt davon. Er schniefte und hätte sich am liebsten den künstlichen Regen aus dem Gesicht gewischt, aber es gab da so eine gewisse Make-up-Artistin, mit der er es sich heute wirklich nicht verscherzen wollte. Vermutlich würde er bereits von einer Lungenentzündung dahingerafft werden, noch bevor der Film zu Ende gedreht war oder sein Stalker ihn um die Ecke bringen konnte.

 

Fuck, nun waren seine Gedanken doch wieder zu diesem Arschloch abgeglitten, obwohl er sich doch auf seine Rolle konzentrieren sollte. Für einen Moment ließ er die Schultern hängen und kniff die Augen zusammen. Er musste einen kühlen Kopf bewahren und sich endlich konzentrieren, sonst würde das heute mit dem Dreh wirklich nichts mehr werden. Einen Moment gönnte er es sich noch still dazustehen, nur seine Brust hob und senkte sich im Rhythmus seiner tiefen Atemzüge, bevor er die Augen wieder öffnete. Entschlossen richtete er sich zu seiner vollen Größe auf, ging auf die Markierung am Set zu und nickte in Richtung der Kameras und Miya, als er soweit war.

 

„Und Start!“, hörte er Miyas Ausruf, während er schon den kalten Blick der Kamera für eine erste Nahaufnahme seines Gesichts suchte, das halb in den Schatten einer schwarzen Kapuze verborgen lag.

 

„Du solltest nach Hause gehen, Tetochi“, sprach er mit Akihikos sanfter Stimme und beugte sich zu der Glückskatze herab. Für einen Sekundenbruchteil wurde das Bild vor seinen Augen durch den grauenhaft entstellten Leib des Kätzchens überlagert und seine Hand zitterte, als er über Tetochis durchnässtes Fell streichelte. Doch so schnell dieser Schreckensmoment gekommen war, so schnell hatte er sich glücklicherweise wieder unter Kontrolle, auch wenn leichte Übelkeit in ihm hochgestiegen war. Tetochi betrachtete ihn, ganz so, als hätte sie bemerkt, dass mit ihm etwas nicht stimmte, dann jedoch maunzte sie nur leise und rieb ihre Wange vertrauensvoll an seiner Hand. „Ich hab dich auch lieb Süße, aber jetzt geh heim, okay?“ Erneut zögerte die Kleine, dann schüttelte sie sich und ging ohne Eile davon. Akihiko sah ihr noch einige Momente hinterher, bevor er sich erschöpft seufzend wieder aufrichtete. „Was tue ich hier eigentlich?“ Sein Blick fiel auf die wenigen Münzen, die in seinem durchweichten Körbchen lagen, dann auf die vereinzelten Passanten, die bei diesem Mistwetter an ihm vorbeieilten.

 

Tatsuros angeschlagene Stimmung und dieser unsägliche Kunstregen machten es ihm leicht sich in seine Rolle einzufinden. Die wenigen Worte, die er bislang gesprochen hatte, waren ihm ganz natürlich über die Lippen gekommen und wenn er die Tatsache, dass Miya die Szene nicht schon abgebrochen hatte, richtig deutete, war seine Improvisation bislang noch ganz in seinem Sinne.

 

„Hilft ja alles nichts“, Akehiko schniefte, wischte sich noch einmal über die Nase und schloss die Augen, um sich besser auf sein Lied konzentrieren zu können. Erst noch zögerlich, dann immer lauter kämpfte sich seine  Stimme durch den Lärm der Stadt, bis selbst das Prasseln des Regens und das entfernte Donnergrollen in den Hintergrund rückten.

 
 

Into a purely white notebook I start to write down my memories of you.

Outside the window the rain falls like on that day, non-stop since yesterday.

It falls on forever, knocking at the window.

 

Drip, drop, one, two.

Outside the gently shaking window.

The weather forecast predicted rain, did you take an umbrella as you went out?

 

Tatsuro spürte, wie die Melancholie des Liedes auf ihn überging, wie er vergaß, dass er an einem Filmset stand und eine Rolle spielte. Er hob den Blick gen Himmel, sah nicht die stählerne Decke der Lagerhalle, wurde nicht von den grellen Scheinwerfern geblendet. Stattdessen erstreckte sich ein grauer, wolkenverhangener Himmel weit über ihm und der kalte Regen benetzte sein Gesicht. Seine Stimme brach, als die Erinnerungen erneut auf ihn einstürmten, ihn beinahe unter sich begraben wollten. Aber nein, nicht jetzt, er würde ihnen keinen Platz einräumen. Fest ballten sich seine Hände zu Fäusten, als er all seine Angst, all die Wut und Verzweiflung der letzten Tage in die nächsten Zeilen seines Liedes legte.

 
 

"Goodbye today’s sunshine", I repeat several times.

If I looked up to the sky, I might see a grain of light.

Ordinary days - orchestra of echoes of the tunes rain plays.

 

Eine Frau in einem adretten schwarzen Kostüm eilte an Akihiko vorbei. Für einen Moment hörte er das veränderte Geräusch des Regens, der auf ihren durchsichtigen Plastikschirm prasselte, als sie immer langsamer wurde. Schließlich blieb sie stehen, versuchte seine Aufmerksamkeit auf sich zu lenken.  Akihiko jedoch sang unbeirrt weiter, ganz versunken in seiner eigenen Welt, selbst als einige Münzen den Weg in sein Körbchen fanden. Schlussendlich lief die Frau weiter, ohne noch einen zweiten Blick an ihn zu verschwenden.

 

I wasn‘t surprised at all to find you in the middle of town where the sinners come and go.

Cherry tree leaves, wet from the early summer rain, and I, waiting for you to come.

A cat, all wet and shriveling, joining you.

 

Ein kleiner Junge stemmte die Beine in den Boden und zwang seinen Vater, der ihn fest an der Hand hielt, so zum Stehenbleiben. Große Augen unter einem bunten Kinderregenschirm richteten sich auf ihn, bevor sich die Stirn des Kleinen fragend in Falten legte.

 

„Papa, wovon singt der Mann da?“

 

„Wir haben keine Zeit für sowas, Mako-chan.“

 

„Aber Papa …“

 

Der kleine Junge wurde weitergezogen, schaute sich jedoch immer wieder nach Akihiko um, bis sein Vater und er um eine Häuserecke verschwanden.

 
 

They look like Hydrangeas.

The umbrellas of the street houses which bloom vividly.

Your brightly red vinyl umbrella that dyed your profile red.

 

Auf der gegenüberliegenden Straßenseite durchbrach ein roter Umriss das triste Grau der Stadt, wirkte wie eine Blume, die sich zum Regen hin geöffnet hatte und wie magisch angezogen richtete sich Akihikos Blick darauf. Junji stand dort, das Gesicht durch seinen Regenschirm in rötliches Licht getaucht. Ihre Augen trafen sich und plötzlich war es nicht mehr Akihiko der sang, sondern Tatsuro, dem beinahe wieder die Stimme versagte, als eine unbekannte Sehnsucht in ihm aufwallen wollte. Er erinnerte sich an die Nachrichten, die sie sich in den frühen Morgenstunden des gestrigen Tages geschrieben hatten und an diese unerklärliche innere Ruhe, die er dabei verspürt hatte.

 
 

The birds in the shade of the trees are tired of waiting for the sky.

But...I don‘t hate this rain.

Folding one umbrella, I invite you to stand underneath my little umbrella.

 

Er wollte Yukke erzählen, was geschehen war, wollte im warmen Braun seiner Augen versinken und sich endlich wieder sicher und geborgen fühlen. Seine Hand hob sich, ganz so, als wollte er Yukke …

 

Nein, Junji, er musste sich daran erinnern, dass es Junji war, den Akihiko mit dieser Geste bat zu ihm zu kommen. Für einen Moment reagierte der andere Mann nicht, dann verlor er ihn aus den Augen. Wieder blickte er in den Himmel, die Sehnsucht in seiner Stimme nun nicht mehr zu überhören und er wusste nicht, ob es nur der Regen war, der an seinen Wangen herabrann. 

Plötzlich wich das triste Grau einem wärmenden Rot, der Regen stoppte und als er seinen Blick senkte, sah er sich Junjis Augen gegenüber. Akihiko sang weiter, auch wenn seine Stimme nun deutlich leiser war, nur noch zu hören, wenn man, wie der andere nun, direkt vor ihm stand.

 

[

I]The cold air prevents us from standing apart, because of the distance our fingertips touch lightly.

You wear your hair tied up today, yesterday, you had looked more adult.

Dye my ordinary days.
 

Trotz seines Schirms waren Junjis Haare feucht und hingen ihm wirr ins Gesicht, was ihn deutlich jünger, weniger professionell aussehen ließ als die letzten Male, an denen Akihiko ihn, meist nur aus der Ferne, gesehen hatte. Erstaunlich warme Fingerspitzen streiften seine Eiskalten, so nahe standen sie sich gegenüber.

 

„Du solltest versuchen mal etwas anderes zu singen. Vielleicht regnet es dann nicht immer, wenn wir uns begegnen.“ Junjis Augenwinkel zeigten feine Fältchen, als er ihn anlächelte und Akihiko hielt die letzte Note noch eine Sekunde länger, bevor er verstummte, als sich seine Lippen zu einem zittrigen Lächeln verzogen.

 

„Ich mag den Regen“, murmelte er, noch immer gefangen in Junjis Blick und bemerkte so nicht, dass sein Gegenüber die Hand gehoben hatte, um ihm die Kapuze vom Kopf zu schieben. Akihiko wandte sein Gesicht ab, fühlte sich schutzlos, jetzt da er der einzigen Barriere beraubt war, die ihn vor Junjis Blicken geschützt hatte.

 

„Was ist mit dir?“ Junjis warme Finger brannten regelrecht, als er sie an seine rechte Wange legte. „Sieh mich an, bitte.“ Akihiko zögerte, seine Zungenspitze blitzte zwischen seinen Lippen auf, als er sich nervös darüber leckte.

 

„Du solltest nicht so nahe bei mir stehen, die Leute …“, versuchte er es mit einer Ablenkung, auch wenn diese vollkommen sinnlos war, hatte das Unwetter nun doch auch noch die letzten Passanten in das trockene Innere der Büros und Geschäfte um sie herum getrieben.

 

„Sieh mich an“, wiederholte Junji, nun mit mehr Nachdruck in der Stimme und ohne auf seine halbherzige Bitte eingegangen zu sein. Sanft umfasste der Ältere sein Kinn, um es zu sich zu drehen und als sein Blick auf das fiel, was Akihiko vor ihm hatte verbergen wollen, atmete er erschrocken ein. „Was ist passiert? Akihiko, wer war das?“ Energisch machte er sich los, trat sogar einige Schritte zurück, bis es wieder der Regen war, der ihn umfing.

 

„Nichts ist passiert. Kümmere dich nicht um Dinge, die dich nichts angehen.“ Er bückte sich nach seinem Körbchen, verstaute die wenigen Münzen in seiner Hosentasche und machte Anstalten sich an Junji vorbeizuschieben.

 

„Akihiko, bitte.“

 

„Nein.“ Noch einmal blickte er in das besorgte Gesicht seines Gegenübers, bevor er sich mit eiligen Schritten auf den Nachhauseweg machen wollte.

 

„Bleib hier.“ Junji lief ihm hinterher, umfasste sanft sein Handgelenk und ohne, dass er sich bewusst dafür entschied, blieb er stehen. „Du bist vollkommen durchnässt. Komm mit zu mir, wärm dich auf und iss was, du siehst echt schlimm aus.“ Zögerlich drehte sich Akihiko herum und schaute seinem Gegenüber forschend, vielleicht auch etwas misstrauisch, in die Augen.

 

„Warum tust du das? Warum bist du nett zu mir, wir kennen uns doch kaum.“

 

„Ich …“ Junji trat näher an ihn heran und legte erneut erst seine Finger, dann, als sich Akihiko der zarten Berührung entgegenlehnte, die Hand an seine Wange. „Ich weiß es nicht … aber es fühlt sich richtig an.“ Junji biss sich auf die Unterlippe und dieser Anblick tat Dinge mit ihm, über die Akihiko, nein, Tatsuro gar nicht so genau nachdenken wollte. „Vielleicht bin ich aber auch nur einfach ein netter Mensch.“ Das jungenhafte Lächeln des kleineren Mannes war ungemein ansteckend und Akihiko konnte nicht anders als leise zu lachen, obwohl sich eine leichte Röte auf seinem Gesicht ausbreitete.

 

„Dann will ich das Angebot des netten Menschen mal nicht ausschlagen, mh?“ Sie waren sich in den letzten Sekunden erstaunlich nahe gekommen und beinahe geschockt über diesen Umstand trat er wieder ein Stück zurück, brachte dringend nötigen Abstand zwischen sie. „Außerdem hört sich etwas zu Essen wirklich gut an“, murmelte er und presste beschämt eine Hand auf seinen Magen, der natürlich genau in diesem Moment dank der Tontechnik ein lautes Knurren von sich geben würde.

 

„Na, dann komm mit.“ Junji lächelte ihn an und während sie nebeneinander unter dem kleinen roten Schirm die regennasse Straße herabgingen, berührten sich ihre Fingerspitzen bei jedem Schritt.

 

„CUT!“ Miyas Ausruf beendete die Szene und sogleich hörte dieser nervtötende Kunstregen auf. „Ich denke, das können wir so lassen. Tatsuro, zieh dich um. Ihr anderen wisst, was ihr zu tun habt. Hopp, hopp, ich will die nächste Szene heute auch noch in den Kasten bekommen.“ Tatsuro rollte mit den Augen und rieb sich über die Nase.

 

„Bah, ich bekomme hier echt noch eine Erkältung, wenn das mit dem Mistregen so weitergeht.“ Lautstark zog er die Nase hoch, mehrmals, was allerdings irgendwie nicht helfen wollte.

 

„Hier.“ Yukke hielt ihm ein Taschentuch entgegen und für einige Sekunden konnte er das weiße Papier nur verdutzt anstarren.

 

„Du hast Taschentücher dabei … beim Dreh …?“

 

„Ehm, ja?“ Tatsuro schüttelte schmunzelnd den Kopf, nahm das Taschentuch dann aber dankend entgegen.

 

„Warum wundere ich mich eigentlich noch?“, nuschelte er kaum verständlich und wollte sich die Nase putzen, da hielten ihn Yukkes Finger zurück. Wieder lagen sie auf seiner Haut, diesmal jedoch gefolgt von einem ziemlich skeptischen Blick.

 

„Sag mal, was hast du eigentlich angestellt? Das ist doch nicht nur Make-up.“

 

Er war versucht sich wie Akihiko eben in die Berührung zu schmiegen, warum wusste er nicht, nur dass er sich im Augenblick unglaublich nach Nähe sehnte. Er hoffte beinahe Yukke würde nicht  erkennen, was in ihm vor sich ging, aber so, wie sich sein Blick änderte, hatte er sehr wohl bemerkt, wie aufgewühlt er innerlich war.

 

„Tatsuro?“ Er schüttelte vehement den Kopf, ging einen Schritt zurück und putzte sich nun endlich die Nase – lautstark und gänzlich unhöflich, aber das war ihm gerade mehr als nur ein bisschen egal.

 

„Du hast Miya gehört, ich muss mich für die nächste Szene herrichten.“ Er wollte sich schon umdrehen, um endlich aus den nassen Klamotten herauszukommen, da fiel ihm doch noch etwas ein, was er unbedingt loswerden musste. „Gut improvisiert, übrigens.“ Er grinste, auch wenn ihm gerade eher der Sinn danach stand, Yukke in seine Arme zu ziehen, um dort die Wärme zu suchen, die seine Augen immer versprachen. Stattdessen machte er sich nun wirklich auf den Weg in seine Garderobe und hob nur noch die Hand, in der er das zerknüllte Taschentuch hielt. „Danke.“ 

 

~*~

                    

„Endlich fühle ich meine Zehen wieder“, seufzte Akihiko und rieb sich mit einem weißen Frotteehandtuch die langen Haare trocken, während er Junjis geschmackvoll eingerichtetes Wohnzimmer betrat. Der ältere Mann saß auf dem schwarzen Ledersofa und hatte gerade in einer Zeitschrift geblättert, die er nun langsam auf den gläsernen Couchtisch legte.

 

„Wieder aufgewärmt, ja?“

 

„Ja, danke. Du glaubst gar nicht, wie gut das getan hat.“ Dankend nahm er den Rotwein entgegen, den Junji ihm reichte, setzte sich neben ihn auf das Sofa und drehte den Stiel des bauchigen Glases zwischen den Fingern. „Langsam wird es wirklich zu kalt, um den ganzen Tag im Regen zu stehen. Außerdem verdiene ich so fast nichts, weil kaum Leute unterwegs sind.“ Akihiko verstummte und senkte den Blick auf sein Glas. Der Rotwein erinnerte ihn im indirekten Licht, dessen Quelle sich irgendwo hinter Junjis beeindruckender Hi-Fi-Anlage verbergen musste, auf erschreckende Weise an Blut. Für einen Moment kniff er die Augen zusammen und erst Junjis sanfte Stimme holte ihn ins Hier und Jetzt zurück.

 

„Alles in Ordnung? Möchtest du lieber etwas anderes trinken?“

 

„Was? Nein, nein.“ Demonstrativ trank er einen großen Schluck und dann gleich noch einen, als es sogar der geringe Alkoholanteil schaffte sein Inneres ein wenig aufzuwärmen. „Ich … hab mich nur gerade an etwas erinnert.“ Mit einer ruhigen Bewegung nahm Junji ihm das Glas aus der Hand, stellte es auf das Tischchen und blickte ihm dann forschend ins Gesicht.

 

„Erzähl mir, was passiert ist, bitte.“

 

„Ich …“ Akihiko zögerte und knabberte unsicher auf seiner Unterlippe herum. „Was soll ich dir schon großartig erzählen? Einigen Typen hat meine Visage nicht gepasst, also wollten sie mir eine neue schnitzen.“ Er zuckte mit den Schultern, ganz so, als würde ihn der Überfall nicht weiter berühren, aber das Zittern seiner Hände verriet ihn.

 

„Aki.“ Junjis Stimme war mitfühlend und ebenso war auch der Blick aus braunen Augen, dass Akihiko nicht anders konnte, als sein Gesicht abzuwenden. Der weiße Bademantel, in den er sich nach seiner Dusche gehüllt hatte, war viel zu kurz und vergebens versuchte er einen der Ärmel über sein Handgelenk zu ziehen. Er fühlte sich plötzlich unglaublich schutzlos, fast nackt in der Gegenwart des anderen, besonders, als Junji eine Hand auf seine legte.

 

„Schau nicht so“, murmelte er, riskierte einen kurzen Blick in Junjis Gesicht, bevor er wieder auf seine Hand starrte. „Du hättest sehen sollen, wie die anderen aussahen, nachdem ich mit ihnen fertig war.“ Seine Lippen verzogen sich zu einem schiefen Lächeln, aber seine ganze Haltung verriet, dass er lediglich Sprüche klopfte. Ganz langsam nur drehte er seine Hand, bis die Finger des anderen schließlich zwischen die seinen glitten. Der Kontrast der gebräunten Haut zu seiner eher Blassen war plötzlich ungemein faszinierend und ohne es wirklich zu bemerken, begann er mit dem Daumen über Junjis Finger zu streicheln.

Der andere sagte noch immer nichts, sah ihn nur weiterhin geduldig und so verdammt verständnisvoll an, dass ihm automatisch ein leidendes Seufzen entkam und seine Schultern resigniert nach unten sackten. „In Wahrheit waren sie zu dritt und ziemlich entschlossen mir wehzutun. Ich … ich hatte keine Chance“, gab er schließlich mit rauer Stimme zu und man konnte nur zu deutlich sehen, dass ihn die Erinnerungen einzuholen versuchten.

 

„Dreckskerle.“ Einige Herzschläge lang hing Junjis empörter Ausruf zwischen ihnen, bis sich erst ein Lächeln auf Akihikos Lippen schlich, bevor es von leisem Lachen abgelöst wurde.

 

„Das hab ich ihnen auch gesagt“, scherzte er und hob den Blick, um seinem Gegenüber ins Gesicht sehen zu können. Für einen Augenblick war er vollkommen überwältigt davon, wie nahe ihm Junji war und wie deutlich er noch immer die Entrüstung im Gesicht des anderen erkennen konnte.

 

„Tut mir leid, das war unangemessen.“ Junji räusperte sich und wollte wohl wieder mehr Abstand zwischen sie bringen, aber Akehiko verstärkte den Griff um seine Finger.

 

„Schon okay. Es tut gut zu wissen, dass mal jemand auf meiner Seite ist.“ Akihiko schmiegte sich vertrauensvoll in die Hand, die sich genau wie früher an diesem Abend wieder an seine Wange gelegt hatte, nur mit dem Unterschied, dass sie nun alleine waren. Vollkommen alleine … ohne neugierige Blicke, die nur darauf warteten, sie verurteilen zu können … und Junji kam seinem Gesicht immer näher.

 

Ergeben schloss er die Augen, als er eine erste, zarte Berührung an seinen Lippen spürte. Der Kuss, in den der andere ihn verstrickte, war unglaublich vorsichtig, beinahe unschuldig und oh Gott, er wollte mehr. Akihiko teilte seine Lippen, forderte stumm danach und Junji erfüllte ihm diesen Wunsch, wie es schien, nur zu gerne. Erst noch zögerlich, dann immer leidenschaftlicher tanzten ihre Zungen miteinander, ihr schneller werdender Atem das einzige Geräusch in der Stille des Wohnzimmers. Er hob seine freie Hand, legte sie mit weit gespreizten Fingern auf die Brust seines Gegenübers, genau über die Stelle, wo er sein Herz schnell und aufgeregt schlagen fühlte.

 

Und mit einem Mal war es Tatsuros eigener Herzschlag, den er wie das Donnergrollen eines gewaltigen Gewitters in seinen Ohren dröhnen hörte. Verflucht, was taten sie hier? Ihre Improvisation war eindeutig zu weit gegangen. Das hier hatte rein gar nichts mehr mit einem leidenschaftslosen Filmkuss zu tun. Fuck, ihm musste etwas einfallen, und zwar schnell. Wahlweise noch etwas, was einigermaßen zu der Szene passte und ihn nicht wie den hinterletzten Idioten dastehen ließ.

 

Von einer Sekunde auf die andere veränderte sich Akihikos gesamte Haltung. War er eben noch weich und anschmiegsam gewesen, spannten sich nun sämtliche Muskeln an, als er Junji unsanft von sich stieß und vom Sofa aufsprang. Sein Bademantel hatte sich gelockert, ließ für einen kurzen Moment den Blick auf seine Brust und die dunklen Linien eines großflächigen Tattoos zu, bevor er ihn energisch wieder zurecht zupfte.

 

„Ich bin keiner dieser armen Schlucker, die du mit Versprechungen von einer heißen Dusche und einem Essen in dein Bett locken kannst!“

 

„Was? Nein … ich … Tatsue, so war das doch gar nicht gemeint.“

 

„CUT!“ Miyas Stimme durchschnitt die Stille, die sich während der Szene über die Lagerhalle gelegt hatte und irgendwie beschlich Tatsuro das seltsame Gefühl, als würden alle Anwesenden erst mal wieder ins Hier und Jetzt zurückfinden müssen. Eigentlich ja ein gutes Zeichen, wüsste er nicht ganz genau, dass sie in den letzten Minuten die Szene versaut hatten und sie nochmal würden drehen müssen. Dennoch schlich sich ein langsames, unglaublich triumphierendes Lächeln auf seine Lippen, als er Yukkes Blick erwiderte.

 

„Tatsue, hu? Ich wusste gar nicht, dass wir schon bei den Kosenamen angekommen sind, Yu-chan.“ Sein Lächeln weitete sich zu einem ausgewachsenen Grinsen, bevor er begann leise in sich hineinzulachen, als sich Yukkes Wangen tatsächlich leicht röteten.

 

„Idiot.“

 

„Mach dir nichts draus, Yu-chan. Bei einem derart guten Küsser wie mir ist es doch kein Wunder, dass du mal aus der Rolle fällst. Alles gut.“ Er musste einfach weiter sticheln, ging nicht anders, besonders wenn er dadurch davon ablenken konnte, dass sich seine Knie noch immer wie Gelee anfühlten und seine Lippen kribbelten, als würden sie Yukke unbedingt noch einmal küssen wollen.

 

„Pfff, ich hatte auch schon Bessere.“

 

„Ich glaub dir kein Wort.“ Tatsuro hatte sich ein Stück nach vorn gebeugt, um mit Yukke auf Augenhöhe zu sein und betrachtete nun gespielt kritisch die noch immer ziemlich gesunde Gesichtsfarbe seines Drehpartners.

 

„Kannst du ruhig oder glaubst du etwa, ich hätte nicht bemerkt, dass dir der Kuss wiederum ziemlich gut gefallen hat?“ Yukkes Stimme war so leise geworden, dass nur er ihn hören konnte und verdammt, der andere hatte ja mal sowas von recht. Das war nicht gut, gar nicht gut. Sein Mund öffnete und schloss sich wieder, als ihm doch tatsächlich nichts einfallen wollte, was er darauf hätte erwidern können. Noch dazu fraß sich Yukkes keckes Schmunzeln gerade unwiderruflich in seine Hirnwindungen und ließ ihn mit dem IQ eines instinktgetriebenen Steinzeitmenschen zurück.

 

„Wenn ihr Tratschtanten dann mal soweit fertig seid …“, rief Miya dezent genervt über das nun wieder geschäftige Murmeln und gelegentliche Lachen der Filmcrew hinweg und wedelte auffordernd mit den Händen. „Akihikos Reaktion auf Junjis Annäherung könnt ihr so lassen, aber spart euch den Kuss, den gibt’s erst am Ende. Und nun los, auf eure Plätze, aber zackig!“

 

Tatsuro hätte seinem Boss am liebsten die Zunge herausgestreckt. Einfach, weil er manchmal eben kindisch sein wollte und die Tatsache, dass Satochi hinter Miya stand und ihm mit atomarem Grinsen im Gesicht einen Daumen nach oben zeigte, machte die Sache nun auch nicht wirklich besser. Yumiko war es allerdings, die dem Ganzen noch die Krone aufsetzte, als sie leise kichernd seinen Haaren mit einer Sprühflasche zu Leibe rückte. Schnaubend fügte er sich seinem Schicksal, auch wenn sich ein kleines Stimmchen in seinem Kopf – das sich frappierend nach dem Steinzeitmenschen von eben anhörte – fragte, ob es auch Szenen in diesem gottverdammten Film gab, in denen er trocken bleiben würde.

 

~*~

 

Das Einzige, was schlimmer war als Gara wie einen stummen Wächter im Nacken zu haben, war dessen breites Grinsen im Spiegel zu sehen, während er lässig an der Wand hinter ihm lehnte.

 

„Ich küsse keinen Mann vor der Kamera …“, rezitierte sein Manager seine eigenen Worte vor so vielen Wochen und Tatsuros rechte Augenbraue begann gefährlich zu zucken.

 

„Ich WURDE geküsst, Gara, das ist ein himmelweiter Unterschied.“

 

„Na klar.“ Gara nickte übertrieben verstehend und er warf erst ihm, dann Yumiko einen giftigen Blick zu, die leise in sich hineinkicherte, während sie ihm half die letzten Reste des Make-ups an seiner linken Wange zu entfernen.

 

„Verräterin.“

 

Yumiko zeigte sich gänzlich unbeeindruckt und tupfte nur etwas Desinfektionsmittel auf die Wunde, bevor sie wieder ein Pflaster darüber klebte.

 

„So gut wie neu.“ Sie grinste und streckte ihm dann die Zunge heraus, als er sie nur weiterhin giftig musterte. „Ach komm, Tatsuro, wenigstens habt ihr beide die ganze Crew in den Bann geschlagen, wenn das mal keine Leistung ist.“

 

„Außerdem kommt das davon, wenn man sich notorisch nicht ans Drehbuch hält“, trat Gara gleich noch nach. „Du kannst froh sein, dass Miya sich das gefallen lässt.“

 

„Es gab diesmal kein Skript, solltest du das vergessen haben.“ Tatsuro grummelte in sich hinein und band sich die Haare zu einem losen Dutt im Nacken zusammen. „Außerdem …“

 

„Hey, hey, Lover Boy!“ Wieder zierte ein breites Grinsen die Züge eines Menschen, den Tatsuro bis vor zwei Sekunden noch ziemlich gern gehabt hatte und wieder zuckte seine Augenbraue.

 

„Sato“, knurrte er bedrohlich, was nur noch tiefer wurde, als sein Bruder die kräftigen Hände an seine Schultern legte und diese angedeutet massierte.

 

„Love is in the air“, trällerte so Angeknurrter nur unbekümmert und legte dann von hinten beide Arme um seinen Hals, um sich soweit herabzubeugen, dass ihre Köpfe auf gleicher Höhe waren. „Ich wusste doch, dass da was im Busch ist.“

 

„Ich bin Schauspieler … in einem Boys Love Schinken … was erwartest du.“ Tatsuro versuchte sich wieder zu beruhigen und sachlich zu reden, aber wirklich gelingen wollte ihm das nicht. Was war denn nur los mit ihm? Sonst ließ er sich doch auch nicht so leicht aus der Fassung bringen und eigentlich war er es, der seine Mitmenschen gerne mal etwas veräppelte, nicht anders herum, zum Kuckuck.

 

„Logo~.“

 

Tatsuros Hand schnellte nach oben und klatschte mit ordentlichem Schwung auf Satochis Kopf. Das überraschte Keuchen seines Bruders war wie Balsam für seine Seele und gerade, als er seine Gesichtszüge dazu überredet hatte wieder sein altbekanntes Grinsen zu zeigen, betrat auch noch Miya den Raum.

 

„Können wir los?“, erkundigte sich der Produzent an Sato gerichtet, woraufhin dieser nickte und wieder nach seinem Gehstock griff.

 

„Kommst du mit, Tatsue?“ Tatsuro suchte Satochis Blick und überlegte. Machte ja ganz den Anschein, als würde sein Bruder erneut bei Miya übernachten wollen. Er konnte es Sato nicht verübeln und war seinem Boss sogar dankbar, dass sie die letzten beiden Nächte bei ihm untergekommen waren, aber er selbst hatte wirklich keine Lust darauf sich wieder im Gästezimmer einzuquartieren.

 

„Ich nehm mir ein Taxi.“

 

„Ich kann dich auch zu Hause absetzen, wenn du magst.“ Ganz selbstverständlich griff Miya nach Satochis Gehstock, damit dieser in seine Jacke schlüpfen konnte und Tatsuro wusste nicht warum, aber dieser so vertraute Umgang der beiden  schmerzte und wärmte ihn gleichermaßen.

 

„Das ist ein riesen Umweg, lass mal gut sein, Miya.“

 

„Dann nehmen Gara und ich dich mit.“ Yumiko lächelte ihn an und langsam aber sicher bekam er das Gefühl, dass hier irgendwas faul war.

 

„Kann es sein, dass ihr mich nicht alleine gehen lassen wollt?“, erkundigte er sich lauernd und die betretenen Gesichter der Umstehenden bestätigten ihn in seinem Verdacht. „Leute, ehrlich mal. Mich wird ja kaum der Taxifahrer überfallen.“

 

„Aber du solltest auch nicht allein zu Hause sein“, meinte Sato nun ein wenig kleinlaut klingend und schaute ihn bittend an.

 

„Dann geh ich eben ins Hotel.“

 

„Wer geht ins Hotel?“ Tatsuro blickte zur Tür und rollte mit den Augen. War ja klar gewesen, dass Yukke auch noch zur Party erschien. „Hey, gibt es was umsonst oder warum steht ihr hier rum?“

 

„Das frag ich mich allerdings auch.“ Tatsuro erhob sich und hängte sich seine Tasche um. „Wolltest du zu mir?“

 

„Ist das deine Garderobe?“

 

„Übst du dich in Gegenfragen?“

 

„Vielleicht?“ Yukke grinste ihn an und er grinste mindestens genauso breit zurück, während Yumiko ihr Kichern mehr schlecht als recht an Garas Schulter verbarg. Er musste mit der Frau wirklich mal ein ernstes Wörtchen reden, der Job hier tat ihr allem Anschein nach nicht gut.

 

„Also was wolltest du, Yu-chan?“ Täuschte er sich oder flackerte Yukkes frecher Blick leicht, als er erneut den neckenden Kosenamen verwendete, den er ihm vorhin am Set verpasst hatte.  

 

„Gehst du mit mir einen trinken?“

 

„Ja.“ Im selben Moment, in dem er geantwortet hatte, hatte Yukke schon leise gelacht und abgewunken.“

 

„Ich weiß, ich weiß, Kollege und so. Aber du hast mir gestern quasi die Erlaubnis gegeben, also musste ich einfach fragen. Dann mal einen schönen Abend zusammen.“ So schnell er aufgetaucht war, war Yukke auch wieder verschwunden und dezent perplex schaute Tatsuro erst ihm hinterher, dann fragend in die Runde. Die Gesichter der Anwesenden waren kaum weniger verwundert und erneut rollte Tatsuro mit den Augen. War ja so arschklar gewesen.

 

„Na dann, bis morgen Leute“, verabschiedete er sich knapp. Nichts war es also mit der willkommenen Ablenkung, die ein paar Stunden in Yukkes Gegenwart vermutlich mit sich gebracht hätten. Schade aber auch. Gerade war er durch die Tür gegangen, da prallte er mit niemand anderem als Yukke zusammen. „Uch“, schnaufte er und streckte eine Hand aus, um seinen strauchelnden Drehpartner an der Schulter zu fassen zu bekommen.

 

„Ich, ehm …“ Yukke schaute zu ihm auf und verdammt, sie waren sich schon wieder so unpassend nah. „Hast du eben gerade ja gesagt?“

 

„Vielleicht?“ Tatsuro grinste, drehte Yukke an den Schultern herum und legte locker einen Arm um ihn. „Die erste Runde geht auf dich.“

 

 

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Wie immer würde ich mich riesig über Feedback freuen, wenn euch das Kapitel gefallen hat. ^^


 


 

Klappe, die Sechste

 

Tatsuro nahm dankend den Teller voller kleiner Köstlichkeiten entgegen, den der in die Jahre gekommene Kellner gerade an ihren Tisch gebracht hatte. Wohlwollend und ziemlich hungrig betrachtete er erst die Speisenauswahl und dann sein Gegenüber mit einem kleinen, zufriedenen Lächeln im Gesicht. Mit gutem Essen hatte man ihn schon immer locken können und daraus machte er gerade auch keinen Hehl, als er beide Hände aneinanderlegte und Yukke einen guten Appetit wünschte. Er hatte es ganz seinem Drehpartner überlassen, wohin sie nach getaner Arbeit gehen würden und er musste zugeben, dass Yukke mit der Wahl dieses kleinen, gemütlichen Izakaya genau ins Schwarze getroffen hatte.

 

„Und, gefällt es dir hier?“, erkundigte sich der andere genau in diesem Moment, als hätte er seine Gedanken gelesen, und Tatsuro nickte fürs Erste nur, weil sein Mund zum Antworten dann doch ein wenig zu voll war.

 

„Wir fallen zwar auf wie bunte Hunde, aber das Essen ist auf jeden Fall so gut wie du sagtest.“ Er grinste und nahm gleich noch einen Bissen, bevor er sich noch einmal ein wenig umsah. Wie schon erwartet tummelten sich hauptsächlich förmlich gekleidete Geschäftsmänner hier, die ihren wohlverdienten Feierabend ausklingen ließen oder einen erfolgreichen Businessdeal begossen. Beste Voraussetzungen also, dass Yukke und er schon allein ihrer legeren Kleidung und unüblichen Frisuren wegen den ein oder anderen irritierten Blick kassierten.

 

„Aber ich würde doch mal behaupten, dass die drei Mädels hinter mir doch deutlich mehr Aufmerksamkeit auf sich ziehen.“ Yukke zwinkerte ihm zu und er nickte, während er es den meisten anwesenden Männern gleichtat und die drei jungen Frauen für einen Moment musterte, die es sich an einem runden Tisch in der hintersten Ecke des kleinen Lokals gemütlich gemacht hatten und sich köstlich zu amüsieren schienen.

 

„Ein sehr angenehmer Umstand, wenn du mich fragst. Darauf mich vermummen oder stattdessen Autogramme geben zu müssen, hätte ich nun wirklich keine Lust.“ Der alte Herr schlurfte erneut an ihren Tisch heran und Tatsuro nahm sich die Freiheit heraus, erst Yukke, dann sich selbst mit Sake zu versorgen. „Mit dir kann man tatsächlich weggehen, ich bin beeindruckt.“ Er grinste und hob den kleinen Tonbecher an, um mit seinem Gegenüber anzustoßen.

 

„Was soll das denn heißen?“ Gespielt empört blies Yukke die Wangen auf und leerte den ersten Sake des Abends. „Du dachtest nicht wirklich, dass das heute ein Reinfall werden würde?“ Tatsuro zuckte mit den Schultern, musste sich jedoch ein weiteres Grinsen verkneifen, während auch er seinen Becher leerte.

 

„Tja, ich dachte mir halt, irgendwas muss faul an der Sache sein, wenn du schon immer so hartnäckig bist.“

 

„Mach nur so weiter, mein Lieber, und ich frage nie wieder. Dann lasse ich dich zukünftig in der BLP versauern, während alle anderen wissen, wie sie ihren Feierabend genießen können.“  

 

„Oh nein.“ Tatsuro riss theatralisch die Augen auf und presste seine rechte Hand gegen die Brust. „Mein armes Herz, wie soll ich es nur überleben zukünftig von dir verschmäht zu werden?“

 

„Tja, das hättest du dir vorher überlegen sollen.“ Yukke lachte los und er stimmte mit ein, was ihnen natürlich wieder verwunderte und irritierte Blicke einbrachte. Aber Tatsuro ignorierte diese ebenso geflissentlich, wie auch Yukke dies tat und gemeinsam machten sie sich mit gesundem Appetit über die Speisen her.

 

~*~

 

Es war wirklich unverschämt angenehm mit Yukke hier zu sitzen, sich zu unterhalten und der Sake trug auch nur noch dazu bei, dass er sich von Stunde zu Stunde wohler fühlte. Er hatte längst sein Zeitgefühl verloren und merkte nur, dass es schon ziemlich spät geworden sein musste, als die Tische um sie herum immer leerer wurden.

 

„Du, Tatsuro?“, unterbrach Yukke die durchaus angenehme Stille, die sich in den letzten Minuten über sie gelegt hatte. „Erzählst du mir jetzt, was …“

 

„Oh wie förmlich.“ Tatsuro grinste und unterdrückte ein Gähnen. „Ich dachte, wir wären schon bei den Spitznamen angekommen, Yu-chan.“

 

„Den Ausrutscher darf ich mir noch öfter anhören, oder?“

 

„Bis an dein Lebensende.“

 

Yukke schüttelte den Kopf und rieb sich etwas beschämt wirkend über den Nacken.

 

„Du liebst es mich in Verlegenheit zu bringen.“

 

„Immer.“ Er nickte übertrieben und verteilte den letzten Rest Sake auf ihre Becher. „Also, was genau wolltest du eben wissen?“

 

„Darf ich dich denn Tatsue nennen?“

 

„Klar, hast du doch eh schon.“ Tatsuro zwinkerte seinem Gegenüber zu. „Aber das war es nicht, was du mich fragen wolltest.“

 

„Nein.“ Yukke spielte mit seinem Becher und wirkte beinahe etwas unsicher, als er den Blick wieder auf ihn richtete. „Erzählst du mir, was passiert ist? Mit deiner Wange, meine ich.“

 

Reflexartig hob Tatsuro die Hand und strich mit zwei Fingern kaum spürbar über das Pflaster, welches Yumiko ihm nach dem Dreh wieder auf die Wunde geklebt hatte. Die letzten Stunden über hatte er tatsächlich verdrängen können, was passiert war, aber jetzt, da ihn Yukke erneut daran erinnert hatte, breitete sich wieder die altbekannte Kälte in seinen Gliedern aus, die ihn seit Samstag nun schon verfolgte.

 

„Entschuldige.“ Yukkes warme Finger legten sich wie selbstverständlich auf seine Hand, die er eben wieder hatte sinken lassen und mit der er eigentlich nach seinem Becher hatte greifen wollen. Die Berührung zuckte wie ein Blitz durch seinen Körper und er musste sich einen überraschten Laut verkneifen, als ihm ein wohliger Schauer über den Rücken rann. „Du musst nicht antworten, es geht mich schließlich nichts an.“ Zu allem Überfluss hinterließ Yukkes schiefes Lächeln auch noch ein angenehmes Kribbeln in seinem Magen und in einer anderen Situation hätte er sich vermutlich innerlich eine Kopfnuss verpasst, weil er es zuließ, dass der andere eine derart starke Wirkung auf ihn hatte. Aber jetzt wollte er dieses Gefühl der Nähe und Wärme einfach nur ein wenig genießen und ja, auch Kraft daraus schöpfen, denn sehnte er sich nicht schon den ganzen Tag danach sich irgendjemandem anvertrauen zu können?

 

„Das ist es nicht.“ Tatsuro schüttelte langsam den Kopf, drehte seine Hand und wie auch schon am Samstag im Café war er wie gebannt von dem Bild ihrer Hände. Sanft streichelte er über Yukkes Finger, scherte sich nicht wirklich darum, dass sie hier keineswegs alleine waren. Aber die letzten Gäste saßen ohnehin vor der kurzen Bar, unterhielten sich mittlerweile laut und ausgelassen und schenkten ihnen keinerlei Beachtung. „Aber dafür brauch ich definitiv noch mehr Alkohol.“

 

„Na, das lässt sich doch einrichten.“ Yukke drückte seine Finger leicht und zog seine Hand dann zurück, um dem Kellner zu bedeuten ihnen noch eine letzte Runde zu bringen, bevor sie vermutlich aus der Tür gekehrt wurden.

 

Tatsue indes ließ seinen Worten Taten folgen, leerte erneut seinen Becher und atmete tief durch. Wenn er Yukke jetzt alles erzählen würde, würde er ihnen vermutlich den schönen Abend verderben – ob der andere sich dessen eigentlich bewusst war? Aber war nicht genau das der Grund, weshalb er heute überhaupt mit Yukke hierhergekommen war? Er musste einfach über den ganzen Mist reden, der ihm in den letzten Monaten wiederfahren war, sonst würde er noch verrückt werden.

Sato gegenüber konnte er sich nicht öffnen, nicht, wenn er sich jedes Mal hundeelend fühlte, wenn er wieder einmal mit ansehen musste, wie viel Kraft seinem Bruder schon allein die alltäglichsten Dinge kosteten, seit der Unfall ihn gezeichnet hatte. Wie könnte er ihn da auch noch mit seinem Seelenmüll belasten?

Die Vorstellung mit Miya darüber zu reden, war schlichtweg lächerlich. Er vertraute dem seltsamen Regisseur nicht, wusste ihn nicht einzuschätzen und außerdem war der Kerl sein gottverdammter Boss. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass Miya in den letzten Tagen ausnahmslos für ihn, aber besonders für Satochi, dagewesen war.

Und Gara würde, genau wie Yumiko, nur weiterhin wie ein aufgescheuchtes Huhn um ihn herumhüpfen und versuchen ihm Ratschläge zu geben, die fraglos gut gemeint waren, ihm aber auch nicht halfen. 

 

Nein, er wollte sich Yukke anvertrauen, niemandem sonst, warum auch immer; und so hatte er bereits zu reden begonnen, bevor er sich bewusst dazu entschieden hatte.

Er erzählte von den vielen Briefen, die er über Monate immer wieder vor seiner Haustür gefunden hatte und deren Tonfall erst bewundernd und schmeichelnd gewesen war, mit der Zeit jedoch immer fordernder und bedrohlicher wurde. Von Satochis tragischem Unfall, der keiner gewesen war, weil die Polizei später herausfand, dass man seinen Wagen manipuliert hatte. Er berichtete von dem Päckchen, das auf ihn gewartet hatte, als er von ihrem spontanen Treffen im Café nach Hause zurückgekommen war und ließ auch keine Details aus, auch nicht dann, als sein Gegenüber bei der Erwähnung des verwesten Leibs des kleinen Kätzchens merklich blasser um die Nase wurde.

 

„Fuck“, keuchte Yukke ehrlich betroffen, nachdem er geendet hatte. „Das hört sich an wie das Drehbuch zu einem Psychothriller.“ Tatsuro schnaubte und fuhr sich durch die Haare, bevor er nach seinem Becher griff, der während seines Monologs von Yukke immer wieder aufgefüllt worden war. Wofür er ihm wirklich dankbar war, auch wenn sich mittlerweile ein deutlicher Nebel in seinem Hirn breitgemacht hatte.

 

„Ich wünschte, es wäre nur ein Drehbuch oder ein schlechter Scherz, aber das ist es nicht, nie gewesen. “ Tatsuros Stimme versagte kurz ihren Dienst und er räusperte sich, als würde er so verbergen können, wie angeschlagen er gerade wirklich war. Er fühlte sich seltsam leer, auch wenn er nicht leugnen konnte, dass es gut getan hatte alles einfach einmal ungefiltert herauslassen zu können.

 

„Und die Polizei tut nichts?“ Die Empörung war so deutlich aus Yukkes Stimme herauszuhören, dass tatsächlich ein kleines Schmunzeln an Tatsuros Lippen zupfte.

 

„Sagen wir es mal so. Sie haben am Sonntag zwar meine Bude auf den Kopf gestellt und sämtliche Hausbewohner befragt, derer sie habhaft werden konnten, aber natürlich haben sie noch rein gar keine Ahnung davon, wer hinter der ganzen Sache steckt.“

 

„Pfff, in den Filmen wollen sie uns immer weißmachen, dass es das Einfachste der Welt ist einen Stalker zu überführen und in Wirklichkeit kriegen sie mal wieder nichts auf die Reihe.“ Tatsuro musste zugeben, dass er es gerade ziemlich niedlich fand, wie Yukke sich seinetwegen aufregte. „Kein Wunder, dass dein Manager und die anderen dich heute kaum eine Minute lang aus den Augen gelassen haben.“

 

„Erinnere mich nicht daran, wenn es nach Gara geht, würde er mir einen Personenschützer aufs Auge drücken.“ Tatsuro seufzte. „Auch wenn ich weiß, dass er in gewissem Maße recht hat. Ich hätte die Sache schon viel früher ernster nehmen müssen, dann wäre Satochi vielleicht nichts passiert.“

 

 „Gib dir nicht die Schuld an dem, was geschehen ist.“ Tatsuro schaute von seinen Fingern auf, die die letzten Minuten über gedankenverloren mit seinem Becher gespielt hatten. „An allem, was passiert ist, ist ein einziger Mensch schuld und der bist gewiss nicht du.“ Yukke lächelte ihn an und Tatsuro war froh, dass sie gerade in einem Lokal – in der Öffentlichkeit – saßen, sonst hätte er den anderen womöglich einfach an sich gezogen und sich in seinen Armen verborgen. So jedoch versuchte er sich an einem zittrigen Lächeln und nickte leicht. „Versteh mich nicht falsch, Tatsue, aber ich für meinen Teil bin froh, dass dir nichts Schlimmeres passiert ist. Hättest du den Unfall gehabt …“ Sein gegenüber verstummte und senkte den Blick, aber er glaubte zu wissen, was Yukke hatte sagen wollen. Wäre er statt Satochi an dem Tag im Auto gesessen, hätten Yukke und er sich womöglich nie kennengelernt.

 

„Es wäre eine wahre Schande gewesen, dir nicht über den Weg gelaufen zu sein.“ Diesmal war sein Lächeln ehrlich und auch, wenn sich an seiner Situation noch rein gar nichts verbessert hatte, fühlte er sich doch auf eine seltsame Art und Weise befreiter.

 

„Genau, da hättest du definitiv was verpasst. Außerdem bist du mir nicht über den Weg gelaufen, sondern hast mich umgerannt, das ist ein Unterschied.“

 

„Wie? Nur ich? Na das nenne ich mal überschäumendes Selbstbewusstsein. Und was heißt hier, ich hätte dich umgerannt. Du hattest doch die Nase in diesem Ordner und hast nicht geschaut, wo du hinläufst.“

 

„Du doch auch nicht. Du warst doch viel zu sehr damit beschäftigt, deinen armen Manager anzumotzen.“

 

„Stimmt auch wieder.“ Sie lachten leise, ohne diesmal irritierte Blicke zu kassieren, denn die beiden Männer, die außer ihnen noch anwesend waren, waren mittlerweile so betrunken, dass der Inhaber ihnen wohl ein Taxi würde rufen müssen.

 

„Versprich mir vorsichtig zu sein, ja? Garas Vorhaben, dir einen Bodyguard engagieren zu wollen, mag etwas übertrieben sein, aber sei in Zukunft skeptisch, gerade was Geschenke von Fans oder Bewunderern anbelangt.“

 

„Du machst dir Sorgen um mich?“

 

„Mh, sieht fast so aus.“

 

„O… okay“, murmelte er mangels einer Idee, was er darauf hätte antworten können und rieb sich tatsächlich ein wenig gerührt über die Nase. „Meine Paranoia läuft seit Samstag ohnehin auf Hochtouren.“

 

„Sehr gut“, scherzte Yukke, wurde im nächsten Moment jedoch wieder ernster. „Tatsue …“  Er räusperte sich und spielte nervös mit seinen Fingern, bevor er sie auf dem Tisch ineinander verschränkte. „Willst … ich meine.“ er schüttelte den Kopf, atmete einmal tief durch und Tatsuro beschlich das dumpfe Gefühl, als würde es Yukke unglaublich schwerfallen das, was auch immer er ihn fragen wollte, nun auch wirklich über die Lippen zu bringen.

 

„Was denn?“ Er versuchte die seltsame Stimmung mit einem schiefen Lächeln aufzulockern, was ihm jedoch nicht wirklich zu gelingen schien.

 

„Du meintest vorhin, du würdest ins Hotel gehen?“, begann Yukke noch immer etwas unsicher und als Tatsuro nickte, fuhr er fort. „Also … wenn’s dir nur darum geht, nicht zu Hause zu sein … ich meine …“ Wieder atmete Yukke tief durch und knurrte dann leise, eindeutig frustriert, während seine Hände ein überaus ansehnliches Chaos in seinen sonst so akkuraten Topfschnitt brachten. Ein sehr ansprechender Anblick, wenn man Tatsuro fragte, und einer, der seine Finger verräterisch zucken ließ, wollten sie es doch Yukke gleichtun und durch diese, wie er wusste, so verdammt weichen Strähnen fahren. Er blinzelte und wandte den Blick ab.

 

„Kann doch nicht so schwer sein“, murrte Yukke in diesem Moment und obwohl sich Tatsuro innerlich gerade noch einen Dummkopf schimpfte, weil er schon wieder so deutlich auf den anderen reagiert hatte, zupfte ein kleines Schmunzeln an seinen Mundwinkeln.

 

„Lass es raus, Yu-chan“, scherzte er, „danach fühlst du dich besser.“

 

„Haha.“ Überaus erwachsen streckte Yukke ihm die Zunge heraus, faltete dann seine Hände aber wieder auf der Tischplatte und suchte seinen Blick. „Ich wollte dich nur fragen, ob du noch zu mir kommen willst? Meine Wohnung ist deutlich gemütlicher als ein steriles Hotelzimmer.“ Tatsuros Mund klappte einen kleinen Spalt breit auf – mit diesem Angebot hätte er nun wirklich nicht gerechnet und sein erster Impuls war es, dieses auch anzunehmen. Nur zu gerne sogar, denn Yukke hatte recht, er mochte die unpersönliche Atmosphäre der meisten Hotelzimmer wirklich nicht und alles war besser, als nach Hause zu fahren oder sich doch wieder bei Miya einzunisten. Dann jedoch siegte seine Vernunft und er schüttelte den Kopf.

 

„Das ist wirklich nett von dir, aber … Sagen wir es so, ich wäre heute gewiss nicht mehr die Gesellschaft, die du dir wünschst.“

 

„Mh, unterstellst du mir Hintergedanken?“ Yukkes Augenbraue wanderte ein kleines Stück nach oben und trotz der Ablehnung, die ihm Tatsuro gerade deutlich entgegengebracht hatte, wirkte der andere weder verärgert noch gekränkt.

 

„Wäre es nicht naiv zu denken, dass keiner von uns Hintergedanken dabei hätte?“

 

„Touché.“ Wieder lachten sie und die kleinen Tonbecher gaben ein dumpfes Geräusch von sich, als sie sie aneinander stoßen ließen. „Aber dann lass mich dich wenigstens noch begleiten, ja? Nicht, dass mir Miya am Freitag den Kopf abreißt, weil ich seinen Shootingstar verloren habe.“

 

„Das könnte ich nie verantworten, ohne Kopf spielt es sich doch etwas schwer, zumindest in unserem Drama, außer wir machen einen Horrorfilm draus.“

 

„Ohne mich.“

 

„Och, wieso denn?“

 

„Mit Horrorfilmen und allem, was auch nur in die Richtung geht, kannst du mich jagen.“

 

„Mmh, so so.“

 

„Warum beschleicht mich das dumpfe Gefühl, ich hätte dir das lieber nicht sagen sollen?“

 

Gänzlich unschuldig zuckte Tatsuro mit den Schultern, auch wenn er sich das leicht hinterhältige Lächeln einfach nicht hatte verkneifen können.

 

„Keine Ahnung, vielleicht hat meine Paranoia schon auf dich abgefärbt? Aber warum eigentlich erst Freitag?“, erkundigte er sich dann, als ihm wieder einfiel, dass Yukke eben davon gesprochen hatte, Miya würde ihm am Freitag den Kopf abreißen.“

 

„Wie? Oh, ja. Ich hab morgen einen kleinen Auftritt bei Radio Ishioka. Als Kind der Stadt bin ich quasi so eine Art Lokalheld, weil ich’s im großen Tokyo einigermaßen zu was gebracht hab.“ Yukke schmunzelte, während Tatsuros Augen mit jedem Wort größer geworden waren. „Na ja, und danach besuche ich noch für ein paar Tage meine Eltern. Muss es ja schließlich ausnutzen, wenn ich mal wieder zu Hause bin, kommt ja selten genug vor.“

 

„Ist nicht wahr.“

 

„Na ja, den Boys Love Teil übergehen die meisten, aber so ein bisschen bekannt bin ich schon.“

 

„Nein, quatsch, das meinte ich nicht.“ Tatsuro winkte ab. „Du kommst tatsächlich aus Ishioka?“

 

„Ja, geboren und aufgewachsen, wieso?“

 

„Ich komm ursprünglich aus Mito.“

 

„Was? Ehrlich jetzt? Das ist ja gleich um die Ecke.“

 

Tatsuro grinste und schüttelte ein wenig fassungslos den Kopf.

 

„Ja, wir waren quasi Nachbarn.“ Sie lachten und binnen Sekunden waren sie in einer hitzigen Debatte gefangen, welche Stadt denn nun die bessere sei. Bei der letzten Runde Sake blieb es daher nicht, denn so ein hochemotionales Thema musste natürlich ausführlich begossen werden und wenn der Inhaber des Izakayas insgeheim die Hände über dem Kopf zusammenschlug, weil er eigentlich nur noch nach Hause wollte, dann musste man leider sagen, dass dieser Umstand die beiden gerade ziemlich kalt ließ.

 

~*~

 

Tatsuro hatte zwar mitbekommen, dass Yukke den Abend über deutlich weniger getrunken hatte als er, aber dass es doch gleich um so vieles weniger war, hätte er nun nicht gedacht. Allerdings begrüßte er diesen Umstand gerade doch ziemlich, denn Yukkes stützender Arm um seine Mitte war mehr als nötig, während sie über den dicken Teppich des Hotelflurs schlurften. Oder vielmehr er schlurfte, Yukke neben ihm ging ganz normal, schien ihre Situation aber überaus amüsant zu finden, denn hin und wieder hörte er ihn leise kichern.

 

„Was genau ist eigentlich so lustig?“ Hey, seine Stimme klang wenigstens noch ziemlich nüchtern, das war doch schon mal durchaus positiv.

 

„Du hast nicht bemerkt, wie dich die Dame am Empfang gemustert hat, oder?“ Tatsuro schüttelte den Kopf und hätte sogleich einen recht uneleganten Ausfallschritt hingelegt, hätte sich Yukkes Griff nicht wie automatisch verstärkt. Nun lehnte er wirklich komplett gegen den kleineren Mann und verdammte Schande, das fühlte sich ungemein gut an. „Ich glaube, sie hat dich erkannt“, redete Yukke weiter und Tatsuro brauchte eine Sekunde oder auch fünf, um sich wieder daran zu erinnern, worüber sie gerade gesprochen hatten.

 

„Echt?“, nuschelte er, wobei er sich gedanklich eher davon abhalten musste sein Gesicht zu drehen, um es in Yukkes Halsbeuge zu vergraben. Was musste der aber auch so gut riechen, verdammt?

 

„Ganz sicher. Sie ist erst weiß wie eine Wand geworden, dann so rot, dass ich schon befürchtet hab, sie kippt von ihrem Stuhl und dann hat sie bestimmt noch fünf Minuten gebraucht, bis sie die Chipkarte ins Lesegerät gepfriemelt bekommen hat. Die hat dich eindeutig erkannt … mh … wo müssen wir eigentlich hin?“ Yukke blieb stehen und Tatsuro tat es ihm mit etwas Verzögerung gleich, weil er um ehrlich zu sein gar nicht richtig zugehört hatte, worüber der andere die ganze Zeit redete.

 

„Hm? Wohin wir müssen? Ehm …“ Er schielte auf die Karte, die er samt eines kleinen Flyers von der Rezeptionistin überreicht bekommen hatte. „Zimmer 212.“

 

„Ah.“ Yukke reckte den Hals und blickte sich um. „Da drüben ist die 211, dann müssen wir vermutlich nur noch hier um die Ecke.“ Tatsuro nickte nur wieder und kämpfte gegen die Müdigkeit an, die sich gerade mit einem lauten Gähnen bemerkbar machte. „Und da sind wir. Ich bin gut, oder?“

 

„Der Beste.“ Er grinste schief und gab Yukke die Schlüsselkarte, wusste er doch, dass er sich in seinem angetrunkenen Zustand mit dem Mechanismus der Tür wohl genauso ungeschickt anstellen würde, wie die Dame an der Rezeption eben.

Mit einem leisen Klicken entriegelte das Schloss und Yukke bugsierte ihn in das Innere des Hotelzimmers. Noch einigermaßen koordiniert schaffte er es sich der Schuhe und seiner Jacke zu entledigen, schlurfte die wenigen Schritte in Richtung Bett, während er hörte, wie hinter ihm die Tür zugezogen wurde. Seine Umhängetasche landete auf dem Bett und sein Hintern tat es der Tasche gleich, gefolgt von seinem Rücken, als er sich mit einem leisen Seufzen auf der relativ weichen Matratze ausstreckte. Leise Schritte näherten sich ihm, dann spürte er eine Bewegung neben sich, als sich Yukke ebenfalls setzte.

 

„Danke fürs Bringen“, nuschelte er und drehte schwerfällig den Kopf. Für einen kurzen Moment sah er Yukkes Schmunzeln, dann fielen ihm die Augen zu, als die Finger des anderen begannen zärtlich über seine Stirn zu kosen.

 

„Kommst du alleine klar?“ Yukkes Stimme war sanft, vielleicht sogar ein bisschen besorgt und zauberte Tatsuro ein zufriedenes Lächeln auf die Lippen.

 

„Würdest du bleiben, wenn ich dich darum bitte?“ Er blinzelte und suchte Yukkes Blick, der ihm näher war, als er angenommen hatte.

 

„Kommt darauf an, ob du mich das fragst oder der Alkohol.“ Wieder spürte er erst eine hauchzarte Berührung an seiner Schläfe, dann Finger, die vorsichtig durch sein Haar kämmten.

 

„Mh …“ Tatsuro brummte genießend und drehte sich der angenehmen Berührung noch ein bisschen mehr entgegen. „Wirklich zurechnungsfähig bin ich wohl nicht mehr, befürchte ich.“

 

„Dachte ich mir.“ Yukke beugte sich noch weiter über ihn und drückte ihm einen kleinen Kuss auf die unverletzte Wange.

 

„Dann verschieben wir das, was auch immer heute noch passieren könnte, lieber auf Freitag.“

 

„Wieso, was ist am Freitag?“

 

„Da werde ich dich wieder fragen, ob du mit mir ausgehen willst.“ Yukke lachte leise und er tat es ihm gleich, während er eine Hand hob und sie etwas ungeschickt in den Nacken seines Gegenübers legte.

 

„Du bist ja ein wahrer Gentleman“, er grinste und spielte mit den feinen Härchen unter seinen Fingerspitzen. „Aber einen Abschiedskuss bekomme ich noch, oder?“

 

„Tatsue …“, hauchte Yukke und schloss für einen Moment die Augen. „Du machst es mir aber auch echt nicht leicht.“

 

„Nein …“ Tatsuro drückte auffordernd gegen Yukkes Nacken, konnte seinen warmen Atem bereits an seinen Lippen spüren. „Leicht ist langweilig, findest du nicht?“

 

„Ja …“ Ein Flüstern, kaum hörbar, und dann volle Lippen, die sich auf seine eigenen legten. Himmel, erst jetzt, da er sie wieder spüren durfte, fiel Tatsuro auf, wie sehr er sie vermisst hatte. Ein leiser Laut entrang sich seiner Kehle, während er seinen Griff in Yukkes Haar verstärkte, den anderen so noch näher drängte. Er wollte noch so viel mehr, öffnete einladend seinen Mund und Yukke ließ sich nicht lange bitten. Oh ja, genau so sollte das doch sein, oder? Sein Herz hämmerte wie wild gegen seinen Brustkorb, in seinem Kopf drehte sich alles – und er war sich sicher, dass dies nicht allein vom Alkohol kam. Dieser Kuss hatte nichts mit dem gemein, den sie heute am Set geteilt hatten. Dieser hier war wild und leidenschaftlich und ganz und gar zügellos. Yukke lehnte über ihm, ein Teil seines Gewichts drückte ihn auf unglaublich angenehme Weise in die Matratze und er selbst hatte beide Hände in den brünetten Haaren vergraben, machte dort das ohnehin schon vorherrschende Chaos komplett. Ihre Zungen umschmeichelten einander, ihre Münder, selbst um Atem zu holen, nur Millimeter voneinander entfernt, bevor sie sich wiederfanden, als könnten sie ohne den jeweils anderen nicht mehr existieren.

 

„Yukke“, keuchte er, als er die Hand des anderen über seinen Oberkörper streicheln fühlte. Als hätte sein Name ihn aus einer Art Trance geweckt, löste sich Yukke von seinen Lippen, setzte sich auf und blinzelte auf ihn herab. Tatsuro murrte, versuchte jedoch nicht den anderen wieder näher zu locken, sondern erwiderte lediglich den Blick aus ein wenig glasig wirkenden Augen. Langsam hoben sich seine Mundwinkel erneut zu einem zufriedenen Lächeln, während er seinen Drehpartner interessiert musterte. „Du siehst so durch den Wind aus, alles in Ordnung?“ Yukke schnaubte, aber auch auf seine Züge schlich sich ein kleines Grinsen, bevor er sich noch einmal über ihn beugte.

 

„Sagt der Mann, der wie eine verführerische Einladung auf dem Bett liegt.“

 

„Mh“, brummte Tatsuro und haschte mit den Zähnen nach Yukkes Unterlippe, zupfte spielerisch an ihr, bevor er seine Zunge über sie kitzeln ließ. „Und? Nimmst du die Einladung an?“

 

„Nicht heute.“

 

„Du bist zu gut für diese Welt.“

 

„Ich weiß.“ Ein weiteres Mal fanden sich ihre Münder, aber wo eben noch die Leidenschaft vorgeherrscht hatte, fühlte sich diese Berührung nun vielmehr zärtlich, beinahe liebevoll an. „Pass auf dich auf, Tatsue, okay?“

 

„Klar doch“, nuschelte er halb gähnend, „schließlich haben wir am Freitag ein Date.“

 

„Ganz genau.“

 

Er lächelte und schloss die Augen, als Yukkes Finger seine Gesichtszüge nachzeichneten.

 

„Schlaf gut.“

 

Der Kuss, der diesmal auf seiner Stirn landete, ließ ihn schmunzeln und als die Wärme verschwand, nachdem Yukke aufgestanden war, rollte er sich auf dem Bett zusammen.

 

„Gute Nacht, Yukke.“ Er spürte noch, wie der andere die Bettdecke, so gut wie es ihm möglich war, über ihn zog und hörte, wie sich seine leisen Schritte entfernten. Aber noch bevor die Tür wieder ins Schloss gefallen war, war Tatsuro auch schon eingeschlafen.

 

~*~

 
 

Without even a destination, I just reached out my hand.

Hiding my loneliness, I grope my way along.

This night without you was the first time I felt it-

This pain within my heart

 

„Kann es sein, dass du nicht ganz bei der Sache bist?“ Der ruhige Klang der Gitarre verstummte, als Ami ihn mit gerunzelter Stirn ansah. Auch Tatsuro hörte abrupt zu singen auf und blickte vom Songtext hoch.

 

„Wieso denn?“, fragte er mit absolut unschuldigem Tonfall und schief gelegtem Kopf, auch wenn er genau wusste, was Ami meinte. Schön und gut, dass Miya begeistert von seinem Gesang war und daher wollte, dass er einen weiteren Song für den Abspann des Films einstudierte, aber verdammt, er konnte sich heute einfach nicht Konzentrieren.

 

„Ach, ich weiß nicht. Vielleicht, weil du nun schon zum dritten Mal dieselbe Strophe gesungen hast?“, schnitt Amis Stimme erneut durch das Chaos in seinem Kopf.

 

„Oh …“, entkam es ihm kleinlaut und er richtete seinen Blick wieder auf den Text. Sie hatte ja recht, er war tatsächlich bei der zweiten Strophe hängengeblieben und hatte es nicht einmal bemerkt.

 

„Wo bist du heute nur mit deinen Gedanken, Tatsuro.“

 

Tatsuro zuckte lediglich mit den Schultern und zauberte ein schiefes Lächeln auf seine Lippen. Er wusste genau, wo oder besser bei wem er mit seinen Gedanken war, aber das würde er Ami gewiss nicht auf die Nase binden. Leise seufzend, als eben jene Gedanken erneut abdriften wollten, faltete er den Text zusammen und verstaute ihn in der Hosentasche seiner Bluejeans.

 

„Vielleicht sollten wir für heute einfach Schluss-machen? Dein Liebster ist bestimmt auch nicht traurig, wenn er dich mal früher zu Gesicht bekommt.“ Tatsuro grinste, als sich Amis Wangen bei dem Wort Liebster dezent röteten.

 

„Hau schon ab, du schrecklicher Mensch“, schnappte sie gutmütig und verstaute ihre Gitarre in der Tasche.

 

„Du liebst mich.“

 

„Träum weiter, Tatsuro.“ Ami streckte ihm die Zunge heraus und schob sich dann als erste durch die Tür. „Schönen Feierabend.“

 

„Dir auch, Schätzchen.“ Den erhobenen Mittelfinger seiner Gesangslehrerin ignorierte er mal geflissentlich, statt jedoch seine Garderobe aufzusuchen und seine Sachen zu packen, um nach Hause zu fahren, schlug er den Weg in Richtung des Aufenthaltsraums ein.

 

Aber kaum war das Geräusch von Amis schnellen Schritten verklungen, blieb auch er stehen und knabberte unschlüssig auf seiner Unterlippe herum. Langsam zog er das gefaltete Papier wieder aus seiner Hosentasche und blickte darauf.

 
 

If I can light the undying light

powered by the gentle warmth of your hands.

It will illuminate every corner of this faded world,

vividly

Sadness will set, look, the dawn is breaking.

I will search for your warmth.

Search worlds unseen.

 

Die letzten beiden Strophen lasen sich, als hätte – wer auch immer den Text verfasst hatte – direkt in seine Seele geblickt und das Chaos dort in Worte gefasst.

Es war doch einfach nicht zu fassen, oder? Da verbrachte er einen einzigen – wenn auch wirklich angenehmen – Abend in Yukkes Gesellschaft und nun ertappte er sich dabei, wie er seit Tagen komplett unkonzentriert war, nur weil er es kaum erwarten konnte, dass es endlich Freitag wurde. Und jetzt war es endlich Freitag, Freitagabend um genau zu sein, und Yukke hatte sich noch immer nicht blicken lassen. Himmel, wie er es hasste nervös zu sein. Er sollte nach Hause fahren und dem Spuk ein Ende bereiten, aber das konnte er einfach nicht über sich bringen.

Warum auch musste Yukke so … so … nett sein?

Jeder andere hätte Tatsuros angetrunkenen Zustand mit Sicherheit ausgenutzt, verdammt sogar er selbst hätte es ausgenutzt, aber nein, Yukke hatte sich ja als perfekter Gentleman entpuppen müssen, der zwar keinerlei Skrupel hatte ihm den Kopf zu verdrehen, aber wohl nichts von betrunkenem Sex zu halten schien.

 

Die feinen Härchen an seinen Unterarmen richteten sich auf, als ihn ein Schauer durchfuhr und reflexartig überkreuzte er die Arme vor der Brust, zerknitterte das Papier in seiner Hand.  

Erneut schrie ihn sein rationaler Verstand an, dass er gefälligst nach Hause fahren und einfach vergessen sollte, wie schön der Abend mit Yukke gewesen war und wiewohl er sich gefühlt hatte. Yukke war ein Kollege, verdammt noch mal, und das hatte ihm schon in der Vergangenheit nichts als Ärger eingebracht.

Aber ein fiel größerer Teil in ihm wollte das noch einmal haben, stampfte wie ein kleines, verzogenes Kind mit dem Fuß auf und verstand einfach nicht, wo das Problem lag. Und verdammt, er konnte dem Kind nur zustimmen.

Energisch faltete er das Papier wieder zusammen und stopfte es im Gehen in die Hosentasche zurück. Wie hieß es so schön? Wenn der Prophet nicht zum Berg kam, musste er eben zu Yukke gehen, oder so ähnlich.

 

Als er wenig später jedoch die Tür zum Aufenthaltsraum aufstieß, wurde er von gähnender Leere begrüßt – auf den ersten Blick zumindest. Auf den zweiten Blick entdeckte er Kaisuke, der vollkommen in sein Tun versunken am großen Tisch in der Mitte des Raumes saß. Tatsuros Stirn legte sich in Falten, als er leise die Tür hinter sich schloss und auf den jungen Mann zuging.

 

„Kaisuke“, stellte er in normaler Lautstärke fest, aber der andere zuckte derart heftig zusammen, dass man glauben konnte, er hätte ihn aus vollem Hals angeschrien.

 

„Ta… Tatsuro-san. Habe ich …? Ich meine, Gara-san meinte, Sie würden heute den neuen Song proben und bräuchten mich daher nicht und ich … ehm.“ Hektische Flecke waren auf Kaisukes Wangen erschienen, die Augen hinter der dicken Brille waren kugelrund und alles in allem machte sein Gegenüber gerade den Eindruck am liebsten die Flucht ergreifen zu wollen.

 

„Ich bin nicht deinetwegen hier.“ Tatsuro musste sich auf die Unterlippe beißen, um nicht lauthals loszulachen. Kaisukes Gesichtsausdruck und sein Gestammel waren aber auch zu göttlich. „Ich bin auf der Suche nach Yukke, hast du ihn gesehen?“

 

„Yu… Yukke-san? J… Ja. Miya-san hat ihn ungefähr vor einer halben Stunde zu sich gebeten. Irgendwas wegen den heutigen Aufnahmen, glaube ich.“ Kaisuke knetete die Hände und hatte den Kopf leicht zwischen die Schultern gezogen, ganz so, als würde er jeden Moment damit rechnen, dass Tatsuro austickte. Er jedoch hob nur verwundert eine Augenbraue und fragte sich, ob er seine schlechte Laune in letzter Zeit vielleicht einmal zu oft an Garas Laufburschen ausgelassen hatte, dass dies eine solch heftige Reaktion rechtfertigte. Eigentlich ja nicht, dachte er sich, zuckte innerlich dann aber mit den Schultern. Vielleicht war der andere heute auch nur besonders empfindlich, konnte man bei diesem Nervenbündel ja nie wissen.

Was ihn im Moment jedoch deutlich mehr ärgerte, war die Tatsache, dass Yukke wohl schon seit einer halben Stunde bei Miya saß und es um die Aufnahmen ging. Das konnte also dauern und sein Magen hing ihm doch jetzt schon in den Kniekehlen. Wieder meldete sich ein Stimmchen, welches aufs Heftigste verlangte, dass er gefälligst nach Hause fahren und es füttern sollte, immerhin wusste er doch genau, dass Yukke auf lange Sicht nur Ärger bedeuten würde. Und er musste dem Stimmchen leider recht geben, dennoch ging er weiter in den Raum hinein, bis er schließlich am Tisch stehen blieb und sich Kaisuke schräg gegenüber setzte.

 

„Woran arbeitest du denn hier so konzentriert?“, erkundigte er sich ehrlich neugierig und versuchte etwas von dem auf dem Kopf stehenden Text zu entziffern. Dialoge, wenn er sich nicht ganz täuschte. „Ist das ein Skript?“ Kaisuke glubschte ihn noch immer wie eine Erscheinung an, aber Tatsuro hatte heute wohl seinen geduldigen Tag, was bei Gott nicht oft vorkam. Sollte also genutzt werden und alles war besser, als hier nun nichts tuend herumzusitzen. „Sag schon oder hast du deine Zunge verschluckt.“ Okay, so geduldig war er nun doch nicht, aber zumindest hatte er bislang davon abgesehen, die Blätter einfach zu sich heranzuziehen, auch wenn seine Finger schon verdächtig zuckten.

 

„Ja … eh, nein … ich.“ Kaisuke schluckte hörbar und Tatsuro beschlich das komische Gefühl, dass der andere die Blätter am liebsten an sich genommen und schützend gegen seine Brust gedrückt hätte, nur damit er keinen weiteren Blick darauf werfen konnte. Dann jedoch schien sich der andere doch noch an seine gute Kinderstube zu erinnern und schob ihm die Papiere zögerlich entgegen.

 

WORLD OF DECEPTION – Season 3“, las er vor und spürte, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Seine Lippen kribbelten, als er den Titel des Drehbuches noch einmal stumm wiederholte und wie in einem Zeitraffer tauchten verschwommene Bilder in rasendem Tempo vor seinem inneren Auge auf. Das war seine Serie. Die Serie, die sein Durchbruch hätte sein sollen und die dieser Mistkerl Nobu zum größten Misserfolg seiner Karriere gemacht hatte. Mit zitternden Fingern nahm er das Drehbuch an sich, blätterte es durch und überflog die Zeilen. Tatsächlich, das war der Auszug einer Folge, vermutlich einer der Ersten und einige wenige Passagen waren mit gelbem Leuchtmarker hervorgehoben worden. „Willst du dich für eine Rolle bewerben?“, hörte er sich fragen, auch wenn sein Mund sich staubtrocken anfühlte und er es noch nicht über sich brachte seinem Gegenüber wieder ins Gesicht zu sehen.

 

„Die Castings starten nächste Woche und ich … Ich dachte, ich versuche mein Glück“, nuschelte Kaisuke und spielte erneut mit seinen Fingern. Tatsuro hingegen versuchte sich nicht noch mehr seiner inneren Unruhe anmerken zu lassen, erhob sich und ging zur Kaffeemaschine hinüber, wo er vorhin beim Hereinkommen auch mehrere Flaschen Wasser hatte stehen sehen. Zischend öffnete er eine von ihnen und leerte sie erst einmal zur Hälfte, obwohl das Wasser Zimmertemperatur hatte und er eigentlich nichts mehr verabscheute, als lauwarme Getränke.

Er könnte jetzt einfach gehen, dachte er sich, während er die Flasche wieder zuschraubte und gedankenverloren auf das hellblaue Etikett starrte. Damit hätte er gleich zwei Probleme auf einmal gelöst. Er wäre Yukke aus dem Weg gegangen und könnte vergessen, dass er das Drehbuch überhaupt gesehen hatte. Dumm nur, dass er das Eine nicht wollte und zu stur war, um nun einfach wegzulaufen. Also hockte er sich wieder an den Tisch, wo Kaisuke ihn noch immer wie etwas Hochexplosives musterte und räusperte sich.

 

„Willst du einen Rat von mir?“

 

„Ich?“, fiepte Kaisuke und nun konnte Tatsuro doch nicht mehr an sich halten. Leise lachte er in sich hinein und schüttelte den Kopf.

 

„Nein, der andere Kaisuke, der sich für eine Rolle bewerben will.“

 

„Oh.“ Einen langen Moment war dies die einzige Reaktion auf seine Worte, dann ein zögerliches Nicken. Tatsuro lächelte und spielte mit der Wasserflasche.

 

„Bewirb dich nicht auf diese drittklassige Nebenrolle. Du hast kaum fünf Sätze in einem über vierzig seitigem Skript und keiner der Sätze ist länger als ein paar Worte. Damit kannst du weder beweisen, dass du auch längere Passagen auswendig lernen kannst, noch, dass du Talent hast.“

 

„Aber … das ist mein aller erstes Casting.“

 

„Ganz genau. Und darum musst du auch groß denken. Such dir eine der Hauptrollen raus. Eine mit viel Text, die dir auch die Möglichkeit zur Improvisation gibt, sollte das von dir verlangt werden. Sie werden dich natürlich nicht für eine Hauptrolle nehmen, die stehen meist schon vor den Castings fest, aber so kannst du Eindruck schinden und sie erinnern sich an dich.“

 

„Meinen Sie das wirklich Ernst, Tatsuro-san?“ Kaisukes Augen waren, wenn möglich, noch größer geworden, während er wie gebannt auf der Kannte seines Stuhls saß und jedes einzelne von Tatsuros Worten wie ein Schwamm aufzusaugen schien.

 

„So habe ich meine alle erste Rolle bekommen und die Verantwortlichen haben mir hinterher gesagt, dass sie genau dieses Engagement bei Nachwuchsschauspielern suchen. Wir sind hier zwar nicht in Hollywood, aber in Tokyo gibt es mehr als genug Talente. Da musst du schon irgendwie aus der Masse hervorstechen, um eine Chance zu haben.“ Tatsuro lächelte etwas versonnen und ließ die Plastikflasche über den Tisch kreiseln. „Und wenn wir schon davon reden, dass du aus der Masse hervorstechen musst … Ich hoffe, du hast Kontaktlinsen und Klamotten, die dir auch passen.“ Kaisukes Mund öffnete und schloss sich, ohne dass ihm ein Laut über die Lippen kam, dann röteten sich seine Wangen erneut.

 

„Ich … j… ja hab ich.“

 

„Sehr gut, dann musst du dir also nur noch eine Rolle heraussuchen, die deutlich anspruchsvoller als das hier ist …“ Tatsuro tippte auf einen der markierten Sätze im Drehbuch. „…den Text lernen und dich ein bisschen herausputzen, dann wird das schon.“

 

„Warum? Ich meine … Warum helfen Sie mir?“ Tatsuro zuckte mit den Schultern und blickte dann auf, als sich die Tür öffnete.

 

„Vielleicht, weil du mich ein wenig an mich selbst erinnerst, als ich in deinem Alter war“, murmelte Tatsuro gedankenverloren, während ihn Yukkes warme Augen gefangen hielten.

 

„Tatsue.“ Das Lächeln, welches ihm sein Drehpartner zur Begrüßung schenkte, ließ seinen Magen rumoren und gleichzeitig war es unverschämt ansteckend. „Wartest du auf mich?“

 

„Nein“, hörte er sich sagen und löste sich endlich aus dem Bann, in den Yukke ihn gezogen hatte. „Ich unterhalte mich gerade mit Kaisuke-kun hier.“ Er legte Garas perplexem Laufburschen einen Arm um die knochigen Schultern und grinste Yukke frech an.

 

„Schade. Und da dachte ich, ich könnte dich vielleicht mit der guten Hausmannskost meiner Mutter dazu überreden, den Abend heute wieder mit mir zu verbringen.“

 

„Hausmannskost?“

 

„Ja, ich glaube, meine liebe Frau Mama hat Sorge, ich würde in der großen Stadt verhungern. Oder sie hat einfach nur mal wieder zu viel gekocht. Auf alle Fälle kann ich gefühlt eine ganze Kompanie mit dem Essen versorgen, das momentan in meinem Kühlschrank lagert.“

 

„Mh, es bestünde also die rein hypothetische Möglichkeit, dass das arme Essen verdirbt, wenn ich mich seiner nicht erbarme?“

 

„Könnte durchaus passieren.“

 

„DAS können wir nicht verantworten.“

 

„Sehr gut. Ich hab noch ein paar Flaschen Bier in den Kühlschrank gequetscht bekommen, falls das noch ein zusätzlicher Anreiz wäre.“

 

„Worauf warten wir noch?“ Sie lachten, während er Kaisuke einmal fest auf die Schultern klopfte und sich erhob. „Schönen Abend, Kaisuke und viel Erfolg beim Casting.“ Er schenkte dem Jüngsten der Runde nur noch halbherzige Beachtung, während er auf Yukke zuging. „Ich folge auf dem Fuße.“

 

Hätte sich Tatsuro in diesem Moment selbst beobachten können, hätte er vermutlich genervt die Augen verdreht und sich als liebeskranken Idioten beschimpft. So jedoch gelang es ihm kaum, das breite Grinsen von seinem Gesicht zu wischen oder sich davon abzuhalten Yukke einfach in eine stürmische Umarmung zu ziehen. Er hörte noch, wie sich auch sein Drehpartner kurz von Kaisuke verabschiedete, dann war er auch schon voll und ganz damit beschäftigt, Yukke wie ein übereifriges Plappermaul über all das unwichtige zu informieren, das sich in seiner Abwesenheit in der BLP zugetragen hatte.

 

~*~

 

Kaisuke starrte auf die weiß gestrichene Holztür des Aufenthaltsraums, von der ihm Heath Ledger als der Joker irre entgegen grinste. Er fühlte sich wie in einem Traum oder vielleicht hatte er auch nur den Verstand verloren, ähnlich wie Ledger, der seine Paraderolle nicht überlebt hatte. Langsam sengte er seinen Blick auf das Drehbuch, versuchte die Wörter zu erkennen, die jedoch wie eigenständige Wesen über die weißen Seiten hüpften. Er sollte sich also engagieren, sich hohe Ziele stecken, groß denken. Er schnaubte. Wie denn, wenn sein Selbstbewusstsein vermutlich nicht einmal dazu ausreichen würde das Casting nächste Woche tatsächlich zu besuchen. Hätte er Tatsuro-sans Auftreten, vielleicht auch nur einen Teil seines Charismas, das einen ganzen Raum voller Menschen in den Bann schlagen konnte, dann würde er sich seinen Ratschlag vielleicht zu Herzen nehmen können, aber so? Wer war er denn? Ein dürres Mauerblümchen, das davon träumte es irgendwann einmal auf die große Leinwand zu schaffen, das war er.

 

Kaisuke zuckte zusammen, als sein Handy plötzlich zu läuten begann und suchte hektisch in seiner überquellenden Tasche danach.

 

„Oh nein“, murmelte er, als er erkannte, wer ihn anrief. „Ha… Hallo.“

 

„Und?“, erkundigte sich die Stimme am anderen Ende, ohne ihn überhaupt begrüßt zu haben. „Hast du es ihm gegeben?“ Kaisuke wurde blass und ein grünlicher Schimmer legte sich über seine Nase. Verdammt, er hatte doch gewusst, dass er etwas vergessen hatte. Sein panischer Blick flackerte zu der flachen, rechteckigen Schachtel, deren violettes Hochglanzgeschenkpapier zwischen Büchern, Zeitschriften und losen Zetteln hervorblitzte, die sich in seiner Tasche tummelten.

 

„Klar, du weißt doch, dass du dich auf mich verlassen kannst“, hörte er sich sagen und hoffte, dass sein Gesprächspartner nicht hören würde, wie sehr seine Stimme zitterte. „Er hatte sich zwar gewundert, weil Valentinstag schon lange vorbei ist, aber hat es angenommen, genau wie du gesagt hast.“

 

„Na siehst du. Ich weiß doch, dass er ein Schleckermaul ist.“

 

„Ja.“ Kaisuke lachte angestrengt und wischte sich über die schweißfeuchte Stirn.

 

„Bist du schon zu Hause?“

 

„N… Nein, ich bin noch in der BLP. Hier hab ich mehr Ruhe um zu üben.“

 

„Du willst dich also wirklich für die Rolle bewerben?“

 

„Ja.“

 

„Kaisuke, ehrlich mal, du verschwendest deine Zeit, die nehmen dich eh nicht.“

 

„Wenn ich es nicht versuche, werde ich es nie wissen. Außerdem werde ich mich nicht für die Rolle bewerben, die du ausgesucht hast, sondern für eine Hauptrolle.“ Kaisuke verzog das Gesicht, als vom anderen Ende der Leitung nur gehässiges Lachen zur Antwort kam. „Vielleicht kann ich sie ja damit überzeugen, dass ich mir auch lange Texte merken kann und engagiert bin“, erklärte er energisch und wurde immer lauter, als das Lachen einfach nicht aufhören wollte. Unter dem festen Griff seiner Hand knirschte das Handy bedrohlich und erschrocken über seinen Ausbruch, der so gar nicht seine Art war, lockerte er seine Finger wieder und bemühte sich tief und ruhig durchzuatmen.

 

„Du bist ein Traumtänzer, Kaisuke“, ertönte nun wieder die Stimme aus dem Telefon und er biss die Zähne aufeinander, um darauf ja nichts zu sagen. „Aber mir soll es recht sein, vergeude deine Zeit, wenn es dir Spaß macht, ich bin da, wenn du dich ausheulen musst.“

 

„Ich muss jetzt weitermachen, Gara-san hat nach mir gerufen.“

 

„Na dann, viel Spaß noch und warte nicht auf mich, kann später werden.“

 

Noch bevor Kaisuke sich hätte verabschieden können, hatte der andere schon aufgelegt. Ein paar Sekunden lauschte er noch dem Freizeichen, bevor er das Handy mit unendlich langsamen und kontrollierten Bewegungen wieder in seine Tasche zurücksteckte. Für einen langen Moment blieb er ganz still, hatte die Augen geschlossen und atmete derart flach, dass man glauben konnte, er wäre eine lebensechte Statue, aber kein Mensch. Dann sprang er plötzlich auf, griff nach der Geschenkschachtel, eilte aus dem Raum und bog in den Flur ein, der zu Tatsuros Garderobe führte.

 

 

-_-_-_-

 

Oh Mann, das Kapitel hat sich gezogen wie Kaugummi und sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt von mir geschrieben zu werden. *lacht* Dafür ist es doch recht lang geworden, aber als der Knoten erst mal geplatzt war, kam irgendwie immer mehr, was hier noch rein wollte. XD

Ich hoffe sehr, dass euch das Kapitel gefällt und wenn dem so ist, würde ich mich wie immer über Feedback jeder Art freuen.

Das Lied, welches Tatsuro in diesem Kapitel singt bzw. liest ist Nirvana von MUCC und die Übersetzung habe ich mir wieder einmal von [U]https://www.jpopasia.com/mucc/videos/35224/nirvana/[/U] ausgeliehen.

Klappe, die Siebte

„Sie haben dich also tatsächlich über eine Stunde interviewt, ohne auch nur einmal darauf eingegangen zu sein, dass ihr Lokalheld Boys Love Filme dreht?“ Tatsuro schüttelte in einer Mischung aus Empörung und Belustigung den Kopf, während Yukke nur mit den Schultern zuckte und grinste.

 

„Ja, haben sie. Wenn du magst, kann ich dir den Link zum Podcast schicken?“ Tatsuro nickte nur, weil er gerade den Mund voller leckerem Schokoladenkuchen hatte. „Okay. Aber ich muss auch zugeben, dass ich es nun nicht wirklich darauf angelegt habe, diese Tatsache in den Vordergrund zu rücken. Die Fragen zu unserem Dreh waren beeindruckend neutral gestellt und ich hab einfach mal mitgespielt.“

 

„Pfff, da wären sie mir gerade recht gekommen. Wenn ich merke, dass diese Interview-Futzis versuchen meine Antworten schon im Vorfeld zu beeinflussen, sage ich erst recht das, was sie nicht hören wollen.“

 

Yukke erwiderte für einen Moment stumm seinen Blick, dann lachte er leise in sich hinein.

 

„Ja, das passt zu dir.“

 

„Was soll das denn jetzt heißen?“

 

„Nur, dass ich dich genauso eingeschätzt hätte.“

 

Tatsuro schnaubte, konnte seinem Gegenüber jedoch nicht wirklich widersprechen. Yukke hatte nun mal recht, auch wenn es beinahe erschreckend war, dass der andere sich schon ein derart akkurates Bild von ihm gemacht hatte.

Oder lag Gara womöglich doch nicht so falsch, wenn er immer behauptete, dass Tatsuro es mit seiner Exzentrik übertrieb?

Nein! Absolut nicht! Innerlich schüttelte er heftig mit dem Kopf. Wäre ja noch schöner, wenn er Gara recht geben würde. Selbst in Gedanken ging das ja mal so gar nicht an. Yukke hatte vermutlich einfach nur eine gute Menschenkenntnis, das war alles.

 

„Oh Mann, ich glaube, wenn ich eine Woche von deiner Mutter bekocht werden würde, könntest du mich vor dir herrollen“, wechselte er etwas ungeschickt das Thema und grinste zur Ablenkung sein berüchtigtes Lausbubengrinsen, während er sich im Stuhl zurücklehnte.

Und seine Taktik schien aufzugehen, denn Yukke strahlte ihn soeben derart freudig an, dass man meinen könnte, das Kompliment hätte ihm gegolten und nicht seiner Mutter. Aber es war nun mal nicht von der Hand zu weisen, dass Frau Fukunos Hausmannskost verdammt lecker war und er eindeutig viel zu viel gegessen hatte. „Du musst mich für absolut verfressen halten.“ Entgegen seiner Worte spekulierte er doch tatsächlich damit noch ein klitzekleines Stückchen des Kuchens zu naschen, welchen es als Nachtisch gegeben hatte, aber vermutlich würde ihm dann tatsächlich übel werden und dafür war das Fest mal einfach zu grandios lecker gewesen.

 

„Nur geringfügig verfressen.“ Yukke lachte leise, als Tatsuro sich demonstrativ über seinen deutlich gewölbten Bauch rieb und ein zufriedenes Seufzen von sich gab. „Aber das Lob werde ich an meine Mutter weitergeben, da wird sie sich bestimmt freuen.“ Sein Gegenüber tat es ihm gleich und lehnte sich zurück, schloss für einen Moment die Augen. „Ich kann dir gern etwas einpacken, wenn du magst? Wie du ja selbst gesehen hast, platzt mein Kühlschrank wirklich aus allen Nähten.“

 

„Ehrlich? Ja, gerne!“ Tatsuro nickte mit leuchtenden Augen und gänzlich ungeniert. Gutes Essen durfte man schließlich nicht ausschlagen und wann würde sich so eine Gelegenheit schon mal wieder bieten. „Das erinnert mich daran, dass Sato und ich unbedingt mal wieder seine Mutter besuchen müssen. Wir haben sie schon viel zu lange nicht mehr gesehen.“

 

„Satochis Mutter?“ Yukke legte fragend den Kopf schief, die Augen wieder geöffnet und auf ihn gerichtet. „Ich dachte, ihr seid Brüder?“

 

„Stiefbrüder“, stellte Tatsuro klar und griff nach der Bierflasche, die noch kaum angerührt vor ihm stand. „Nach dem Tod meiner Mutter hat mein Vater Satochis Mom geheiratet.“

 

„Das tut mir leid.“

 

„Ach, braucht es doch nicht. Ich war noch sehr jung und erinnere mich kaum noch an sie. Du bist immer viel zu mitfühlend, Yu-chan.“ Yukke streckte ihm die Zunge heraus, was Tatsuro ein verschmitztes Schmunzeln auf die Lippen zauberte, und stützte dann beide Ellenbogen auf der Tischplatte ab, um sein Kinn auf die verschränkten Hände legen zu können. Die warmen Augen fixierten ihn und wieder reagierte sein Magen mit angenehmem Kribbeln auf dieses deutliche Zeichen der Aufmerksamkeit. Er genoss es wirklich viel zu sehr von Yukke so betrachtet zu werden, stellte er mal wieder fest, und rollte innerlich über sich selbst genervt mit den Augen.

 

„Erzähl mir ein bisschen über euch, Sato und dich, mein ich. Ich hab mir als Kind immer Geschwister gewünscht.“ Yukke lächelte versonnen. „Wer von euch ist eigentlich älter?“

 

„Ach, du bist Einzelkind? Na, das erklärt, weshalb deine Mutter dich so umsorgt.“ Tatsuro überkreuzte locker seine Arme vor dem Bauch. „Sato ist der Ältere, um gerade mal neun Tage, und trotzdem beharrt er selbst heute noch darauf, dass er ja der große Bruder ist.“ Er rollte mit den Augen und schnaubte, musste aber schmunzeln, als er Yukkes Lachen hörte.

 

„Sag nicht, er kann dich bis heute damit aufziehen?“

 

„Hmpf.“

 

„Geschwister sind was Tolles, schnauf nicht so. Euch war bestimmt nie langweilig. Oder habt ihr euch als Kinder noch nicht so gut verstanden?“

 

„Sagen wir es mal so, wir haben uns gerade so in den ersten Jahren regelmäßig die Nasen blutig geschlagen.“ Tatsuro grinste und rieb sich übers Näschen, das diese tätlichen Übergriffe zum Glück heil überstanden hatte.

 

„Echt jetzt?“ Yukke lachte leise und er nickte.

 

„Ja, und zu meiner Schande muss ich zugeben, dass es meine Nase deutlich öfter erwischt hat als Satochis. Er war schon als Kind eine Sportskanone und immer viel zu schnell für mich.“ Sein Lächeln wurde wehmütig, als ihm wieder in den Sinn kam, was sein Bruder durch den Unfall alles hatte aufgeben müssen. Fußball, Krafttraining, Leichtathletik – alles Dinge, auf die er womöglich für immer würde verzichten müssen.

 

„Tatsue …?“

 

„Ja?“ Er winkte ab, als er Yukkes besorgtem Blick gewahr wurde. „Schon gut, ich war nur in Gedanken.“

 

„Was hat sich geändert? Immerhin schlagt ihr euch heute nicht mehr die Köpfe ein, hoffe ich zumindest.“

 

„Glaub mir, ab und an hätte ich da nicht übel Lust zu.“ Sie lachten und Yukke schnippte ihm tadelnd gegen den Oberarm. Seine erste Reaktion wäre gewesen, die freche Hand einzufangen und sein Gegenüber näher zu ziehen, um …

Aber nein, stattdessen griff er lediglich nach seinem Bier und genehmigte sich einen weiteren Schluck. „Ich war ein ziemlich schmächtiger Junge, was mich allerdings nicht davon abgehalten hat meinen Mitschülern Streiche zu spielen. Und das waren wirklich gute Streiche, das kannst du mir glauben.“ In Tatsuros Augen leuchtete der Schalk. „Und am liebsten hab ich meine Späße mit Satochi und seinen Freunden getrieben. Einmal bin ich wohl zu sehr über die Stränge geschlagen und sie haben mich über das ganze Schulgelände gejagt. Ich hab es für eine grandiose Idee gehalten, mich auf den nächstbesten Baum zu flüchten, aber na ja.“ Er grinste schief und beendete seine Erzählung an dieser Stelle.

 

„Was, na ja? Erzähl schon weiter“, forderte ihn Yukke auf und beugte sich weiter über den Tisch.

 

„Ich bin runtergefallen und hab mir den Arm gebrochen.“ Yukke prustete los, was er ihm absolut nicht übel nehmen konnte. „Ich sagte doch, ich war schmächtig.“

 

„Unsportlich trifft es ja wohl eher.“

 

„He, sei mal nicht so frech hier, sonst wärme ich meine Streiche von früher wieder auf und du wirst zu meinem Versuchskaninchen auserkoren.“

 

„Bin schon still. Also? Hat Satochi Ärger bekommen?“

 

„Nö. Als der Lehrer fragte, was passiert war, habe ich so getan, als wäre ich aus Jux und Tollerei auf den Baum geklettert und Sato und seine Jungs wären erst später dazugekommen, um mir zu helfen.“

 

„Nobel, nobel.“

 

„Fand Sato auch. Er lag danach den Lehrern so lange in den Ohren, bis er für die sechs Wochen, in denen ich nicht schreiben konnte, weil mein Arm ja eingegipst war, in meine Klasse versetzt wurde. Hach ja, das waren wunderbar entspannte Wochen.“

 

„Und du hast das natürlich auch nicht ausgenutzt.“

 

„Nie nicht, was hältst du denn bitte von mir.“ Tatsuro plusterte gespielt empört die Wangen auf, aber es war ihm nur zu deutlich anzusehen, wie amüsiert er war. Yukke blickte ihm direkt in die Augen, ein nahezu liebevolles Lächeln auf den vollen Lippen, bevor er sich erhob, um mit wenigen Handgriffen ihre Teller in die Spülmaschine zu räumen.

 

„Wollen wir ins Wohnzimmer übersiedeln? Ist gemütlicher.“

 

Tatsuro brauchte ein paar Sekunden, um antworten zu können. Yukkes Blick, die Intensität in den warmen Augen, hatten ihn für den Moment komplett aus der Bahn geworfen. Er leckte sich über die Lippen, die sich plötzlich trocken und spröde anfühlten und nickte verspätet.

 

„Ja“, krächzte er und räusperte sich. „Von mir aus gerne.“

 

„Dann geh doch schon mal vor, ich mache hier nur noch kurz klar Schiff.“

 

Wieder zögerte er, erhob sich nur langsam und fixierte seinen Blick zwischen Yukkes Schulterblätter, der sich eben zur Arbeitsplatte umgedreht hatte. Einen halben Schritt machte er auf ihn zu, dann jedoch schüttelte er unhörbar seufzend den Kopf und ging in den angrenzenden Raum hinüber.

Was war denn nun schon wieder los mit ihm? Den ganzen Abend über war alles in Ordnung gewesen und nun warf ihn ein kurzer Blick so dermaßen aus der Bahn? Yukke war bislang ein wahrer Gentleman gewesen, hatte ihren halb betrunkenen Kuss vom Montag mit keiner Silbe erwähnt und auch sonst keinerlei Anspielungen in diese Richtung gemacht.

Und genau das Wurmte ihn maßlos.

War er denn der Einzige hier, dem dieser verfluchte Kuss nicht aus dem Kopf gehen wollte?

Der sich fast minütlich nach diesen weichen, vollen Lippen sehnte?

Schluss jetzt!

 

Innerlich tadelte er sich für seine Gedanken und ließ sich auf das Sofa fallen, nachdem die Deckenbeleuchtung das Wohnzimmer in gemütliches, gelbes Licht getaucht hatte.

Für einen Moment hatte er beinahe so etwas wie ein Déjà-vu, als er den Blick durch den Raum schweifen ließ. Die Einrichtung ähnelte seltsamerweise der Junjis, nur dass die Filmkulisse weitaus weniger bewohnt und behaglich gewirkt hatte.

 

„Kann es sein, dass dein Wohnzimmer als Vorlage für Junjis Appartement am Set herhalten musste?“, rief er in Richtung Küche, aus der Yukke auch soeben getreten kam. Der kleinere Mann hielt zwei Longdrink-Gläser in den Händen und stellte sie auf dem niedrigen Glastischchen vor dem Sofa ab.

 

„Ja.“ Yukke grinste und rieb sich über den Nacken. „Der Drehbuchautor hat nicht beschrieben, wie er sich Junjis Appartement vorstellt und mein Wohnzimmer war wohl das erste, was Miya in den Sinn kam.“ Yukke setzte sich zu ihm, vielleicht etwas näher als es angemessen gewesen wäre, aber selbst dieser Umstand vermochte es gerade nicht Tatsuros Gemütszustand wieder zu beruhigen.

 

„Miya, mh. Er muss ja schon oft hier gewesen sein, dass er den Szenenbildnern alles derart detailliert beschreiben konnte?“ Tatsuro griff nach dem Glas und schnupperte daran, alles, um sich den irrationalen Funken der Eifersucht, der soeben in ihm aufgeflammt war, nicht anmerken zu lassen.

 

„Na ja, wir haben einiges abfotografiert und den Rest hat er ihnen beschrieben. Aber du hast recht, Miya war schon ziemlich oft hier. Immerhin kennen wir uns schon eine halbe Ewigkeit.“

 

Täuschte er sich oder hatte sich in Yukkes Blick tatsächlich so etwas wie ein wissender Funke eingeschlichen? Verdammt, waren ihm seine Gedanken doch so deutlich anzusehen?

 

„So?“, brummte er daher nur ein wenig mürrisch. Miya hier, Miya da. Was fanden alle nur an diesem abgebrochenen Gartenzwerg?

 

„Ja. Wir sind quasi Sandkastenfreunde. Nach der Oberschule haben wir uns zwar einige Jahre aus den Augen verloren, aber gleich bei meinem ersten größeren Film ist er mir als Regieassistent wieder über den Weg gelaufen.“

 

Tatsuro schwieg und probierte stattdessen lieber einen Schluck des Getränks, welches sich als Wodka-Orange entpuppte. Lecker und dennoch verzog er für eine Sekunde den Mund. Allerdings nicht wegen des Alkohols, sondern weil sich in ihm gerade alles dagegen sträubte weiter über Miya zu reden oder mehr darüber zu erfahren, wie nahe sich Yukke und ihr Boss wirklich standen.

Reichte schon, wenn Satochi mit ihm anbandelte.

 

„Du spielst Gitarre?“, stellte er, erleichtert über den Themenwechsel fest, nachdem sein Blick auf einen Instrumentenkoffer in einer der Zimmerecken gefallen war.

 

„Nicht Gitarre, ich spiele Bass … manchmal.“

 

„Bass, hu?“, murmelte er, den Blick unverwandt auf die Schutztasche gerichtet, die für seinen ungeschulten Blick wirklich genauso aussah wie die Amis. „Spiel mir was vor.“

 

„Ehm.“ Yukke rieb sich über den Nacken und wirkte herrlich verlegen, während Tatsuros Blick nun neugierig und auffordernd auf ihm ruhte. „Ich hab schon ewig nicht mehr gespielt und …“

 

„Ach, papperlapapp. Du hast mich singen gehört, dann ist es ja nun nur gerecht, dass du mir was vorspielst.“ Tatsuro verschränkte die Arme vor der Brust und nickte in die Richtung des Instruments. „Zier dich nicht so.“

 

Yukke gab ein abgrundtiefes Seufzen von sich, erhob sich aber und holte seinen Bass aus der Schutztasche. Tatsuro beobachtete ihn dabei, ein kleines Schmunzeln hinter dem Rand seines Longdrink-Glases verbergend, als er der leichten Röte gewahr wurde, die Yukkes Wangen zierte. Aber er blieb auch weiterhin still, wartete geduldig bis sich der andere wieder neben ihn gesetzt und seinen schwarzen Akustikbass fertig gestimmt hatte.

 

„Ich garantiere für nichts, wenn dir die Ohren abfallen, bist du selbst schuld.“

 

Tatsuro lachte nur und machte eine scheuchende Handbewegung.

 

„Leg schon los.“ Ein ergebenes Seufzen konnte sich Yukke wohl nicht verkneifen, aber kurz darauf erfüllten erneut die dumpfen Töne des Instruments das Wohnzimmer. Es dauerte einige Momente, bis Tatsuro sich an den Klang gewöhnt hatte, aber dann glaubte er die Melodie doch tatsächlich wiederzuerkennen.

 

„Du bist ein alter Lügner“, entrüstete er sich. „Von wegen, du hast schon eine Ewigkeit nicht mehr gespielt. Das ist Akihikos Lied!“

 

„Okay, ich hatte ewig nicht mehr gespielt, bis mir Ami die Noten zu ame no orchestra gegeben hat.“ Yukke grinste ihn auf derart charmante Art und Weise an, dass er nicht anders konnte, als dieses nicht minder amüsiert zu erwidern.

 

„So ist das also. Sag nicht, dir gefällt das Lied so gut?“

 

„Mh, nicht allein das Lied …“ Yukkes durchdringender Blick ging ihm erneut durch Mark und Bein und ließ ihn schwer schlucken. Der andere hatte bislang ja noch nie einen Hehl daraus gemacht, dass er ihn gerne singen hörte, aber dies nun mehr oder weniger direkt gesagt zu bekommen …

 

„Also sitzt du seit Wochen nach der Arbeit hier und übst?“

 

„Nein, ich sitze seit Wochen hier, spiele das Lied und stelle mir vor, wie es wäre, wenn du dazu singen würdest.“ Spätestens jetzt hoffte Tatsuro inständig, dass sein Mund nicht gerade vor Verblüffung offenstand, auch wenn es sich leider genauso anfühlte. „Ich will das Stück endlich einmal ganz hören.“

 

„Dann spiel nochmal“, hörte er sich sagen, auch wenn er gerade nicht einmal sicher war, sich auch nur an einen Satz des Liedtextes erinnern zu können. Yukkes Ehrlichkeit schaffte es wirklich jedes einzelne Mal ihn vollkommen aus der Fassung zu bringen.

Er stellte sein Glas auf das niedrige Tischchen und zog die Beine auf das Sofa, um sich im Schneidersitz so hinzuhocken, dass er Yukke ins Gesicht sehen konnte. Für einen endlosen Moment trafen sich ihre Blicke, verharrten sie stumm und vollkommen reglos. Beinahe bildete er sich ein, in Yukkes Augen mehr erkennen zu können, als nur den Wunsch ihn wieder einmal singen zu hören. Und verdammt, er müsste lügen, würde er behaupten, dass es ihm gerade nicht genauso erging. Aber dann richtete sich Yukkes Aufmerksamkeit erneut auf sein Instrument und auch wenn es anders war, als von Ami begleitet zu werden, fand er doch relativ problemlos in das Lied, das ihm mittlerweile so vertraut war.

 

Into a purely white notebook, I start to write down my memories of you.

Outside the window the rain falls like on that day, non-stop since yesterday.

It falls on forever, knocking at the window.
 

Drip, drop, one, two.

Outside the gently shaking window.

The weather forecast predicted rain, did you take an umbrella as you went out?
 

“Goodbye today’s sunshine”, I repeat several times.

If I looked up to the sky, I might see a grain of light.

Ordinary days, orchestra of echoes of the tunes rain plays.
 

I wasn’t surprised at all, to find you in the middle of town where the sinners come and go.

Cherry tree leaves, wet from the early summer rain, and I, waiting for you to come.

A cat, all wet and shriveling, joining you.
 

They look like Hydrangeas,

the umbrellas of the street houses which bloom vividly.

Your brightly red vinyl umbrella that dyed your profile red.
 

The birds in the shade of the trees are tired of waiting for the sky.

But...I don’t hate this rain.

Folding one umbrella, I invite you to stand underneath my little umbrella.
 

The cold air prevents us from standing apart, because of the distance our fingertips touch lightly.

You wear your hair tied up today, yesterday, you had looked more adult.

Dye my ordinary days.
 

As I put down the pen, the rain has stopped. Unnoticed, the sky has started flowing.

You certainly knew about the lies I told you, right?

From the beginning.
 

Our mistakes have flown with the rain, soon, we will also be washed away.

I won’t be found in the picture full of luck you draw.

I, who used to be reflected in your eyes.
 

I hadn’t been surprised at all to find you in the middle of town, where the sinners come and go.

Cherry tree leaves, wet from the early summer rain, and I, waiting for you who is not there.

With my eyes closed, I smell your scent in the wind.

 

Tatsuros Lider blieben geschlossen, auch nachdem die dunklen Klänge des Basses schon lange verhallt waren. Er wusste nicht, wann ihm die Augen zugefallen waren, aber jetzt gerade war er voll und ganz damit beschäftigt die meterdicke Gänsehaut loszuwerden, die das Lied, aber vor allem die seltsam intime Nähe, die sich während des Songs zwischen ihnen eingestellt hatte, mit sich gebracht hatten.

 

„Wunderschön“, hörte er Yukkes Stimme und dieses kleine Wort erinnerte ihn so derart an ihren ersten gemeinsamen Drehtag, dass ihm ein leises Lachen über die Lippen kam. Blinzelnd öffnete er die Augen wieder, als ihm warme Fingerkuppen eine Haarsträhne aus der Stirn strichen. „Viel schöner, als ich es mir immer vorgestellt habe.“

 

„Wenn alle so reagieren wie du, muss unser Film ja ein Kassenschlager werden“, scherzte er, konnte aber auch damit die Anziehung, die nun zwischen ihnen herrschte, nicht schmälern. Er fühlte sich, als würde er ferngesteuert werden, als wäre Yukke ein Magnet, der ihn unaufhaltsam näher zog; und bevor er richtig verstand, was hier gerade passierte, waren sie einander so nahe, dass er den warmen Atem des anderen über sein Gesicht kitzeln fühlen konnte.

 

„Tatsue.“ Yukke biss sich auf die Unterlippe und er selbst fühlte sich bei diesem Anblick so, als hätte er einen Stromschlag abbekommen, der nun mit prickelnder Hitze durch seinen Körper raste.

 

„Tut mir leid, aber meine Erste-Hilfe-Stunden liegen schon eine ganze Weile zurück“, platzte es dann plötzlich aus ihm heraus, als er diese unerträgliche Spannung zwischen ihnen einfach nicht mehr ertragen konnte.

 

„Wa… Was?“

 

„Na …“ Er wedelte mit der Hand in der Luft herum, als würde er Yukke Sauerstoff zufächeln wollen. „Du hast in den letzten Sekunden so oft die Gesichtsfarbe gewechselt, dass ich dachte, du würdest mir jeden Moment vor die Füße kippen, daher wollte ich das nur klarstellen.“

 

„Du …“ Yukke schüttelte den Kopf und lachte. „Du bist wirklich unglaublich.“

 

„Das hör ich doch gerne.“ Auch Tatsuro grinste nun breit, deutlich erleichtert, bis der andere sich einfach so nach vorne kippen ließ und sich gegen seine Schulter lehnte. Für einen Augenblick erstarrte er, dann aber hoben sich seine Arme wie von selbst, legten sich um Yukkes Rücken und zogen ihn näher an sich. Ein wenig unbequem war ihre Haltung, aber in dieser Sekunde hätte ihn nicht einmal ein mittelschweres Erdbeben davon abhalten können, den kleineren Mann weiterhin festzuhalten.

„Yukke“, murmelte er, vergrub seine Finger in den weichen Strähnen und atmete den angenehmen Duft ein, der so typisch für seinen Drehpartner war und der ihm schon in die Nase gestiegen war, als sie sich zum ersten Mal in der BLP über den Weg gelaufen waren. „Was tun wir hier?“

 

„Das, was ich schon den ganzen Abend tun will.“ Yukkes Stimme war kaum zu hören, dafür spürte er jede Bewegung, jedes Ausatmen an seinem Hals. Ein Schauer rann ihm über den Rücken, als es nun weiche Lippen waren, die hauchzarte Küsse dort verteilten. Unwillkürlich seufzte er, neigte den Kopf leicht zur Seite und erschauderte erneut, als Yukke dies wohl als Einladung ansah und seine Berührungen intensiver werden ließ. „Ich kann seit Tagen an nichts anderes mehr denken, als daran, dass ich dich noch einmal küssen will.“

 

Mit einem Mal sah er sich wieder diesen warmen Augen gegenüber, die ihn schon von der ersten Minute ihrer Begegnung an in den Bann geschlagen hatten.

 

„Yukke, ich …“

 

„Schsch.“ Ein Zeigefinger legte sich nachdrücklich über seine Lippen. „Nicht reden.“

 

Reden? Nein. Reden verlangte nach Hirnleistung und eben jene konnte Tatsuro in diesem Augenblick beim besten Willen nicht aufbringen. Nicht, wenn er schon in der nächsten Sekunde endlich wieder Yukkes weiche Lippen auf seinen eigenen spüren durfte und nicht, wenn sich der andere so anschmiegsam zeigte, dass ihm gar nichts anderes übrigblieb, als sich auf diesen Wahnsinnskuss einzulassen.

 

Forschende Hände streichelten über seinen Rücken, glitten hoch bis zum Nacken und machten sich schließlich an dem dünnen Zopfgummi zu schaffen, in dem er seine langen Haare den Abend über gebändigt gehalten hatte. Erstaunlich sanft befreiten sie ihn davon, während er es sich zur Aufgabe machte Yukkes süßen Mund zu erforschen und sich erneut mit all dem vertraut zu machen, was er in den letzten Tagen so vermisst hatte. Er seufzte, als die sanften Finger nun durch seine Strähnen glitten, eine erneute Gänsehaut mit sich brachten.

 

„Dito, mir ging es nicht anders“, gab er schließlich doch wispernd zu, haschte immer wieder nach den vollen Lippen, während er sich etwas ungeschickt wieder richtig auf das Sofa setzte, nur um den anderen sogleich auf seinen Schoß zu ziehen. Keine Sekunde später fand er sich erneut in einem innigen Kuss wieder, der beinahe noch leidenschaftlicher als der Vorangegangene war und ihm jetzt schon den Atem zu rauben drohte. Himmel, ihm war bislang nicht einmal bewusst gewesen, wie sehr er es vermisst hatte, jemanden zu küssen, selbst geküsst zu werden und diese intime Nähe zu einem anderen Menschen zu spüren. Nobu hatte wirklich deutlich mehr angerichtet, als nur seine Karriere beinahe zu ruinieren.

 

Nobu …

Er stockte.

All die Lügen, die er über ihn erzählt hatte …

Die wütenden Anschuldigungen des Produktionsleiters …

Der Rausschmiss …  

 

Für einen kurzen Moment drohte ihn seine Vergangenheit einzuholen, reckten die Zweifel ihre hässlichen Häupter und wollten ihm einreden, dass es falsch war, was er hier tat. Dass Yukke ein Kollege war, verdammt nochmal, und dass er lieber die Finger von ihm lassen sollte, wenn er nicht wieder enttäuscht werden wollte.

Aber dann spürte er erneut forschende Finger, die sich nun einen Weg unter sein Hemd suchten und einen zärtlichen Biss in seine Unterlippe, der ihm ein leises Keuchen entlockte.

Er öffnete die Augen, suchte Yukkes Blick und fand darin nichts als Wärme und die gleiche Lust, die vermutlich auch ihm nur zu deutlich ins Gesicht geschrieben stand.

 

„Tatsue“, murmelte sein Drehpartner gegen seine Lippen, hauchte kleine Küsschen darauf, bevor er sich erneut an seinem Hals zu schaffen machte. Und, oh Gott, das fühlte sich so unglaublich gut an. Tatsuro seufzte und wühlte seine Finger erneut in die brünetten Strähnen, während er mit der anderen unter das dünne Shirt schlüpfte. „Shit!“ Plötzlich zuckte Yukke erschrocken zurück und starrte ihn aus großen Augen an. „Wie kannst du bitte derart kalte Hände haben?“

 

Er grinste und spreizte eben jene Eisfinger, um Yukke damit ein weiteres Wegzucken und Keuchen zu entlocken.

 

„Sorry, aber das ist normal, wenn ich auf…“ Er hielt abrupt inne und biss sich fest auf die Zunge, um ja nicht weiterzusprechen. Verdammt, denken war heute wohl wirklich nicht mehr seine Stärke. Yukke indes entspannte sich langsam wieder und ein nachdenklicher Ausdruck schlich sich in seinen Blick, bevor ein wissendes Lächeln die rot geküssten Lippen umspielte.

 

„Mache ich dich etwa nervös?“

 

„Pfff, das würdest du dir wohl wünschen.“ Frech ließ er nun noch seine zweite Hand unter den dünnen Stoff gleiten und genoss den sichtbaren Schauer, den seine Tat mit sich brachte.

 

„Leugnen ist zwecklos, du hast dich längst verraten.“ Yukke hob die Arme und er ließ sich diese Einladung natürlich nicht entgehen, schob das Shirt immer höher, bis der andere es sich schlussendlich über den Kopf zog und unachtsam auf den Boden fallen ließ.

Angetan ließ er seine Augen über den schönen Oberkörper wandern, rieb mit beiden Händen über die herrlich starken Oberarme. Yukke war nicht übermäßig muskulös, aber das, was er zu bieten hatte, gefiel ihm äußerst gut. Er lächelte zufrieden und ließ seinen Blicken neugierige Berührungen folgen, die sich einen Weg von den Schultern ausgehend tiefer suchten.

 

„Nnnh, ich muss wohl wirklich dafür sorgen, dass dir wärmer wird.“ Yukke grinste ihn schief an und er konnte nur zu genau die Gänsehaut unter seinen Fingerkuppen spüren.

 

„Ach komm schon, so kalt sind meine Hände nun auch nicht.“

 

„Kalt genug.“ Yukke beugte sich vor und küsste ihn erneut, während sich seine Finger fast ungeduldig an den Knöpfen seines Hemdes zu schaffen machten.

 

Tatsuro drängte die forschende Zunge zurück, eroberte das nicht mehr gänzlich fremde Reich ein weiteres Mal für sich und brummte angetan, als sich der andere nun nahe an ihn schmiegte, sich ihre nackten Oberkörper berührten. Eine Gänsehaut erfasste ihn und er bemühte sich nicht einmal sein Erschauern zu verbergen, viel zu angenehm war es, Yukke endlich so spüren zu können. Himmel, was sollte das nur werden, wenn er sich doch jetzt schon wie ein Verhungernder fühlte? Er sehnte sich so sehr nach Nähe, danach zu berühren und selbst berührt zu werden, dass er es kaum noch ertragen konnte. Mit wenigen Handgriffen war er sein Hemd endgültig losgeworden und klammerte sich nun regelrecht an seinem Gegenüber fest. Ihr folgender Kuss hatte beinahe etwas verzweifelt Leidenschaftliches an sich, während jede Faser seines Körpers nach mehr, immer noch mehr verlangte.

 

Yukkes Hände legten sich an seine Wangen, glitten in seinen Nacken und fuhren durch sein Haar, bevor er sich ein kleines Stück von ihm zurückzog, nicht ohne ihm ein eindeutig unwilliges Murren zu entlocken. Ihr schneller Atem mischte sich, war das einzige Geräusch im sonst stillen Wohnzimmer und wieder zierte eine leichte Röte die Wangen des anderen, machte ihn in diesem Moment nur noch begehrenswerter.

 

„Himmel, ganz so … war das eigentlich nicht geplant.“ Yukke lächelte auf ihn herab und fuhr sich durch die komplett zerstörten Haare.

 

„Nicht?“ Er erwiderte das Lächeln und gönnte sich den Spaß, leicht über Yukkes Rücken zu kratzen.

 

„Ne… ha, nein. Sein Gegenüber drückte den Rücken durch und kniff die Augen zusammen, bevor er mit einem versucht bösen Blick gestraft wurde. „Und das war unfair.“

 

„Ich weiß.“

 

„Tatsue, ich … Bist du dir sicher? Ich meine … Ich, na ja …“ Yukke seufzte und lehnte seine Stirn gegen die Tatsuros.

 

„Schsch, nicht reden“, nutzte er Yukkes Worte von gerade eben und schmunzelte. „Du bist wirklich viel zu gut für diese Welt, weißt du das?“

 

„Das hast du schon mal gesagt.“

 

„Und es stimmt.“ Er streichelte über die gerötete Wange, beließ seine Hand dort und dirigierte den anderen so, dass sich ihre Lippen beinahe wieder berührten. „Du tust mir unglaublich gut, weißt du das?“, wisperte er kaum hörbar und verschloss Yukkes Mund mit seinen Lippen, bevor dieser die Chance bekommen würde etwas darauf zu erwidern. Er hatte ohnehin schon viel zu viel gesagt, aber irgendwie …

 

Yukke schien ihn auch so verstanden zu haben, denn selbst als sie sich eine ganze Weile später wieder lösten, um ihren schreienden Lungen den wohlverdienten Sauerstoff nicht länger vorzuenthalten, griff er das Thema von eben nicht nochmal auf. Stattdessen hatte es ihm Tatsuros Hals erneut angetan, was er doch überaus angenehm fand. Ein erstes, noch sehr leises Stöhnen entrang sich ihm, als es nun nicht mehr nur Lippen waren, die die empfindliche Haut dort liebkosten, sondern auch erste zärtliche Bisse kleine Hitzewellen durch seinen Körper jagten. Der andere schien seine selbstgewählte Aufgabe ihn aufwärmen zu wollen wirklich überaus ernst zu nehmen und hatte damit auch deutlichen Erfolg.

 

„Hnnn, Yukke.“ Mit leicht geöffnetem Mund lehnte er sich stärker gegen das Sofa und legte den Kopf in den Nacken, um noch mehr Angriffsfläche zu bieten. Doch mit einem Mal blieben die erregenden Liebkosungen aus und nur ein überraschtes Einatmen war zu hören.

 

„Wow! Dann hab ich mich am Set also doch nicht verguckt.“

 

Auf Tatsuros Lippen legte sich ein selbstzufriedenes Lächeln, als die warmen Fingerspitzen zurückkehrten und neugierig das berührten, was Yukkes Verwunderung ausgelöst hatte.

 

„Das ist eine Kobra, oder?“

 

„Eine Königskobra, ja.“

 

„Beeindruckend.“ Yukke zeichnete die Konturen der Tätowierung nach, die Tatsuros Oberkörper zierte. „Das muss ja ewig gedauert haben, bis es fertig war, oder?“

 

„Ich habe längst aufgehört mitzuzählen, wie viel Zeit und Geld ich in die Hübsche schon investiert hab.“ Er schmunzelte und genoss es sichtlich, wie angetan Yukke von seinem Körperschmuck zu sein schien. „Und sie ist noch nicht mal fertig.“

 

„Nein?“

 

„Nein.“ Er erschauerte sichtlich, als es nun weiche Lippen waren, die sich über seine Brust, immer tiefer küssten.

 

„Verrätst du mir, wie weit das Tattoo geht?“ Yukkes warmer Atem kitzelte über seine Haut und er ließ sich erneut nach hinten gegen die Sofalehne sinken. Leise seufzend schüttelte er den Kopf und grinste dann frech.

 

„Nein, ich glaube nämlich, dass du das heute noch früh genug herausfinden wirst.“

 

„Glaubst du das, ja?“

 

„Mhmh.“ Tatsuro schloss die Augen, als Yukke sich von seinem Schoß erhob und sich ohne zu zögern zwischen seine Beine kniete.

 

„Gut, ich denke, du hast recht.“

 

„Yu+~“, keuchte er und reckte sich der heißen Zunge entgegen, die neckend seine Brustwarze umkreiste. Seine Rechte fand ihren Weg in Yukkes weiche Strähnen, kraulte hindurch, während ihm immer wieder kleine Laute entkamen, je intensiver die Berührungen wurden. „Mmmh, fühlt sich gut an“, schnurrte er, als Yukke sich noch tiefer küsste, hier und da auch mal leicht in seine Haut biss.

 

„Was hältst du davon, wenn wir es uns ein wenig gemütlicher machen?“

 

Noch bevor er antworten konnte, sog er zischend die Luft zwischen den Zähnen ein, als Yukkes Zunge in seinen Bauchnabel stippte und seine Hand sich plötzlich auf seinen Schritt legte.

 

„Ugh …“

 

„War das eine Zustimmung?“ Yukke grinste ihn von unten herauf an und rieb mit einem unverschämt selbstzufriedenen Funkeln in den Augen über seine Erregung, die sich nur zu deutlich unter dem Stoff der Hose abzeichnete.

 

„Na und ob das eine Zustimmung war.“ Er beugte sich vor und eroberte die lächelnden Lippen in einem innigen Kuss, bevor er sich erhob und Yukke ebenso auf die Beine zog. „Nach dir, ich folge unauffällig.“

 

 

-_-_-_-_-

 

Fast auf den letzten Drücker hab ich es doch noch geschafft, das Kapitel hier im November fertigzubekommen. Ich bin tatsächlich ein bisschen stolz auf mich. *lacht*

hoffentlich gefällt es euch und wie immer würde ich mich riesig über jede Art von Feedback freuen.

Ein herzliches Dankeschön geht an dieser Stelle auch an meine fleißigen Kommentarschreiber, die mir die Arbeit an dieser Geschichte jedes Mal aufs Neue versüßen.

Das Copyright für die Übersetzung der ame no orchestra Lyrics liegt wie immer bei J-Pop Asia: [U]https://www.jpopasia.com/lyrics/13936/mucc/ame-no-orchestra.html[/U]

Klappe, die Achte

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Klappe, die Neunte

Das ganze Wochenende hatte er sich ablenken können, was er zu einem Großteil den unermüdlichen Bemühungen seines Bruders zu verdanken hatte, die ihn ziemlich effektiv vom Grübeln abgehalten hatten. Aber kaum hatte er am Montag die BLP betreten, war sein erster Gedanke der an Yukke gewesen und daran, ob er vielleicht überreagiert hatte.

Hätte er ihn zu Wort kommen lassen sollen? Womöglich hätte er ihm ohne weiteres erklären können, was genau dieses Interview zu bedeuten hatte. Ach, was machte er sich vor? Wenn Yukke wirklich genau so über ihn dachte, wie es in diesem Käseblatt stand, dann war es doch sein gutes Recht. Ihm selbst war immerhin nur zu genau bewusst, dass er anstrengend sein konnte, auch wenn man ihm derart viel Selbstreflexion nur selten zutraute. Er wusste, dass nicht jeder mit seiner Art die Dinge anzupacken zurechtkam und wenn es seinen Drehpartner nervte, dass sie durch seine Improvisationen länger am Set bleiben mussten, um in Miyas Augen verpatzte Szenen nachzudrehen, dann war es eben so. Keine große Sache, oder? Nein, wirklich nicht; und wäre es nur das gewesen, hätte sich sein Stolz zwar ziemlich angekratzt gefühlt, aber er hätte schlussendlich über diesen Mist hinwegsehen können.

 

Aber die Tatsache, dass sein Drehpartner natürlich doch – wie hätte es auch anders sein können –über den Eklat mit United Productions Bescheid wusste, schlimmer noch, dass er auch noch die Sache mit Nobu mitbekommen hatte und dennoch so getan hatte, als wäre ihm das alles vollkommen neu, war wie ein Schlag ins Gesicht. Wie hatte Yukke ihn nur so belügen können? Wie hatte er ihm nur derart kaltschnäuzig weiß machen können, dass er von nichts eine Ahnung hatte, als sie sich die Nachrichten geschrieben hatten. Als er Yukke sein Innerstes geöffnet, sich so verdammt verletzbar gemacht hatte und eigentlich nur Trost in den mitfühlenden Worten des anderen gesucht hatte? Tatsuro fühlte sich verraten, auf die schlimmste Art und Weise.

Himmel, er war so ein Idiot gewesen. Warum nur hatte er sich von dieser verflucht einfühlsamen Art seines Drehpartners nur wieder und wieder so derart einlullen lassen?

 

Innerlich seufzend rieb er sich über die brennenden Augen und versuchte zum gefühlt hundertsten Mal sich den neuen Songtext einzuprägen. Ame no orchestra hatte er in den letzten beiden Tagen bereits eingesungen und Ami sowie der Tontechniker schienen ganz zufrieden damit gewesen zu sein. Aber heute wollte einfach nichts klappen. Dieser neue Song machte ihm wirklich zu schaffen, weil er irgendwie einfach nicht in seinen Kopf wollte und zu allem Überfluss schlichen sich wieder und wieder die unpassendsten Gedanken in seine Hirnwindungen.

War es denn nicht schon schlimm genug, dass er sich von Yukke derart verraten fühlte? Dass ein irrer Stalker ihm nach dem Leben trachtete und allem Anschein nach keinerlei Skrupel hatte, wenn er mit seinen Anschlägen auch andere Menschen in seinem Umfeld verletzte?

All die Gedanken und Sorgen, die gerade in seinem Kopf umherkreisten und sich wie säure in seine Gehirnwindungen fraßen, würden gut und gerne auch für zwei Leben vollkommen ausreichen, also warum zum Teufel dachte seine Libido dann komplett anders darüber und fütterte ihn zwischendurch immer mal mit netten Bildern, die ihn nur noch mehr aus dem Konzept brachten?

Die Erinnerung an schweißfeuchte Haut, die sich nah an seine presste, ließ ihn wohlig erschaudern und das Echo lustvoll gewisperter Worte seine Augen glasig werden.

Himmelherrgott, war er denn ein Teenager, der seine Hormone nicht im Griff hatte?

 

Und dennoch … Das Gefühl von Nähe und Geborgenheit, das er so verdammt lange schon nicht mehr gespürt hatte, war so unglaublich stark gewesen in dieser Nacht, dass der Verlust nun nur noch umso mehr schmerzte. Wenn er ehrlich mit sich war, vermisste er Yukke trotz allem und allein dafür hätte er sich ohrfeigen können.

 

Seit seinem überstürzten Abgang am Samstag hatte er nichts mehr von ihm gehört und auch am Set waren sie sich bislang nicht über den Weg gelaufen, was sich jedoch bald ändern würde. Gott, allein der Gedanke Yukke nachher beim Dreh gegenüberstehen zu müssen, ließ seinen Magen schmerzhaft krampfen. Wut und Sehnsucht fochten seit Tagen nun schon einen gnadenlosen Kampf in seinem Inneren aus und ließen ihn einfach nicht zur Ruhe kommen. Für keine verfluchte Sekunde. Er hatte das Gefühl verrückt zu werden, würde das so weitergehen.

Sein Blick wanderte ziellos durch den mit allerlei Technik vollgestopften Aufnahmeraum, der sich hinter der dicken Scheibe seiner schallgeschützten Glaskabine erstreckte und der in den letzten Tagen seine Zuflucht geworden war. Keinen Fuß hatte er aus diesem Kämmerchen gesetzt, nicht einmal um in seiner Garderobe die Pausen zu verbringen.

 

//Und all das nur, weil ich ein verfluchter Feigling bin.//

 

Wieder musste er sich ein Seufzen verkneifen, während das Intro des neuen Songs zum gefühlt hundertsten Mal aus seinen Kopfhörern dudelte.

Ob er vielleicht doch mal die ganzen Nachrichten lesen sollte, die Yukke ihm geschrieben und die er bislang so rigoros ignoriert hatte? Vielleicht würde sich dann alles regeln. Womöglich gab es für alles eine plausible Erklärung und er machte sich hier wegen nichts und wieder nichts verrückt. Das war doch alles einfach nur noch zum Haare raufen; und hätte er nicht den ganzen Vormittag schon mit Kopfschmerzen zu kämpfen, hätte er dies vielleicht tatsächlich getan.

Wie er es hasste, wenn er nicht wusste, was er tun sollte.

 

„Machen wir Schluss für heute, Tatsuro, das hat so keinen Sinn.“ Amis ruhige Stimme ersetzte die Melodie des Songs, riss ihn zielsicher aus seinen Gedanken und führte ihm damit deutlich vor Augen, dass er erneut seinen Einsatz verpasst hatte. Großartig. Diesmal seufzte er tatsächlich abgrundtief und nahm die unbequemen Kopfhörer ab, unter denen seine Ohren unangenehm glühten. Unzufrieden mit sich und seiner miesen Performance verließ er den Glaskasten und nahm dankend die Flasche Wasser entgegen, die Ami ihm reichte. Das Wasser kühlte seine raue Kehle und für einen Moment stand er nur reglos an Ort und Stelle, hatte die Augen geschlossen und versuchte vergebens Antworten auf all die Fragen zu finden, die in seinem Kopf umherschwirrten. „Du solltest jetzt lieber in die Maske, in knapp zwei Stunden geht der Dreh los und wir wollen doch vermeiden, dass Miya Mordgelüste bekommt. Ich hänge an meinem Leben.“ Die junge Frau lächelte ihn an und er bemühte sich redlich die gutgemeinte Geste zu erwidern, scheiterte jedoch kläglich.

 

„Du hast recht“, nickte er untypisch wortkarg, packte seine Sachen zusammen und verließ mit einem flüchtigen Winken den Raum. Um ehrlich zu sein, war es ihm gerade herzlich egal, ob sein Abgang nun unhöflich war oder ob Ami sich womöglich Sorgen machen würde. Ihm war gerade einfach nicht nach Gesellschaft und seine Sozialkompetenz hatte er heute Morgen wohl im Bett zurückgelassen. Er fuhr sich durchs Haar und hätte am liebsten frustriert aufgeschrien, so sehr war er von sich selbst genervt. In Momenten wie diesen wünschte er sich, er hätte das Rauchen nicht vor Jahren schon aufgegeben, denn so eine Zigarette hätte ihn wenigstens für ein paar Minuten vom Grübeln abhalten können.

 

Derart fahrig und unkonzentriert wie er gerade war, war es also kein Wunder, dass er Kaisuke nicht bemerkte, der über und über bepackt mit allerlei Kostümen und Papierkram auf ihn zueilte. Und natürlich kam es, wie es kommen musste. Die beiden Männer stießen im vollen Lauf zusammen, was Kaisuke zielsicher von den Füßen riss und seine Last über die gesamte Breite des Flurs verteilte.

 

„Verdammt noch mal, pass doch auf, wo du hinläufst!“, fauchte Tatsuro, der sich an einer der Wände abgestützt hatte und so dem schmerzhaften Kontakt mit dem Betonboden entgangen war. Aufgebracht strich er sich einige wirre Haarsträhnen aus dem Gesicht, stieß sich von der Wand ab und war bereits drei Schritte in Richtung seiner Garderobe gegangen, bevor ihm erneut ein Seufzen über die Lippen kam und ihn innehalten ließ. Langsam drehte er sich herum und betrachtete den vollkommen bedröppelt wirkenden Assistenten, der noch immer bewegungslos in Mitten von Stoff und Papier saß und irgendwie den Eindruck erweckte, als würde er jeden Augenblick zu heulen beginnen. Tatsuro ließ ergeben die Schultern hängen, trat näher an ihn heran und reichte ihm die Hand. „Ach, was soll's schon“, nuschelte er, „hoch mit dir, bevor noch jemand über dich fällt.“

 

Kaisukes große und tatsächlich etwas wässrige Augen starrten ihn hinter den dicken Brillengläsern für einen langen Moment nur an, als wäre er eine Erscheinung, dann jedoch ging ein sichtbarer Ruck durch ihn, als er die entgegengestreckte Hand schlussendlich doch noch ergriff und sich auf die Beine ziehen ließ.

 

„D… danke, Tatsuro-san, und entschuldigen Sie bitte, ich hab Sie nicht gesehen.“

 

„Ja, ja, das hab ich bemerkt“, brummte er, während er sich nach einigen der Blätter bückte. Ein flüchtiger Blick darauf bestätigte seinen Verdacht, dass es sich dabei mal wieder um das Skript zur neuen Staffel von WORLD OF DECEPTION handelte. „Sag mal, dein Vorsprechen war doch schon, oder?“, erkundigte er sich nur halbherzig interessiert, während Kaisuke eilig die Kleidungsstücke und restlichen Zettel vom Boden aufsammelte.

 

„Ja, das war schon“, keuchte dieser nun etwas außer Atem und als er seine Aufgabe beendet hatte und Tatsuro wieder ins Gesicht sah, hatten sich auf seinen Wangen hektisch rote Flecken gebildet. „Ich habe es genau so gemacht, wie Sie es mir geraten haben und für eine der Hauptrollen vorgesprochen.“

 

„Hast du das, ja?“ Tatsuro zog ehrlich erstaunt eine Augenbraue hoch, denn klar, er hatte Kaisuke diesen Ratschlag gegeben, aber wirklich daran geglaubt, dass der eher schüchterne und introvertierte Mann ihn auch befolgen würde, hatte er ehrlich gesagt nicht. „Und?“ Er stopfte die Blätter irgendwo zwischen das dürre Ärmchen seines Gegenübers und den Stapel an Kleidung, den dieser gegen seine Brust gedrückt hielt, bevor er ihn abwartend anschaute. „Wie ist es gelaufen?“

 

„Sie haben mich nicht für die Hauptrolle genommen; natürlich nicht …“ Kaisuke grinste schief und hätte sich wohl beschämt über den Hinterkopf gerieben, wäre er nicht so beladen gewesen. „Aber ich soll morgen noch einmal den Text eines Nebencharakters vorsprechen.“ Und nun strahlte der Kleine derart atomar, dass sich selbst Tatsuros Mundwinkel hoben, bis sich auch auf seine Lippen ein zwar kleines, aber doch beinahe stolzes Lächeln legte.

 

„Na also, geht doch.“ Er klopfte dem hageren Assistenten auf die Schulter, was diesen beinahe wieder in die Knie gehen ließ und drehte sich zum Gehen. „Hals- und Beinbruch, Kai-kun.“

 

„Vielen Dank, Tatsuro-san!“, rief Kaisuke ihm noch hinterher, aber er drehte sich nicht noch einmal um, sondern verschwand mit großen Schritten hinter der nächsten Ecke.

 

 ~ *~

                              

„Hallo Yumiko“, grüßte er monoton und erneut tief in seine gänzlich sinnlosen Grübeleien versunken, als er seine Garderobe betrat und Garas Freundin dort bereits recht geschäftig umherwuseln sah. Nein, geschäftig war nicht wirklich das richtige Wort dafür, vielmehr wirkte Yumiko hektisch und ein wenig … schuldbewusst? Tatsuros Stirn legte sich in Falten, als er seinen Blick vom Gesicht der Make-up Artistin zu ihren Händen gleiten ließ, die irgendetwas auffällig unauffällig hinter ihrem Rücken versteckten. Langsam schlich sich ein kleines, wissendes Schmunzeln auf seine Lippen, als ihm klar wurde, was genau hier gerade vor sich gegangen sein musste. Übertrieben enttäuscht schüttelte er den Kopf und schnalzte tadelnd mit der Zunge. „Yumiko, Yumiko, vergreifst du dich mal wieder an meinen Fan-Geschenken?“

 

„N… nein?“ Eine leichte Röte schlich sich auf die Wangen der jungen Frau, nachdem sie tatsächlich eine flache, rechteckige Schachtel hinter ihrem Rücken hervorgezogen hatte, die verdächtig nach einer Packung Pralinen aussah, und sie ihm hinhielt. „Ich wollte sie mir nur näher angucken“, murmelte sie kleinlaut, doch das verschmitzte Funkeln in ihren Augen verriet sie.

 

„Na klar, du wolltest sie dir nur angucken, wer’s glaubt.“

 

Früher, als er noch beinahe täglich mit Geschenken dieser Art überhäuft worden war, hatten sie dieses Spielchen oft gespielt, besonders wenn Yumikos feines Näschen unter geschmackvollem Geschenkpapier und üppigen Schleifen Schokolade gewittert hatte. Aber seit seine Kariere den Bach heruntergegangen war, gab es auch kaum noch Fans, die ihm etwas schenkten. Und als er nun die Schachtel entgegennahm, war es auch nicht das bittersüße Gefühl vergangenen Rums, welches ihn durchströmte, sondern die Erinnerung an das letzte vermeintliche Fan-Geschenk, welches sich als perfide Falle seines Stalkers herausgestellt hatte. Kritisch betrachtete er die schlichte, violette Box und war versucht, sie einfach in den Papierkorb zu werfen.

 

„War die nicht eingepackt?“, erkundigte er sich und hielt das doch so unschuldig wirkende Geschenk noch immer wie etwas Giftiges in Händen.

 

„Doch … ehm … es könnte rein theoretisch möglich sein, dass ein Geschenkpapier darum gewickelt war.“ Yumiko grinste ihn schelmisch an, bis sie wohl seinen Gesichtsausdruck bemerkte und mit einem Mal ernst wurde. „He, was ist denn? Okay, ich hätte ein Geschenk an dich nicht einfach aufmachen sollen, das weiß ich ja, aber …“ Wieder hielt sie inne und mit einem Mal wurde ihr Blick deutlich misstrauisch. „Meinst du, mit dem Geschenk stimmt etwas nicht?“ Sie drehte sich zur Ablage unter den großen Spiegeln und hob ein weißes Satin-Band auf, an dem eine kleine ebenso weiße Karte mit violetten Herzen darauf befestigt war. „Ich dachte, es wäre vielleicht ein verspätetes Geschenk zum Valentinstag, wegen der Grußkarte und so.“

Tatsuro streckte die Hand danach aus und klappte das Kärtchen auf, auf dem nur wenige Zeichen geschrieben standen.

 

Zur Aufmunterung.

Y.

 

„Mmmh“, brummte er, „mach dir keine Sorgen, Yukke scheint sich nur einen Scherz mit mir erlaubt zu haben.“ Angestrengt versuchte er sein Augenrollen amüsiert aussehen zu lassen, ob er damit jedoch wirklich erfolgreich war, wagte er mal zu bezweifeln. Es war nicht so, dass er zwingend ein Geheimnis daraus machen wollte, dass er noch bis vor wenigen Tagen deutliches Interesse an seinem Drehpartner gehegt hatte, aber unter den momentanen Umständen war es ihm lieber, wenn Yumiko nicht die falschen – richtigen – Schlüsse zog.

Im Augenblick wusste er ja nicht einmal, ob er erleichtert oder verärgert sein sollte. Zumindest war die Schachtel also nicht von seinem Stalker, das war doch schon mal etwas, aber mal ehrlich, wie dreist musste Yukke sein, um ihm nach allem was vorgefallen war ein Geschenk zu machen? Und dann auch noch mit so einem selten dämlichen Spruch. Mit Schwung pfefferte er das Geschenkband samt Karte in den Papierkorb und hätte auch die Schachtel dazu geworfen, hätte ihn Yumiko nicht zurückgehalten.

 

„Tatsue, nicht! Das kannst du nicht machen! Da sind lauter kleine Schokoladenherzen in der Packung und ich glaub, sie sind mit Nougat gefüllt und ich hab meine Tage und könnte gerade morden für die Dinger. Bitte, nur eines?“

 

Seine Stylistin hatte all diese Informationen binnen weniger Sekunden heruntergerattert und schaute ihn nun aus großen, feucht glänzenden Augen so derart flehend an, dass er sie wohl ausgelacht hätte, würde in ihm nicht gerade das absolute Chaos vorherrschen. Stattdessen öffnete er die Schachtel, ohne näher auf ihre Worte einzugehen, und betrachtete die hübsch eingeschichteten Schokoladenstückchen, die nicht wirklich wie selbstgemacht aussahen.

Seltsam. Ein unangenehmer Schauer rann ihm über den Rücken und wieder hatte er die wenigen Zeichen auf der Karte vor Augen. Irgendwas war hier doch faul, oder? War das wirklich Yukkes Handschrift? Und dann diese herzförmigen Pralinen hier. Das war doch etwas viel des Guten, oder? Mal ganz davon abgesehen, dass Konfekt aus dem Supermarkt immer eingeschweißt war und Handgefertigtes aus einer Manufaktur anders aussehen würde.

 

„Tatsu~! Ich bin blutleer wie ein Vampir, mein Uterus will mich ermorden und du willst mir allen Ernstes das Einzige vorenthalten, was mir Linderung verschaffen würde?“

 

„Um Himmelswillen, Frau!“ Tatsuro verzog das Gesicht, als er so rüde aus seinen Überlegungen gerissen wurde und verdrehte die Augen gen Himmel. Yumiko besaß wirklich die göttliche Gabe mit nur wenigen Worten all das zu berichten, was er niemals hätte hören wollen. Ruckartig streckte er ihr die Pralinenschachtel entgegen, alles, um sie auch ja zum Schweigen zu bringen. „Da, nimm sie schon, bevor du mir noch mehr Details deiner anatomischen Vorgänge beschreibst, die mich nachts nicht schlafen lassen.“

 

„Och, bist du heut wieder empfindlich.“

 

Von der eben noch so leiderfüllten  Miene seiner Stylistin war binnen Sekunden nichts mehr übrig, als sie ihm nun mit gierigem Glitzern in den geweiteten Augen die Süßigkeit regelrecht aus der Hand riss. Fehlte nur noch ein gezischeltes: „Mein Schatz“ und ihre Gollum-Imitation wäre perfekt gewesen. Tatsuro schnaubte und konnte sich gerade so noch eines der kleinen Herzen schnappen, welches er nun nachdenklich zwischen Daumen und Zeigefinger drehte, während das miese Gefühl in seinem Inneren einfach nicht nachlassen wollte.

 

Verflucht, wann war er nur so misstrauisch geworden?

//Vielleicht, als dein Bruder monatelang auf der Intensivstation lag? Oder nachdem dir das letzte Geschenk beinahe die Halsschlagader durchtrennt hätte?//, zischelte ihm seine innere Stimme gehässig zu und veranlasste ihn dazu über sich selbst genervt mit den Augen zu rollen. Wenn er so weiter machte, würde er bald hinter jeder Ecke eine Gefahr lauern sehen und spätestens dann hätte der Stalker gewonnen, verdammt noch mal!

 

Tatsuro straffte die Schultern und war gerade im Begriff das schlechte Gefühl so weit wie möglich von sich zu schieben, als hinter ihm die Tür aufging und Gara den Raum betrat. Unbewusst spielte er mit der Praline in seinen Fingern und drehte sich betont unbeschwert herum, einen flapsigen Spruch auf den Lippen, der die liebe Freundin seines Managers in nicht ganz so positivem Licht hätte erstrahlen lassen, da ging plötzlich ein Ruck durch ihn. Wie in Zeitlupe richtete sich seine volle Aufmerksamkeit wieder auf Yumiko und mit steigendem Entsetzen konnte er beobachten, wie sie eine der Pralinen aus der Schachtel nahm. Er glaubte beinahe die Sekunden verstreichen zu hören, während sie die kleine Schokolade zum Mund führte und spürte, wie sich seine Augen panisch zu weiten begannen. Mit einem Mal glaubte er zu wissen, warum die Süßigkeiten nicht eingeschweißt gewesen waren und auch, was diese kleine Unregelmäßigkeit auf der Unterseite der Praline zu bedeuten hatte, die ihm gerade eben erst aufgefallen war. Oh Gott, jetzt ergab das alles Sinn.

 

„Yumiko, nicht!“ Er machte einen Satz auf die verdutzte Stylistin zu und schlug ihr die Schokolade aus der Hand.

 

„Aua! Tatsue, was sollte das denn.“ Verständnislos schaute sie ihn aus erschrockenen Augen an und hielt sich ihr schmerzendes Handgelenk.

 

„Tatsuro?“ Nicht minder alarmiert war Gara auf seine Freundin zugeeilt und hatte sie schützend an sich gezogen, während Tatsuro selbst nur wie gebannt auf die Praline in seiner Hand starren konnte. „Tatsuro!“ Die Stimme seines Managers war nun deutlich lauter geworden und ein bedrohlicher Unterton schwang in ihr mit. „Was sollte der Scheiß?“ Niemand sprang so mit Garas Freundin um, das wusste er nur zu genau, aber soweit konnte er im Augenblick einfach nicht denken.

 

„Die sind nicht von Yukke … die Handschrift passt nicht.“ Die Furcht lähmte ihn beinahe, dennoch schaffte er es den Kopf zu heben und seinen beiden Vertrauten in die noch immer verständnislosen Gesichter zu sehen. „Versteht ihr denn nicht?“ Seine Stimme nahm einen schrillen Unterton an, während das plötzlich eingetretene hohe Summen in seinen Ohren immer lauter zu werden schien. „Mit den Pralinen stimmt etwas nicht“, hörte er sich wie aus weiter Ferne sagen und schüttelte sacht den Kopf, um den Nebel der Panik zu vertreiben, der sich wie ein schweres Tuch über seine Gedanken gelegt hatte. Auffordernd hielt er Gara die Schokolade unter die Nase und war tatsächlich erleichtert, als sein Manager die Süßigkeit kritisch beäugte. So mörderisch, wie er eben noch geschaut hatte, hätte es Tatsuro auch nicht gewundert, hätte er erst einmal eine saftige Ohrfeige kassiert. „Das hier … das sieht doch aus, als hätte da jemand mit einer Nadel oder so reingestochen oder spinn ich jetzt?“ Auch Yumiko beugte sich vor, um besser sehen zu können.

 

„Du hast recht“, murmelte sie und wurde blass. „Gara, oh Gott, er hat recht.“ Sie bückte sich und hob eine weitere Praline auf, die sich dank Tatsuros panischer Reaktion nun im ganzen Raum verteilt hatten. „Diese hier sieht genauso aus.“

 

Die Praline fiel aus Tatsuros zitternden Händen und angewidert wischte er sich die Schokolade, die zwischen seinen Fingern geschmolzen war, an der Hose ab. Mit tauben Gliedmaßen wankte er zum nächstbesten Stuhl und ließ sich, mit einem Mal jeglicher Kraft beraubt, darauf fallen.

 

„Tut mir leid, Yumiko, ich wollte dir nicht wehtun, aber …“ Er fuhr sich durch die Haare und verstummte, den Blick wie gebannt auf die gänzlich ungefährlich wirkenden Schokoladenherzen gerichtet.

 

Für einen langen Moment herrschte Stille im Raum, während alle Anwesenden zu verstehen versuchten, was soeben vorgefallen war.

 

„Schon gut, Tatsue“, war es schließlich Yumiko, die das Schweigen durchbrach und die aufgehobene Schokolade mit einem leichten Stirnrunzeln auf die Ablage vor den Spiegeln legte. „Wer weiß, was dieser … Einstich, wenn es denn einer ist, zu bedeuten hat. Nach allem, was in letzter Zeit passiert ist, sollten wir alle wohl wirklich etwas besser aufpassen.“ Yumikos schmale Hand legte sich wohltuend kühl in seinen Nacken, während Gara damit begonnen hatte die Sauerei wieder aufzuräumen. „Himmel, Tatsue, ich darf gar nicht dran denken, was gerade hätte passieren können, hättest du mich nicht aufgehalten.“ Ein feines Zittern ging durch den Leib der jungen Frau und Tatsuro hob für einen Moment den Blick, nur um in Yumikos Augen die gleiche Furcht zu sehen, die sich auch in sein Inneres geschlichen hatte.

 

„Ich sag es zwar nur ungern, aber Yumiko hat recht“, stimmte Gara nickend zu und suchte seinen Blick. Auch der Teint seines Managers hatte deutlich an Farbe verloren und die ganze Zeit über, in der er akribisch eine Praline nach der anderen aufgehoben hatte, hatte Tatsuro die steigende Besorgnis in seiner immer angespannteren Haltung ablesen können. „Je länger ich darüber nachdenke, desto mehr sieht mir dieses Geschenk wirklich nach etwas aus, was der Stalker dir schicken würde.“ Gara erhob sich, nahm nach einem Fingerzeig Yumikos auch das Satin-Band mit der Karte an sich und kam dann langsam auf ihn zu.

 

Tatsuro nickte matt und schloss die Augen, während er sich im Stillen fragte, was schlimmer wäre. Die Gewissheit, dass er langsam aber sicher unter Verfolgungswahn litt oder, dass der Stalker ihm tatsächlich vergiftete Pralinen geschenkt hatte. Und noch eine Erkenntnis grub sich heiß wie ein glühendes Eisen in seine Gedanken. Woher hatte dieser Mistkerl gewusst, dass ein Geschenk von Yukke sein berechtigtes Misstrauen beruhigen würde? Schlimmer noch. Woher hatte er gewusst, dass Yukke die Nachricht auf dem Kassenzettel vor einigen Wochen mit Y. unterschrieben hatte? Außer Satochi hatte den Zettel doch niemand gelesen und er hatte mit keiner Menschenseele darüber gesprochen. Himmel, ihm wurde plötzlich unendlich schlecht und er hatte Mühe sich sein spärliches Frühstück nicht noch einmal durch den Kopf gehen zu lassen.

 

„Wie zum Teufel konnte er einfach so hier reinspazieren?“, wisperte er und suchte den Blick seines Managers, bevor er es nicht mehr aushielt und zitternd beide Hände vor sein Gesicht presste, im vergeblichen Versuch irgendwie die Angst herunterzuschlucken, die ihn zu ersticken versuchte, als er mit einem Mal wie aus weiter Ferne die verzerrte Stimme des Stalkers zu hören glaubte.  

 „Ich habe die Macht dir alles zu nehmen, was dir lieb und teuer ist.“

Sein Zittern verstärkte sich und er schluckte verkrampft, hatte er doch das Gefühl sich jeden Moment übergeben zu müssen.

„Wenn mit den Pralinen wirklich was nicht stimmt … dann hat er in Kauf genommen, dass es womöglich nicht nur mich trifft. Du hast recht, Gara, das ist seine Vorgehensweise … Scheiße Mann, genau wie bei Sato …“ Seine Stimme war hinter der Barriere seiner Finger kaum zu hören gewesen, doch Gara musste ihn verstanden haben, denn zwei erstaunlich kräftige Hände legten sich auf seine Schultern und rüttelten leicht an ihm.

 

„Tatsuro, hör zu! Solange wir nicht wissen was Sache ist, nutzt es niemandem, wenn du dich mit Spekulationen verrückt machst. Beruhige dich. Die Polizei hat bestimmt Mittel und Wege die Pralinen zu untersuchen. Ich bringe sie jetzt gleich aufs Revier und dann wissen wir mehr, okay?“

 

Er hörte Garas Stimme zwar, aber über das wilde Rauschen seines eigenen Blutes in seinen Ohren konnte er den Sinn des Gesagten kaum ausmachen. Der Tonfall war beschwörend, auf eine nachdrückliche Art ebenso erdend, wie die Hände, die noch immer seine Schultern umfasst hielten und konnte ihn doch nicht beruhigen. Angestrengt atmete er tief durch, einmal, zweimal, ohne sichtlichen Erfolg. Ein Schweißtropfen rann ihm langsam über den Rücken und ließ ihn erschauern, während sein Herz noch immer in einem ängstlichen, unregelmäßigen Rhythmus schlug. Er kniff die Augen fest zusammen, konzentrierte sich auf die kräftigen Hände Garas, die ihm Halt gaben, auf Yumikos ruhige Präsenz an seiner Seite und nickte schließlich, um den beiden zu bedeuten, dass er sich wieder ein wenig unter Kontrolle hatte.

 

„Und eines sag ich dir, Tatsuro“, knurrte sein Manager nun fast und als er ihm ins Gesicht blickte, konnte er die Entschlossenheit in den dunklen Augen leuchten sehen. „Falls sich unser Verdacht wirklich bestätigt, heuere ich noch heute einen Personenschützer für dich an.“

 

Rein aus Reflex hatte Tatsuro schon den Mund geöffnet, bevor sein Manager sein vollkommen überzogenes Vorhaben ausgesprochen hatte, um ihm wie schon so oft energisch zu widersprechen, schloss ihn jedoch mit einem resignierten Seufzen wieder.

 

„Wir werden sehen.“
 

-_-_-_-_-

Hallo ihr Lieben,

ich könnte euch jetzt wieder einmal erzählen, wie unglaublich zäh dieses Kapitel war, aber zum einen habt ihr das schon viel zu oft gehört und zum anderen glaube ich, dass ich mich einfach daran gewöhnen muss, dass die Story ihr eigenes Tempo vorgibt. ^^

Von daher bleibt mir nur, euch viel Spaß beim Lesen zu wünschen, mich bei Rowi für ihre beständigen Kommentare zu bedanken und festzustellen, dass es doch mal echt cool wäre, auch von euch anderen Lesern ein Feedback zu erhalten. ;)

Klappe, die Zehnte

Eine Ader an Miyas Schläfe zeichnete sich bläulich von der ansonsten hellen Haut ab und mit beinahe morbider Faszination beobachtete Satochi, wie sie langsam immer mehr anschwoll und rhythmisch zu pochen begann.

 

„Cut!“

 

Er zuckte tatsächlich zusammen, als die energische Stimme des Produzenten von den hohen Wänden des Sets widerhallte und die Aufmerksamkeit der gesamten Crew auf sich zog. Nur die beiden Schauspieler zeigten sich unbeeindruckt oder besser gesagt, wirkten sie vielmehr so, als wären sie in ihrem eigenen kleinen Drama gefangen, das außer sie – und ja, vielleicht auch Satochi selbst – wohl niemand so recht verstehen konnte.

 

//Oh, oh. Kein gutes Zeichen//, schoss es ihm durch den Kopf, während er seinen Posten hinter der Filmkamera verließ und mit schweren Schritten auf den etwas zu klein geratenen Mann mit dem für ihn typischen grauen Hut auf dem Kopf zuging. Noch bevor er ihn jedoch erreichen konnte, war Miya aufgesprungen, hatte wohl keinen Blick für seine Umgebung gehabt, sonst hätte er ihn bemerken müssen, und war auf die beiden Schauspieler zugeeilt. Yukke und Tatsuro standen sich gegenüber, beide einen nahezu gleichen Ausdruck des Schocks auf den blassen Zügen und beide nun mindestens genauso erschrocken, als eine Schimpftirade über sie hereinbrach, die sich gewaschen hatte.

 

„Shit“, stöhnte Satochi resigniert und ließ sich mit einem langgezogenen Ausatmen in den verlassenen Regiestuhl fallen. Für einen Moment schloss er die Augen – Miyas aufgebrachte Stimme gerade das einzige Geräusch in der ansonsten totenstillen Lagerhalle – bevor er seinen Blick wieder auf Tatsuro richtete.

 

Vermutlich war es niemandem außer ihm aufgefallen, aber sein Bruder sah wirklich schlecht aus. Nichts Offensichtliches und nichts, was Tatsuro freiwillig zugelassen hätte, aber in den ausdrucksstarken Augen lag ein unruhiger Schimmer, seine Wangenknochen zeichneten sich deutlich unter der geschminkten Haut ab und die feinen Linien um seinen Mund waren tiefer als sonst. Tatsuros Angst war für Satochi beinahe eine spürbare Kraft, auch wenn der Große wirklich alles tat, um sich diese nicht anmerken zu lassen. Er presste die Lippen aufeinander und musste sich aktiv davon abhalten, nicht zu dem ungleichen Trio hinüberzugehen, um sich schützend vor seinen kleinen Bruder zu stellen.

 

//Dieser verfluchte Mistkerl!//

Satochis Hände ballten sich zu Fäusten, als er erneut Tatsuros leise, leicht zitternde Stimme zu hören glaubte, während dieser ihm vor wenigen Stunden von der Überraschung erzählt hatte, die heute in seiner Garderobe auf ihn gewartet hatte. Um ehrlich zu sein, hatte Satochi selbst keinerlei Zweifel daran, dass sich herausstellen würde, dass die Pralinen vergiftet waren und erst recht nicht, dass dies das Werk des Stalkers war. Und dennoch hatte er versucht die Sache herunterzuspielen und Tatsuro gut zuzureden – aus dem einfachen Grund, weil sie beide hier einen Job zu erledigen hatten … und er fühlte sich einfach nur schäbig deswegen.

 

Was war er nur für ein Bruder? 

Tatsuro hatte im letzten Jahr so viel durchmachen müssen und anstatt nun für ihn da zu sein, seine Befürchtungen ernst zu nehmen, trieb er ihn weiter an. Ganz nach dem Motto: Augen zu und durch. Satochi fühlte sich elend und so verdammt hilflos. Sie hatten keine Ahnung, nicht einmal einen Anhaltspunkt, wer der Stalker sein könnte oder warum er seinem Bruder nach dem Leben trachtete. Eine Welle der grenzenlosen Ohnmacht drohte über ihn hereinzubrechen und hätte sich Tatsuro in diesem Augenblick nicht aus seiner Starre befreit, um Miya nun lauthals Kontra zu bieten, und ihn damit aus seinen Selbstvorwürfen gerissen, hätte er sich wohl haltlos in ihnen verloren.

 

Nun jedoch straffte er sich und rieb sich mit schmerzverzogenem Gesicht über seinen Oberschenkel, in dem die zerstörten Nervenenden gerade vergebens versuchten verständliche Signale an sein Hirn zu schicken, dies jedoch nur in noch mehr Agonie enden ließen. Die Knöchel seiner rechten Hand traten weiß hervor, als er seine Krücke fest umschloss und gerade wollte er sich aus dem Stuhl erheben, da hörte er hinter sich die schwere Stahltür quietschen.

 

~*~

 

Mit einem flauen Gefühl im Magen hatte Gara erst am späten Nachmittag die BLP wieder betreten und ging nun tief in seinen kreisenden Gedanken versunken die labyrinthartigen Gänge entlang, die ihn zur großen Lagerhalle führen würden, in der die Dreharbeiten bestimmt schon in vollem Gange waren.

Was sollte er Tatsuro nur sagen?

Er wünschte sich beinahe, die Polizisten hätten seinen Verdacht nicht so ernst genommen, wie sie es getan hatten, dann wäre er jetzt nicht noch aufgewühlter, als früher am Tag. Verärgert, ja, weil man ihn und seine Bedenken nicht für voll genommen hatte, aber nicht derart unter Strom, wie er sich gerade fühlte.

 

Kaum hatte er vor einigen Stunden dem diensthabenden Beamten die Situation geschildert und die Beweisstücke – die violette Schachtel mit den herzförmigen Pralinen darin und das Satin-Band mit der Karte – auf den Schreibtisch gelegt, war dieser in regelrechte Hektik ausgebrochen. Anrufe waren getätigt worden, das Beweismaterial sichergestellt und auf dem schnellsten Wege in ein Labor gebracht, wo die Schokolade auf mögliche Giftstoffe und der Rest auf Fingerabdrücke untersucht werden würde.

Gara hatte gar nicht gewusst, wie er hätte reagieren sollen und war nur relativ unbeteiligt im bequemen Besucherstuhl sitzengeblieben, bis eine junge Polizistin ihn gebeten hatte, seine Aussage erneut zu wiederholen, damit sie diese dokumentieren konnte.

 

Seine Aussage.

 

Er schüttelte unterm Gehen den Kopf und Trank von seinem Cappuccino, der mittlerweile nur noch lauwarm war und langsam aber sicher den Geschmack des Pappbechers anzunehmen begann.

Himmel, er hatte damit gerechnet, dass er die Beamten erst einmal würde überzeugen müssen, dass sie ihm überhaupt zuhörten. Nicht aber, dass sein Verdacht kein einziges Mal auch nur im Ansatz infrage gestellt werden würde.

 

Ob die Ermittler mit einem erneuten Anschlag auf Tatsuros Leben gerechnet hatten? Und wenn ja … Warum zum Teufel hatte niemand etwas gesagt? Und warum war er selbst nicht misstrauischer gewesen?

Er fuhr sich durchs Haar und verzog das Gesicht zu einer schuldbewussten Grimasse.

Er hätte die Sache viel früher deutlich ernster nehmen sollen, aber dann hätte er sich eingestehen müssen, dass sein Freund tatsächlich in Lebensgefahr schwebte.

Ignoranz bot Sicherheit, aber wenn er ehrlich zu sich selbst war, war es nicht mehr von der Hand zu weisen, dass sie es hier nicht mehr nur mit einem Stalker zu tun hatten. Nein, aus den Anschlägen sprach der pure Hass und Tatsuro hatte bislang lediglich Glück gehabt, mit dem Leben davongekommen zu sein.

 

Die schwere Stahltür quietschte leise, als er sie nach Innen drückte und die Lagerhalle betrat. Für einen Moment zog er schuldbewusst den Kopf zwischen die Schultern – hoffentlich hatte das Quietschen nicht die Aufnahme ruiniert – entspannte sich jedoch gleich wieder, als niemand tadelnd in seine Richtung schaute. Am Set herrschte eine seltsam angespannte Stimmung und als er seinen Blick umherschweifen ließ, wurde ihm auch ziemlich schnell der Grund dafür klar. Tatsuro und Miya standen sich wie zwei Duellanten gegenüber, jederzeit bereit den anderen niederzustrecken, während Yukke ziemlich zerknirscht wirkend zwischen den Fronten Stellung bezogen hatte. Gara seufzte innerlich und ging auf Satochi zu, der deutlich angespannt in Miyas Regiestuhl saß, das verletzte Bein ausgestreckt und stirnrunzelnd in seine Richtung blickte.

 

„Was hat er diesmal angestellt?“, erkundigte sich Gara wispernd, als er an der Seite des Kameramanns angekommen war und überlegte fieberhaft, wie er die Situation entschärfen konnte, bevor Köpfe rollen würden. Uh, ekelhafte Vorstellung. Unbewusst rieb er sich über den Hals, was Sato zu einem kurzen, wenn auch nicht sehr überzeugenden Schmunzeln verleitete.

 

„Miya ist angespannt, weil wir dem Zeitplan schon eine Woche hinterherhinken und ausgerechnet jetzt stimmt die Chemie zwischen Yukke und Tatsuro nicht mehr.“ Sato seufzte und rieb sich über die Nasenwurzel, ganz so, als wüsste er, was zwischen den beiden Schauspielern gerade vor sich ging. Beinahe war Gara verleitet ihn danach zu fragen, verwarf diesen Gedanken jedoch wider. Es gab gerade deutlich wichtigeres, das seiner vollen Aufmerksamkeit bedurfte. „Die beiden spielen heute wirklich wie blutige Anfänger, da zeigt eine Schaufensterpuppe mehr Emotionen … Na ja, zumindest bis gerade eben, als Tatsue ausgeflippt ist.“

 

„Ausgeflippt?“ Garas Miene verfinsterte sich nur noch mehr und ein weiterer Blick zu seinem Schützling brachte ein unangenehm dumpfes Gefühl in seinem Magen mit sich. Tatsuro sah wirklich nicht gut aus, blass und gestresst. Das waren eindeutig nicht die besten Voraussetzungen für einen reibungslosen Drehtag.

 

„Ja. Eine durchaus explosive Mischung, wie du siehst.“ Satos besorgter Blick streifte ihn und Gara wusste, dass dieser nur marginal mit den momentanen Problemen am Set zu tun hatte. Der andere wusste also schon Bescheid, was ihm seine nächsten Worte auch bestätigten. „Was sagt die Polizei?“

 

In wenigen, knappen Sätzen fasste er die Ereignisse der letzten Stunden auf dem Revier zusammen, bevor ihm erneut ein langes, abgrundtiefes Seufzen über die Lippen kam.

 

„Mir wäre es lieber gewesen, sie hätten mich für einen Spinner gehalten“, gab er zu und schaute erneut in Tatsuros Richtung, der gerade etwas Unverständliches zischte und dann aus der Lagerhalle stürmte.

 

„Mir auch, glaub mir.“ Sato schüttelte den Kopf und erhob sich schwerfällig, wohl um seinem Bruder nach draußen zu folgen. „Wir müssen was tun, Gara.“

 

„Ich weiß … nur was?“

 

~*~

 

Mit einem erstaunlich leisen Klicken fiel die dicke Feuerschutztür hinter ihm ins Schloss und Tatsuro wünschte sich, in seinem Kopf eine ähnliche Barriere zu haben, die seinen rasenden Gedanken Einhalt bieten konnte. Aber das war ihm natürlich nicht vergönnt. Stattdessen gesellten sich zu dem Potpourri aus Sehnsucht, Angst und verletztem Stolz nun zu allem Überfluss auch noch nagende Schuldgefühle, die er sich jedoch ebenso wie alles andere nicht eingestehen wollte.

Er fuhr sich durchs lange Haar und durchquerte den kleinen, vor Blicken geschützten Innenhof der BLP, bis er sich auf eine der Holzbänke niederlassen konnte. Die Luft war noch angenehm warm, obwohl die Nachmittagssonne bereits hinter den hohen Gebäuden verschwunden war und sich lange Schatten über den gepflasterten Boden zogen. Vögel zwitscherten unbeschwert und in der Lorbeerhecke neben ihm raschelte es. Für einen Moment richtete er den Blick auf die grünen Blätter, konnte jedoch das Tierchen nicht ausmachen, welches dort so geschäftig umhersprang.

 

Er hatte die Aufnahme verkackt und Miya hatte allen Grund dazu wütend zu sein. Bah, wenn er nur daran dachte. Er hatte sich wirklich wie ein blutiger Anfänger angestellt und alles nur, weil er seinen verfluchten Kopf nicht freibekam. Vielleicht hätte er dem Produzenten einfach auf die Nase binden sollen, dass er mal wieder Ziel eines Anschlags geworden war, auch wenn er diesmal mit dem Schrecken davongekommen war. Aber das ging Miya einfach nichts an, schlimm genug, dass er letztes Mal schon alles mitbekommen hatte. Und um ehrlich zu sein, war Yukke eben am Set gegenüberzustehen beinahe noch schlimmer gewesen, als der Gedanke an den Stalker. Diese Grußkarte ging ihm einfach nicht aus dem Kopf und eine leise Stimme in seinem Inneren, die er am liebsten überhört hätte, fragte mit nagender Intensität danach, ob sein Drehpartner vielleicht etwas mit der Sache zu tun hatte. Nicht, dass Tatsuro selbst das auch nur für einen Moment glaubte – Yukke mochte ihn verarscht haben, aber ein derart perfides Verhalten traute er ihm schlichtweg nicht zu – und dennoch ließ sich dieser Gedanke ebenso wenig verdrängen, wie alle anderen.

 

Tatsuro wollte sich frustriert übers Gesicht reiben, erinnerte sich auf halbem Wege jedoch daran, dass er geschminkt war und legte seine Hände stattdessen unverrichteter Dinge wieder auf den Oberschenkeln ab. Die verheilende Verletzung an seiner Wange  juckte unangenehm unter dem Make-up und war eine weitere Erinnerung daran, wie abgefuckt sein Leben im Moment war.

 

Eigentlich hätten sie vorhin den großen Showdown des Films einspielen sollen, in der Junji Akihiko eröffnete, dass er für einige Jahre nach Amerika auswandern würde. Wiedermal ein Klischee, das schon so ausgelutscht war, wie ein altes Hustenbonbon, aber mittlerweile hatte er es aufgegeben sich darüber aufzuregen. Die ganze Zeit über, in der Junji seine Pläne einem erschütterten Akihiko dargelegt hatte, hatte er in seiner Rolle bleiben können – was nicht wirklich eine Meisterleistung war, bedachte man, dass außer stoischen Blicken und das ein oder andere Wort nicht viel von ihm verlangt wurde. Aber als es dann darum ging Gefühle zu zeigen, war es mit ihm durchgegangen.

Statt Akihikos flehenden Bitten ihn nicht zurückzulassen, wie es im Skript stand, hatten Vorwürfe seinen Mund verlassen, die zwar zur Szene gepasst hatten, sich genauso gut jedoch auch an Yukke direkt hätten richten können. Noch jetzt hallte seine eigene, aufgebrachte Stimme in seinen Ohren nach, während sich Yukkes erschrockener Blick in seine Retina gebrannt hatte.

 

„Du hast mich also auf ganzer Linie verarscht“, hatte er gezischt, nachdem Junjis Monolog verklungen war und abwehrend die Arme vor der Brust verschränkt. „All dein Mitgefühl, deine verständnisvollen Worte waren nur Show. Vermutlich hast du dich über mich lustig gemacht, wie naiv ich doch bin, dass ich mich so leicht von dir um den Finger wickeln lasse, stimmt's?? Ein paar Komplimente hier, ein paar liebe Gesten dort und schon frisst mir der Schwachkopf aus der Hand. So war es doch, oder Yukke!“ Die letzten Worte hatte er so laut geschrien, dass er noch immer ein leichtes Kratzen im Hals spüren konnte. Und dennoch … dieser Gefühlsausbruch hatte so verdammt gut getan, auch wenn er sich nun vor versammelter Crew zum Idioten gemacht hatte. Das Gewicht der spekulierenden Blicke hatte ihn fast in die Knie gezwungen und Miyas gebrülltes: „Cut!“, war beinahe wie eine Erlösung gewesen, solange zumindest, bis der kleine Wadenbeißer begonnen hatte ihn mit Vorwürfen zu bombardieren.

Verflucht, hatte er heute denn nicht schon genug Scheiße erlebt?

 

Natürlich war ihm bewusst, dass er sich unprofessionell verhalten hatte und dass sie nicht zuletzt seinetwegen dem Zeitplan hinterherhinkten, aber in diesem Augenblick hatte er nur noch Rot gesehen und wäre er nicht aus der Lagerhalle gerannt, hätte er nicht gewusst, was passiert wäre. Nichts Gutes, das stand jedenfalls fest.

 

Tatsuro schloss die Augen, lehnte sich auf der Bank zurück und reckte den Kopf gen Himmel, auch wenn es keine Sonnenstrahlen gab, die sein Gesicht gewärmt hätten und auch der dramaturgisch so passende Regen fehlte.

 

Gerade als er sich mental darauf eingestellt hatte, gleich vor Miya zu Kreuze kriechen zu müssen, damit sie heute diese verfluchte Szene doch noch in den Kasten bekommen würden, zeigte ihm das leise Klicken der Tür, dass er nicht mehr alleine hier war. Einige Momente blieb es still, dann flammte ein Feuerzeug auf und der Geruch einer frisch angesteckten Zigarette kitzelte seine Nase. Eine Gänsehaut breitete sich auf seinen Unterarmen aus und mit einem unguten Gefühl öffnete er seine Augen, senkte den Kopf, nur um sich niemand anderem als Yukke gegenüberzusehen.

Großartig.

 

Eine ganze Weile passierte rein gar nichts, nur das leise Knistern des verbrennenden Tabaks war zu hören, immer wenn Yukke an seiner Zigarette zog, und ein lauer Wind spielte mit Tatsuros Haaren, ließ die langen Strähnen vor seinem Gesicht tanzen.

 

„Du hast nicht auf die Nachrichten reagiert, die ich dir geschrieben hab“, stellte der kleinere Mann schließlich ohne Vorwurf in der Stimme fest und schaute ihm direkt in die Augen. Er selbst reagierte nicht, war er doch viel zu sehr damit beschäftigt den Blick nicht abzuwenden und das schmerzhafte Ziehen in seinem Magen zu ertragen, das sich dort mit einem Mal ausgebreitet hatte. „Ich würde dir das mit dem Zeitungsartikel gern erklären, darf ich?“

 

„Tu, was du nicht lassen kannst“, hörte er sich mit monotoner Stimme sagen, auch wenn seine Lippen derart taub waren, dass er die Bewegung gar nicht registriert hatte.

 

Yukke seufzte, kam einige Schritte auf ihn zu, aber statt sich neben ihn auf die Bank zu setzen, hockte er sich auf den schmalen Rand eines steinernen Pflanzkübels, in dem bunte Blumen zahlreiche Bienen und Hummeln angezogen hatten.

 

Wieder trafen sich ihre Blicke, doch bevor sich Tatsuro noch in den für ihn so schönen Augen verlieren konnte, folgte er der Hand des anderen, die den oft viel zu akkuraten Topfschnitt mit nur einer kurzen Bewegung in ein überaus ansprechendes Chaos verwandelte. Fest biss er sich auf die Innenseite seiner Unterlippe, als es diese harmlose Geste schaffte erneut Bilder vor seinem geistigen Auge auftauchen zu lassen, die in dieser Situation nicht nur mehr als unpassend waren, sondern ihn auch vom Wesentlichen abhalten würden, würde er sie zulassen.

 

„Seek und ich kennen uns schon eine kleine Ewigkeit“, begann Yukke schließlich ohne Umschweife. „Er ist ein wahrer Unglücksrabe und hat schon mehr Jobs verloren, als der Durchschnittsjapaner wahrscheinlich in einem ganzen Leben antritt.“ Sein Gegenüber lachte leise, etwas gezwungen wirkend, und unterbrach damit die Schimpftirade, mit der Tatsuros rationaler Verstand gerade versuchte seine übereifrigen Hormone wieder zum Kooperieren zu bringen.

An dieser Stelle überraschte es vermutlich nicht, dass sich besagte Hormone ziemlich unbeeindruckt zeigten, oder? Mehr als nur ein bisschen über sich selbst genervt seufzte er unhörbar, senkte den Blick und schaute dem anderen somit nun doch wieder ins Gesicht, was Yukke wohl als eine Art Aufforderung verstand mit seiner Erklärung fortzufahren.

„Als er mir also erzählt hat, dass er den Job bei einem Boulevard-Magazin als Lifestyle-Reporter bekommen hat und sein erstes großes Interview mit mir machen will, hab ich natürlich ja gesagt. Das war auch der Grund, weswegen ich in dem Café war.“

 

Tatsuro nickte – genau das hatte er sich bereits gedacht und die Tatsache, dass Yukke seine Vermutung nun bestätigte, ließ seinen Magen unangenehm krampfen.

 

„Seek hat mir am selben Abend auch noch das Bild geschickt, das er für den Artikel gemacht hat  und ich dachte mir, nachdem man dich darauf sowieso nicht erkennt – so schräg von hinten und in deiner Vermummung – würde das schon okay sein. Ich hab ihm also mein Go gegeben und …“

 

„Das Foto?“ Tatsuro wusste nicht, ob er lachen oder wütend sein sollte, beließ es also dabei Yukke nur ungläubig anzusehen. „Denkst du wirklich, dass es mir um dieses Foto geht?“ Seine Stirn hatte sich in Falten gelegt und er hatte sich ziemlich zurückhalten müssen, dass die letzten Worte nicht als Brüllen seinen Mund verlassen hatten.

 

„Was? Nein.“ Yukke schüttelte energisch den Kopf und vermutlich war auch ihm im letzten Moment noch eingefallen, dass er in seinem Stage-Make-up steckte, denn die Hände, die eben noch über sein Gesicht fahren wollten, änderten ihren Kurs und fanden erneut den Weg in den brünetten Haarschopf. „Ich weiß, dass du nicht wegen dem Foto so wütend bist. Ich versuch dir nur irgendwie klarzumachen, wie dieser ganze Mist eigentlich zustande gekommen ist.“

Wieder verließ ein langes Seufzen die vollen Lippen und würde in Tatsuros Herz nicht noch immer das Gefühl des Verrats und der Kränkung vorherrschen, hätte er sich vielleicht neben den kleineren Mann gesetzt und aufmunternd einen Arm um ihn gelegt. Aber so blieb sein Blick stoisch, unterkühlt, als er seinen Drehpartner weiterhin unbeeindruckt dabei beobachtete, wie dieser sich abmühte die richtigen Worte zu finden.

 

„Ich bin kein Star, Tatsuro. Ich hab kaum Erfahrung darin, wie man Interviews gibt oder worauf man zu achten hat, wenn ein Verlag das, was man gesagt hat, tatsächlich drucken will. Seek und ich haben uns hauptsächlich über Ame unterhalten. Wie ich zu der Rolle gekommen bin, was ich von der Story halte, ob ich den Lesern nicht ein wenig von der Handlung verraten kann und auch, wie die Zusammenarbeit mit dir so ist.“ Yukke zuckte mit den Schultern und rieb mit den Handflächen über seine Jeans, ganz so, als würde er die Feuchtigkeit von dort verbannen wollen.

„Ja, ich hab gesagt, dass es nicht immer einfach ist mit dir zu drehen, wegen dem ganzen Improvisieren und den Überstunden, die wir deswegen schieben müssen, und um ehrlich zu sein, kann und werde ich mich dafür auch nicht entschuldigen.“ Für einen Moment wurden Yukkes Augen hart, als er seine Position so offensichtlich verteidigte und ein kleiner Teil in Tatsuro, der nichts mit seinem dummen Stolz zu tun haben wollte, wurde ganz warm. Dieser kleine teil bewunderte Yukke dafür, dass er den Mut besaß zu seiner Meinung zu stehen, auch wenn er ihn damit gekränkt hatte. Diesen Mut konnte Tatsuro respektieren – und wenn er seine Hormone fragte, die in dieser Situation eigentlich mal so gar nichts zu sagen gehabt hätten, dann fanden diese Yukke gerade verdammt sexy. Im letzten Moment gelang es ihm, nicht genervt mit den Augen zu rollen und sich stattdessen durchs Haar zu fahren, während der andere weitersprach.

 

„Ich hab immerhin nur die Wahrheit gesagt, auch wenn ich jetzt im Nachhinein zugeben muss, dass ich nicht so ehrlich hätte sein sollen. Ich hätte mir meine Antworten besser überlegen sollen … Aber Seek und ich haben kein einziges Mal über etwas gesprochen, was nicht direkt was mit Ame zu tun hat. Verstehst du? Das Ganze Gerede von deinem Ex und dem Stress mit United Productions, das kommt nicht von mir.“

 

Für einen langen Moment schaute Yukke ihm genau in die Augen, aber Tatsuro konnte nicht reagieren, viel zu überfahren fühlte er sich von dem, was ihm gerade eröffnet worden war.

 

„Ich hab das Interview gelesen, bevor Seek es abgegeben hat und darin stand nichts von alldem, das musst du mir glauben. Ich versuch ihn schon seit Samstag zu erreichen, aber er geht nicht an sein Handy.“

 

„Er hat dich also verarscht“, stellte Tatsuro trocken fest, überschlug die Beine und verschränkte die Arme vor der Brust – ein eindeutiges Zeichen der Verletzlichkeit, die plötzlich in ihm aufgestiegen war, die er sich jedoch ums Verrecken nicht anmerken lassen wollte.

 

„Was? Nein, das würde er nicht machen.“ Yukke schüttelte energisch den Kopf und spielte nervös mit seinen Fingern. „Ich denke eher, dass der Redaktion zu wenig Zündstoff in dem Interview war und sie deswegen einfach irgendwas dazu gedichtet haben.“ Die warmen Augen schimmerten beinahe hoffnungsvoll, als Yukke seine Vermutung äußerte, aber im nächsten Moment trübte sich sein Blick auch schon wieder, als wäre ihm erst jetzt bewusst geworden, dass er sich nicht sicher sein konnte, ob er seinem langjährigen Freund wirklich vertrauen konnte. „Oder Seek wollte Eindruck schinden … Ich weiß es doch auch nicht.“

 

Die Worte verklangen und ließen nichts als erdrückende Stille zwischen ihnen zurück. Am liebsten wäre Tatsuro nun aufgestanden und wieder nach drinnen gegangen, einfach, um der drückenden Erwartungshaltung zu entfliehen, die den Körper seines Drehpartners zu umgeben schien, wie ein unsichtbarer Nebel, der ihm Stück für Stück die Fähigkeit zu atmen raubte.

In seinem Inneren tobte ein Kampf zwischen zwei Fronten, zwischen dem, was er wollte und dem, was logisch und richtig war. Tatsuro hätte am liebsten die Hände auf seine Ohren gepresst und laut geschrien, einfach, um die Stimmen nicht mehr hören zu müssen, die von allen Seiten auf ihn einredeten.

 

„Vermutlich sollte ich mich jetzt freuen, oder?“, fragte er stattdessen ruhig, beinahe tonlos, ohne eine Antwort zu erwarten. „Immerhin hast du mir gerade all das erzählt, was ich so sehr gehofft hatte.“ Ein bitteres Lächeln schlich sich auf seine Lippen. „Aber wenn ich ehrlich bin, weiß ich nicht, ob ich dir glauben kann.“ Er erhob sich und ging mit wenigen Schritten auf seinen Drehpartner zu, der noch immer wie versteinert auf der Kante des Pflanzkübels saß und nun zu ihm aufblickte. „Im Augenblick weiß ich nicht einmal, wem ich überhaupt noch glauben kann.“ Für einen Moment erwiderte er den Blick, fühlte sich schwach und so verdammt hilflos in dieser Situation, in der er eigentlich nur eines wollte. Schnaubend schüttelte er den Kopf und wandte den Blick ab. „Ich hab es am Samstag schon gesagt und ich sage es nochmal. Es war ein Fehler.“ Wie ein letztes Aufbäumen flackerten vereinzelte Szenen der Nacht, die er mit Yukke verbracht hatte vor seinem geistigen Auge auf, bevor er sich einen Ruck gab und die Klinke der Stahltür umfasste. „Wir sind Kollegen Yukke, mehr nicht.“

 

Noch bevor er die Klinke jedoch hätte herunterdrücken können, spürte er einen festen Griff um sein Handgelenk und Yukkes Stirn, die sich von Hinten gegen sein Schulterblatt gelehnt hatte.

 

„Bitte.“

 

Die Hitze, die von den beiden kleinen Kontaktpunkten ausging, an denen er berührt wurde, schien ihn beinahe zu verbrennen und sich zielsicher durch seine Barrieren zu fressen. Fest presste er die Lippen aufeinander, um ja keinen Laut von sich zu geben, konnte jedoch nicht verhindern, dass ein spürbares Zittern durch seinen Körper jagte. Bevor er sich jedoch energisch losmachen und in die BLP zurückgehen konnte, richtete er – einer plötzlichen Eingebung folgend – das Wort erneut an Yukke.

 

„Waren die Pralinen eigentlich von dir?“

 

Tatsuro hätte schwören können, dass mindestens eine geschlagene Minute verstrichen war, in der sich der andere weder bewegt, noch etwas auf seine Frage gesagt hatte. In Wirklichkeit waren es vermutlich jedoch nur wenige Sekunden, bis die Wärme an seinem Rücken verschwand und sich auch der Griff um sein Handgelenk löste. Langsam wandte er sich um, den Blick forschend auf die Gesichtszüge des kleineren Mannes gerichtet, in denen er jedoch außer absoluter Verwirrung rein gar nichts lesen konnte.

 

„Hä?“, brach es schließlich aus seinem Gegenüber heraus und beinahe hätte er gelacht, weil Yukke tatsächlich genauso bedröppelt klang, wie er aussah. „Wie kommst du ausgerechnet jetzt auf Pralinen?“

 

„Als ich vor dem Dreh in meine Garderobe kam, hat eine Schachtel mit Schoko-Herzen auf mich gewartet und ich dachte, vielleicht war die ja von dir.“

 

„N… nein, war sie nicht.“ Yukke schüttelte den Kopf, noch immer sichtlich aus dem Konzept gebracht und diese ehrliche Reaktion war es, die Tatsuro in diesem Moment beinahe in die Knie gezwungen hätte. Der andere sagte die Wahrheit, da war er sich absolut sicher. Dieses spontane und vollkommen überfahrene Unverständnis konnte nicht einmal ein Schauspieler von Yukkes Kaliber überzeugend rüber bringen und wenn jemand das einschätzen konnte, dann ja wohl Tatsuro selbst. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie sehr die Ungewissheit die letzten Stunden über an ihm genagt hatte.

Himmel, Yukke sagte tatsächlich die Wahrheit.

Bevor er darüber hätte nachdenken können, war er schon einen Schritt auf sein Gegenüber zu getreten, hatte die Arme gehoben und den kleineren Körper an sich gezogen. Ihm war bewusst, wie falsch diese Reaktion war und dennoch senkte er den Kopf und vergrub sein Gesicht an Yukkes Halsbeuge. Der so vertraute Geruch nach Parfum, Zigarettenrauch und etwas, das so typisch für den anderen war, umfing ihn, während er sich zum aller ersten Mal seit Samstag wieder vollständig fühlte.

 

„Ich habe die Macht dir alles zu nehmen, was dir lieb und teuer ist.“

  

Tatsuro kniff die Augen zusammen, als die Stimme des Stalkers in seinem Kopf immer lauter wurde. Wieder und wieder hörte er den bedrohlichen Bariton, schnitten die grausam verzerrten Worte tiefere Wunden in seine Seele, bis er glaubte, jeden Moment unter all dem Druck zusammenbrechen zu müssen. Er löste sich wieder, hatte Yukke nicht einmal die Zeit gegeben, seine spontane und gewiss unerwartete Umarmung erwidern zu können und trat zwei kleine Schritte zurück.

 

„Tatsue. Was …?“ Yukkes Stimme war nur ein schwaches Wispern, das ihn dennoch schmerzhaft wie ein Hammerschlag gegen den Brustkorb traf und ihm beinahe den Atem raubte. Die warmen Augen blickten ihm unverwandt verständnislos ins Gesicht, auch wenn er glaubte einen kleinen Funken der Hoffnung in ihnen erkennen zu können. Er presste die Lippen fest aufeinander, schob die weichen, warmen Gefühle, die sein Herz schnell und aufgeregt schlagen ließen, weit von sich, bis er sich innerlich kalt und taub fühlte.

 

„Wir haben einen Film zu Ende zu drehen … alles andere ist nebensächlich“, bestimmte er mit harter, unnachgiebiger Stimme, ganz so, als hätte es seinen Moment der Schwäche nie gegeben. Er wandte sich endgültig ab, zog die Tür auf und verschwand ins Innere der Lagerhalle, das nun irgendwie ungemütlich und bedrohlich wirkte.

 

//Es ist besser so, Yukke, für uns beide.//

 

~*~

 

„Tatsue, warte!“

 

Grenzenlos verwirrt hatte Yukke wertvolle Augenblicke verschwendet, bevor endlich Bewegung in ihn gekommen und er Tatsuro nachgegangen war. Ohne zu sprinten würde er seinen hochgewachsenen Kollegen nicht mehr einholen können, doch bevor er auch nur daran denken konnte, ihm nun endlich hinterherzueilen, spürte er eine Hand auf seiner Schulter, die ihn nachdrücklich an Ort und Stelle hielt.

 

„Nicht, lass ihn.“

 

Yukke blinzelte gegen die bunten Flecken an, die der sonnige Nachmittag auf seiner Retina hinterlassen hatte, bis er Satochi im vorherrschenden Zwielicht erkannte, der ihm ruhig entgegenblickte.

 

„Du …?“ Seine Schultern sackten herab, als würde die Hand des Kameramanns eine Tonne wiegen und wieder raufte er sich die Haare. „Verdammte Scheiße“, entfuhr es ihm weitaus weniger energisch, als er sich gewünscht hätte. „Der Kerl macht mich fertig.“ Sato neben ihm lachte leise und klopfte ihm kurz auf die Schulter, bevor er seine Hand zurückzog.

 

„Das ist Tatsuro für dich. Live und in Farbe. Ich geh mal davon aus, dass ihr euch ausgesprochen habt?“

 

„Wenn du das so nennen willst, ja.“ Yukke schnaubte, bevor sich seine Stirn fragend in Falten legte. „Woher? Ach, vergiss es. Ich hätte wissen müssen, dass er mit dir darüber spricht.“ Und wenn er ehrlich zu sich selbst war, war er durchaus froh, dass Tatsuro, so scheiße, wie der Samstag verlaufen war, allem Anschein nach wenigstens mit seinem Bruder hatte reden können.

 

„Es war also doch nur ein Missverständnis?“

 

„Vielmehr Dummheit auf meiner Seite.“ Yukke seufzte.

 

„Und er hat deine Erklärung nicht gut aufgenommen?“

 

„Frag mich nicht, Sato. Ich hab keine Ahnung, was in ihm vorgeht. Erst sagt er, dass er mir nicht glauben kann, dann umarmt er mich, nur um in der nächsten Sekunde wieder eiskalt zu sein. Was soll ich deiner Meinung nach davon halten?“ Nun war es an Satochi ein langes Seufzen von sich zu geben und ihm einen ehrlich mitfühlenden Blick zu schenken. „Und dann diese Pralinen-Sache.“ Yukke redete weiter, ohne auf sein Gegenüber eingegangen zu sein. Er musste sich jetzt einfach Luft machen, sonst würde er vermutlich in der nächsten Sekunde implodieren. „Gibt es eine Gebrauchsanleitung, wie man mit ihm umgehen muss? Ich verstehe im Moment nämlich wirklich nur Bahnhof. Wie bitte kommt er auf so was? Als würde ich allen Ernstes glauben, dass ich diesen Mist mit einer Schachtel Pralinen wieder gutmachen … könnte.“ Das letzte Wort kam nur noch leise und gedehnt aus seinem Mund und ihm wurde mulmig zumute, als ihn ein Gedanke durchzuckte.

 

Fuck.

 

Die ganze Zeit am Set war Tatsuro fahrig und unkonzentriert gewesen, hatte sich ständig verstohlen umgesehen und war von Yumiko und Satochi keinen Moment aus den Augen gelassen worden. Yukke hatte geglaubt, dass er schuld daran war, weil ihr dummer Streit dem anderen so zugesetzt hatte.

Himmel, er war so dämlich gewesen.

 

„Sato? Die Pralinen, haben die was mit dem S…“

 

Eine harsche Handbewegung Satochis ließ ihn verstummen und der ernste Blick, mit dem ihn Tatsuros Bruder nun bedachte, formte einen eisigen Klumpen in seinem Magen.

 

„Komm mit, wir sollten nicht in aller Öffentlichkeit darüber reden.“ Die wulstige Narbe im Gesicht des Kameramanns schien noch deutlicher hervorzustechen, als er grimmig die Lippen aufeinander presste und wieder eine Hand auf seine Schulter legte. Yukke schluckte, blickte noch einmal in die Richtung, in die Tatsuro verschwunden war und folgte dem anderen, während ein weiterer Gedanke die Übelkeit in ihm hochsteigen ließ.

 

Hatte Tatsuro tatsächlich geglaubt, die Pralinen hätten von ihm sein können? Warum?

 

~*~

 

Kaum waren die Schritte der beiden Männer verklungen, leuchtete in den Schatten einer Nische, gleich neben der Feuerschutztür, die zum Innenhof führte, das Display eines Handys auf und eine hochgewachsene, schmale Gestallt hastete in die entgegengesetzte Richtung davon.

 

„Wir haben ein Problem …“, hörte man sie noch sagen, dann war auch sie hinter der nächsten Flurecke verschwunden.

 

_-_-_-_-

Hallöle, ^^

diesmal mit einem schnellen Update - ich kann es selbst noch gar nicht fassen. *lacht*

Ein großer DANK geht erneut an Rowi, die mich mit ihren Kommentaren nicht nur aufmuntert, sondern auch anspornt an dieser Story dranzubleiben. ^^

Klappe, die Elfte

Die Streicher schwollen zum finalen Akt an und erfüllten den eigentlich viel zu kleinen Raum mit derart überwältigender Intensität, dass Tatsuro glaubte, die Musik bis in seine Knochen spüren zu können. Er rieb sich über seine nackten Unterarme, auf denen sich eine dicke Gänsehaut ausgebreitet hatte und lauschte seinem eigenen, viel zu leisen Gesang, der als Playback über die in der Decke montierten Lautsprecher zu hören war.

 

„Ich sag’s ja nur ungern, aber das hört sich echt verdammt gut an.“ Sato neben ihm drehte den Kopf und schenkte ihm genau dieses eine überbreite Grinsen, welches ihn in Tatsuros Augen immer wieder aufs Neue in den zehnjährigen Jungen verwandelte, den er vor so vielen Jahren kennengelernt hatte.

 

„Tja, was soll ich sagen? Ich bin eben gut.“ Sein eigenes Lächeln war gänzlich überheblich, was Satochi mit einem brüderlichen und daher nicht wirklich sanften Ellenbogenstoß in seine Rippen quittierte. Zischend rieb er sich über die schmerzende Stelle, bevor er sich blitzschnell zu dem kleineren Mann herumdrehte, dessen Kopf in den Schwitzkasten nahm und seiner Kreativität bezüglich Satochis Haaren freien Lauf ließ. Das ziemlich unmännliche Quietschen würde sein Bruder später sicherlich leugnen und leider wurde auch die eigentliche Verschönerungsaktion kurzgehalten, weil sich der Tontechniker mit finsterer Miene und einem Finger vor dem Mund zu ihnen umdrehte. Stimmte ja, die Mikrofone für die Aufnahme standen zwar genau auf das Orchester ausgerichtet, aber dennoch würden sich Hintergrundgeräusche auf der späteren Tonspur vielleicht nicht so gut machen. Tatsuro versuchte gleichzeitig einen reuevollen Ausdruck auf sein Gesicht zu zaubern und Satochi loszulassen, ohne gleich wieder die Rache seines Bruders zu spüren zu bekommen. Ersteres gelang ihm nicht wirklich, denn Satos zerstörte Frisur hätte ihn beinahe laut auflachen lassen, dafür war er diesmal schnell genug, um dem erneuten Rippenstoß auszuweichen.

 

„Das büßt du mir, Iwakami.“

 

„Träum weiter, Takayasu.“ Noch immer grinsend machte er Satochi eine lange Nase, bevor ihm ein kurzer Blick auf seine Armbanduhr ein leises Seufzen entlockte. „Wir müssen gehen.“

 

„Wie?“ Satochi hielt im Versuch seine Haare wieder in Ordnung zu bringen inne, schaute selbst auf seine Uhr und dann ihn mit großen Augen an. „Mist, es ist ja schon kurz vor elf, ich hätte vor zehn Minuten am Set sein sollen.“ Aufgeregt flüsternd packte ihn Sato am Ärmel und zog ihn mehr oder weniger freiwillig aus dem Raum. „Und du solltest längst in der Maske sein.“ Tatsuro lachte leise in sich hinein, als die Tür des Aufnahmeraums hinter ihnen ins Schloss fiel und die kühle Stille des schmucklosen Flures sie um fing.

 

„Miya färbt wirklich viel zu sehr auf dich ab, Sato, du wirst zu einem richtig braven Streber.“

 

„Anders als du hab ich nicht wirklich Lust darauf, Miyas dünnes Nervenkostüm noch mehr zu strapazieren, gerade, wo heute doch der letzte Drehtag ist. Man muss ja nicht immer auf Konfrontationskurs gehen.“ Sato rempelte ihn spielerisch von der Seite her an und Tatsuros Lachen wurde lauter.

 

„Du hast doch nur Schiss vor ihm.“

 

„Ach … und du nicht?“ Die Augenbraue seines Bruders wanderte ein ganzes Stück nach oben und verschwand beinahe unter den Ponyfransen, die ihm noch immer wirr ins Gesicht hingen.

 

„Nope, nicht die Spur. Wäre ja noch schöner, wenn mir der kleine Wadenbeißer Angst machen würde.“

 

„der kleine Wadenbeißer macht seinem Namen gleich alle Ehre, wenn du nicht sofort die Beine in die Hand nimmst und in die Maske gehst, Tatsuro.“ Miyas unterkühlte, jedoch gänzlich ruhige Stimme war zu hören, bevor die Gestalt des zu kurz geratenen Regisseurs vor ihnen im Flur auftauchte. Beinahe wie eine Erscheinung, ging es Tatsuro durch den Kopf und nein, er war gerade nicht schuldbewusst zusammengezuckt. Nie nicht.

 

„Hey Miya.“, gab er daher auch vollkommen nonchalant von sich und ignorierte Satochi, der neben ihm gerade im Kreis grinste und sich ein zweites Loch in den Allerwertesten freute. Pharisäer, der. „Wie du siehst, bin ich ja schon längst auf dem Weg.“ Miya musterte ihn nur abschätzig, ohne etwas zu sagen, bevor sein Blick deutlich wärmer wurde, als er ihn auf Satochi richtete. Tatsuro hörte seine Zähne knirschen, so fest presste er sie aufeinander, um auch ja keinen weiteren Kommentar von sich zu geben. Was bildete sich der Kerl eigentlich ein?

 

„Wir sind spät dran, Sato, kommst du?“ Deutlich wärmer war auch Miyas Stimme, sobald er das Wort an seinen Bruder richtete, was Tatsuro wirklich kein Stück weit gefiel. Noch immer hatte er nicht herausfinden können, ob und was genau zwischen Satochi und dem Produzenten lief. Sein herzallerliebster Bruder schwieg sich hartnäckig aus und bevor er Miya fragen würde, würde die Hölle zufrieren. Diese Unwissenheit fuchste ihn maßlos, aber was an der ganzen Sache noch viel schlimmer war – er konnte sehen, dass Miya seinem Bruder guttat. Das Lächeln, das Satochi dem kleineren Mann schenkte, war entspannt und erfreut und strahlte eine selbstverständliche Intimität aus, die ihn beinahe dazu brachte verschämt den Blick abzuwenden.

 

„Tut mir leid, wir haben dem Orchester zugehört und darüber die Zeit vergessen.“ Satochi trat an die Seite des Produzenten, legte ihm für einen kurzen Moment die Hand auf die Schulter und er hätte schwören können, dass Miya leicht erschauderte, als Satos Finger flüchtig die bloße Haut seines Nackens berührten. Tatsuros Unterarme zitterten leicht, so fest hatte er die Hände zu Fäusten geballt und als ihm dieser Umstand bewusst wurde, kostete es ihm ziemliche Mühe sich nichts weiter anmerken zu lassen.

 

„Und, was denkst du? Ist das Lied brauchbar?“, erkundigte sich der Produzent in diesem Moment, ohne auch nur einmal den Blick von Satochis Gesicht genommen zu haben.  

 

„Brauchbar?“ Sato lachte und schüttelte den Kopf. “Das ist die Untertreibung des Jahrhunderts. Der Song ist fantastisch, ehrlich mal, der hört sich einfach nur toll an.“

 

„Sehr gut.“ Miya lächelte, ein fast schon erleichterter Ausdruck auf dem zuvor noch so verkniffenen Gesicht. „Trotzdem sollten wir jetzt los.“

 

„Oh Mann, ja, das sollten wir wirklich, sorry.“ Sein Bruder nickte eifrig und richtete seine Aufmerksamkeit dann noch einmal auf ihn. „Bis nachher, Tatsue.“ Satochis lebhaftes Winken erwiderte er nur mechanisch und blieb regungslos im Flur stehen, den Blick auf die beiden Männer gerichtet, die zügig in Richtung des Sets verschwanden. Waren die Zeichen nicht eigentlich eindeutig? Vermutlich waren sie das wirklich, wenn er selbst nicht alles daran setzen würde, sie einfach nicht wahrhaben zu wollen. Doch selbst Satochis humpelnde Schritte wirkten leichter, weniger schmerzhaft, wenn er neben dem kleineren Mann herging. Tatsuro wollte es sich nicht eingestehen müssen, aber ein Teil in ihm war froh darüber, wie sehr sein Bruder in Miyas Gegenwart aufzublühen schien. Ein jedoch viel größerer Teil hatte schlicht und einfach Angst davor ihn zu verlieren. Sato war doch alles, was er hatte … seine Familie.

 

„Blödmann“, knurrte er leise, nicht wissend, ob er damit Miya, Satochi oder vielleicht doch einfach nur sich selbst meinte. Im nächsten Augenblick hätte er beinahe einen Herzinfarkt erlitten, als sich eine tiefe Stimme hinter ihm räusperte.

 

„Sie sollten nun wirklich in die Maske, Iwakami-san.“ Tatsuros erster Impuls war es, sich zu dem anderen herumzudrehen und ihn anzukeifen. Was musste dieser Idiot sich auch immer wie ein Ninja aufführen und sich trotz seines massiven Körperbaus wie ein Geist bewegen. Der Typ würde ihn irgendwann noch ins Grab bringen und ihn nicht davor beschützen frühzeitig ins Gras zu beißen. Eindeutige Jobverfehlung, wenn man ihn fragte, aber wer tat das schon? Gara jedenfalls nicht, sonst hätte er ihm nicht diesen Schrank von Kerl als Bodyguard an die Backe geklebt.

 

Kenta, sein Schatten seit nunmehr fast einer geschlagenen Woche, war zwar kleiner als er selbst, dafür mindestens doppelt so breit gebaut und konnte sich, wie eben schon erwähnt, bewegen, ohne auch nur das kleinste Geräusch zu machen. Tatsuro verschränkte die Arme vor der Brust, während er sich wortlos in Bewegung setzte und das kribbelnde Gefühl des Beobachtetwerdens in seinem Nacken zu ignorieren versuchte. Er hasste diesen Kerl. Nicht, weil Kenta ein schlechter Mensch war – dafür wusste er viel zu wenig über ihn und hatte auch keinerlei Verlangen diesen Umstand zu ändern. Aber er hasste es einfach, sein Leben nicht selbst unter Kontrolle zu haben, überwacht zu werden, sich an Verhaltensregeln halten zu müssen und nicht einfach tun und lassen zu können, wonach ihm gerade der Sinn stand. Und genau das verlangte Kenta von ihm, verlangten Gara und Sato, Yumiko und sogar Yukke von ihm und all das nur, weil dieser verfluchte Stalker ihn nicht endlich in Ruhe lassen konnte.

 

Sato.

Der Stalker.

Yukke.

Ganz toll.

 

Tatsuros Kiefer schmerzte mittlerweile, so verkrampft presste er die Lippen aufeinander, als er mit einem Mal wieder von dem Potpourri aus Sorgen und Ängsten umfangen wurde, das ihn nun schon seit Wochen begleitete. Für einige wertvolle Momente hatte er sich in der Gegenwart seines Bruders entspannen können, hatte an nichts denken müssen und nur die berauschende Musik genießen können … und nun war wieder alles für die Katz. Die verdrängten Gedanken stürmten auf ihn ein und ließen ihn binnen Sekunden wieder genauso aufgewühlt zurück, wie gefühlt schon seit einer halben Ewigkeit. Er würde heute Abend wirklich drei Kreuze machen, wenn der Film endlich im Kasten war und er erst einmal ausspannen konnte.

Wunschdenken? Vielleicht. Aber gerade das Einzige, was ihn davon abhielt nicht doch noch einfach alles hinzuschmeißen und sich irgendwohin abzusetzen, wo man ihn weder kannte, noch ihm an den Kragen wollte.

 

Kenta schob sich an ihm vorbei, kurz bevor die Tür seiner Garderobe in Sichtweite kam, öffnete diese und ließ seinen geschulten Blick durch den dahinterliegenden Raum schweifen. Erst dann trat er beiseite und ließ ihm mit höflicher Geste den Vortritt. Für einen langen Moment blieb Tatsuro stehen und musterte sein Gegenüber. Kenta war jünger als er, vielleicht in den späten Zwanzigern und hatte seine schwarzen Haare zu einem stylischen Chaos gegelt, welches den Blick auf seine hohe Stirn und die kantigen Gesichtszüge freiließ. Der ordentlich getrimmte Oberlippenbart und die dunklen Bartstoppeln, die das markante Kinn noch mehr in Szene setzten, hätten ihn zu einem durchaus attraktiven Mann gemacht, läge in den fast schwarzen Augen nicht derart viel geschäftsmäßige Distanz, dass sie den Bodyguard beinahe leblos erscheinen ließen. Tatsuro schnaubte überheblich und schob sich an Kenta vorbei.

 

„Als würde sich der Stalker in meiner Garderobe verstecken, um mich hinterrücks zu erstechen“, brummte er halblaut und rollte mit den Augen. Nein, er hatte sich definitiv noch nicht daran gewöhnt einen Leibwächter um sich zu haben und wenn es nach ihm ging, würde das auch nie geschehen. Insgeheim hoffte er noch immer, dass der Spuk ein Ende haben würde, sobald der Trubel um „Ame no orchestra“  vorbei war, auch wenn dies ebenso irrational war, wie die Hoffnung, dass der Stalker einfach irgendwann das Interesse an ihm verlieren würde.

 

„Guten Morgen, Yumiko“, begrüßte er seine Stylistin, die Kenta wie immer anbot sich zu setzen, was der Personenschützer jedoch wie schon von Anfang an höflich ausschlug und sich stattdessen neben der Tür postierte. Yumiko indes lächelte ihn an, verkniff sich nach einem kurzen blick in sein Gesicht jedoch wohl die Bemerkung, dass er ja zu spät sei und begann stattdessen zu erzählen, was sie heute so alles mit ihm vorhatte. Tatsuro hörte nicht wirklich zu, ließ sich stattdessen in seinen Stuhl fallen und griff nach seinem Handy, im Versuch alles einfach wieder auszublenden. Er hatte wirklich keinen Bock mehr auf diese Scheiße, ehrlich nicht.

 

Ein einziger Blick auf das Display genügte jedoch, um seinen Magen erneut in Aufruhr zu versetzen. Er wusste nicht, ob er lachen oder das Mobiltelefon einfach gegen die große spiegelfront werfen sollte, denn nichts anderes, als eine Nachricht von Yukke blinkte ihm munter entgegen. Und das war noch etwas, woran er sich einfach noch nicht gewöhnt hatte – dieser seltsame Umgang, den sein Drehpartner und er nun seit der Sache mit dem Zeitungsartikel pflegten. Beinahe war es so, als hätten sie die Zeit zurückgedreht. Yukke suchte seine Nähe, während er selbst alles daran setzte ihm aus dem Weg zu gehen. Fast wie zu Beginn der Dreharbeiten, nur mit dem Unterschied, dass mit jedem verstreichenden Tag die Sehnsucht mehr in ihm wuchs. Trotz seines besseren Wissens öffnete er daher auch die Nachricht und musste tatsächlich schmunzeln, als er sie las.

 

» Ab morgen sind wir keine Kollegen mehr. «

 

Die wenigen Worte wurden von einem kleinen Gif zweier Katzen begleitet, die zufrieden schnurrend ihre Köpfe aneinander rieben. Tatsuro ließ das Handy sinken und schloss für einen Moment die Augen. Anmaßend. Diese Nachricht war schlicht und einfach anmaßend. Was bildete sich Yukke überhaupt ein?

Er sollte sie schließen, am besten noch löschen, aber sich davon nicht so seltsam geschmeichelt fühlen. Er spürte sogar eine leichte Hitze auf seinen Wangen, was der ganzen Sache noch die Krone aufsetzte.

 

» Yukke, Yukke. Subtil ist was anderes … «

 

Statt also das Richtige zu tun und den anderen zu ignorieren, ertappte er sich dabei, wie er zurückschrieb und währenddessen noch immer ein feines Lächeln auf seinen Lippen lag. Schlimmer noch … gingen diese wenigen Worte jetzt schon als Flirten durch? Tatsuro rollte mit den Augen, aber noch bevor er das Geschriebene wieder hätte löschen können, hatte sein verräterischer Daumen schon auf senden gedrückt.

Verdammt.

Wo blieb bitte die Empörung, wenn man mal wirklich Grund dafür hatte? Immerhin war er Yukke nicht umsonst die letzten Tage über aus dem Weg gegangen und hatte immer abgelehnt, wenn der andere mit ihm hatte reden wollen. Aber er fühlte, dass seine Ablehnung nur noch von seinem Stolz aufrechterhalten wurde und selbst dieser schien keinen Bock mehr auf seine Sturheit zu haben. Er wollte diesen dämlichen Zeitungsartikel nur noch vergessen, wollte Yukke glauben und einfach da weitermachen, wo sie aufgehört hatten.

Vielleicht auch nur, um wenigstens diesen Teil seines Lebens unter Kontrolle zu haben.

 

Er seufzte und legte das Telefon beiseite, um Yumiko über den Spiegel hinweg dabei zu beobachten, wie sie seinen Haaren zu Leibe rückte.

Kenta stand wie eine dunkle Statue noch immer neben der Tür, still und unbeweglich, eine stumme Erinnerung daran, dass er in seinem Leben ganz offensichtlich eben rein gar nichts unter Kontrolle hatte.

 

Und, wie um diese deprimierende Erkenntnis zu unterstreichen, klopfte es in diesem Moment an die Tür seiner Garderobe, die eine Sekunde später zwei uniformierte Polizisten ausspuckte.

 

„Iwakami-san?“, richtete der kleinere der beiden das Wort an ihn und Tatsuro konnte spüren, wie ihm das Blut aus dem Gesicht wich. Er fühlte sich, als steckte er in zähflüssiger Gelatine fest, als er sich nichts Gutes ahnend langsam erhob und bestätigend nickte. „Bitte entschuldigen Sie die Störung, wir würden uns gerne mit Ihnen unterhalten.“

 

„Ich hole Gara“, flüsterte Yumiko, richtete ihre besorgten Augen für einen Moment auf ihn, bevor sie eilends den Raum verließ. 

 

~*~

 

 Regen … was auch sonst.

Innerlich seufzend ging Tatsuro die Straßen der Kulisse entlang, die eine typische Fußgängerzone in der Tokioter Innenstadt nachstellte, und versuchte seinen schwarzen Regenschirm so zu halten, dass er ausnahmsweise einmal nicht beim Dreh nass werden würde.

Sein Gesicht jedoch zeigte nichts von seinem Unmut, vielmehr spiegelte sich darin Akihikos so typische Milde,  vielleicht mit ein wenig Sehnsucht durchsetzt, die er nicht einmal schauspielern musste. Yukke, nein Junji, würde gleich seinen kurzen Auftritt haben, dann wäre die Szene fürs Erste im Kasten. Und wenn er ehrlich war, wollte er gar nicht darüber nachdenken, was danach kommen würde. Der große Showdown, die Aussprache … der Kuss.

Himmel, der Kuss.

Tatsuro fühlte sich dafür jetzt noch weniger bereit als vor so vielen Monaten, als er das Drehbuch und das unvermeidliche Ende zum ersten Mal gelesen hatte.

 

//Der Kuss? Ernsthaft? Als hättest du keine schwerwiegenderen Probleme//, stellte eine leise Stimme in seinem Inneren gehässig fest und begann ob seiner so unwichtigen Gedanken hysterisch zu kichern. Tatsuro hatte alle Mühe in seiner Rolle zu bleiben und nicht dem Drang nachzugeben, sich zitternd in einer Ecke zu verkriechen. Was tat er hier eigentlich? Er hätte auf Gara hören und den Dreh für heute absagen sollen. Scheiß drauf, ob Miya dann einen Nervenzusammenbruch erlitten und ihm die Pest an den Hals gewünscht hätte – der Regisseur wäre mit seinen Mordgelüsten dann ja wenigstens nicht allein gewesen.  

 

Noch immer hallten die Worte des Beamten in seinem Kopf nach und auch, wenn er jetzt verstand, was der Polizist ihm hatte sagen wollen, konnte er das ganze Ausmaß dessen noch immer nicht fassen

 

„Uns liegen nun die Ergebnisse der Laboruntersuchungen vor und alle Tests waren eindeutig. Die Pralinen enthalten eine hohe Konzentration eines cyanwasserstoffhaltigen Biozids …“

Die Stille, die auf diese erschütternde Nachricht gefolgt war, war beinahe erstickend gewesen und dennoch hatte man ihm wohl angesehen, dass er das chemische Kauderwelsch nicht wirklich verstanden hatte, denn nach einem etwas unbehaglich klingenden Räuspern war die folgende Erklärung des Polizeibeamten um einiges deutlicher ausgefallen.

„Bereits wenige Pralinen enthalten so viel Blausäure, dass ihr Verzehr ohne sofortige medizinische Versorgung schwerste Schädigungen nach sich ziehen würde, die bis zum Tod führen können.“

 

Blausäure …

Zum Tod führen …

 

Er hatte nichts darauf sagen können und jegliche Reaktion war ausgeblieben. Nur ein hohes Summen in seinen Ohren hatte es ihm fast unmöglich gemacht dem Beamten weiter zuzuhören. Er war froh gewesen, dass Gara das Reden für ihn übernommen und auch generell die Zügel in die Hand genommen hatte, denn er selbst wäre dazu einfach nicht in der Lage gewesen. Er hatte sich wieder in seinen Stuhl gesetzt, das blasse, verängstigte Gesicht seines Spiegelbildes so gut wie möglich ignoriert und gebetet, dass dieser Albtraum endlich ein Ende haben würde.

 

Aber die Pralinen waren vergiftet geblieben und er war auch nicht aufgewacht, sondern hatte den letzten Rest seines Nervenkostüms zusammengekratzt, es wie einen Kokon um sich gelegt, um irgendwie diesen Dreh zu überstehen.

Und um nicht denken zu müssen, denn würde er die Gedanken endgültig zulassen, würde er zerbrechen wie ein fragiles Gebilde aus Glas.

 

Beinahe hätte er sein Gesicht hinter einer Hand verborgen, als ein unbestimmtes Gefühl der Panik in ihm hochstieg, hielt sich im letzten Moment jedoch davon ab und richtete seine Aufmerksamkeit stattdessen auf die kleine Katze, die gerade aus einer Seitengasse auf ihn zu tapste.

 

„Tetochi“, bemerkte er erfreut mit Akihikos sanfter Stimme und ging vor der Glückskatze in die Hocke, um seinen Schirm schützend über sie zu halten. „Was machst du denn hier, bei dem Wetter?“ Seine Hand zitterte kaum merklich, als er ihr lächelnd übers regennasse Köpfchen streichelte und ihr dabei zusah, wie sie sich mit den Vorderpfoten an ihm abstützte, um ihm ziemlich nachdrücklich ins Gesicht zu maunzen. „Schon gut, ich hab dich ja verstanden.“ In einer fließenden Bewegung, die so aussah, als würde Akihiko das heute nicht zum ersten Mal tun, hob er die Mieze hoch und hielt sie so, dass sie es sich gegen seine Schulter gelehnt bequem machen konnte. Sogleich fing die Kleine an zu schnurren und er erschauerte leicht, als ihr kühles Fell die haut an seinem Nacken berührte. „Dann lass uns mal nach Hause ge…“

 

Ruckartig hob Akihiko den Kopf und starrte angestrengt durch den Regenschleier auf die gegenüberliegende Straßenseite.

Tatsuro wusste, dass man an dieser Stelle später erneut Ame no orchestra hören würde, während sich ein roter Regenschirm deutlich aus dem umliegenden Grau der Stadt herausschälte.

„Junji“, wisperte Akihiko und streckte seine freie Hand in einer unbewussten Geste nach der Erscheinung aus. Aber der rote Schirm verschwand, genauso wie die aufgeflammte Hoffnung aus den Augen des Straßenkünstlers. Akihiko biss sich auf die Unterlippe, einen wimmernden Laut unterdrückend, welcher sich in Form eines traurigen Lachens schlussendlich doch den Weg aus seiner Kehle bahnte.

„Jämmerlich“, spuckte er mit deutlicher Verachtung in der Stimme und drehte sich bewusst in die andere Richtung, um mit schnellen Schritten den Nachhauseweg anzutreten. „Ein Jahr, Tetochi, ein ganzes Jahr und noch immer hoffe ich, dass er wiederkommen wird.“ Tetochi maunzte erneut und leckte mit ihrer kleinen, rauen Zunge über Akihikos Wange, die mit einem Mal verdächtig feucht glänzte.

 

„Cut!“

 

Zeitgleich mit Miyas Ausruf stoppte der künstliche Regen und ehrlich erleichtert klappte Tatsuro seinen Schirm zusammen, während Tetochi mittlerweile so halb um seinen Nacken herum gerobbt war, dass sie es sich auf seinen Schultern bequem machen konnte. Das kleine Gewicht war wie ein Anker und das tiefe durchdringende Vibrieren ihres Schnurrens, als er begann sie wieder hinter den Ohren zu kraulen, vertrieb ein wenig der bleiernen Angst, die sich wie ein Schraubstock um sein Herz gelegt hatte.

 

„Na du, versuchst du einem Schal Konkurrenz zu machen? Wenn du nicht so nass wärst, wär das ja richtig gemütlich.“ Er versuchte sich an einem kleinen, ehrlichen Lächeln, was ihm zu seiner eigenen Verwunderung sogar gelang und wischte sich über die Wangen. Manchmal war er selbst über seine schauspielerischen Fähigkeiten erstaunt, aber heute war es ihm leicht gefallen auf Knopfdruck zu weinen. Verdammt, seine Situation war doch auch einfach nur noch zum Heulen, oder? Dennoch brauchte ja nicht gleich die ganze Crew wissen, wie aufgewühlt und hilflos er sich tatsächlich fühlte. Vorsichtig und zugegeben auch eher unwillig nahm er Tetochi von seinen Schultern, was diese mit einem unzufriedenen Murren quittierte, als ihre Trainerin mit einem flauschigen Handtuch auf sie zukam. Kaum hatte er sie schweren Herzens in die Arme der ältlichen Frau gelegt, wurde Tetochi auch schon eingewickelt und vorsichtig wieder trockengelegt.

 

„Sie hat Sie in ihr Herz geschlossen, Tatsuro-kun.“

 

„Glauben Sie mir, das beruht auf Gegenseitigkeit. Ich werde die Kleine wirklich vermissen, wenn die Dreharbeiten heute vorbei sind.“

 

„Tatsuro?“ Miya war an sie herangetreten und er spürte eine leichte Berührung an seinem Ellenbogen, als der Produzent nachdrücklich nach seiner Aufmerksamkeit verlangte. Kurz nickte er der Tiertrainerin noch freundlich zu, bevor er sich zu dem kleineren Mann herumdrehte.

 

„Mh?“, summte er kraftlos und wenig begeistert davon gleich zu erfahren, was der andere nun schon wieder von ihm Wollte. Miyas Aufmerksamkeit bedeutete meist entweder mehr Arbeit oder eine saftige Standpauke und er fühlte sich mental einfach zu erschöpft, um sich nun auch noch damit auseinanderzusetzen.  

 

„Gut gemacht“, sagte sein Gegenüber stattdessen schlicht und er hätte sich am liebsten ungläubig über die Augen gerieben – war das tatsächlich ein schmales Lächeln auf den sonst immer so ausdruckslosen Zügen? Vermutlich würde gleich die Welt untergehen, weil sie so eine Abweichung von der Norm nicht ertragen konnte.

 

„Da… danke“, stotterte er, vollkommen aus dem Konzept gebracht und wusste für einmal nicht, was er erwidern sollte.

 

„Der Dreh geht um siebzehnhundert weiter und ich möchte, dass du mindestens schon eine halbe Stunde vorher an der Lokation bist. Wir haben den Strandabschnitt für genau zwei Stunden für uns allein, das heißt keine zweite Chance, das Ding muss aufs erste Mal sitzen, okay.“ Tatsuro nickte stumm, immerhin erzählte ihm Miya gerade nichts Neues, nur das fast schon freundschaftliche Schulterklopfen hätte ihn beinahe erneut die Fassung verlieren lassen. Hatten Aliens den Produzenten entführt und ihn durch einen zugänglicheren Klon ausgetauscht? „Sehr gut, dann sind wir uns ja einig. Ich sagte doch, du wirst die BLP aus ihrem Indie-Dasein führen.“

 

Er blinzelte, als sich Miya ohne weitere Umschweife herumdrehte und Kommandos bellend zurück zu seinem Regiestuhl ging. Erst als ihm Sato zuwinkte, fand er aus seiner Trance und ging Kopf schüttelnd auf seinen Bruder zu.

 

„Hey, alles okay?“ Satochis besorgter Blick riss ihn schmerzhaft zurück in die Realität und führte ihm deutlich vor Augen, dass er nicht der Einzige war, den die Hiobsbotschaft der Polizei wie ein Hammerschlag getroffen hatte. Für eine Sekunde erwiderte er den Blick nur stumm, dann gönnte er sich einen Moment der Schwäche, als er den Kopf senkte und gegen die Schulter seines Bruders lehnte.

 

„Hey, kleiner Bruder.“ Satos Hand war warm und stark auf seiner Schulter … und beinahe zu viel für seine überstrapazierte Selbstbeherrschung.

 

„Schon gut“, flüsterte er mit rauer Stimme und löste sich. „Alles gut. Lass uns einfach nicht drüber reden.“

 

„Aber, Tatsue …“

 

„Bitte.“ Für eine Sekunde dachte er, Satochi würde ihm widersprechen, aber er nickte nur und zauberte von irgendwoher ein breites Lächeln, das nur ein kleinwenig zu angestrengt wirkte.

 

„Dann erzähl mal, was wollte Miya von dir?“

 

Tatsuro schluckte und erwiderte schließlich das Lächeln, als er seinem Bruder von seiner Theorie berichtete, dass Miya mit größter Wahrscheinlichkeit endlich von Außerirdischen entführt und durch einen deutlich netteren Klon ersetzt worden war.

 

„Und überhaupt …“, setzte er nach, während sie langsam das Set verließen. „Seit wann hat Miya eigentlich diesen Militär-Slang drauf? Siebzehnhundert … Ich weiß ja, dass er Befehle bellen kann wie ein General, aber das ist doch etwas viel des Guten. Sind wir jetzt bei der Armee oder was?“

 

„Was fragst du mich das?“ Satochis Gesichtsausdruck blieb bemüht unbeschwert, während er ihn nachdrücklich aus der Lagerhalle bugsierte. „Ich hab aufgehört ihn immer verstehen zu wollen, ist entspannter so.“

 

„Ach ja?“ Tatsuros Augenbraue wanderte fragend nach oben wenn jetzt nicht die richtige Gelegenheit war, mal mit seinem Brüderlein Tacheles zu reden, wann dann? „Sag mal, Sato, was läuft da eigentlich zwischen euch?“

 

„Weiß nicht. Was läuft zwischen Yukke und dir?“

 

„Ich hab zuerst gefragt.“ Satochi schaute ihn lediglich für einen Moment frech von der Seite her an und begann dann munter das Lied zu summen, welches Tatsuro für den Abspann des Films eingesungen hatte.   „Sato~!“

 

„Kommst du eigentlich mit? Ein paar Jungs von der Crew schwärmen schon die ganze Zeit von dem neuen Fischrestaurant, das am Hafen eröffnet hat. Dann wären wir auch gleich in der Nähe der Lokation. Würde sich doch anbieten, oder?“

 

„Lenk nicht vom Thema ab.“

 

„Ich hätte total Bock auf gegrillten Tintenfisch oder vielleicht,  mh, Hummer? So zur Feier des Tages? Was meinst du?“

 

„Sat…“ Gerade wollte er sich erneut lauthals beschweren, dass sein Bruder gefälligst mal auf seine Frage antworten und nicht immer vom Thema ablenken sollte, da fiel sein Blick auf Yukke, nachdem sie die BLP verlassen hatten. Der andere schien gerade zu telefonieren und sah alles in allem ziemlich zerknirscht aus. Er wollte sich schon abwenden – schließlich ging es ihn nichts an, was Yukke mit wem auch immer zu besprechen hatte – da aber steckte sein Drehpartner auch schon das Handy weg und machte Anstalten über den Parkplatz zu verschwinden.

 

„Du Sato, wart mal kurz auf mich, ja?“ Bevor er wirklich darüber nachdenken konnte, war er Yukke nachgeeilt und hatte ihn eingeholt, als er gerade die Tür seines Wagens aufschließen wollte. „Yukke, hey …“, platzte es regelrecht aus ihm heraus und er hätte sich am liebsten dafür geohrfeigt, dass er sich gerade atemlos wie ein verschossener Teenager angehört hatte. Aber ein Blick in das Gesicht seines Gegenübers genügte, um Sorge alle anderen Gefühle überschatten zu lassen. „Ist alles in Ordnung mit dir?“

 

„Wie? Oh Tatsuro, hallo.“ Fahrig schloss Yukke die Fahrertür auf und wirkte, als wäre er gar nicht wirklich bei der Sache. „Ja, ja, alles okay, ich muss nur schnell weg …“

 

Einem spontanen und vermutlich vollkommen irrationalen Impuls folgend trat Tatsuro einen weiteren Schritt nach vorn, streckte seine Hand aus und legte sie auf die eiskalten Finger seines Drehpartners. Er konnte hören, wie Yukke leise zischend die Luft zwischen den Zähnen einzog, als er ihn berührte und ein unbestimmter Schmerz zog für einen Sekundenbruchteil unerträglich stark in seinem Herzen.

 

„Warte doch mal, du bist total durch den Wind. Wenn du jetzt wegfährst, passiert womöglich noch was. Sag mir lieber, was los ist, mh?“ Vielleicht ging es ihn wirklich nichts an und vielleicht hätte er Yukke nicht so bedrängen sollen, aber verdammt, der andere sah aus, als würde er bei nächster Gelegenheit gegen eine Leitplanke fahren und das konnte er doch nicht zulassen.

Stumm erwiderte er den forschenden Blick, versuchte in den schönen Augen zu lesen, aber viel zu schnell wandte sein Gegenüber das Gesicht ab und schaute fragend über Tatsuros Schulter nach hinten.

 

„Kenta.“ Er seufzte leise. „Könntest du uns wenigstens ein bisschen Privatsphäre geben?“

 

„Aber natürlich, Iwakami-san.“

 

Genervt rollte Tatsuro mit den Augen, als er sich nach seinem Leibwächter umdrehte und sah, dass Kenta unter Privatsphäre verstand, sich ungefähr einen halben Meter von ihnen entfernt zu postieren und gerade mal so nett zu sein, ihnen den Rücken zuzudrehen.

 

„Versuch ihn zu ignorieren, tut mir leid“, bat er zerknirscht, nachdem er sich wieder umgedreht hatte.

 

„Schon gut.“ Kurz flackerte ein kleines Lächeln über Yukkes angespannte Züge, dann seufzte er leise und schüttelte den Kopf, wie als könnte er so seine Gedanken besser ordnen. „Sie haben Seek gefunden.“ Tatsuro blinzelte überrumpelt. Er verstand zwar die Worte, aber nicht wirklich, was genau der andere ihm damit sagen wollte.

 

„Wie, sie haben Seek gefunden? Wer? Und wo war er überhaupt?“ Tatsuro war in den letzten Tagen ja felsenfest davon ausgegangen, dass der Reporter sich abgesetzt hatte, nachdem er das mit viel Fantasie gespickte Interview bei der Redaktion abgegeben hatte. Vermutlich mit einem dicken Bonus und einer Schippe Sonderurlaub in der Tasche. „Na, wo ist er? Hawaii? Da wär ich jetzt auch lieber, muss ich zugeben.“ Er versuchte sich an einem Lächeln, das aber ziemlich verunglückte, als ihn Yukkes tadelnder Blick streifte.

 

„Seek hat sich nicht abgesetzt, Tatsuro, ich hab dir gesagt, dass ich ihm das alles nicht zutraue und ich hatte recht. Die Redaktionsleiterin  der Stars im Focus hat zugegeben, dass sie das Interview, wie sie sagte, aufgepeppt hat, weil es ihr zu wenig Aussagekraft hatte … Miyas Anwälte kümmern sich darum.“

 

„Miya? Na ganz Klasse, der mischt sich aber auch überall ein“, brummte er, wenig begeistert von der Vorstellung, dass der Produktionsleiter nun auch noch in dieser Sache seine Finger im Spiel hatte.

 

„Ja, Miya. Er hat immerhin ein Interesse daran, dass sein Star nicht durch den Kakao gezogen wird.“ Yukke funkelte ihn an. „Das war es auch, worüber ich mit dir reden wollte, aber du bist mir ja meisterhaft aus dem Weg gegangen.“ Tatsuro schluckte schwer, als er das Feuer im Blick seines Gegenübers bemerkte, das ziemlich seltsame und eindeutig unpassende Dinge mit seinem Magen anstellte. Gleichzeitig fühlte er sich jedoch wie ein riesengroßes Arschloch. Jetzt war es amtlich, Yukke hatte mit der ganzen Misere absolut gar nichts zu tun und er hatte sich aufgeführt wie, wie …

 

„Yukke … ich. Mensch, es tut mir leid, ich war so ein Idiot und …“

 

„Schon gut.“ Sein Drehpartner schüttelte den Kopf und wirkte mit einem Mal unendlich müde. Das Feuer war so schnell verschwunden, wie es aufgetaucht war und hinterließ lediglich einen Schimmer der Angst in den dunklen Augen. „Ich muss los, Tatsuro, sonst schaffe ich es nicht mehr rechtzeitig zurück zum Dreh.“

 

„Warte!“ Sein Griff um Yukkes Hand wurde fester. „Bitte. Du hast mir noch nicht gesagt, was jetzt eigentlich genau passiert ist. Was ist mit deinem Freund?“

 

„Seek liegt im  Keiyu Hospital“, seufzte der andere und fuhr sich durchs Haar, das ihm bereits in alle Himmelsrichtungen vom Kopf abstand.

 

„In Yokohama?“, fragte er dümmlich und sich ziemlich überrumpelt fühlend. Damit hätte er nun wirklich nicht gerechnet. Sein Gegenüber nickte matt.

 

„Er hat Freunde dort, ich schätze mal, er wollte sie besuchen, aber ist nie angekommen.“ In diesem Moment hätte er Yukke am liebsten in seine Arme geschlossen, stattdessen umfasste er die Hand des kleineren Mannes nun richtig und drückte sie leicht. Für einen langen Moment trafen sich ihre Blicke, dann strafften sich Yukkes Schultern deutlich sichtbar, bevor er weitersprach. „Nachdem nicht einmal seine Eltern wussten, wo er abgeblieben ist, haben wir ihn als vermisst gemeldet … und gerade eben hat mich seine Mutter angerufen.“ Ein sichtbares Zittern ging durch den kleineren Körper und ließ die Autoschlüssel in Yukkes Hand leise klirren. „In den letzten Tagen hat die Polizei die Krankenhäuser in der Umgebung abgeklappert … Gott Tatsue, er wurde zusammengeschlagen und liegt auf Intensiv. Er war noch nicht ansprechbar und konnte erst jetzt identifiziert werden, weil die Schweine ihm alles geklaut haben.“

 

Tatsuro fühlte sich, als wäre er in vollem Lauf gegen eine Betonwand geknallt. Mit allem hätte er gerechnet, aber nicht damit.

 

„Fuck …“, entkam es ihm und das schlechte Gewissen Seek und auch Yukke gegenüber wuchs ins Unermessliche. „Ich komm mit, okay?“

 

„Was? Aber …“

 

„Kein aber, ich hätte keine ruhige Minute, wenn ich dich jetzt alleine fahren lassen würde.“ Tatsuro schüttelte vehement den Kopf und zupfte die Wagenschlüssel aus Yukkes Griff. „Ich sag nur noch schnell Sato Bescheid, bin gleich wieder zurück.“

 

„Ja, aber …“

 

~*~

 

Kaum waren sie auf die Schnellstraße gefahren, die sie nach Yokohama bringen würde, hatte es angefangen wie aus Eimern zu gießen. Lautes Grollen war sogar trotz der Fahrgeräusche zu hören und gelegentliche Blitze zogen sich über die stahlgrauen, tief hängenden Wolken. Aus dem Radio in Yukkes kleinem Auto tönte ein Popsong, den Tatsuro leise mitsummte und damit so ein wenig seine Schadenfreude untermalen konnte, denn Kenta hatte sich auf die Rückbank quetschen müssen und saß nun mit den Knien fast unterm Kinn da, während er standhaft versuchte weiterhin professionell zu wirken. Tatsuro grinste und drehte den Kopf etwas zur Seite, um Yukke ansehen zu können. Dieser jedoch zuckte genau in diesem Moment zusammen, als ein weiteres Donnern zu hören war.

 

„Ernsthaft, du hast Angst vor Gewittern?“, fragte er direkt und unsensibel, wie es leider meist seine Art war und fluchte unterdrückt, als ein Transporter vor ihm einscherte und er dank der aufstiebenden Gischt für ein paar Sekunden rein gar nichts mehr sehen konnte.

 

„Ich hab gesunden Respekt vor Gewittern, das ist was ganz anderes.“

 

„Na klar“, feigste er, noch immer belustigt, legte aber, wie um seinen vorangegangenen Worten die Schärfe zu nehmen, seine Hand auf Yukkes Oberschenkel. Er konnte spüren, wie die Muskeln sich kurz verspannten und bereute, mal wieder erst gehandelt und nicht gedacht zu haben, dann aber berührten  kühle Finger seinen Handrücken und begannen zögerlich mit seinen Fingern zu spielen. Vermutlich war ihm in diesem Moment seine Erleichterung mehr als deutlich anzusehen, denn Yukke gab einen leisen, unbestimmten Laut von sich, der sich in Tatsuros Ohren beinahe ein wenig belustigt anhörte.

„Seek wird wieder, da bin ich mir sicher“, durchbrach er das vermutlich nur für ihn selbst so unangenehme Schweigen, das sich daraufhin über sie gelegt hatte, auch wenn er nur zu genau wusste, wie banal diese Worte waren.  

 

„Das kannst du nicht wissen“, war dementsprechend auch genau die Reaktion, mit der er schon gerechnet hatte und für die er sich die perfekte Antwort parat gelegt hatte.  

 

„Und ob ich das kann. Ich bin Tatsuro, der Allwissende.“

 

„Wohl eher Tatsuro, der Spinner.“ Yukke schnaubte, aber seine Mundwinkel zuckten verräterisch, ganz so, als würde er sich ein Lächeln verkneifen müssen.

 

„Ansichtssache, würde ich sagen.“ Tatsuro zuckte mit den Schultern, setzte den Blinker und überholte den weißen Kastenwagen, bevor dieser ihm noch den letzten Nerv kosten würde. „Hoffentlich zieht das Gewitter nicht weiter, sonst bekommt Miya noch ein Aneurysma, wenn es ihm das große Finale verhagelt.“

 

„Eigentlich wäre es doch auch passend, wenn Ame im Regen enden würde, oder?“

 

„Stimmt. Und vor allem wäre es so deutlich weniger kitschig. Aber ich hab keinen Bock darauf, schon wieder nass zu werden.“

 

Yukke lachte und strich mit dem Daumen über seinen Handrücken, was ihm eine doch eher unpassende Gänsehaut bescherte. Erst jetzt wurde ihm so richtig bewusst, wie sehr er ihn vermisst hatte und das war in der derzeitigen Situation noch beängstigender als ohnehin schon. Was, wenn er Yukke durch seine Zuneigung in Gefahr brachte? Für einige Minuten hingen sie ihren Gedanken nach, bis sein Drehpartner sich schließlich leise räusperte.

 

„Die Polizei wollte eine Handschriftenprobe von mir“, begann er und Tatsuro verzog unwillig den Mund – ihr Gespräch ging nun eindeutig in eine Richtung, die er lieber vermieden hätte.

 

„Wegen der Notiz, die bei den Pralinen lag?“

 

„Ja, sie dachten wohl, sie hätte von mir sein können … Du hast das auch gedacht, oder?“

 

„Ja“, gab er knapp zu und ihm wurde schlagartig übel. Ja verdammt, er hatte für einen schwachen Moment geglaubt, dass der andere etwas mit den Pralinen zu tun gehabt hatte. Na und? Mit all der Scheiße, die ihm in den letzten Wochen und Monaten widerfahren war, war es doch kein Wunder, wenn er paranoid wurde. Er spürte, wie sich sein Puls beschleunigte und biss sich auf die Unterlippe. Die Knöchel seiner Hand, die das Lenkrad umfasst hielt, traten weiß hervor, so sehr hatte er sich in den letzten Sekunden verkrampft und es kostete ihm große Mühe das Zittern zu unterdrücken, das nachdrücklich von ihm besitzergreifen wollte.

 

„Tatsue …“ Yukkes Blick war sanft, als er ihn beschämt erwiderte und in den dunklen Augen konnte er keine Spur von Enttäuschung oder Wut erkennen. Nur Verständnis und etwas, das er nicht zuordnen konnte. Tatsuro atmete betont ruhig ein und wieder aus, konzentrierte sich für einige Momente nur auf die Fahrbahn, bis er sich wieder im Griff hatte. Seine Linke lag noch immer auf Yukkes Oberschenkel, obwohl er sie am liebsten zurückgezogen hätte, aber raue Fingerkuppen malten unsichtbare Muster auf seine Haut, was so verdammt angenehm war, dass er einfach nur stillhielt. „Ich wollte nur sagen, dass ich das verstehe. Vermutlich wäre ich in so einer Situation auch misstrauisch gewesen.“

 

„Du bist echt zu gut für diese Welt“, murmelte er, auch wenn er bezweifelte, dass Yukke wirklich genauso wie er reagiert hätte. Der andere war doch ein viel zu guter Mensch, um mit derart unbegründeten Verdächtigungen um sich zu werfen. Gott, er fühlte sich miserabel und alles wurde nur noch immer schlimmer …

„Es war Blausäure in den Pralinen“, sprudelte es plötzlich aus ihm heraus, ohne, dass er etwas dagegen hätte unternehmen können. „Eine so hohe Dosis, dass selbst ein paar wenige von ihnen tödlich hätten sein können.“ Er hatte nicht darüber reden wollen – worüber man nicht sprach, war schließlich nicht wahr, oder etwa nicht? – aber wie so oft schaffte es allein Yukkes Gegenwart seine Barrieren niederzureißen.  

 

„Ich weiß.“

 

„Natürlich weißt du das schon.“ Tatsuro seufzte. Sein erster Impulswäre ja gewesen zu fragen, woher Yukke das nun schon wieder wusste, aber mittlerweile hatte auch er begriffen, dass in einer so kleinen Firma, wie die BLP eine war, Neuigkeiten Mittel und Wege hatten, sich wie ein Lauffeuer zu verbreiten. Vermutlich war es Gara oder auch Sato gewesen, die seinen Drehpartner informiert hatten. Diskretion war wirklich ein Fremdwort.

 

„Ich lass nicht zu, dass er dir nochmal wehtut.“

 

Tatsuro wusste nicht, ob die leise gewisperten Worte überhaupt für seine Ohren bestimmt gewesen waren, aber er spürte den sanften Kuss, den Yukke auf seine Fingerknöchel presste und das warme Kribbeln, welches sich von dieser Stelle ausgehend durch seinen ganzen Körper zog. Er drehte den Kopf etwas zur Seite, um ihm ins Gesicht sehen zu können, aber die dunklen Augen blickten starr aus dem Seitenfenster und beobachteten wohl den Regen, der in dünnen Rinnsalen die Scheibe herabrann.

 

War nun alles zwischen ihnen geklärt?

Nein, nicht wirklich und Tatsuro bezweifelte, dass das passieren würde, solange der Stalker noch immer da draußen war und ihm nach dem Leben trachtete. Aber er fühlte sich jetzt und hier in Yukkes Gegenwart deutlich wohler, als es die letzten Tage über der Fall gewesen war. Wäre er nicht so ein Egoist, hätte er den anderen weiterhin auf Abstand gehalten, um ihn nicht unnötig in Gefahr zu bringen.

Aber verdammt nochmal, er wollte endlich wieder das Gefühl der Geborgenheit spüren, das Yukke in ihm auszulösen vermochte und wenn ihn das zu einem schlechten Menschen machte, dann war es eben so.

Seine Mundwinkel hoben sich zu einem schmalen Lächeln, das sich nicht entscheiden konnte, ob es selbstironisch oder lieber grimmig sein wollte.

Sollte der Stalker doch versuchen, nur noch einmal jemanden zu verletzen, der ihm etwas bedeutete, dann würde er schon sehen, wohin ihn das führen würde.

 

Wieder hatte sich Stille über sie gelegt, aber diesmal hatte er nicht mehr das Gefühl, als würde sie ihn erdrücken. Yukkes Finger waren mit seinen verschränkt und erwärmten sich langsam, während sich vor ihnen das Keiyu Hospital aus den Regenschleiern schälte.

 

 

-_-_-_-_-

Der April war schreibtechnisch ja nicht wirklich mein Monat und ich hatte schon befürchtet, euch auch im Mai kein neues Kapitel liefern zu können. Aber hey, hier ist es und ich hoffe doch sehr, dass es euch gefallen wird. Hinterlasst mir doch ein Review, wenn dem so war, das hilft mir immer weiter und freut mich ungemein. Außerdem könntet ihr dann gleich noch folgende Frage beantworten: Welcher JRocker war Vorbild für Tatsuros Leibwächter? ;D

Klappe, die Zwölfte

„Es ist bereits nach fünf! Was an ‚seid mindestens eine halbe Stunde vor Drehbeginn an der Lokation‘ habt ihr eigentlich nicht verstanden?!“

 

In der Sekunde, als Yukke und er den Strand betreten hatten, hatte sich ein Mörderblick vom Feinsten auf sie gerichtet und der kleine Regisseur war durch den feinen Sand so schnell auf sie zugeeilt, dass man hätte glauben können, er hätte sich einfach vor ihnen materialisiert. Und wenn Tatsuro ehrlich war, musste er zugeben, dass, wäre dies irgendeinem Menschen auf der Welt möglich, dieser Mensch wohl Miya heißen würde. Er musste sich ein Grinsen verkneifen. Manche Dinge änderten sich eben nie, doch nach all dem Unerfreulichen, was der Nachmittag für ihn und vor allem für Yukke bereitgehalten hatte, war dieser Umstand gerade seltsam tröstlich. Sein Drehpartner hatte auch schon den Mund geöffnet, wohl um den vor Wut schäumenden Produzenten zu besänftigen, bevor dieser sich noch komplett in Rage reden konnte, bekam jedoch nicht die Chance, auch nur einen Ton von sich zu geben.

 

„Ich hab euch mehr als einmal gesagt, dass wir den Strandabschnitt nur für zwei Stunden für uns haben. Verdammt, ihr bringt den ganzen Dreh in Gefahr!“

 

„Tut mir leid, Miya. Das war meine Schuld.“ Tatsuro war in seinem Leben noch nie so dankbar für sein schauspielerisches Talent gewesen, dass es ihm in diesem Augenblick erlaubte, seine Worte tatsächlich reuevoll über die Lippen zu bringen und auch seinen Gesichtsausdruck diesem Gefühl anzupassen, obwohl er am liebsten einfach nur mit den Augen gerollt hätte. „Wenn Yukke und ich jetzt sofort in die Maske gehen, schaffen wir die Aufnahmen in der verbleibenden Zeit, das garantiere ich dir. Wir sind doch Profis, nicht wahr?“

 

Entweder war das genau das, was Miya von ihm hatte hören wollen, oder er hatte es tatsächlich einmal geschafft, den kleineren Mann aus der Fassung zu bringen. Denn ohne noch ein weiteres Wort an sie zu richten, scheuchte Miya sie in Richtung eines weißen Unterstands, wo Yumiko und andere Mitglieder der Crew diversen Beschäftigungen nachzugehen schienen.

 

„Es wäre nicht nötig gewesen, den Ritter zu spielen“, schaltete sich Yukke ein, als sie schnellen Schrittes den Regisseur hinter sich gelassen hatten und für den Moment noch allein waren. „Er hätte Verständnis für den Grund unserer Verspätung gehabt.“

 

„Möglich“, murmelte Tatsuro und ließ nun doch das Schmunzeln zu, welches schon die ganze Zeit über an seinen Mundwinkeln zupfte. „Ist es denn so schlimm für dich, wenn ich mich ritterlich verhalte?“

 

„Nein … wüsste ich nicht genau, dass du das nur getan hast, um Miya eins auszuwischen.“

 

„Infame Unterstellung“, protestierte er, was Yukke jedoch nur mit einer hochgezogenen Augenbraue quittierte. „Ich hab es nur gut gemeint, immerhin ist Miya nicht ausgelastet, wenn er sich nicht wenigstens einmal am Tag über mich ärgern kann.“

 

Yukke blieb für einen kurzen Moment stehen, schüttelte den Kopf und lachte leise, was sein Herz für einen Schlag aussetzen ließ. Dieses Lachen. Ihm war gar nicht aufgefallen, wie sehr er es vermisst hatte.

 

„Dann bleibt mir wohl nur, meinem Ritter tiefsten Dank auszusprechen“, redete der andere weiter und flatterte gespielt mit den Wimpern. Wo waren dumme Sprüche und schlagfertige Antworten, wenn man sie wirklich einmal brauchte? Ausgeflogen, wie sollte es auch anders sein.

 

„Nicht deswegen“, hörte er sich sagen und hätte sich am liebsten dafür geohrfeigt, wie dünn seine Stimme gerade klang. Yumiko war es schließlich, die ihn davor bewahrte, einen noch größeren Idioten aus sich zu machen, als sie zu ihnen trat und ihn energisch am Ärmel packte.

 

„Tatsue! Was stehst du hier herum, wie ein Ölgötze? Es ist ja nicht so, als hätte ich nicht noch einiges zu tun. Himmelherrgott, hier hat wirklich niemand auch nur das Mindestmaß an Zeitgefühl.“

 

Tatsuro war seiner aufgebrachten Stylistin gerade deutlich dankbarer, als er jemals freiwillig zugegeben hätte, dass sie ihn nun rigoros hinter sich herzog, bis sie ihn auf einen Stuhl vor einer improvisierten Makeup-Station platzieren konnte. Ohne Yumikos Intervention hätte das gerade ziemlich peinlich für ihn werden können. Doch auch so verzog er innerlich das Gesicht, als Yukke wenige Momente später ebenfalls den Unterstand betrat und es nicht lassen konnte, ihm ein unendlich selbstzufriedenes Lächeln über den Spiegel hinweg zu schenken, bevor er von seiner eigenen Stylistin in Beschlag genommen wurde. Na großartig.

 

„Wo zum Geier hast du dich schon wieder herumgetrieben?“, zischte ihm Yumiko im Flüsterton zu und schaffte es damit, ihn aus seinen Gedanken zu reißen. „Miya ist auf hundertachtzig.“

 

„Das war das Erste, was ich mitbekommen habe, seit wir wieder hier sind. Du erzählst mir also nichts Neues“, nuschelte er, während die andere ihm mit feuchten Tüchern übers Gesicht wischte und im Anschluss begann, sein Make-up erneut aufzutragen.

 

„Ach ja? Dann wundert es mich wirklich, dass du überhaupt noch einen Kopf auf den Schultern hast, den ich jetzt herrichten kann.“

 

„Da siehst du mal, niemand kann meinem Charme widerstehen, auch Miya nicht.“

 

Yumiko prustete los und auch, wenn er ihren demonstrativen Unglauben normalerweise nicht unkommentiert gelassen hätte, war er gerade nur froh, sie mit seinem Kommentar genug abgelenkt zu haben, dass sie sich die nächsten Minuten schweigend ihrer Arbeit widmete. Er griff nach dem Drehbuch, das wie immer für ihn bereitlag und schlug es auf den Seiten auf, welche die folgende – und letzte – Szene im Detail beschrieben. Statt sich jedoch in den geschriebenen Worten zu vertiefen, starrte er diese nur an, während sich die Ereignisse des Nachmittags in seiner Erinnerung wie ein Film erneut abspielten.

 

Seek hatte wirklich schlimm ausgesehen. Das Gesicht blass und eingefallen, mit einem dicken Verband um den Kopf und von seinen grün gefärbten Haaren keine Spur mehr. Ein Infusionsschlauch hatte in seiner Armbeuge gesteckt und die Kabel der Elektroden, welche auf seiner Brust klebten, hatten sich bis zum Herzmonitor gezogen, der ein regelmäßiges Piepen von sich gegeben hatte. Zum Glück war er nicht beatmet worden, schien wenigstens so weit auf der Höhe zu sein, dass das nicht nötig gewesen war. Der Mensch, der dort im Krankenbett gelegen war, hatte mit dem lebenslustigen und quirligen Reporter, den er vor Wochen im Café flüchtig kennengelernt hatte, wirklich kaum noch etwas gemein gehabt.

Tatsuro schluckte, als ihm das schlechte Gewissen das Atmen schwermachte. Er hatte wirklich geglaubt, Seek hätte all diese Halbwahrheiten über ihn an seinen Verlag weitergegeben, um sich zu profilieren, und diese ungerechtfertigte Verdächtigung seinerseits nagte nun ziemlich an ihm. Er schnaubte und schüttelte sacht den Kopf, was Yumiko mit einem unwilligen Knurren und einem festen Griff um sein Kinn kommentierte.

 

„Halt still und schau nach oben, sonst hast du die Wimperntusche überall hängen.“

 

„Ist ja gut.“ Er seufzte und sah zur weißen Plane des Unterstands empor, die ihm den Blick auf den Himmel verwehrte. Wieder huschten Fragen durch seine Gedanken, die er schon die ganze Zeit nicht losgeworden war. Wer war dafür verantwortlich, dass der Reporter nun im Krankenhaus lag? War es wirklich nur ein Raubüberfall gewesen, wie die Polizeibeamten Seeks vollkommen aufgelösten Eltern versichert hatten, oder steckte womöglich mehr dahinter? Vermutlich übertrieb er und sah Gespenster, wenn er diesen Zwischenfall nun auch mit seinem Stalker in Verbindung brachte, aber was, wenn nicht?

 

‚Ich habe die Macht, dir alles zu nehmen, was dir lieb und teuer ist.‘

 

Wie aus weiter Ferne hörte er wieder diese Worte, die ihm regelmäßig Albträume bescherten, als sich Yukkes vor Trauer und Schuld verzerrtes Gesicht erneut vor sein inneres Auge schob. Der andere hatte so elend ausgesehen, als er neben Seek Platz genommen und nach seiner Hand gegriffen hatte. Am liebsten wäre er zu ihm gegangen und hätte ihn in den Arm genommen, ihm auf irgendeine Art Trost gespendet, alles, nur um diesen Ausdruck von seinem Gesicht verbannen zu können. Stattdessen jedoch war er vor dem Zimmer geblieben, hatte nur durch das Besucherfenster geblickt und sich unendlich hilflos gefühlt. Aber es war nicht an ihm gewesen, sich zu den Menschen um Seeks Bett zu gesellen. Dessen Eltern und Yukke hatten es verdient, sich ungestört ihren Sorgen hinzugeben. Und so hatte er versucht, es sich auf den ungemütlichen Besucherstühlen einigermaßen bequem zu machen, den kaum zu genießenden Kaffee getrunken und wenige, meist einsilbige Gesprächsfetzen mit Kenta geführt, um mit aller Macht zu versuchen, seine Paranoia nicht die Oberhand gewinnen zu lassen.

 

Kenta. Noch so ein Detail, welches ihm ständig vor Augen führte, wie desolat sein Leben im Augenblick wirklich war. Der Leibwächter hatte erneut in seiner Nähe Stellung bezogen und wenn sich Tatsuro nicht ganz täuschte, glitt sein überwachender Blick nicht nur stetig zwischen dem Eingang des Unterstands und ihm hin und her, sondern fixierte sich auffällig häufig auch auf Yukke. Ob Kenta ähnliche Schlüsse zog, wie er selbst es tat?

 

Der Stalker wusste von Yukke. So wie er über alles informiert zu sein schien, was in Tatsuros Leben vor sich ging. Wusste er also auch um die Gefühle, die er für seinen Drehpartner empfand? Und war dieses Wissen allein schon Grund genug, um einen unbeteiligten Außenstehenden lebensbedrohlich zu verletzen? Beinahe hätte er die Augen zusammengekniffen, als sein Herz schmerzhaft in seiner Brust stach. Wieder wurde ihm bewusst, dass er alle hier, jeden einzelnen Menschen, den der Stalker mit ihm in Verbindung bringen konnte, gefährdete. Sein Atem beschleunigte sich und er spürte einen Schweißtropfen, der ihm ekelhaft langsam über den Rücken rann.

 

„Tatsuro? Ist alles in Ordnung mit dir?“

 

„J… ja“, krächzte er mit belegter Stimme, „Ich glaub, ich muss nur mal was trinken.“

 

„Hier, Iwakami-san.“

 

Die Hand, die sich von der Seite her in sein Blickfeld schob und ihm eine ungeöffnete Wasserflasche entgegenhielt, war eindeutig die seines Personenschützers. Dennoch zuckte er unwillkürlich zusammen und starrte den Gegenstand für einen langen Moment nur wie versteinert an. Mit einem resigniert klingenden Seufzen griff er schließlich doch danach und während er einen großen Schluck des wohltuend kalten Wassers trank, wurde ihm ein weiteres Mal schmerzhaft bewusst, was ihm der Stalker bereits jetzt schon alles genommen hatte.

 

~*~

 

Seine Haare, die Yumiko eben noch sorgfältig geglättet hatte, wurden ihm nun von der frischen Seebrise ins Gesicht geweht. Der Drang, sich über die kribbelnde Nase zu reiben, war fast übermächtig, aber noch hatte ihm Miya nicht das Zeichen gegeben, dass die Nahaufnahme seines Profils zufriedenstellend im Kasten war. Seine Hand zitterte leicht, als er sich nun, dem Fingerzeig des Produzenten folgend, einige Strähnen hinters Ohr strich und die Einkaufstasche anhob, die seine Figur, Akihiko, eben noch auf dem Boden vor der hüfthohen Steinmauer abgestellt hatte, die den Strand von der Straße abtrennte. Ein langes Seufzen kam ihm über die Lippen und sein sehnsuchtsvoller Blick hing für einen Moment am Horizont, wo sich die tief hängende Sonne in den herrlichsten Orange- und Rottönen im Meer spiegelte. Er machte Anstalten, die idyllische Szenerie hinter sich zu lassen, war gerade im Begriff, sich herumzudrehen, als sich seine Aufmerksamkeit auf eine Gestalt richtete, die langsam am Strand entlang ging und eindeutig seinen Blick suchte. Akihiko entglitten die Gesichtszüge, als er zu erkennen glaubte, wer dort unten stand. Der Schmerz, den diese Erkenntnis in ihm auslöste, war nur zu deutlich in seinen dunklen Augen zu sehen und seine angespannte Körperhaltung machte klar, dass er sich nicht entscheiden konnte, ob er fliehen oder voller Sehnsucht auf den Mann zueilen sollte, der nun eine Hand hob und ihm zuwinkte.

 

„Junji“, flüsterte er und der Wind frischte auf, trug den Namen seiner Liebe davon, als hätte er ihn nie ausgesprochen. Ein Ruck ging durch den schlanken Körper, als Akihiko mit steifen Schritten an der Strandpromenade entlang ging, bis er zu der Stelle in der mauer kam, wo einige, wenige Stufen zum Strand hinunterführten.

 

Tatsuro wusste nicht, wie er sich fühlen sollte, als er langsam auf Yukke zuging. Noch immer spukten ihm so derart viele Gedanken und sorgen im Kopf herum, dass er sich kaum auf den Dreh konzentrieren konnte. Aber noch hatte Miya nicht abgebrochen, noch schien er seine Rolle perfekt zu spielen, doch würde dem auch noch so sein, wenn er seinen Text herunterbeten musste? Gefühlte hundertmal in den letzten Wochen hatte er sich über die miesen Dialoge im Drehbuch beschwert, aber diese Schlussszene war es, die ihm jedes einzelne Mal, da er sie lesen musste, die Haare zu Berge stehen ließ.

 

„Akihiko.“ Junji lächelte ihn an, ein Ausdruck grenzenloser Erleichterung auf dem markanten Gesicht. „Ich wusste, dass du es bist.“

 

Innerlich hätte Tatsuro am liebsten die Augen verdreht. ‚Ich wusste, dass du es bist‘. Eine dümmere Begrüßung hätte dem Autor des Drehbuchs nicht einfallen können, oder?

 

Akihiko schwieg und anders, als er es sich in seinen träumen immer ausgemalt hatte – Träume, von denen das Publikum übrigens durch Einblendungen in diversen Zeitraffereinstellungen erfahren würde – ging er nicht weiter auf Junji zu, warf sich auch nicht in seine Arme und gestand ihm nicht unter Tränen, wie sehr er ihn vermisst hatte. Nein, Akihiko blieb stehen und erwiderte den Blick des kleineren Mannes stumm und regungslos. „Aki~?“

 

Der Kosename schmerzte und mit verzogener Miene wandte Akihiko den Blick ab, richtete ihn stattdessen erneut in die Ferne, bevor er leise, kaum hörbar wisperte: „Was tust du hier?“

 

„Ich hatte gehofft, dich hier zu treffen …“ Junji machte einen Schritt auf ihn zu, aber er hob die Hand und schüttelte den Kopf als Zeichen, dass er sich fernhalten sollte. Akihiko brauchte eine gewisse Distanz zwischen ihnen, sonst würde er dem anderen doch noch einfach in die Arme fallen und all den Schmerz vergessen, den er ein Jahr lang in seinem Herz getragen hatte.

 

„Ein Jahr, Junji. Ein ganzes Jahr, in dem du dich nicht ein einziges Mal gemeldet hast. Und nun tauchst du hier einfach so auf?“ Er wischte sich in einer unwirschen Geste die Haare aus dem Gesicht, welche der Wind jedoch sogleich wieder durcheinanderbrachte. „Was willst du?“

 

Tatsuro schluckte und wartete nur darauf, ein lautes ‚Cut!‘ von schräg hinter sich zu hören, denn das Drehbuch sah eigentlich vor, dass Akihiko seinem Gegenüber mit einer gewissen Resignation und Trauer entgegentrat, doch die Frage, die ihm soeben über die Lippen gekommen war, war einem wütenden Ausruf gleichgekommen, der vielmehr seine innere Unruhe repräsentierte, als das, was der Autor für die Szene vorgesehen hatte. Aber ein Tadel blieb aus und Yukke passte sich seiner Improvisation erneut wie ein wahrer Profi an.

 

„Du weißt, warum ich gehen musste und auch, dass ich einfach keine Zeit hatte …“

 

„Keine Zeit?“ Akihiko machte eine derart aufgebrachte Handbewegung, dass man glauben mochte, er wolle die Worte ohrfeigen, die soeben Junjis Mund verlassen hatten. „Du hattest keine Zeit, dich auch nur ein einziges Mal bei mir zu melden? Mir zu sagen, wie es dir geht oder verflucht … einfach nur ein Lebenszeichen von dir zu geben?“ Er atmete schwer, schmeckte das Salz des Meeres auf seinen Lippen, als er sie mit der Zunge benetzte. „Du machst dir doch selbst etwas vor, Junji, und wenn du glaubst, was du soeben gesagt hast, bist du nichts weiter als ein Lügner.“ Akihiko schüttelte den Kopf, war im Begriff sich herumzudrehen und den Strand, den Mann, den er zu lieben gedacht hatte, endgültig hinter sich zu lassen.

 

Tatsuro legte einen verzweifelten Ausdruck der Zerrissenheit auf sein Gesicht, als er für einen kurzen Moment das Auge der Kamera suchte, bevor er sich doch noch einmal zu seinem Drehpartner wandte.

 

„Alles, was du mir gesagt hast, war doch nichts weiter als ein Vorwand. Der Deal in Übersee, die Investoren, all das waren doch nur durchaus praktische Gründe für dich, mich zurücklassen zu können.“

 

„Das ist nicht wahr! Und du weißt das.“ Junji schüttelte energisch den Kopf und in seinen dunklen Augen stand nur zu deutlich geschrieben, wie sehr er hoffte, Akihiko wenigstens ein wenig Verständnis für seine Situation abringen zu können.

 

Tatsuro grinste innerlich, freute er sich doch ungemein darüber, dass Yukke so gut mitspielte und sie dem langweiligen und vorhersehbaren Dialog wenigstens etwas Pfiff einhauchen konnten.

 

„Weiß ich das, ja? Das Einzige, was ich mit Sicherheit weiß, ist, dass du feige bist.“ Akihikos Worte hingen schwer zwischen ihnen und man sah Junji an, wie sehr sie ihn getroffen hatten. Wieder leckte er sich über die spröden Lippen, rieb sich kurz über die Oberarme, da sich der anhaltende Wind unter seine leichte Jacke stahl und ihn frösteln ließ. Akihiko suchte den Blick seines Gegenübers und fuhr resigniert fort: „Du hattest einfach nicht den Mut, zu mir zu stehen. Dir waren die Meinungen deiner Investoren wichtiger als die Zeit, die wir miteinander verbracht haben. Ich verstehe das, wirklich, das tue ich.“ Wieder schob er seine Haare hinters Ohr und erneut war dies ein Versuch, der von vornherein zum Scheitern verurteilt war. „Dennoch hättest du wenigstens so fair sein müssen, mir die Wahrheit zu sagen. Du hättest mir sagen müssen, dass das mit uns keine Zukunft hat. Wenigstens das …“ Akihikos Stimme brach und er musste sich räuspern, um weitersprechen zu können. „Dann hätte ich mir keine Hoffnungen gemacht.“ Jetzt erst drehte er sich wirklich herum und begann, seinen eigenen Fußabdrücken im Sand zurück zur Strandpromenade zu folgen.

 

„Aki~!“ Ein verzweifelter Ausruf, den er mit aller Macht zu ignorieren versuchte, folgte ihm, doch erst eine Hand auf seiner Schulter ließ ihn innehalten. „Warte.“ Junji atmete schwer, als wären es nicht wenige Schritte, sondern unzählige Meilen gewesen, die er hatte überwinden müssen. „Bitte, warte. Du hast recht. Himmel, Aki, du hast mit allem recht.“

 

Als Akihiko sich zögerlich herumdrehte, stockte ihm der Atem. Junjis ausdrucksstarke Augen schwammen regelrecht voller Verzweiflung und er konnte die Angst in ihnen erkennen. Angst, ihn endgültig verloren zu haben. Es schnürte ihm die Kehle zu, den sonst so selbstsicheren Geschäftsmann nun derart gebrochen zu sehen.

 

„Junji …“, entkam es ihm flüsternd, mit einer Spur Unglauben in der Stimme.

 

„Du hast recht“, wiederholte der andere und schüttelte den Kopf, als könnte er so seine Gedanken sortieren. „Ich bin ein Feigling gewesen und habe mein Ansehen, meine Karriere über dich und die Gefühle gestellt, die ich für dich empfinde. Aber …“ Er rieb sich übers Gesicht und Tatsuro glaubte, tatsächlich ein empörtes Aufseufzen von Yukkes Stylistin über den Wind hinweg zu hören. Tja, echte Improvisation forderte ihre Opfer. Er blinzelte, als sein gegenüber die Hand an seine Schulter legte, als hätte Yukke gemerkt, dass er drohte aus seiner Rolle zu fallen. Beinahe hätte er ihm dankbar zugelächelt, verkniff sich im letzten Moment jedoch jegliche Regung und erwiderte den Blick aus bittenden Augen nur stumm. „Aki, mir ist in diesem einen Jahr so viel klar geworden. Mit jedem Monat, der verstrichen ist, habe ich dich mehr vermisst und deutlicher gespürt, dass ich einfach nicht ohne dich sein kann.“

 

Okay, das war nun vielleicht ein wenig dick aufgetragen, aber auch wenn Tatsuro selbst hierauf mehrere gute Erwiderungen eingefallen wären, Akihiko hatte dieses Geständnis erst einmal mundtot gemacht. So öffnete er auch nur die Lippen, ohne jedoch, dass ihm auch nur ein Wort über selbige gekommen wäre.

                      

„Ich brauche dich, Aki, mehr als ich Ansehen, Investoren oder zukünftige Projektabschlüsse brauche. Es hat gedauert, mir das einzugestehen, aber …“ Junjis Hand glitt von seiner Schulter weiter nach oben, bis sie sich erstaunlich warm an seine Wange legte. Ohne, dass er es bewusst hätte beeinflussen können, schmiegte Tatsuro sich in diese wohltuende Berührung und blickte den anderen durch halb geschlossene Lider an.

 

„Es tut weh, Junji“, wisperte er mit Akihikos rauer Stimme. „Es tut einfach nur schrecklich weh, zurückgelassen und vergessen zu werden.“

 

„Nein“, wisperte Junji, energisch den Kopf schüttelnd. „So ist es nie gewesen.“ Er strich mit dem Daumen die Nässe hinfort, die sich unter Akihikos nun geschlossenen Lidern ihren Weg suchen wollte. „Ich hab dich nie vergessen, bitte glaub mir das, keine Sekunde lang.“ Der kleinere Mann überbrückte auch noch den letzten Abstand zwischen ihnen und umfasste mit der freien Hand seinen Oberarm in einer fast schon besitzergreifenden Geste. Überrascht öffnete Akihiko die Augen, ließ eine Träne frei, die sich träge seine Wange nach unten stahl. „Ich weiß, dass es noch nicht zu spät für uns ist.“ Er konnte den warmen Atem des anderen an seinen Lippen spüren, so nahe waren sie sich mittlerweile, und ohne, dass er es gewollt hätte, zeigte die Gänsehaut an seinem Hals den Schauer, den diese Beinahe-Berührung ausgelöst hatte.

 

„Du glaubst wirklich, das wäre alles so einfach? Eine Entschuldigung, ein paar nette Worte und alles ist vergessen?“ Akihikos Stimme hätte vorwurfsvoll klingen sollen, aber das Feuer war aus ihr verschwunden und in den dunklen Augen stand nur zu deutlich geschrieben, dass er Junji glauben wollte. Angst und Sehnsucht schienen in ihnen einen Kampf auszufechten, den erst die nächsten Worte des kleineren Mannes für sich entschieden.

 

„Nein, Aki.“ Junji lächelte zerknirscht – ein Ausdruck milder Selbstironie und ungewohnter Verunsicherung, der ein schmerzliches Ziehen durch Akihikos Magen jagte. „Du wärest nicht du, wenn du es mir so einfach machen würdest.“ Wieder streichelte Junjis Daumen über seine Wange. „Ich will für dich da sein, um dich kämpfen und dir jeden Tag aufs Neue beweisen, dass ich zu dir stehen werde, egal was auch kommt. Kannst …“ Junji leckte sich über die Lippen und wie automatisch fixierten sich Akihikos Augen auf die nun leicht glänzende Haut. „Kannst du mir noch eine zweite Chance geben?“

 

Akihiko atmete zittrig ein, bevor er sich auf die Unterlippe biss und heftig nickte. Der andere erwiderte diese Geste mit einem sanften Lächeln, aus dem unendliche Dankbarkeit und Freude sprach, bevor er wisperte: „Ich liebe dich, Akihiko, und ich werde nie wieder so dumm sein, das infrage zu stellen.“

 

„Junji …“

 

Und endlich trafen sich ihre Lippen in diesem einen Kuss, den Tatsuro seit Beginn der Dreharbeiten so sehr gescheut hatte und der sich nun einfach nur unendlich richtig anfühlte. Ohne sein bewusstes Zutun glitten seine Finger in Yukkes Haar, hielten ihn an Ort und Stelle, um einen zu frühen Rückzug zu verhindern. Aber der andere machte keine Anstalten, sich befreien zu wollen, ganz im Gegenteil. Yukke drängte sich noch näher und gerade, als eine forschende Zunge auffordernd gegen seine Lippen stupste, riss sie ein anzügliches Pfeifen und das heitere Grölen der Filmcrew aus ihrer Zweisamkeit.

 

„Fuck“, schnaufte sein Drehpartner, grinsend die Hand auf seine Brust gepresst, unter der sein Herz vermutlich ebenso schnell schlug, wie Tatsuros gerade. Nur wusste er nicht, ob sein fliegender Herzschlag daher rührte, dass er sich erschreckt hatte oder einen ganz anderen und viel tiefer gehenden Grund hatte.

 

„Cut!“, rief Miya und schüttelte den Kopf. „Nur noch mal für alle, die es nicht mitbekommen haben.“ Nun grinste der kleine Regisseur und kam mit langsamen Schritten und klatschend auf sie zu. „Ich hätte es ja nicht für möglich gehalten, aber die Szene ist im Kasten. Fünf Minuten Pause, dann schießen wir noch die Aufnahmen für den Abspann, bevor uns der Sonnenuntergang ganz flöten geht.“ Yukke und er hatten sich mittlerweile aus ihrer Umarmung gelöst, sodass Miya ihnen beiden auf die Schultern klopfen konnte. „Gut gemacht.“

 

Tatsuro blickte ihm hinterher, als Miya an ihnen vorbeiging um sich mit Takahashi, dem Mann für die Nahaufnahmen, zu unterhalten.

 

„Ein Lob von Miya und das heute schon zum zweiten Mal? Ich glaub, die Apokalypse naht“, murmelte er und schob sich mal wieder seine Haare hinter die Ohren, was der Wind jedoch nicht zulassen wollte und sie ihm gleich wieder ins Gesicht blies. „Argh.“ Yukke neben ihm lachte leise und rempelte ihn leicht an.

 

„Er ist nur erleichtert, das meiste jetzt abgedreht zu haben. Warte ab, ihm fallen bestimmt noch Kleinigkeiten ein, an denen er herummeckern kann.“ Yukke setzte sich in Bewegung und Tatsuro folgte ihm automatisch. „Gut improvisiert, übrigens. Ich werde es vermissen, mit dir zu arbeiten.“

 

Bei diesen Worten zog sich ein harsches Stechen durch sein Herz und er musste sich zusammenreißen, nicht das Gesicht zu verziehen. Verdammt, sie hatten den Film gerade tatsächlich beendet. Das hier und heute würde der letzte offizielle Drehtag sein, eine Tatsache, die ihm jetzt erst so richtig bewusst wurde. Aus dem Augenwinkel schielte er zu Yukke hinüber, der jedoch gerade voll und ganz damit beschäftigt war, seine Zigarettenschachtel aus der Jackentasche zu fischen. Was würde das nun für sie beide bedeuten? Ihm war zwar durchaus bewusst, dass er den anderen in den nächsten Wochen und Monaten noch des Öfteren zu Gesicht bekommen würde – Filme zogen dahingehend immer ihre Kreise und die Schauspieler bekamen meist mehr Gelegenheiten, als ihnen lieb waren, ihre Kollegen vom Set wiederzusehen – aber das würde nicht das Gleiche sein. Ein eigenartiges Gefühl zog sich durch seinen Magen, das er entfernt als Verlust bezeichnen würde, als sich seine Blicke erneut auf den kleineren Mann richteten.

 

„Yukke …“ Der Angesprochene zündete sich gerade eine Zigarette an und brummte fragend, die kippe lässig im Mundwinkel hängend. „Das gerade eben … ich …“ Ja, wo war nun seine Schlagfertigkeit? Sein Talent, zu improvisieren? Tatsuro rang nach Worten, suchte krampfhaft nach ihnen, aber sobald er glaubte, seine Gedanken ausreichend sortiert zu haben, fielen sie erneut in sich zusammen wie ein Kartenhaus, das vom Wind ergriffen wurde. Yukke lächelte nur, dieses milde, wissende Lächeln, welches Tatsuro weiche Knie beschert hätte, würden sich seine Gelenke nicht ohnehin schon wie Wackelpudding anfühlen.

 

„Ich hab Karten für die Ghibli-Ausstellung am Wochenende …“, ergriff der andere schließlich das Wort und schaute ihn fragend an. „Willst du mitkommen?“ Für einen Sekundenbruchteil stand Tatsuros Mund nur ungläubig offen, dann schüttelte er den Kopf und erwiderte den Blick des anderen mit einem schiefen Grinsen.

 

„Du versuchst es wirklich immer wieder.“

 

„Natürlich. Aber diesmal sogar mit Ankündigung. Also, was meinst du? Immerhin sind wir genau genommen ab sofort keine Kollegen mehr.“

 

„Dann … könnte man das also als Date bezeichnen?“

 

„Mh, ich würde sagen, ja.“ Wieder zog Yukke an seiner Zigarette und zwinkerte ihm keck zu. „Und diesmal ein Richtiges. Kein Abendessen unter Arbeitskollegen.“ Er zuckte die Achseln und kam seinem Ohr dann so nahe, dass er die Wärme seines Atems dort spüren konnte. „Vorausgesetzt natürlich, du möchtest das auch.“

 

Jetzt war es an ihm, ein erheitertes Lachen von sich zu geben, in dem die Erleichterung vermutlich doch recht deutlich herauszuhören war.

 

„Na und ob. Mit Ghibli kannst du mich immer ködern.“

‚Würdest du selbst mir nicht ohnehin genügen‘, dachte er, behielt diese aber doch recht schnulzigen Gedanken dann lieber für sich.

 

„Gut zu wissen.“

 

„Hey, Vivian!“, rief eine ihm nur allzu bekannte Stimme aus und fast zeitgleich landete die Hand seines Managers nicht gerade sanft auf seinem Rücken.

 

„Gara, was machst du denn hier?“, erwiderte er und versuchte, Yukkes fragenden Blick zu ignorieren. „Solltest du dir nicht deinen Hintern auf dem Bürostuhl plattsitzen und einen neuen Job für mich an Land ziehen?“

 

„Und mir das große Finale entgehen lassen? Wo denkst du hin.“ Gara grinste breit und Tatsuro ahnte, was nun kommen würde. „Ich finde ja, eure Neuauflage von ‚Pretty Woman‘ ist euch wirklich sehr gut gelungen und das ganz ohne, dass du anschaffen gehen musstest.“

 

„Anschaffen gehen?“ Yukkes rechte Augenbraue wanderte nach oben, bis sie unter den wirren Strähnen seines Ponys verschwand und sein Lächeln war plötzlich so anzüglich, dass sich auf Tatsuros Unterarmen schlagartig eine feine Gänsehaut breitmachte. „Jetzt wird’s interessant. Klärt mich mal jemand auf, worüber genau ihr redet?“ Auch, wenn der andere ihrem Gespräch offensichtlich nicht ganz folgen konnte, weil ihm notwendige Informationen dafür fehlten, schien er das Ganze doch mindestens so amüsant zu finden, wie Gara es tat. Tatsuro verdrehte die Augen, musste dann aber ebenfalls lachen.

 

„Gara wird dir bestimmt mit Freuden lang und breit erklären, was er meint, da bin ich sicher.“ Er schnippte seinem Manager gegen die Stirn und griff nach Yukkes Zigarette, die noch immer in dessen Mundwinkel baumelte. Für einen Moment betrachtete er das träge vor sich hin rauchende Tabakröllchen, aber widererwartend waren die Skrupel, seine Askese der letzten Jahre nun zu brechen, nicht stark genug, um ihn von seinem Vorhaben abzuhalten.

 

„He~!“

 

„Dankeschön“, feixte er, unterstrich dies noch mit einer neckenden Verbeugung und trat einige Schritte zurück, um sich die wenigen Züge des geklauten Glimmstängels schmecken zu lassen. „Wie ist eigentlich der Plan für heute noch?“

 

„Plan, was meinst du?“ Gara drehte sich zu ihm herum und Tatsuro beglückwünschte sich innerlich, den anderen für den Moment von dieser ganzen ‚Pretty Woman‘ Sache abgelenkt zu haben.

 

„Na, wird es eine Feier zum Drehschluss geben oder ist das bei der BLP nicht üblich?“

 

„Das …“ Gara zuckte die Schultern, aber noch bevor er weiterreden konnte, hakte Yukke ein.

 

„Normalerweise sollte es da heute Abend schon was Kleines geben. Immer vorausgesetzt, Miya hatte Zeit, unseren Assistenten mit der Organisation zu beauftragen“, nuschelte er, bereits wieder eine Zigarette zwischen den Lippen und steckte sich diese, des anhaltenden Winds wegen mit etwas Schwierigkeiten, an.

 

„Kaisuke? Stimmt, den hab ich heute den ganzen Tag über noch nicht gesehen. Na, hoffentlich hat der Kleine einen Riecher dafür, was Anständiges für heute Abend zu organisieren. Mir steht der Sinn danach, diverse Hirnzellen abzutöten.“

 

„Das sollte ja nicht allzu lange dauern, bei den Zweien, die du nur noch hast.“ Gara lachte heiter auf und hob beide Hände, als Tatsuro ihn bitterböse aus den Augenwinkeln heraus anfunkelte. „Gnade?“

 

„Nie im Leben.“ Gerade als er den letzten Zug der Zigarette nahm und den Filter achtlos zu Boden fallen ließ, rief Miya nach ihm und verlangte nach seiner Anwesenheit. „Dein Glück“, maulte er mit ausgestrecktem Zeigefinger in Garas Richtung und erhaschte noch kurz Yukkes erheiterten Blick, bevor er sich herumdrehte, um die letzten Aufnahmen für heute auch noch über die Bühne zu bringen.

 

~*~

 

Yukke blickte dem hochgewachsenen Mann hinterher, folgte den langen, schwarzen Strähnen, die der Wind umher wehte mit den Augen und musste sich ein leises Seufzen verkneifen. Seine Gedanken jagten von einem Ereignis zum anderen und konnten sich nicht entscheiden, ob die Sorge um Seek oder die um seinen … Freund? Ex-Kollegen? Vielleicht-Lover? Überwiegen sollte.

 

„Du siehst beunruhigt aus“, stellte Gara leise fest, während auch seine Aufmerksamkeit wie gebannt an Tatsuros verschwindender Form hing. „Ist heute Nachmittag etwas vorgefallen?“

 

Yukke schnaubte und zog an seiner Zigarette, bevor er mit einer Spur Sarkasmus in der Stimme antwortete: „Ja, irgendwie kann man das wohl so sagen.“ Mit wenigen Worten berichtete er von ihrem Aufenthalt im Krankenhaus und dem schlechten Zustand, in dem sich sein Freund Seek im Moment befand. „Ich weiß nicht, ob es paranoid von mir ist, aber irgendwie …“ Yukke seufzte und rieb sich über die Augen. „Findest du nicht auch, dass es …“

 

„… Ein eigenartiger Zufall ist, dass ausgerechnet der Reporter, dessen Chefin Tatsuro mit dem Zeitungsartikel verleumdet hat, nun mit einem schweren Schädelhirntrauma im Krankenhaus liegt? Und dass eben jener Reporter rein zufällig ein Freund des Mannes ist, dem Tatsuro schon seit Wochen schöne Augen macht?“ Gara musterte ihn und Yukke spürte, wie sich bei dessen letzten Worten eine leichte Röte über seine Wangen gelegt hatte. „Nein, leider kann ich daran absolut keinen Zufall mehr sehen.“ Er schüttelte den Kopf und fuhr sich durch sein dunkelblondes Haar. „Wenn mich das paranoid macht, sitzen wir wohl im selben Boot.“

 

„Ja … das hatte ich befürchtet.“

 

„Yukke!“

 

Er schnippte seine Zigarette nachlässig fort und gab Miya ein kurzes Handzeichen, dass er ihn gehört hatte, bevor er weitersprach: „Die Arbeit ruft …“

 

~*~

 

Der Club, den Kaisuke für ihre Feier gebucht hatte, lag unweit der BLP im Industrieviertel der Stadt. Tatsuro vermutete, dass er in früheren Zeiten einmal eine Art Abfüllanlage gewesen sein musste, zumindest sprachen die Förderbänder und großen Kupferbehälter davon, die hier und da von der früheren Einrichtung übrig geblieben und in das neue Konzept integriert worden waren. Alles in allem erinnerte ihn das Ambiente der Lokalität an die wenigen Steampunk-Romane, die er in seiner Teenagerzeit ab und an gelesen hatte. Viel Metall, viele ihm gänzlich unbekannte Gerätschaften und alles mit dunklen Stoffen, Netzen und Ketten behängt. Irgendwie eine durchaus interessante Mischung, auch wenn er von sich aus diesen Club vermutlich nie betreten hätte. Aber die Musik war gut, das großzügige Buffet war umsonst und selbst die Getränke gingen heute auf Miya. Was wollte er also mehr?

 

„Erde an Tatsue! Wo bist du mit deinen Gedanken, mh?“

 

„Argh!“, schnappte er und zuckte von der eiskalten Bierflasche zurück, die ihm Sato gerade in den Nacken gelegt hatte. Einige Tropfen Kondenswasser rannen an seinem Rücken hinunter und er presste sich gegen die Rückenlehne seines Stuhls, um diesem unangenehmen Gefühl zu entgehen. „Arschkeks“, murrte er, erwiderte jedoch Satochis Grinsen wie automatisch. „Was?“

 

„Du hast rein gar nichts von dem mitbekommen, was ich dir seit zehn Minuten zu erzählen versuche, oder?“

 

„Sato …“ Er atmete theatralisch ein und legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter. „Vermutlich hat dir das noch niemand gesagt, aber dir hört nie jemand zu.“ Er lachte, als ihm nach der durchaus erwarteten Kopfnuss nun die Haare wirr ins Gesicht hingen, machte aber vorerst keine Anstalten, sie sich wieder aus Selbigem zu wischen. Stattdessen zog er Satochi geschickt die Flasche aus der Hand und genehmigte sich einen großen Schluck, gefolgt von einem befreienden Aufstoßen.

 

„Schulz“, war alles, was sein Bruder dazu zu sagen hatte, bevor er ihm das Bier wieder entwand und es selbst in erstaunlicher Geschwindigkeit leerte. Tatsuros anhaltendes Grinsen wandelte sich zu einem verstohlenen Lächeln – es war immer wieder schön mit anzusehen, wenn es seinem Bruder mal richtig gut ging. Für einen Moment ließ er seinen Blick durch den Raum schweifen, nahm die ausgelassene Stimmung in sich auf, die nach getaner Arbeit nun herrschte. Wirklich die komplette BLP schien heute anwesend und in Feierlaune zu sein und er erblickte mehr als ein Gesicht, das er tatsächlich nicht oder nur flüchtig kannte. Immer wieder erstaunlich, wie viele Arbeitsplätze an so einem popligen Film hingen.

„Danke“, murmelte er ein paar Minuten später, nachdem Satochi Getränkenachschub für sie beide geholt hatte, und nahm die kühle Flasche zwischen die Hände, ohne jedoch einen weiteren Schluck zu trinken. Ja, alle Anwesenden schienen ausgelassen zu feiern und ihren Spaß zu haben, nur er selbst hing wie so oft in seinen Gedanken fest.

Und dabei gäbe es viel bessere Dinge, an denen zumindest seine Augen festhängen könnten. Yukke zum Beispiel, der sich auch gerade etwas von der Bar geholt hatte und ganz den Anschein machte, zu ihm herüberkommen zu wollen. Als sich ihre Blicke trafen, machte sein Herz einen kleinen Hüpfer und hätte er in den letzten Stunden nicht ausreichend Zeit gehabt, sich endlich einzugestehen, dass er diesen Mann wirklich, wirklich haben wollte, hätte er diese Reaktion seines verräterischen Körpers vermutlich vehement geleugnet. So jedoch strich er sich nur endlich die wirren Haare aus dem Gesicht und … brummte im nächsten Moment missmutig, als Miya den Weg seines Lo… Yukkes Weg kreuzte und ihn sogleich in Beschlag nahm. Er lächelte zerknirscht und hob die Hand, als der andere ihm im Vorbeigehen zuzwinkerte, bevor er wieder überaus aufmerksam dem lauschte, was ihm der abgebrochene Gartenzwerg eines Regisseurs gerade Wichtiges zu sagen hatte.

 

„Hach, das ist echt besser als jeder Film“, säuselte Satochi in sein Ohr und klimperte angetan mit den Wimpern, als er den Kopf drehte, um ihm empört ins Gesicht schauen zu können.

 

„Was du wieder zu sehen glaubst.“ Er rollte übertrieben mit den Augen und widmete sich seiner Bierflasche. „Mich würde viel mehr interessieren, was die beiden so unglaublich Wichtiges zu besprechen haben. Plant Miya jetzt schon seinen nächsten großen Film mit Yukke oder sieht der nur immer so bierernst aus?“

 

„Ernst ist Miyas Standardgesichtsausdruck.“ Sato zuckte lächelnd die Achseln. „Aber, wenn ich das richtig verstanden habe, hat er eine Fortsetzung von ‚Ame no orchestra‘ zumindest schon mal in der Hinterhand, sollte der Film jetzt gut anlaufen“, führte sein Bruder weiter aus und schlug ihm dann leise lachend gegen den Oberarm. „Und jetzt guck nicht so, als hätte er dir dein Lieblingsspielzeug geklaut.“

 

Tatsuro ignorierte den viel zu akkuraten Nachsatz und rieb sich über die Schulter, bevor er seine Verwunderung mit einem leisen „Echt jetzt?“ unterstrich. Ehrlich verblüfft schaute er Satochi an. Zum einen, weil seine Frage gerade eine rhetorische gewesen war, auf die er keine Antwort erwartet hatte und zum anderen, weil Satochi doch tatsächlich mal gut informiert zu sein schien. Das kam wahrlich nicht oft vor. Er grinste seinen Bruder schief an und legte ihm einen Arm um die Schulter. „Hat schon so seine Vorteile, wenn man mit dem Boss anbandelt, mh?“

 

„Geschmeidig, Iwakami, sehr geschmeidig. Da musst du schon früher aufstehen, um mich mit so einer plumpen Frage zu überrumpeln.“

 

„Ach komm schon, Satochi, ich bin dein Bruder. Hab ich nicht ein Recht darauf zu wissen, was da zwischen euch läuft?“

 

„Sobald du mir sagst, was genau das mit Yukke und dir ist, können wir darüber reden.“

 

„Pfff.“ Tatsuro machte dicke Wangen und stieß die Luft prustend wieder aus. „Nichts da.“

 

„Na, dann halt nicht.“ Satochi zeigte sich gänzlich unbeeindruckt, stand auf und informierte ihn darüber, dass er dem Keramikgott mal eine Opfergabe bringen würde.

 

„Du sollst mir interessante Dinge erzählen und nicht, dass du auf den Pott musst.“ Tatsuro lachte heiter auf und erhob sich ebenfalls. „Nimm mich mit, dann kann ich gleich mal eine rauchen gehen. Das mit dem generellen Rauchverbot ist wirklich selten dämlich.“

 

„Hättest du vorhin nicht aus heiterem Himmel beschlossen, dein Nichtraucherdasein aufzugeben, hättest du das Problem jetzt nicht.“

 

„Ach komm, hör auf, den großen Bruder heraushängen zu lassen. ich kann jederzeit wieder aufhören.“

 

„Ich sag nur die Wahrheit und … das musst du mir erst einmal beweisen.“

 

„Ja, ja.“ Tatsuro schüttelte schmunzelnd den Kopf und genoss es wirklich ungemein, mit dem anderen einfach mal wieder so ungezwungen beisammen sein zu können.

 

Gerade, als Satochi zu den Toiletten abgebogen war und er schon die Tür zum Hinterausgang vor sich sah, bemerkte er eine Person, die ihm folgte. Ein langes Seufzen kam ihm über die Lippen und sein „Kenta, ich hätte es wissen müssen“ hörte sich vermutlich nicht nur in seinen Ohren ziemlich resigniert an. „Kann ich jetzt nicht mal mehr für eine Zigarettenlänge vor die Tür, ohne, dass du mir nachläufst?“

 

„Ich tue nur meinen Job, Iwakami-san.“

 

„Ja, ja.“ Seine gute Laune stürzte gerade im freien Fall in den Keller und es gab nichts, was er dagegen hätte tun können. Er hasste es, in seiner Freiheit eingeschränkt zu werden und wenn es auch nur die Freiheit war, allein sein zu können, wenn er das wollte. Energischer, als es nötig gewesen wäre, drückte er die stabile Feuerschutztür nach außen auf und trat auf den kaum beleuchteten Parkplatz hinaus. Er atmete tief ein und versuchte, seine Frustration nicht die Oberhand gewinnen zu lassen. Die Temperatur war weiter gesunken und eine gewisse Spannung lag in der Luft, die vermuten ließ, dass es später noch mal gewittern würde. Na, dann würde er heute Nacht wenigstens gut schlafen können. Immerhin gab es für ihn nichts Beruhigenderes als die Geräusche, die so ein richtig schönes Unwetter mit sich brachte. Apropos Geräusche – war dieses seltsame Ächzen gerade von Kenta gekommen? Tatsuro grinste böse und der Teil in ihm, der sich tierisch bevormundet fühlte, hoffte sehr, dass der Leibwächter vielleicht in etwas überaus Unschönes getreten war. Würde ihm recht geschehen. Er atmete erneut durch und richtete seinen Blick gen Himmel. Dicke Gewitterwolken verdeckten den Mond und spiegelten seinen Gemütszustand wirklich perfekt wider. „Ich mache ehrlich drei Kreuze, wenn dieser ganze Mist endlich vorbei ist und ich wieder meine Ruhe habe“, nuschelte er um den Filter der Zigarette herum, die er sich gerade angesteckt hatte, und stapfte auf den Parkplatz hinaus. In Schlangenlinien, der vielen großen und kleinen Pfützen wegen, die vom nachmittäglichen Regenschauer übrig geblieben waren, entfernte er sich immer weiter vom Club. Ein bisschen Bewegung würde ihm guttun und wenn Kenta etwas dagegen hatte, würde der sich schon melden.

 

Als er seine Zigarette bereits über die Hälfte geraucht hatte und noch immer keine Reaktion seines Leibwächters gekommen war, stieg langsam doch ein seltsames Gefühl in ihm hoch. Er wollte es zwar nicht, aber der Gedanke, dass hier irgendwas nicht stimmte, wurde mit jeder verstreichenden Sekunde lauter in seinem Kopf. „Kenta?“ Tatsuro drehte sich herum, aber von seinem Personenschützer war nichts zu sehen. „Ist ja typisch. Erst den Pflichtbewussten mimen und sich dann doch aus dem Staub machen.“ Er rollte mit den Augen und zog an seiner Kippe, das Zittern seiner Hand und das nervöse Flattern seines Pulses ignorierend. Wieder ließ er den Blick über den verwaisten Parkplatz gleiten und ein eisiger Schauer rann ihm über den Rücken. „Das war der Wind“, flüsterte er, ließ die Zigarette fallen und rieb sich über die Oberarme. „Das war nur der Wind.“ Eilends setzte er sich wieder in Bewegung, lief schon beinahe, als sich ihm plötzlich jemand in den Weg stellte. Ein unterdrückter Schrei entkam ihm, so sehr hatte er sich erschreckt und reflexartig hatte er die Arme schützend vor sein Gesicht gehoben. Einige Momente verstrichen, in denen er nur seine Augen fest geschlossen hielt und nach Atem rang.

 

„Tatsuro-san?“

 

Er blinzelte und blickte dann in das vollkommen überrumpelte Gesicht Kaisukes, der ihn hinter seinen dicken Brillengläsern aus großen Augen anstarrte.

 

„Kaisuke“, echote er und räusperte sich, während er sich mit beiden Händen durchs Haar fuhr, als wäre das die ganze Zeit über genau das gewesen, was er vorgehabt hatte. „Mit dir hätte ich jetzt nun wirklich nicht gerechnet.“ Selbst in seinen Ohren hörte sich sein Auflachen absolut gekünstelt an, aber so dünn, wie sein Nervenkostüm gerade war, war ihm das vermutlich nicht zu verübeln. „Du hast nicht zufällig meinen …, äh, Kenta gesehen?“

 

„Nein“, antwortete der junge Assistent seltsam unsicher und beinahe betrübt wirkend. „Es tut mir leid.“

 

„Ach …“ Tatsuro winkte jovial ab. „Das braucht dir doch nicht lei… ugh!“

 

Mit unerwarteter Schnelligkeit hatte Kaisuke einen Satz nach vorn gemacht, ihm ein Tuch über Mund und Nase gepresst und hielt seinen Kopf mit der anderen Hand so, dass er ihn nicht wegziehen konnte. Ein beißend süßlicher Geruch stieg ihm in die Nase und ein unangenehmes Kribbeln jagte durch seinen Körper. Sein Geist fühlte sich mit einem Mal wie in Watte gepackt an und seine Gedanken trieben nur noch träge in seinem Kopf herum. Selbst die Panik, die gleich zu Beginn des Übergriffs wie ein Blitz durch ihn gezuckt war, verpuffte, als hätte es sie nie gegeben und ließ nur eine eigenartige Gleichgültigkeit zurück. Seine Knie zitterten, gaben schließlich nach und während er in Kaisukes Armen langsam zu Boden sank, glaubte er ein anderes, ihm nur allzu bekanntes Gesicht über sich schweben zu sehen.

Klappe, die Dreizehnte

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Klappe, die Vierzehnte

>> BLP - KG 0.35 - schnell! «

 

Einen schmerzhaften Herzschlag lang starrten sie alle fassungslos die Nachricht an, dann passierten gleich mehrere Dinge auf einmal. Yukke ließ das Mobiltelefon fallen, dessen Display zersprang, als es auf dem harten Asphalt des Parkplatzes aufschlug. Yumikos Kehle entkam ein hohes Wimmern und Gara zog sie geistesgegenwärtig in seine Arme, wo sie gegen seine Brust gekauert in haltloses Schluchzen ausbrach. Miyas plötzlich nüchterner Blick fixierte sich auf die beiden Polizisten, seine Lippen bewegten sich, doch durch das hohe Pfeifen in seinen Ohren konnte Satochi nicht verstehen, was gesagt wurde. Yukke trat einen Schritt nach vorne, dann noch einen, bis sich ihre Augen in stummem Verständnis trafen. Sato hätte später nicht sagen können, wie er mit dem anderen hatte mithalten können, der mit einem Mal über den Parkplatz sprintete, als wäre der Leibhaftige hinter ihm her. Er wusste nur, dass er seinen Gehstock hatte fallen lassen, doch nicht einmal noch das Klappern gehört hatte, als er auf dem Boden aufgekommen war. Yukkes Wagen stand unweit von der Stelle, an der sie bis eben noch wie versteinert gestanden hatten. Er hörte seinen Namen, glaubte Miyas Stimme zu erkennen, die jedoch seltsam verzerrt klang. Auch die Polizisten riefen ihnen irgendetwas nach, was Satochi ebenso wenig verstehen konnte und bevor er es wirklich registriert hatte, saß er bereits neben Yukke im Inneren des Autos. Von der Fahrt bekam er kaum etwas mit; das Präsenteste war das blaue Flackern hinter ihnen, das ihnen eine ganze Zeit lang folgte, bis sie die Beamten tatsächlich abgehängt zu haben schienen. Vermutlich war es dumm, nun kopflos zur BLP zu fahren, immerhin wussten sie nicht, was sie erwarten würde. Und was sollten Yukke und vor allem er schon ausrichten können? Fetzen logischer Gedanken hingen wie Spinnweben in seinem Kopf, aber auch sie schafften es nicht, dauerhaft durch den Schleier aus Rot, der sich über seinen Geist gelegt hatte, zu dringen. Tatsuro. Der Name seines Bruders hallte in einer Dauerschleife in seinen Ohren und das Bild seines gequälten Gesichts hatte sich auf ewig in seine Retina gebrannt. Seine Fäuste waren schmerzhaft fest geballt, die Knöchel standen wie weiße Mahnmale hervor und als er den Blick zur Seite wandte, erkannte er, wie verkrampft Yukke sich am Lenkrad festhielt. Die Augen des Schauspielers brannten förmlich und seine Kiefer waren so stark aufeinandergepresst, dass ein Muskel in seiner Wange zu zucken begonnen hatte.

 

Die große Lagerhalle, die der BLP und somit auch ihnen in den letzten Monaten als Dreh- und Angelpunkt gedient hatte, tauchte vor ihnen auf, und mit einem lauten Quietschen kam der kleine Mazda zum Stehen. Das Gebäude wirkte vollkommen verlassen, lag dunkel und unheilvoll vor ihnen. Doch weder Yukke noch er verschwendeten noch einen weiteren Gedanken an ihre Sicherheit oder die Richtigkeit ihres Tuns, als sie die Wagentüren aufrissen und die wenigen Meter zum Seiteneingang hinüber eilten. Yukke drückte die Klinke herunter, aber kein vertrautes Klicken erklang und auch sein eindringliches Rütteln öffnete ihnen nicht.

 

„Abgeschlossen, verdammt!“, zischte der Schauspieler, doch Satochi war bereits wieder einige Schritte zurückgelaufen und hatte die Hand in den großen Pflanzkübel gesteckt, gegen den Tatsuro und er in den letzten Monaten so oft gelehnt und geraucht hatten. Seine Finger zitterten und Schweiß prickelte über seinen Rücken, als er immer hektischer nach etwas tastete, was nicht hier zu sein schien. Verdammt, hatte Miya den Ersatzschlüssel mitgenommen, weil er nicht mehr gebraucht wurde? Er schmeckte Blut, als er sich auf die Unterlippe biss, beherzter seine Finger durch die trockene Erde wühlen ließ und endlich, endlich auf kühles Metall stieß. Es blieb keine Zeit, erleichtert durchzuatmen, stattdessen war er binnen Sekunden wieder an Yukkes Seite und schob mit ungeschickten Fingern den Schlüssel ins Schloss.

Er hatte das Gefühl, als wären Stunden vergangen, als sie endlich die Lagerhalle betraten. Die Zeit schien ihnen durch die Finger zu rinnen, während sie durch die vertrauten Gänge eilten, sich wie Schatten bewegten. An den Treppen angekommen, die in die Kellergeschosse führten, hielt Sato nach der zweiten Stufe inne, als ein unerträglicher Schmerz sein Bein nach oben jagte und in seiner Hüfte explodierte. Er keuchte, krallte sich am Geländer fest und ohne Yukkes beherzten Griff um seine Oberarme wäre er gestürzt.

 

„Was ist?“, zischte ihm der andere zu, Angst und Sorge dick in seiner Stimme.

 

„Nichts, nur mein Bein. Geh weiter, ich komm nach.“ Er konnte Yukkes Gesicht im vorherrschenden Zwielicht kaum erkennen, aber spürte das Zögern, als wäre es sein Eigenes. „Geh schon, beeil dich.“

 

„Okay.“ Ein Wort, derart gehetzt gesprochen, als wäre Yukke in dieser Sekunde erneut schmerzhaft bewusst geworden, weswegen sie überhaupt hier waren. Die stützenden Arme verschwanden und Satochi hörte schnelle Schritte, die sich entfernten. Sein Herz pochte schmerzhaft schnell in seiner Brust und die Sorge um seinen Bruder gab ihm die Kraft, langsam und qualvoll einen Schritt vor den anderen zu setzen. Kurz kam ihm der beinahe morbide Gedanke, dass er diesen Stunt hier später so was von bereuen würde und wie, als würde sein Bein ihm zustimmen wollen, zuckte ein erneutes Stechen, grausamer als zuvor, durch seinen Körper. Fest biss er die Zähne aufeinander und mit sturem Fokus schaffte er es, die nicht enden wollenden Stufen bis in den Keller hinabzusteigen.

 

~*~

 

Yukkes Puls flatterte wie ein kleiner Vogel in seinem Hals und Übelkeit ließ seinen Magen krampfen. Dennoch rannte er weiter, versuchte, nicht an Satochis schmerzverzerrtes Gesicht zu denken. Er hatte den anderen zurücklassen müssen, konnte es sich nicht leisten, durch ihn aufgehalten zu werden. Tatsuro zu erreichen, war nun das Einzige, was von Bedeutung war. Sobald er diesen Gedanken zuließ, brannte das schlechte Gewissen durch seine Adern und am liebsten wäre er zurückgegangen, hätte Satochi gestützt, damit er sich dem, was ihn erwartete, wenn er Tatsuro fand, nicht allein würde stellen müssen. Aber nun war nicht die Zeit, an seine Ängste, sein eigenes oder Satos Wohlbefinden zu denken. Er musste Tatsuro finden, ihn … ja, verdammt, ihn retten, wie auch immer er das anstellen sollte. Wieder flackerte das Bild des blutverschmierten Gesichts seines Freundes vor seinen Augen auf und er beschleunigte seine Schritte. Zweifel nagten an ihm, aber er versuchte, ihnen kein Gehör zu schenken.

Hätten sie nicht doch auf die Polizei warten sollen?

Was konnte er allein schon ausrichten?

 

Er hielt inne, presste die Hand an seine Seite, wo es unangenehm zu stechen begonnen hatte. Die Kellerräume waren stockdunkel. Er hatte es nicht gewagt, das Licht einzuschalten, aus Angst Tatsuros Entführer würde es bemerken. Durch die Fenster in den oberen Stockwerken war ins Treppenhaus wenigstens noch etwas Licht gefallen, aber seit er die Tür, die ins Untergeschoss führte, hinter sich gelassen hatte, sah er nicht einmal mehr die Hand vor Augen. Nein, halt, das stimmte so nicht. Wieder blinzelte er, doch das Bild vor seinen Augen blieb bestehen. Dort hinten, fast am Ende des schmucklosen Flurs, leuchtete ein schmaler Lichtschein unter einer geschlossenen Tür hindurch. Mit einem Mal hatte er das Gefühl, als würde in seinem Kopf gähnende Leere herrschen. Er hätte nicht sagen können, ob er den Entschluss, sich wieder in Bewegung zu setzen, bewusst gefasst oder ob sein Körper von sich aus reagiert hatte. Aber zwischen einem Blinzeln und dem nächsten Stand er vor der schweren Metalltür, durch die kein Laut nach außen drang. Er musste nicht nachsehen, ob es der richtige Raum war, ob die Nummer auf dem Türschild mit der übereinstimmte, die in der Nachricht gestanden hatte. Seine Hand lag auf der Klinke und noch bevor er sein Handeln erneut infrage stellen konnte, drückte er sie nach unten. Es krachte laut, als die Tür gegen die Wand des Kellerraums donnerte …

 

~*~

 

Dieses Mal war seine Ohnmacht nicht so tief wie die Male zuvor. Ob es daran lag, dass sein Herz so schnell und hart schlug, als würde es durch seine Rippen brechen wollen oder an den anhaltenden Schmerzimpulsen, die Nobus Schläge und Tritte durch seinen Körper jagten, hätte er nicht sagen können. Verzweifelt hielt er seine Arme über dem Kopf verschränkt, versuchte, sich wenigstens so etwas vor den gröbsten Treffern zu schützen. Er schrie auf, als Nobus Schuh mit seinem Brustkorb kollidierte, er das widerliche Knirschen und Krachen seiner Rippen hören konnte, als sie brachen. Hände packten ihn, zerrten ihn mit unnachgiebiger Stärke auf den Rücken und als Nobu sich auf seinen Oberkörper setzte, raubte es ihm den Atem, sodass sein gepeinigter Schrei in seiner Kehle stecken blieb. Panisch versuchte er, nach Luft zu schnappen, mit seinen viel zu schwachen Armen nach Nobu zu schlagen – vergebens. Eine Hand packte seine Handgelenke, die Knochen knirschten, als sie schmerzhaft gegeneinander rieben, und eine zweite umfasste sein Kinn, zwang ihn, durch geschwollene, tränende Augen nach oben zu sehen. Nobus Gesicht war hassverzerrt, eine Fratze aus Wahnsinn und Mordlust.

 

„Weißt du, Tatsuro, du hättest dir all das ersparen können“, redete Nobu mit ekelhaft süßlicher Stimme auf ihn ein und legte die Hand an seine rechte Wange.

 

Er wünschte sich, er könnte der Berührung entkommen, seinen Kopf zur Seite drehen oder … verdammt, wahlweise diesem Arschloch auch einfach nur ins Gesicht spucken. Aber sein Körper war zu schwach, um mehr zu tun, als angestrengt nach Atem zu japsen und, obwohl er ständig Blut schluckte, schien es zäh und klebrig in seinem ausgedörrten Mund.

 

„Du hättest nur mitspielen brauchen. Ich hätte mein Filmchen bekommen und die Medikamente hätten den Rest erledigt. Alles ganz zivilisiert. Aber nein, Regeln zählen für dich natürlich nicht, wie immer.“

 

Tatsuro hatte keine Zeit, sich der Absurdität von Nobus Worten bewusst zu werden oder sich gegen den Schlag zu wappnen, der sein Nasenbein brach. Ein halblauter Schrei quälte sich aus seiner Kehle, was seinen Angreifer nur noch wütender werden ließ.

 

„Verdammte Scheiße! Du widerst mich an. Warum kannst du nicht einmal in deinem verfluchten Leben das tun, was von dir erwartet wird?“

 

Nobus Fäuste kannten kein Erbarmen, trafen ihn an den Wangen, den Ohren, der Nase, doch mit jedem Schlag hatte Tatsuro mehr das Gefühl, sich tiefer in die Sicherheit seines Unterbewusstseins zurückzuziehen. Er spürte die Erschütterungen, fühlte, wie sein Kopf von einer Seite zur anderen ruckte, aber der eben noch so präsente Schmerz war nun ein beinahe abstraktes Konstrukt.

 

„Wenn ich mit dir fertig bin, wird nichts mehr von dir übrig sein, woran dein kleiner Lover-Boy dich noch erkennen kann.“

 

Nobu Lachte, ein Geräusch so grausam wie Fingernägel, die über eine Tafel kratzten. Trotz allem, was er bislang durchgemacht hatte, jagte eine Schockwelle der Furcht durch ihn, aber das entsetzliche Stechen in seinem rechten Auge war es, das ihn erneut aus der Zuflucht seines Unterbewusstseins holte. Tatsuro begriff nicht, wollte nicht begreifen, was soeben passiert war. Der Schmerz ging in der Gesamtheit der Agonie seines Körpers unter, doch der stetige Strom Flüssigkeit, der aus seinem Auge seine Schläfe hinunterlief und in seinen Haaren versickerte, ließ ihn trocken würgen.

 

‚Bitte‘, dachte er, ‚lass es vorbei sein. Lass mich sterben, ich kann nicht mehr.‘

 

Als hätte sein Herz sein Flehen erhört, krampfte es plötzlich und schnürte ihm auch noch das letzte Bisschen Luft ab. Sein Körper bäumte sich auf, zuckte unkontrollierbar. Das Letzte, was Tatsuro hörte, war Kaisukes Stimme, der seinen Bruder anbettelte, doch endlich von ihm abzulassen und das Krachen, mit dem die schwere Kellertür gegen die Wand knallte.

 

~*~

 

Yukkes Augen brannten, als sie ohne zu blinzeln, mit der plötzlichen Helligkeit konfrontiert wurden, die im Inneren des Kellerabteils herrschte. Aber erstaunlich schnell hatten sie sich an die Lichtverhältnisse gewöhnt und mit einer Klarheit, die ihn bis in seine schlimmsten Albträume verfolgen würde, sah er Tatsuros geschundenen Leib auf dem Boden liegen. Schlagartig wurde ihm übel, als sich unter den vorherrschenden Geruch von Feuchtigkeit und Moder, der von Blut mischte. Sein Freund bewegte sich nicht, das Gesicht eine unförmige Masse aus Rot, Beine und Arme in unnatürlichem Winkel vom nackten Körper abgespreizt, als hätten selbst seine Gliedmaßen vor dem fliehen wollen, was er hatte erdulden müssen. All das registrierte Yukke zwischen einem Atemzug und dem nächsten. War erst noch die Furcht um seinen Freund vorrangig in seinem Geist gewesen, wurde diese nun durch heiße, unaufhaltsame Wut ersetzt, als sein starrer Blick auf den Mann fiel, der Tatsuro all das angetan hatte.

 

Der Fremde hatte keine Zeit, sich vollständig herumzudrehen, geschweige denn der Verwunderung, die in seinem Gesicht stand, auch verbal Ausdruck zu verleihen. Für einen Übelkeit erregenden Moment hatte Yukke das Gefühl, in sein eigenes Gesicht zu starren, dann kollidierte seine Faust mit dem Kiefer des Mannes und ließ ihn zurückstolpern. Mit einem Aufschrei, den er zwar in seiner Kehle brennen fühlen, aber über das Rauschen in seinen Ohren nicht hören konnte, stürzte er sich auf ihn.

 

Nie in seinem Leben hatte er einen derart allumfassenden Hass auf einen Menschen empfunden. Sein einziger Gedanke, sein innigster Wunsch war es, diesem Mistkerl Schmerzen zuzufügen. Er sah wortwörtlich rot. Das blutige Rot in Tatsuros Gesicht, das sich bis weit über seine Brust zog und träge in den Betonboden sickerte. Das verschmierte Rot in der Visage des Fremden; nicht viel, nur etwas am Mundwinkel, geringfügig mehr unter der Nase. Ein flüchtiges Grinsen huschte über sein Gesicht, als ihm klarwurde, dass Tatsuro sich gewehrt haben musste. Für einen Sekundenbruchteil vertrieb unendlicher Stolz auf seinen starrsinnigen Freund seine Wut, doch sogleich brodelte sie erneut in ihm, stärker noch als zuvor. Der Dreckskerl würde büßen für das, was er Tatsuro angetan hatte. Das Rot vertiefte sich, je öfter seine Schläge ihr Ziel fanden. Und selbst das Rot seiner eigenen Fingerknöchel war in diesem Moment wunderschön. Sie waren aufgeplatzt und wund, doch schmerzen spürte er nicht. Nein, das stimmte so nicht. Er fühlte Schmerzen, eine Pein so groß, dass sie ihm die Tränen in die Augen trieb, immer wenn sein Blick auf Tatsuro fiel.

 

In einem Film wäre nun alles so einfach gewesen. Sein Gegner wäre bereits nach dem ersten Schlag zu Boden gegangen oder zumindest derart eingeschüchtert gewesen, dass Yukke leichtes Spiel mit ihm gehabt hätte. In der Realität stieß er jedoch auf beachtliche Gegenwehr und musste selbst mehr als einen Treffer einstecken. Aber das war es wert, oh ja, so was von wert. Viel später würde er sich Vorwürfe machen, würde sich fragen, ob er, statt sich seiner Raserei hinzugeben, lieber sofort zu seinem Freund hätte eilen, ihm helfen sollen. Und auch die Frage, wie er – ein Mensch der bislang keiner Fliege etwas zuleide getan hatte – mit einem Mal so ruchlos gegen einen anderen vorgehen konnte, würde ihn noch für eine sehr lange Zeit nachts wachhalten. Aber gerade war er zu solchen Gedanken nicht fähig. Sein Körper reagierte nur, hörte nicht auf das Wimmern des Mannes vor sich, auf dessen Beteuerungen, dass alles nicht so war, wie es den Anschein machte. Hätte Yukke in diesem Moment mehr als seine Fäuste benutzen können, er hätte nicht sagen können, ob er den Dreckskerl am Leben gelassen hätte.

Allein so etwas zu denken, hätte ihn ängstigen sollen … hätte.

 

Plötzlich waren da dünne Arme, die versuchten, ihn fortzuziehen. In einem kleinen Winkel seines Bewusstseins, der noch zu logischen Gedanken fähig war, erkannte er Kaisukes Stimme, hörte seine kreischenden Bitten, von seinem Bruder abzulassen. Bruder? So war das also. Kurz kratzte so etwas wie Mitgefühl an den versteinerten Wänden seines Herzens, aber nein, nein, dieses, dieses Schwein hatte verdient, was Yukke mit ihm anrichtete.

 

„… ukke! Yukke! Hör auf!“ Die Hände, die sich nun um seine Oberarme schlossen, waren stärker, aber der Stand seines Angreifers unsicher und so genügte ein unwirscher Schlag zur Seite, um losgelassen zu werden. Damit, dass er das Gleichgewicht verlieren und mit zu Boden gehen würde, hatte er jedoch nicht gerechnet. Er schlug unsanft mit der Hüfte auf, verzog das Gesicht, aber wollte sich sogleich wieder hochrappeln. Doch plötzlich versperrten blauuniformierte Polizisten die Sicht auf Tatsuros Angreifer und je mehr Details seiner Umgebung er erkennen konnte, desto klarer wurde ihm, wer ihn da gerade zu Fall gebracht hatte.

 

„Scheiße, Miya, alles in Ordnung?“ Er zog die Beine unter sich, stand wacklig auf und hielt dem anderen die Hand entgegen. Miya musterte für einen kurzen Moment seine Hand, schüttelte mit einem entschuldigenden Zucken seiner Mundwinkel den Kopf und richtete sich aus eigener Kraft auf. Verschämt starrte Yukke auf seine aufgeplatzten Knöchel, ballte die Finger der Rechten zur Faust und spürte mit morbider Faszination, wie das getrocknete Blut aufriss und einen fast erdenden Schmerz mit sich brachte.

 

„Ich …“ Seine Stimme versagte, sein Hals wund und ausgetrocknet und selbst ein Räuspern brachte nicht die gewünschte Erleichterung. „Ich konnte nicht aufhören.“ Seine Worte waren aus dem Zusammenhang gerissen, hätten alles bedeuten können, doch Miya schien ihn zu verstehen. Für einen Moment schloss er die brennenden Augen, als sich der Arm des Regisseurs um seine gekrümmten Schultern legte, doch dann riss ihn ein metallisches Klicken wieder in die Realität zurück.

 

Einer der Polizisten hatte die Arme des Entführers mit Handschellen hinter seinem Rücken fixiert, der andere hielt Kaisuke am Oberarm fest und zusammen führten sie beide Männer nach draußen. Die Beamten sagten noch irgendwas, was Yukke nicht verstand, während er ihnen starr hinterher sah.

 

Plötzlich fühlte er sich wie in einem Traum, sein Geist ebenso träge wie seine Bewegungen, während er sich umzusehen begann. Durch die offenstehende Kellertür fiel ein Rechteck aus Licht in den Flur, in dem er Yumiko und Gara erkennen konnte. Ihre Blicke streiften sich kurz und Yukke wusste in dem Moment nicht, ob ihr Entsetzen ihm oder Tatsuro galt. Eine Bewegung neben ihm ließ ihn den Kopf langsam – oh, so langsam – drehen und seine ungeteilte Aufmerksamkeit auf Satochi richten. Der Kameramann kniete über seinem Bruder, das Gesicht eine tränenverschmierte Maske der Konzentration, während sich seine Hände mit rhythmischem Druck auf Tatsuros Brustkorb pressten.

 

Wie lange waren die anderen schon hier?

Wie lange kümmerte sich Satochi bereits um ihren verletzten Freund?

Himmel, er hätte dort an Tatsuros Seite knien sollen, ihm helfen, statt blind seiner Wut zu folgen. Wie in Zeitlupe sank Yukke auf die Knie, als das Adrenalin, das ihn bis eben noch aufrechtgehalten hatte, mit einem Mal aus seinem Körper wich und nichts weiter als panische Angst um seinen Freund zurückließ.

 

„Ich komm gleich wieder, ja?“, hörte er Miyas Stimme wie aus weiter Ferne, aber reagieren konnte er nicht. Er fühlte sich leer, gefühllos, doch innerlich begann ihn die Sorge um Tatsuro langsam aber stetig zu ersticken.

 

~*~

 

„Scheiße!“, schluchzte Satochi auf, nachdem er erneut für seinen Bruder geatmet, sich an seiner Regungslosigkeit jedoch noch immer nichts geändert hatte. Wieder presste er beide Hände auf Tatsuros Brustkorb, während ihm haltlose Tränen über die Wangen rannen.

„Wann kommt der Krankenwagen endlich?“

 

Die Rippen unter seinen Handflächen gaben auf widerliche Weise nach und er verbat sich den Gedanken, was gebrochene Knochen in einem Körper alles anrichten konnten. Aber irgendwas musste er tun, oder? Tatsuro atmete nicht und selbst, wenn er ihn im Versuch, sein Herz wieder zum Schlagen zu bringen, noch mehr verletzte, war das allemal besser, als nichts tuend dabei zuzusehen, wie sein Bruder starb! Zumindest versuchte er, sich das einzureden, während ihn der Geschmack nach Blut auf seinen Lippen beinahe würgen ließ.

 

„Sie werden jeden Moment kommen“, hörte er mit einem Mal Miyas versucht ruhige Stimme neben sich und spürte die warme Hand des anderen Mannes, die sich leicht auf seine Schulter legte.

 

„Er atmet nicht“, hauchte er, ein Schluchzen unterdrückend und holte Luft, um ein weiteres Mal Tatsuros Mund und hoffentlich auch seine Lungen damit zu füllen.

„Miya, er darf nicht sterben.“

 

Ohne mit seinem Tun aufzuhören, fielen mehr und mehr Worte von seinen Lippen, nur unterbrochen von seinen harschen Atemzügen. Irgendwo hinter sich hörte er Yumiko weinen, Gara, der selbst kaum Worte fand, um seine Freundin zu beruhigen und ein immer lauter und schneller werdendes Atmen, das davon zeugte, dass auch Yukke seine Angst kaum noch unter Kontrolle halten konnte. Oh, Gott, Yukke. Er kniff die Augen zusammen, als er wieder und wieder den Mund auf den seines Bruders presste, in Gedanken den Takt mitzählte, mit dem er seinen Brustkorb nach unten drückte. Yukke war wie in einem Wahn gefangen gewesen, als Satochi den Kellerraum betreten hatte. Er war sich sicher, dass der andere sein Eintreffen überhaupt nicht bemerkt hatte, obwohl er anfänglich noch versucht hatte, mit ihm zu sprechen. Vielleicht hätte er mehr tun sollen, um ihn zu erreichen, aber der größte Teil seiner Aufmerksamkeit hatte Tatsuro gegolten. Selbst Kaisukes Anwesenheit hatte er erst bemerkt, als der Praktikant versucht hatte, dem Entführer zur Hilfe zu kommen.

Wieder kniff er die Augen zusammen, versuchte die Gedanken und Bilder aus seinem Kopf zu vertreiben und sich ausschließlich darauf zu konzentrieren, den Kreislauf seines Bruders wieder anzukurbeln.

 

„Komm schon, Tatsue, bitte.“

Miya war eine stumme Präsenz an seiner Seite, unverrückbar wie ein Fels, obwohl Satochi das Gefühl hatte, die Welt würde wie eine riesige Welle über sie hereinbrechen.

„Bitte, bitte“, wisperte er zwischen einem Atemzug und dem nächsten, zwischen den rhythmischen Bewegungen seiner Hände, zwischen Panik und Hoffnung gefangen, als ein kaum hörbares Stöhnen an seine Ohren drang.

„Tatsue?“

 

Im selben Moment, als er innehielt und sich seine geweiteten Augen auf seinen Bruder richteten, wurde es laut im kleinen Raum. Menschen schwärmten wie Bienen herein, brachten Geräte und eine Trage mit sich. Satochi wurde beiseitegeschoben, fand sich innerhalb eines Wimpernschlags in Miyas Armen wieder, der bis an die hinterste Wand des kleinen Raums zurückgewichen war, um den Sanitätern Platz zu machen.

 

Die nächsten Minuten glitten wie ein Film an ihm vorbei. Starr beobachtete er, wie eine Sauerstoffmaske über Tatsuros Gesicht gelegt wurde, Dioden an seinem Brustkorb angebracht und mit dem Herzmonitor verbunden wurden. Ein Zugang wurde ihm in die rechte Armbeuge gelegt, durchsichtige Flüssigkeit gespritzt, bevor der Schlauch eines Infusionsbeutels mit der Nadel verbunden wurde. Er hörte, wie die Sanitäter Fragen stellten, Fragen, auf die keiner von ihnen eine Antwort wusste. Die Polizisten schienen klüger als sie zu sein und gaben Auskunft, während bei Satochi und seinen Freunden nur fassungsloses Schweigen herrschte. Er hörte Diagnosen wie, akutes Herzversagen, Atemstillstand, Schock, Verdacht auf abdominale Blutungen, Perforation der Lunge, und obwohl ihm all diese Begriffe bekannt waren, konnte er sie nicht mit Tatsuro in Verbindung bringen.

 

Sein Bruder musste doch nur aufwachen, dann war wieder alles in Ordnung, oder? Oder?

Tatsuro war doch schon wach gewesen, er hatte ihn gehört …

Oder war das alles nur Einbildung gewesen?

Der Versuch seines Geists, das Schlimmste von ihm abzuwenden?

 

„Du darfst nicht sterben“, wisperte er wieder und wieder. „Verdammte Scheiße, Tatsuro, du darfst nicht sterben.“

 

~*~

 

Miyas Nase brannte, genau wie seine Augen. Ersteres lag an dem scharfen Geruch nach Desinfektionsmittel, der schwer in der Luft lag, Letzteres an dem grellweißen Licht, das den Wartebereich der Notaufnahme ausleuchtete. Die Sanitäter hatten Tatsuro ins Tokyo Heart Centre gebracht, eine Fahrt quer durch die Stadt und kein gutes Zeichen. Diese Erkenntnis hatte er jedoch für sich behalten, genau wie er vieles für sich behielt, was ihm durch den Kopf ging.

Satochi und Yukke saßen auf den unbequemen, grauen Plastikstühlen und wirkten wie Geister. Ein Eindruck, der sich nur verstärkte, immer wenn einer der beiden seinen Blick suchte und ihn die endlose Leere, die er in den blutunterlaufenen Augen erkennen konnte, zu überwältigen drohte. Satochi hielt sich krampfhaft an seinem Pappbecher fest, in dem der fade Krankenhauskaffee mittlerweile schon kalt geworden sein musste.

Yukke zupfte geistesabwesend an den Pflastern herum, mit denen seine aufgeschlagenen Knöchel versorgt worden waren und Miya selbst blickte zum gefühlt tausendsten Mal auf die Uhr.

Erneut war eine Stunde vergangen und noch immer hatten sie keine Information darüber erhalten, wie es Tatsuro ging.

 

Yumiko und Gara waren endlich nach Hause gefahren, nachdem Miya sich beinahe mit Tatsuros Manager angelegt hatte. Yumiko hatte so krank ausgesehen, zerbrechlich und schwach, dass er es einfach nicht mehr hatte ertragen können, sie zitternd und weinend hier sitzen zu sehen.

Ihre Anwesenheit half Tatsuro im Moment ebenso wenig wie die Tatsache, dass Satochi, Yukke und er hier herumsaßen. Aber er verstand, warum die beiden anderen nicht gehen konnten, und so blieb auch er, um ein Auge auf sie zu haben.

 

Satochis Hand war eiskalt, als er sie in seine nahm und einen flüchtigen Kuss darauf hauchte. Er war normalerweise kein Freund von Zärtlichkeiten in der Öffentlichkeit, aber das schwache Lächeln, welches die Lippen des anderen daraufhin zierte, war es wert gewesen, über seinen Schatten zu springen.

 

„Glaubst du, er schafft es?“, fragte Sato nicht zum ersten Mal, aber wie auch schon die Male zuvor konnte er ihm darauf keine Antwort geben, die ihn beruhigen würde.

 

„Tatsuro ist in guten Händen. Ich bin mir sicher, dass die Ärzte alles tun, was in ihrer Macht steht.“ Leere Worte ohne Bedeutung. Gott, wie er es hasste, so hilflos zu sein. Er versuchte sich an einem Lächeln, von dem er wusste, dass es seine Augen nicht erreichte und keinesfalls so überzeugt wirkte, wie er es gerne gehabt hätte. Aber der gute Wille zählte, oder?

„Dein Bruder ist der sturste Mensch, der mir jemals untergekommen ist. Ich glaube kaum, dass er Nobu die Genugtuung geben wird, jetzt einfach so aufzugeben.“

 

„Nein, das würde er nicht zulassen. Du hast recht.“ Sato nickte und richtete seinen Blick auf Yukke, der diese Geste erwiderte.

 

„Sicherlich nicht“, murmelte der Schauspieler, der für Miya in den letzten Jahren mehr ein Bruder als ein Freund geworden war, und klang beinahe überzeugt von dem, was er sagte.

 

Wie automatisch legte er den Arm um Satochis Rücken, als er den Kopf gegen seine Schulter lehnte und für einen Moment die Augen schloss. Miya hätte es ihm am liebsten gleichgetan, stattdessen begann sich das Karussell seiner Gedanken erneut zu drehen.

 

Nobu. Endlich hatten sie einen Namen zu der nicht greifbaren Bedrohung, die der Stalker in den letzten Monaten gewesen war. Die Hintergründe seines Handelns, seines Hasses auf Tatsuro lagen noch immer im Dunkeln, aber wenigstens wussten sie nun, warum er immer so gut über die Geschehnisse in der BLP informiert gewesen war. Miya weigerte sich, die Gewissensbisse zuzulassen, die mit Nachdruck an die Oberfläche treten wollten. Er war es gewesen, der Gara empfohlen hatte, Kaisuke eine Chance als Praktikant zu geben. Er hatte Potenzial gesehen, einen formbaren, jungen Menschen, der Interesse gezeigt und sich engagiert hatte, und dabei hatte er der Bedrohung Tür und Tor geöffnet.

Hätte er die Polizei früher einschalten sollen?

Hätte er sich über Tatsuros Wunsch, dem ganzen nicht noch zusätzliche Aufmerksamkeit zu schenken, hinwegsetzen sollen?

Hätte er den Dreh abbrechen sollen?

 

Energisch richtete er den Blick wieder auf die große Uhr, die hinter Yukke an der Wand hing und unaufhörlich die Sekunden zählte. Es war sinnlos, sich diese Gedanken zu machen, nicht zielführend und keinesfalls hilfreich, also warum zum Teufel konnte er nicht damit aufhören? Er fühlte die Unruhe, die seine Muskeln zucken, seine Knochen schmerzen ließ. Der Drang, sich zu bewegen, wie ein eingesperrter Tiger auf und ab zu gehen, war fast unerträglich. Gerade, als er dachte, es keine Sekunde länger auszuhalten, hörte er Schritte über den bislang leer und still daliegenden Flur auf sie zukommen.

 

~*~

 

Doktor Yoshida war müde. Todmüde, um genau zu sein, wobei er sich diesen Ausdruck im Dienst tunlichst verkniff. Ein Blick auf seine Armbanduhr zeigte 05:38 an und entlockte ihm ein leises Seufzen. Weit über achtundvierzig Stunden war er mittlerweile in Bereitschaft und die vier Stunden im OP-Saal hatten ihm seine letzten Reserven geraubt. Er würde ein Stoßgebet gen Himmel schicken, sobald er endlich zu Hause war. Die Gummisohlen seiner Schuhe quietschten auf dem Linoleum, was er in der vorherrschenden Stille als unangenehm laut empfand. Vermutlich war es auch dieses Geräusch, das die ungleiche Gruppe Männer, die allein im Aufenthaltsbereich der Notaufnahme saßen, auf ihn aufmerksam gemacht hatte. Auch nach den vielen Jahren als Notfallchirurg hatte er sich noch nicht an den Gesichtsausdruck von Angehörigen gewöhnt, die darauf warteten, über den Zustand ihrer Liebsten informiert zu werden. Eine Mischung aus Resignation, Hoffnung und bodenloser Furcht, etwas gesagt zu bekommen, das sie niemals wieder würden vergessen können. Er war nicht gern der Überbringer schlechter Nachrichten …

 

„Herr Takayasu?“, erkundigte er sich und lächelte die Männer leicht an. Der kleinste der ungleichen Runde, mit ernstem Gesicht aber noch am gefasstesten wirkend, wandte zuerst den Blick von ihm ab und richtete ihn auf vermutlich seinen Freund, der gegen seine Seite lehnte. Dieser blieb jedoch einen langen Moment regungslos, während der Dritte überhaupt nicht reagierte und auf seine bandagierten Finger starrte.

Geduldig wartete Doktor Yoshida, während sein geschulter Blick bei allen dreien Anzeichen von Shock und Erschöpfung registrierte. Er machte sich eine mentale Notiz, später Pfleger Michiya zu bitten, den Herren etwas für die Nerven zu bringen.

 

„Wer von Ihnen ist Herr Takayasu?“, wiederholte er seine Frage und beobachtete interessiert den langen Blick, den zwei der Männer austauschten. Der, der sich die Hände verletzt hatte und einen äußerst markanten Haarschnitt trug, wie Doktor Yoshida innerlich belustigt feststellte, stand schlussendlich auf und schaute ihm ernst ins Gesicht.

 

„Haben sie Neuigkeiten für uns? Wie geht es Tatsuro?“ Die Höflichkeit verlangte eine Verbeugung, die Doktor Yoshida auch knapp und zweckmäßig erwiderte, schließlich war ihm klar, dass Antworten gerade das Einzige waren, was für die Wartenden zählte.

 

„Ihr Bruder hat die Operation den Umständen entsprechend gut überstanden. In diesen Minuten wird er auf die Intensivstation verlegt.“

 

„Können wir ihn sehen?“

 

„Als sein Angehöriger können Sie zu ihm, Herr Takayasu, aber Ihre Freunde muss ich bitten, hier zu warten.“

 

Wieder tauschten die beiden Männer lange Blicke aus, bevor sein Gesprächspartner fast schon schuldbewusst nickte und der andere an seinen Freund gelehnt sitzen blieb. Doktor Yoshida hatte das Gefühl, dass hier gerade nicht alles mit rechten Dingen zuging, aber wer wäre er, würde er nun darauf bestehen, einen Ausweis sehen zu wollen? Wer der drei in welchem Verhältnis zu seinem Patienten stand, konnten die Schwestern der Tagschicht später klären.

 

„Folgen Sie mir bitte, Herr Takayasu.“ Er setzte sich in Bewegung, wartete, bis sein Begleiter zu ihm aufgeholt hatte und stellte sich vor: „Mein Name ist Yoshida. Ich habe Ihren Bruder in den letzten vier Stunden gemeinsam mit meinem Team operiert. In Anbetracht seiner vielen Verletzungen geht es ihm den Umständen entsprechend. Derzeit liegt er im künstlichen Koma …“ Er hörte ein harsches einatmen, richtete den Blick auf den Mann an seiner Seite und beeilte sich, ihn zu beschwichtigen: „Das ist ein übliches Vorgehen nach Kopfverletzungen, um dem Körper die Möglichkeit zur Regeneration zu geben. Außerdem muss Ihr Bruder derzeit noch künstlich beatmet werden, um seine Lunge zu entlasten. Das wäre nicht möglich, wäre er bei Bewusstsein.“

 

Obwohl er das Gefühl hatte, Takayasu-san würde ihm nicht zuhören, redete er weiter. Er hatte bislang die Erfahrung gemacht, dass es den Angehörigen half, so viel wie möglich erklärt zu bekommen, auch wenn sie meist gar nicht in der Lage waren, alles zu verarbeiten. Außerdem sagte man ihm nach, dass seine Stimme eine beruhigende Wirkung auf andere hatte, also warum sollte er das nicht ausnutzen?

 

Nachdem sie eine doppeltürige Schleuse hinter sich gelassen hatten, die die Intensivstation vom Rest des Klinikums abtrennte, begann die zähe Prozedur, sich und seine Begleitung mit Schutzkleidung, Handschuhen und Mundschutz auszustatten.

 

„Ein notwendiges Übel“, versuchte er, mit einem entschuldigenden Lächeln die gedrückte Stimmung ein wenig zu entlasten, und erhielt sogar ein zögerliches Schmunzeln zur Antwort.

 

„Ich denke, man kann nicht vorsichtig genug sein.“

 

„Sie sagen es. Hier entlang, dort drüben ist das Zimmer Ihres Bruders. Bitte stören Sie sich nicht an dem Sichtfenster im Raum. Herr Iwakami befindet sich in engmaschiger Überwachung, da ist es notwendig, auch optische Anzeichen eventueller Probleme sofort erkennen zu können. Sobald er das Gröbste überstanden hat, wird er erneut verlegt werden.“

 

~*~

 

Yukke nickte, während ihm Doktor Yoshida eine Erklärung nach der anderen lieferte, doch seine Gedanken kreisten um ein ganz anderes Thema. Noch immer verstand er nicht, weshalb Satochi zugelassen, ihn sogar mehr oder weniger stumm dazu aufgefordert hatte, mit dem Arzt mitzugehen. Nicht, dass er ihm dafür nicht unendlich dankbar war …

Er konnte es kaum erwarten, Tatsuro zu sehen, und hatte gleichzeitig unerträgliche Angst davor. Angst, ja, vielleicht war das der Grund, weshalb Satochi nichts gesagt hatte. Tränen brannten in seinen Augen, als er daran denken musste, wie verzweifelt Sato sich um seinen Bruder bemüht hatte. Und er? Er hatte nichts tun können. Also war es jetzt wohl nur fair, dass er diesen schweren Gang allein ging, sich alles, was der Arzt zu sagen hatte, so gut wie möglich einprägte und Tatsuro zeigte, dass sie für ihn da waren.

 

„Hier sind wir.“ Die Stimme Doktor Yoshidas riss ihn aus seinen Gedanken und verschämt richtete er den Blick für einen Moment auf seine Schuhe, die in blauen Plastiküberziehern steckten. So viel also dazu, dass er sich alles merken wollte, was der Arzt ihm sagte.

 

Eine hellblau gestrichene Tür mit rundem Sichtfenster darin wurde ihm aufgehalten und Yukke hatte das Gefühl, seine Beine wären plötzlich bleischwer geworden, so anstrengend war jeder Schritt, der ihn Tatsuros Bett näherbrachte. Der Anblick erinnerte ihn auf schmerzliche Weise an seinen Besuch an Seeks Krankenbett vor einigen Stunden. Er kniff die Augen zusammen. War das alles wirklich erst gestern geschehen?

 

Tatsuro, der ihn ins Krankenhaus gefahren hatte.

Seek, bewusstlos und übel zugerichtet.

Seeks Eltern, die so schreckliche Angst um ihren Jungen hatten.

Der Drehschluss.

Die Feier.

Tatsuros blutiges Gesicht.

 

Er spürte, wie sein Atem immer schneller ging, wie sehr er zitterte und sich alles zu drehen begann. Ein fester Griff um seinen Oberarm stabilisierte ihn und dirigierte ihn zu einem Stuhl, der unweit von Tatsuros Bett stand. Eine ruhige Stimme drang an seine Ohren, aber der Sinn der Worte wollte ihm nicht klar werden, bis ihm ein Pappbecher in die Hand gedrückt wurde.

 

„Herr Takayasu, versuchen Sie ruhig zu atmen und trinken Sie einen Schluck.“

Wie automatisch tat er, was von ihm verlangt wurde, bis seine Sicht sich soweit klärte, dass er Doktor Yoshidas mitfühlendes Gesicht unweit vor sich erkennen konnte.

„Ein Pfleger wird Ihnen gleich etwas zur Beruhigung bringen, in Ordnung?“

 

Yukke nickte nur, zu aufgewühlt und ausgelaugt, um zu widersprechen. Ohnehin lag seine Aufmerksamkeit schon nicht mehr auf dem Arzt, sondern auf dem, was er von Tatsuro im Krankenbett liegend und an Dutzende Instrumente angeschlossen erkennen konnte.

 

„Oh, Tatsue“, entkam es ihm mehr schluchzend als gesprochen und mit zitternden Fingern tastete er nach der Hand seines Freundes. Selbst hier war ein Zugang gelegt, die Finger kühl und leicht geschwollen.

„Was ist mit seinem Auge?“ Er hob den Kopf, suchte Doktor Yoshidas Blick und störte sich nicht daran, dass der Arzt die Tränen sehen konnte, die in seinen Augen standen.

 

„Die Hornhaut wurde verletzt, die Linse darunter ist durch Einblutungen eingetrübt. Zum jetzigen Zeitpunkt kann ich noch keine sichere Prognose abgeben, aber es kann sein, dass Herr Iwakami eine Transplantation benötigen wird, um seine Sehkraft wiederherzustellen.“

Yukkes Mund öffnete und schloss sich, ohne dass ihm ein Laut entkommen wäre. Schock ließ seine Glieder kribbeln und seine Lippen eiskalt werden.

„Wenn sich Ihr Bruder von seinen Verletzungen gut erholt, und davon gehe ich derzeit aus, wird die Erblindung nur temporär sein.“

 

‚Erblindung. Oh, Tatsuro.‘

„Und …“, krächzte er mit rauer Stimme, „was ist mit all dem Rest?“

 

„Die verabreichten Medikamente und Drogen konnten wir soweit neutralisieren, dass seine Leber in den nächsten Tagen alles Weitere erledigen kann. Sein Herz wird keine bleibenden Schäden davontragen. Sorgen machen uns im Moment noch die Kopfverletzungen. Falls der Druck in seinem Gehirn steigt, werden wir ihn heute noch einmal operieren müssen, aber wie ich eingangs schon erwähnte, wird Iwakami-san rund um die Uhr überwacht, damit wir unverzüglich reagieren können.“

 

Yukke nickte erneut, auch wenn die Worte des Arztes mehr und mehr wie Nebelfetzen an ihm vorbeizogen. Er wollte aufpassen, das wollte er wirklich, aber es war einfach zu viel. Zu viel war geschehen, zu groß waren die Sorgen in den letzten Stunden gewesen. Er konnte nicht mehr. Er hörte, wie die Tür hinter ihm geöffnet wurde, sich Doktor Yoshida mit jemandem unterhielt, aber erst, als ihm eine kleine, weiße Tablette in die Hand gedrückt wurde, blickte er wieder auf.

 

„Zur Beruhigung“, erklärte Doktor Yoshida und lächelte ihm zu. Yukke hätte diese Geste gern erwidert, allein schon aus Dankbarkeit, weil der andere sich so viel Zeit für ihn nahm, obwohl er sehen konnte, dass auch der Arzt erschöpft und müde wirkte.

 

„Danke“, murmelte er stattdessen nur und schluckte das Medikament.

 

„Ich lasse Sie nun für ein paar Minuten allein. Reden sie mit ihm, das wird ihm guttun.“

 

„Kann er mich hören?“ Er spürte zwar, dass seine Lippen sich bewegten, aber seine Gedanken und sein Blick lagen einzig und allein auf Tatsuro.

 

„Das ist durchaus möglich. Er wird auf jeden Fall spüren, dass jemand für ihn da ist.“ Die Hand des Arztes legte sich auf seine Schulter, drückte einen kurzen Moment lang zu, doch bevor Yukke diese Geste des Mitgefühls überhaupt vollends registrieren konnte, war er allein mit Tatsuro und den Geräuschen der Maschinen.

 

Wie in Zeitlupe erhob er sich, beugte sich über seinen Freund, der so erschreckend still in seinem Bett lag. Tatsuros Brust hob und senkte sich unnatürlich gleichmäßig im Rhythmus der Beatmungsmaschine, deren mechanisches Surren in seinen Ohren schmerzte.

 

„Es tut mir so leid.“ Seine Finger schwebten über Tatsuros Gesicht, aber bis auf das linke Auge gab es fast keine Stelle Haut, die nicht von weißen Verbänden bedeckt war.

„Du siehst wie eine Mumie aus“, brach es plötzlich gefolgt von einem schluchzenden Lachen aus ihm heraus. Am liebsten hätte er seinen Kopf an der Brust des anderen versteckt und wie ein kleines Kind geweint. Aber seine Verletzungen machten dies zu einem Ding der Unmöglichkeit.

„Du wirst toben, sobald du wieder wach bist“, redete er weiter, obwohl er keine Ahnung hatte, was er von sich gab. „Sie mussten dir deine Haare abschneiden, doch schöne Menschen kann ja bekanntermaßen nichts entstellen, stimmt‘s?“ Barsch wischte er sich über die Augen, weil sein Mundschutz der vielen Tränen wegen schon ganz aufgeweicht war.

„Sie haben Nobu und Kaisuke festgenommen. Der Mistkerl bekommt, was er verdient, da bin ich mir sicher. Schon allein, weil die Polizisten das Video beschlagnahmt haben.“ Er spürte, wie erneut Wut in ihm hochsteigen wollte, aber sie fühlte sich eigenartig gedämpft und distanziert an. Vermutlich die Medikamente, dachte er sich.

„Ich muss wohl mit einer Anzeige wegen Körperverletzung rechnen, aber soll ich dir was verraten? Dem Arschloch die Fresse blutig zu schlagen, wars wert.“ Erneut hallte ein Lachen von den Wänden wider, das in seinen Ohren so gequält und schrill klang, dass er diesen Laut gar nicht erst mit sich selbst in Verbindung bringen konnte.

„Weißt du, dass Sato dir das Leben gerettet hat? Himmel, Tatsue, du hast nicht mehr geatmet, aber Satochi hat nicht aufgegeben. Er hat so lange versucht, dich wiederzubeleben, bis die Sanitäter eingetroffen waren.“ Er schniefte und rieb sich über die Augen.

„Es tut mir so leid, Tatsue. Ich hätte … keine Ahnung. Ich hätte mehr tun müssen.“ Er senkte den Kopf, stumme Schluchzer schüttelten ihn, und es dauerte eine ganze Weile, bis er sich wieder unter Kontrolle hatte.

„Tschuldige. Es ist nicht fair von mir, dir was vorzuheulen, wenn du dich nicht wehren kannst, was?“ Tief durchatmend richtete er sich wieder auf und streichelte Tatsuro über die bandagierte Wange. Vermutlich spürte er die Berührung nicht einmal, so leicht war sie, aber Yukke brauchte wenigstens diese winzige Nähe.

„Satochi und Miya sind auch hier, sie durften nur leider nicht zu dir. Eigentlich hätte ich auch nicht hier sein dürfen, weil das nur Angehörigen gestattet ist. Aber ich hab mich für Sato ausgegeben, weil er das so wollte. Frag mich nicht warum, aber ich bin ihm unglaublich dankbar.“ Wieder stiegen ihm Tränen in die Augen und für einen Moment versteckte er sein Gesicht hinter der linken Hand, die Finger der Rechten noch immer um Tatsuros gelegt.

„Gott, Tatsue, du musst wieder aufwachen, bitte. Du musst gesund werden. Ist dir eigentlich bewusst, wie wenig ich von dir weiß, obwohl wir die letzten Monate ständig aufeinander gehockt sind? Es tut mir leid, dass dieses dumme Missverständnis zwischen uns stand. Ich hätte viel früher mit dir reden und mich nicht ständig abwimmeln lassen sollen. Aber den Fehler mach ich nur einmal, hörst du? Ich bleib an dir dran, Iwakami, und auf unser Date besteh ich auch. Egal, ob wir’s zur Ghibli-Ausstellung schaffen oder nicht, vom Haken lass ich dich ganz sicherlich nicht mehr.“

 

Yukke redete so lange, bis Doktor Yoshida ihn höflich bat, mit ihm mitzukommen, Tatsuro würde nun Ruhe brauchen. Sein Hals schmerzte, ebenso wie seine verletzten Finger und sein Herz, als er seinen Freund hinter der hellblauen Tür mit dem Sichtfenster zurücklassen musste.

 

Wieder im Aufenthaltsbereich der Notaufnahme angekommen, verabschiedete sich der Mediziner kurz von ihnen, bevor Yukke begann, alles wiederzugeben, was er in Erfahrung hatte bringen können. Satochi und Miya unterbrachen ihn kein einziges Mal, selbst als der Regisseur sie aus dem Krankenhaus und in sein Auto dirigierte. Miya hatte wohl beschlossen, dass man ihn nicht allein lassen konnte und er deswegen genau wie Satochi mit zu ihm nach Hause fahren würde. Yukke musste ehrlich zugeben, dass er nicht mal noch die Kraft fand, sich gegen diese gut gemeinte Bevormundung zu wehren. Die Fahrt verstrich wie in einem schlechten Traum, Fetzen der Aussicht aus dem Seitenfenster und von Gesprächen flogen an ihm vorbei, aber später hätte er nicht einmal sagen können, wie er in Miyas Gästebett gelandet war.

 

Sein letzter Gedanke galt Tatsuro, bevor er in einen unruhigen Schlaf fiel.

 

 

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Ich denke, dieses Kapitel kann man als Transitionskapitel bezeichnen. Ich hab das Gefühl, dass nicht wirklich viel passiert, obwohl sich die Ereignisse mehr oder weniger überschlagen. Zu urteilen, ob ich etwas Lesbares aufs Papier gebracht habe, überlasse ich also lieber euch. ;)

Klappe, die Fünfzehnte

Miya hätte nie geglaubt, dass er sich so schnell daran gewöhnen würde, neben einem anderen Menschen aufzuwachen. Doch als er sich nun im Bett herumdrehte und sich wieder einmal nicht an einen warmen Körper schmiegen konnte, fand er diesen Umstand derart irritierend, dass er nicht mehr weiterschlafen konnte. Murrend setzte er sich auf, rieb sich über die vom Schlaf verkrusteten Augen und blinzelte gegen das Licht an, das sich trotz der zugezogenen Vorhänge einen Weg in den Raum suchte. Heute schien ein weiterer, sonniger Herbsttag zu werden und offensichtlich war es ein weiterer dieser Morgen, an denen sein Freund nicht hatte ausschlafen können. Wie seit Wochen schon. Die Sorge um seinen Bruder hielt Satochi in den meisten Nächten wach und trieb ihn jeden Tag viel zu früh aus dem Bett. Nicht allein aus diesem Grund betete Miya inständig dafür, Tatsuro würde endlich aufwachen. Es war Wochen her, dass er entführt und von Nobu misshandelt worden war. Obwohl ihnen die Ärzte anfänglich versichert hatten, dass sie ihn nur so lange im künstlichen Koma halten würden, bis er sich ausreichend von seinen vielen Verletzungen erholt hatte, war er trotz all ihrer Versuche noch immer nicht aufgewacht. Die Mediziner vermuteten ein psychologisches Problem, eine Art temporärer Schutzmechanismus, der den Schauspieler daran hinderte, in die Realität zurückzufinden. Miya hoffte inständig, dass sie damit rechtbehalten würden – nicht nur um Tatsuros Willen.

 

Er seufzte und ließ sich mit dem Gesicht voran auf Satochis Kissen fallen, das seinen angestammten Platz neben seinem eigenen gefunden hatte. Tief atmete er ein und wünschte sich nicht zum ersten Mal in letzter Zeit, der andere wäre nun hier. Selbst sein nicht zu ignorierendes Schnarchen vermisste er, obwohl es auch den einen oder anderen Moment gegeben hatte, in dem es ihn schier in den Wahnsinn getrieben hatte. Aber alles war besser, als in einem leeren Bett und umgeben von dröhnender Stille aufzuwachen.

 

Hätte man ihm vor dem Dreh von Ame no orchestra gesagt, dass es einmal eine Zeit geben würde, in der er sich so fühlen würde, hätte er nur herzhaft gelacht. Er war schon immer durch und durch Realist gewesen. Trotz seiner Arbeit als Produzent und zeitweise Regisseur von Boys Love Dramen, die mittlerweile fast ein Jahrzehnt umspannte, war er unfassbar ungeschickt, was zwischenmenschliche Beziehungen anging. Zu ernst, zu fordernd, zu wenig einfühlsam, zu einschüchternd. Das waren alles Eigenschaften, die ihm regelmäßig unterstellt wurden. Aber Satochi hatte das ganz anders gesehen. Von Anfang an hatte er es ihm unfassbar leicht gemacht. Er hatte keine utopischen Erwartungen an ihn gestellt, die er ohnehin nie hätte erfüllen können. Er hatte nichts von ihm erwartet und dafür alles angenommen, was Miya ihm geben konnte … geben wollte. Von ihm beinahe unbemerkt hatte Satochi Wurzeln in seinem Herz geschlagen wie ein Löwenzahn, der selbst an den unwirtlichsten Orten gedeihen konnte.

Er schnaubte und hob den Kopf vom Kissen. Es war erstaunlich, welch schnulzige Überlegungen am frühen Morgen schon durch seine Hirnwindungen irrten. Nur widerwillig ließ er den Geruch nach Shampoo, Rasierwasser und etwas, das für ihn einfach nach Satochi duftete, zurück, bevor ihm noch mehr solche Gedanken in den Sinn kommen würden. Die Leuchtziffern des Weckers auf dem Nachttisch zeigten 08:17 an – eine gute Zeit, um aufzustehen, wollte er noch etwas von seinem freien Tag haben.

 

Miya war kein typischer Morgenmuffel, aber vor seiner ersten Tasse Kaffee zu eher wenig zu gebrauchen. Daher musste eine Katzenwäsche genügen, bevor er in die Küche schlurfte. Vielleicht ließ sich Satochi später zu einer gemeinsamen Dusche überreden? Diese Überlegung zauberte ein kleines Lächeln auf seine Lippen und war so präsent in seinen Gedanken, dass ihm erst verspätet der Duft nach Gebäck in die Nase stieg. Seine Augen weiteten sich, während er sich in den Rahmen der Küchentür lehnte und Satochi bei seinem Tun beobachtete. Das erste, was ihm auffiel, war das weiße Kopftuch, mit dem sein Freund seine nackenlangen, hellbraunen Haare aus dem Gesicht hielt. Aber ein weitaus auffälligeres Detail seines Aufzugs war die blassgrüne Kittelschürze, die er sich umgebunden hatte. Konnte er darauf sogar gelbe Blümchen erkennen? Sein Lächeln weitete sich zu einem ausgewachsenen Grinsen und er musste sich zusammenreißen, keinen Laut von sich zu geben. Himmel, das war ein Bild für Götter und eines, dass er bitte nie in seinem Leben vergessen wollte.

 

Satochi stand über die Arbeitsplatte gebeugt, die Zungenspitze zwischen den Lippen aufblitzend und platzierte golfballgroße, schokobraune Teigkugeln auf ein mit Backpapier ausgelegtes Blech. Kaum war er damit fertig, neun der Kugeln in gleichmäßigem Abstand zu verteilen, drückte er sie ein wenig platt und spickte die Fladen mit Schokoladenstücken, die neben ihm in einer kleinen Schüssel lagen. Neben der Herdplatte befanden sich bereits gebackene Kekse auf einem Gitter, wohl um auszukühlen, und im Backofen wartete eine weitere Ladung darauf, fertig zu werden.

 

Genau wie Miya nie geglaubt hätte, einmal die Präsenz eines anderen in seinem Bett zu vermissen, hätte er nie gedacht, dass Satochi so perfekt in sein Heim passte. So eine Aussage mochte sich im ersten Moment seltsam anhören, aber bedachte man, dass er bislang sehr eigen gewesen war, wenn es darum ging, sein Domizil mit jemandem zu teilen, ergab es wohl Sinn. Sein Zuhause war schon immer sein Zufluchtsort gewesen, der Platz in seinem Leben, an dem alles seine Ordnung hatte. An dem sich nie etwas veränderte, außer er selbst ließ Veränderung zu. Eine Konstante so zu sagen, die ihm unglaublich wertvoll erschienen war. Satochi hingegen brachte Aufruhr in seine geliebte Stille, Chaos in seine penible Ordnung und Hektik, wo bislang nahezu meditative Ausgeglichenheit herrschte – und er liebte es. Entspannt verschränkte er die Arme vor der Brust, lehnte den Kopf leicht gegen den hölzernen Rahmen und beobachtete einfach nur. So quirlig Satochi sonst auch sein konnte, ihn nun zu betrachten, war wie der Blick in das Auge eines Hurrikans, in dem vollkommene Stille herrschte.

 

Noch war er nicht bemerkt worden und innerlich debattierte Miya mit sich, ob er seinen Freund weiter bei seinem Tun beobachten wollte oder lieber dem Wunsch seines Körpers nach Kaffee folgen. Die Kaffeemaschine stand unweit der Stelle, an der sich Satochis Backzutaten stapelten, doch selbst, wenn er es bis dorthin ungesehen schaffen würde, spätestens das Tohuwabohu, welches sein altersschwacher Kaffeezubereiter machte, würde seine Anwesenheit verraten. So abgelenkt und in Gedanken versunken konnte nicht einmal sein Freund sein.

Mh, das nannte man wohl eine ausgewachsene Zwickmühle, was?

 

Miyas Hand wanderte zu seinem Mund und so, als würde er sich das Grinsen vom Gesicht wischen wollen, rieb er sich über die Unterlippe. Denn gerade in diesem Moment hatte Sato auch noch angefangen, die herzschmerzverursachende Ballade mitzusingen, mit der das Miniradio auf dem Fensterbrett die kleine Küche beschallte, und machte es ihm damit unmöglich, ihn aus seiner Gedankenwelt zu reißen. Wäre Miya ein Mensch, der Worte wie niedlich oder süß benutzte, wären das nun genau die Attribute, die er dem anderen zuschreiben würde. So jedoch konnte er mit Fug und Recht behaupten, dass er seit einer sehr langen Zeit schon nichts derart Schönes mehr gesehen hatte.

 

Obwohl sich unter Satochis Augen bläuliche Schatten abzeichneten, die Falten um seinen Mund dunkel und tief wirkten und von seiner sommerlichen Bräune nicht mehr viel übrig war, waren es genau diese Makel, diese Unvollkommenheiten, die diesen Augenblick für Miya zu etwas unfassbar Kostbarem machten. Wer nicht genau hinsah, hätte vor sich nur einen zufriedenen, ausgeglichenen Mann gesehen, der Spaß an dem hatte, was er gerade tat. Er hingegen sah auch die Verletzungen, die sein Freund davongetragen hatte. Die Körperlichen; offensichtlich in der Art, wie abgehakt manche seiner Bewegungen waren oder an den irreführenden Schatten, die die Narbe in seinem Gesicht warf, wenn er den Kopf in einem bestimmten Winkel zum Licht drehte. Aber auch die Unsichtbaren; Sorgen und Ängste, die Satochi seit Wochen durchlebte, die kein Ende zu nehmen schienen, und von denen er sich dennoch nicht besiegen ließ. Der andere war ein Kämpfer durch und durch und in gleichem Maß, wie ihm diese Tatsache gerade bewusst wurde, füllte sich sein Herz mit einer bislang ungekannten Wärme.

 

„Miya?“

So Angesprochener blinzelte und ließ die Hand sinken, die in den letzten Augenblicken unentwegt an seiner Unterlippe herumgezupft hatte.

„Ich hab dich gar nicht bemerkt. Wie lange stehst du denn schon hier?“

 

„Ach, nicht lange“, log er grinsend und ging auf sein Gegenüber zu. „Guten Morgen, Sängerknabe.“

 

„Von wegen, noch nicht lange. Du schwindelst mich doch an.“

 

„Das würde mir im Traum nicht einfallen.“

 

„Na, klar.“ Sein Freund spitzte skeptisch die Lippen und wer wäre Miya denn, würde er diese offenkundige Einladung nicht annehmen? Seine Hände fanden ihren Weg in Satochis Nacken und fast zeitgleich spürte er warme Arme, die sich um seine Mitte legten.

 

„Pass mit dem Teig an deinen Händen auf, ich will den nicht überall kleben haben“, nuschelte er halb scherzend, halb warnend gegen Satochis Mund.

 

„Auch wenn ich eine ganz interessante Technik kenne, wie du diesen Teig wieder loswirst?“

 

„Auch dann; wobei wir über diese interessante Technik später noch mal genauer reden könnten.“ Ein weiteres Lächeln huschte über Miyas Lippen, bevor er selbige für etwas weitaus Spannenderes verwendete. Wie immer, wenn er Satochi küsste, schien es, als würde der nicht enden wollende Strom an Gedanken in seinem Kopf plötzlich zum Stillstand kommen. Ruhe floss über ihn wie eine heiße Dusche an einem kalten Wintermorgen und brachte eine wohlige Gänsehaut mit sich.

 

„Ist dir kalt?“

 

„Nein“

 

„“Du zitterst.“

 

„Ja, aber kalt ist mir nicht.“ Er zeigte Satochi sein bestes Raubtierlächeln und erfreute sich an dem stummen O, das die Lippen seines Freundes daraufhin zeichneten. „Aber wie schon gesagt, das können wir später auch noch besprechen. Fürs Erste brauche ich einen Kaffee und dann würde ich gern wissen, wer meinen Freund gegen eine Back-Fee ausgetauscht hat.“

 

Er drückte Satochi noch einen flüchtigen Kuss auf die Wange, bevor er sich an ihm vorbeischob, um endlich die Kaffeemaschine mit allem Notwendigen zu bestücken. Während er darauf wartete, dass sich seine Tasse füllte, hörte er das Rauschen des Wasserhahns und spürte kurz darauf erneut Arme, die sich von hinten um seine Mitte legten. Ein warmer Körper schmiegte sich gegen seinen Rücken und lächelnd verschränkte er seine Finger mit den nun Sauberen seines Freundes.

 

„Guten Morgen“, wurde ihm ins Ohr geflüstert und reflexartig sanken Miyas Lider ein Stück herab, um die Nähe so noch besser in sich aufnehmen zu können.

 

„Mmmh, verrätst du mir jetzt, was dich dazu getrieben hat, so früh schon die Küche unsicher zu machen?“ Er lehnte sich etwas mehr gegen Satochi und stibitzte sich ein Stückchen Schokolade aus der Schüssel, die so praktisch in der Nähe stand.

 

„Tatsue ist aufgewacht.“

 

„Was?“ Dieses kleine Wort war ihm lauter als geplant über die Lippen gekommen, während er sich in ihrer Umarmung herumdrehte, um seinem Freund ins lächelnde Gesicht sehen zu können.

 

„Ich sagte …“

 

„Ich weiß, was du gesagt hast. Das …“ Er schüttelte sacht den Kopf, um seine Gedanken zu sortieren, die gerade wild durcheinanderstoben, bevor er Satochi anlächelte. „Das sind großartige Neuigkeiten. Ich freu mich so für dich“, setzte er nach und drückte ihm einen weiteren Kuss auf die Lippen. „Seit wann weißt du es schon?“

 

„Yukke hat mich um kurz vor sieben angerufen. So, wie es sich angehört hat, hat er mal wieder die ganze Nacht im Krankenhaus verbracht.“

 

Für einen Moment schwiegen sie beide, als sich die Sorge um ihren Freund über sie legte. Yukke war in den letzten Wochen so selten von Tatsuros Seite gewichen, dass selbst die Schwestern und Pfleger es irgendwann aufgegeben hatten, ihn noch nach Hause schicken zu wollen. Miya war froh, dass er wenigstens Sato immer davon hatte überzeugen können, dass es weder ihm noch seinem Bruder half, wenn er die Nacht an Tatsuros Krankenbett verbrachte. Mit Yukke hingegen hatte er sich mehrmals beinahe gestritten, nur um ihn überhaupt einmal dazu zu bringen, sich frisch zu machen oder etwas zu essen. Die längsten Zeitspannen, die er nicht in der Klinik verbracht hatte, waren wohl die wenigen Male gewesen, an denen er zu seinem Freund, Seek, in ein anderes Krankenhaus gefahren war, nachdem dieser das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Yukke hatte in den letzten Wochen an Gewicht verloren, sah jeden Tag blasser und kränklicher aus …

Miya seufzte unhörbar – das würde nun hoffentlich ein Ende haben.

 

„Sorry, dass ich so dumm nachfrage, aber warum bist du nicht schon längst in der Klinik, wenn du schon seit über einer Stunde weißt, dass Tatsuro wieder wach ist?“

 

„Ich fahr nachmittags zu ihm. Yukke konnte vorhin schon mit Doktor Yoshida sprechen und er meinte, dass es für Tatsue besser ist, wenn er nicht gleich von Besuchern überrannt wird. Ich hab auch schon unsere Eltern angerufen. Sie werden morgen kommen und sich wieder in Tatsues Apartment einquartieren, dann können sie ihn übers Wochenende ganz in Ruhe besuchen. Außerdem hab ich jetzt so lange drauf gewartet, dass der verschlafene Kerl endlich seine Augen wieder aufmacht, dass ich Yukke auch noch ein paar Stunden mit ihm allein gönnen kann.“

 

„Überaus großzügig, muss ich schon sagen“, neckte er und erwiderte Satochis betont unbeschwertes Grinsen, auch wenn er in seinem Blick die Furcht und Sorge nur allzu deutlich erkennen konnte. Sein Freund wusste ebenso gut wie er, dass noch lange nicht alles überstanden war, nur weil Tatsuro das Bewusstsein wiedererlangt hatte. Aber Sato wollte gerade wohl ebenso wenig an Folgeschäden oder andere Konsequenzen denken wie er selbst, also tat er ihnen beiden den Gefallen und steuerte ihre Unterhaltung in etwas ruhigeres Fahrwasser.

„Ich versteh schon. Dann sind die Kekse ausschließlich für deinen Bruder, was?“ Miya zog ein leidendes Gesicht und schaute sehnsüchtig auf das Gebäck, das unweit von ihm auf dem Gitter zum Auskühlen lag. „Er kann doch bestimmt noch gar nicht so viel davon essen.“

 

„Och, sag das doch nicht so enttäuscht, als würde ich es zulassen können, dass du nichts abbekommst.“

 

Ein noch warmer, unglaublich lecker duftender Schokoladenkeks schwebte plötzlich vor seiner Nase und selbst, wenn Miya gewollt hätte, hätte er das vorfreudige Strahlen nicht unterdrücken können, das nun sein Gesicht erhellte. Nur zu gerne nahm er die Süßigkeit entgegen, holte aus dem Küchenschrank neben ihnen einen kleinen Teller und legte den Keks darauf ab. Seine nächste Amtshandlung war es, sich ausführlich dafür zu bedanken, dass er nicht leer ausgegangen war. Immerhin sprachen sie hier von einem Schokoladenkeks! Da sein Freund wusste, wie sehr er, der eigentlich nichts von Süßigkeiten hielt, Schokolade liebte, musste man sich für so eine Großzügigkeit auch angemessen erkenntlich zeigen. Und Sato, dem die Augen schon bei der ersten Berührung ihrer Lippen zugefallen waren, schien damit recht zufrieden zu sein.

 

„Dankeschön. Du bist der Beste“, murmelte Miya eine ganze Weile später nah an Satochis Mund und erfreute sich an dem kleinen Schauer, der den anderen daraufhin durchfuhr.

 

„Weiß ich.“

 

Sie lächelten sich an, bevor Miya sich erneut herumdrehte und seine nun volle Kaffeetasse vom Abtropfgitter der Maschine nahm.

 

„Willst du auch noch einen?“, erkundigte er sich mit Blick auf die benutzte Tasse auf der Arbeitsplatte und gab einen Schluck Sojamilch in seinen Kaffee.

 

„Nein, ich bin schon die ganze Zeit über so nervös, dass ich wohl zum Duracell-Hasen mutieren würde, würde ich noch einen trinken.“

 

„Duracell-Hase, hu?“ Einen Augenblick betrachtete er den anderen, bevor er das Lachen nicht mehr unterdrücken konnte, das mit Nachdruck in seiner Kehle kitzelte. „Nette Vorstellung.“

 

Satochis halblauter Protest ging im Piepen des Backofens unter, als die voreingestellte Zeit abgelaufen war. Miya ging aus dem Weg, während sich sein Freund um die nun fertigen Kekse kümmerte und gleich das nächste Blech in den Ofen schob. Einen großen Schluck seines Kaffees trinkend stellte er die Tasse auf die Arbeitsplatte und drehte sich Sato zu, der, während er sich aus seiner über den Ofen gebeugten Haltung wieder aufgerichtet hatte, einen leisen Schmerzenslaut nicht hatte unterdrücken können. Miya musste nicht fragen, was los war, hätte es selbst dann gewusst, würde der andere sich nicht gerade über den Oberschenkel reiben. Von Satochi unbemerkt rollte er mit den Augen, trug jedoch weiterhin ein sanftes Lächeln auf den Zügen, als er an ihn herantrat und ihn mit Nachdruck zu einem der Küchenstühle dirigierte. Es bedurfte nur eines langen Blicks seinerseits, um den Widerstand seines Freundes zu brechen und ihn dazu zu bringen, sich für einen Moment hinzusetzen.

 

„Miya, du musst mich nicht bemuttern“, seufzte Sato, streckte aber sein Bein aus, um den verkrampften Muskeln die Möglichkeit zu geben, sich wieder zu entspannen.

 

„Das tu ich auch nicht.“ Miya drückte ihm einen Kuss auf die Stirn und grinste frech. „Ich bin nur selbstsüchtig und hinterlistig genug, um dafür zu sorgen, dass mein Freund später fit ist, um die guten Neuigkeiten ausführlich mit ihm feiern zu können.“

 

„So, so. Und du denkst, dein Freund wird da mitmachen?“, Satochis Augenbraue war nach oben geschnellt und als sich Miya wieder der Arbeitsplatte zudrehte, landete eine Hand mit Schwung auf seinem Hinterteil. Er kniff die Augen zusammen, hielt jedoch den automatischen Schmerzensruf zurück, indem er sich grinsend auf die Unterlippe biss. Ja, genau so liebte er seinen Dickkopf doch.

 

„Ich denke schon.“ Einen langen Blick über die Schulter warf er seinem Freund noch zu, bevor er in die Hände klatschte und sie aneinander rieb. „Dann sehen wir mal, ob ich dich vorhin ausreichend lange beobachtet hab, um das hinzukriegen, was?“ Er schob die Ärmel seines Sweatshirts nach oben, legte ein neues Blatt Backpapier auf das noch warme Blech und begann, wie Satochi eben, Teigkugeln darauf zu verteilen. „Schrei, wenn ich was Falschmache, okay?“

 

„Ich wusste doch, dass du schon länger in der Tür gestanden hast.“

 

„Hab ich je was anderes behauptet?“

 

„Ja.“

 

„Da musst du mich falsch verstanden haben.“ Miya lachte leise in sich hinein, als er Satochi zur Antwort lediglich schnauben hörte. Er fühlte sich, als wäre ihm plötzlich ein zentnerschweres Gewicht von den Schultern genommen worden und wenn er das schon so empfand, wie musste es dann erst Satochi gehen? Kein Wunder, dass sein Freund irgendetwas gebraucht hatte, was er tun konnte, um nicht die Wände hochzugehen.

 

„Hat Yukke am Telefon noch mehr erzählt?“, erkundigte er sich, als er begann, die Teigfladen, wie Satochi vorhin, mit gehackter Schokolade zu verzieren.

 

„Tatsue ist noch sehr müde und schwach, was aber nach so langer Zeit ganz normal ist. Das hat zumindest Doktor Yoshida so gesagt. Und er kann sich wohl auch noch nicht an alles erinnern, was geschehen ist.“

 

„Mh“, brummte er und wusch sich die Hände, nachdem er auch mit dem letzten Keks fertig und die Teigschüssel leer war. „Das könnte noch zum Problem werden.“

 

„Abwarten, vielleicht kommen die Erinnerungen auch nach und nach wieder.“

 

„Du hast recht.“ Er nahm seinen Kaffee in beide Hände, lehnte sich gegen die Arbeitsplatte, bevor er es sich anders überlegte und sich Satochi gegenüber an den Tisch setzte. Dort wartete sein Keks noch immer wie eine süße Versuchung auf ihn und wer wäre er denn, würde er ihn noch länger hinhalten? Genüsslich biss er hinein und wurde nicht enttäuscht, als das schokoladige Aroma regelrecht in seinem Mund explodierte. Das Gebäck war weder zu süß, noch zu bitter und hatte genau die richtige Konsistenz. Außen knusprig und innen herrlich weich, exakt so, wie er es mochte.

„Wow, der schmeckt richtig gut“, lobte er und verputzte den Keks in Rekordgeschwindigkeit. „Ist der Marke Eigenbau oder hattest du ein Rezept.“

 

„Meine Ma hat mir vor einigen Tagen schon das Rezept geschickt. Als Tatsuro und ich noch klein waren, durften wir uns für unsere Geburtstagsfeiern aussuchen, ob es Kuchen oder Kekse geben soll. Dreimal darfst du raten, was sich Tatsue immer gewünscht hat.“

 

„Verstehe.“ Miya sammelte mit dem Zeigefinger die wenigen Krümel auf, die im Teller gelandet waren, und schob sie sich in den Mund. Man durfte schließlich nichts verkommen lassen. „Und? Hattest du auch immer einen ganz bestimmten Wunsch?“

 

„Nein, ich war deutlich flexibler als Tatsue.“ Satochi lachte. „Mir war es relativ egal, ob es Kuchen oder Kekse gab, Hauptsache es waren Erdbeeren mit im Spiel.“

 

„Gut zu wissen.“ Miya leckte sich über die Unterlippe und jagte den letzten Schokoladenspuren nach. „Ich muss ehrlich zugeben, dass ich einerseits zwar neidisch bin, dass die Kekse nicht für mich sind, es andererseits aber auch ganz gut so ist.“

 

„Sag nicht, du hast Angst um deine Figur.“

 

„Möglich?“ Miya freute sich über das Augenrollen, das er Sato mit seiner Aussage entlocken konnte, und zwinkerte ihm zu. „Nein, das ist nicht wirklich der Grund.“

 

„Und warum dann?“

 

„Weil die so verdammt gut schmecken, dass ich nicht zu essen aufhören könnte, bis mein Magen mir das so was von übel nehmen würde.“

 

„Das sehe ich jetzt mal als Kompliment an.“

 

„So war es auch gedacht.“ Er lachte, wurde aber schnell wieder ernst, als sich sein Blick mit dem Satochis kreuzte. „Du überrascht mich wirklich immer wieder“, gab er zu und schob seine Hand über den Tisch, bis er die Finger mit denen seines Freundes verschränken konnte.

 

„Wieso das denn? Weil ich backen kann?“ Satos Daumen begann, über seinen Handrücken zu kosen.

 

„Ja und nein“, meinte Miya kryptisch und lächelte, als sich auf der Stirn seines Gegenübers eine steile Falte bildete.

 

„Das muss ich jetzt nicht verstehen, oder?“

 

„Nein“, er lachte, „das musst du wirklich nicht. Wenn ich irgendwann einmal die passenden Worte finde, um dir zu sagen, wie es gerade in mir aussieht, bist du der Erste, der sie zu hören bekommt, versprochen.“

 

„Und bis dahin muss ich mit meiner Neugierde leben, oder was? Das ist nicht nett, Miya.“

 

Den nicht ganz ernst gemeinten Tadel ließ er großmütig über sich ergehen und erhob sich, als der Ofen erneut piepte. Bevor er jedoch die Kekse aus ihrem heißen Gefängnis befreite, stellte er sich noch einmal direkt vor Satochi, drückte sein Kinn mit dem Zeigefinger nach oben und hauchte einen sanften Kuss auf die lächelnden Lippen.

 

„Bis dahin wirst du dich wohl mit dem Wissen zufriedengeben müssen, dass du mich sehr, sehr glücklich machst.“

Einen langen Moment passierte nichts, während sie sich einfach nur ansahen, bis ein so herzliches Lächeln Satochis Gesicht zum Strahlen brachte, dass er um Jahre jünger wirkte.

‚Wie der Lausebengel, der er als Junge wohl gewesen sein musste‘, dachte Miya.

 

„In Ordnung“, riss Sato ihn aus seinen Überlegungen, „ich glaube, damit kann ich leben.“

 

Nun war Miya es, der sich in einem wundervollen Kuss wiederfand. Die Zeit schien für eine kleine Ewigkeit stehen zu bleiben, während er die Nähe zu Satochi regelrecht in sich aufsaugte. Doch der plötzlich sehr aromatische – um es nicht verbrannt zu nennen – Duft der Kekse, machte mehr als deutlich, dass die Zeit im selben Tempo wie sonst auch weitergelaufen war.

 

„Shit“, entfloh es ihm und er hechtete schon fast zum Ofen hinüber, um das Gebäck zu retten. Sein Freund hingegen lachte nur herzhaft und gab sich damit zufrieden, ihm Anweisungen zu geben. Anweisungen, die zwar unnötig waren, aber die sie beide zum Lachen brachten.

 

„Kommst du nachher mit ins Krankenhaus?“, fragte Satochi eine Weile später, nachdem sie es sich im Wohnzimmer auf dem Sofa gemütlich gemacht hatten. Er war mit einem Mal unerwartet ernst geworden und Miya richtete seine Aufmerksamkeit weg von den Nachrichten, die soeben über den Bildschirm des Fernsehers flimmerten, hin zu seinem Freund, um ihm ins Gesicht sehen zu können.

 

„Natürlich komm ich mit, wenn du das möchtest.“

 

„Danke.“

 

„Nicht dafür“, murmelte er, zog Satochi in seine Arme, als er sich gegen ihn lehnte, und küsste den wirren Schopf.

 

„Ich bin froh, dass du für mich da bist.“ Er erschauerte wohlig, als Satochi das Gesicht an seiner Halsbeuge vergrub und er seinen warmen Atem fühlen konnte, der über seine Haut wisperte.

 

„Immer.“

Klappe, die Sechzehnte

Sein Körper fühlte sich eigenartig schwer an, als er die Augen öffnete, die selbst im vorherrschenden Dämmerlicht zu brennen begannen. Allein diese kleine Regung kostete ihm unglaublich viel Kraft und die Mühe, die es ihm bereitete, die Lider geöffnet zu lassen, war so groß, dass er am liebsten aufgegeben hätte. Aber nach einer Weile wurde es besser und er begann, seine Umgebung wahrzunehmen. Das Erste, das ihm auffiel, war sein Auge oder vielmehr die Tatsache, dass er nur links etwas sehen konnte. Als er die Nase kräuselte und leicht die Lippen verzog, spürte er einen seltsamen Zug auf der rechten Seite. Wieder brauchte sein Hirn ewig, bis es diese neuerliche Empfindung einem Gefühl zuordnen konnte, das er in der Vergangenheit schon einmal gespürt hatte. Ein Pflaster oder ein Verband; irgendetwas, womit sein rechtes Auge abgedeckt worden war. Nun gut, dann wäre also wenigstens dieses Rätsel schon gelöst, auch wenn er den Grund dafür noch nicht kannte. Aber eins nach dem anderen.

 

Die Decke über ihm war weiß, wie auch die Wände und so gut wie jeder Gegenstand in seiner näheren Umgebung, den er, ohne den Kopf zu bewegen, erkennen konnte. Ein dreieckiger Haltegriff mit grauem Gummi überzogen war an einer Metallstange über seinem Bett angebracht und hätte ihn das sterile Weiß nicht schon auf einen guten Weg gebracht, seinen Aufenthaltsort zu identifizieren, spätestens diese Konstruktion war eindeutig. Er lag also in einem Krankenbett, vermutlich in einer Klinik, und diese Erkenntnis deckte sich mit der Trägheit seines Geists und der Schwäche seines Körpers. Tatsuro machte ein weiteres Häkchen auf seiner mentalen Checkliste, während ihm gleichzeitig in den Sinn kam, dass es seltsam war, wie ruhig er sich fühlte.

Sollte es ihn nicht erschrecken, dass er im Krankenhaus lag?

Sollte es ihn nicht brennend interessieren, was mit ihm geschehen war?

Nein, so schnell diese Fragen aufgekommen waren, so eilends verschwanden sie hinter einem dichten, schwarzen Vorhang des Vergessens, wo sie fürs Erste gut aufgehoben waren.

 

‚Nun denn, weiter im Text‘, dachte er. Schmerzen spürte er keine, was komisch war, bedachte man seine Lage. Nur Durst hatte er, so schrecklichen Durst. Langsam öffnete er den Mund, um sich über die Lippen zu lecken. Erstaunlich. Seine Kehle fühlte sich roh und ausgetrocknet an und er hatte damit gerechnet, dass auch seine Lippen spröde und trocken sein mussten, aber dem war nicht so. Ein schwacher Geschmack nach Kirsche breitete sich auf seiner Zunge aus und zwang eine Handvoll Erinnerungen, aus den Tiefen seines Unterbewusstseins an die Oberfläche zu steigen.

 

Wellenrauschen.

Der Wind, der die weiße Plane über seinem Kopf leicht flattern ließ.

Ein nicht unangenehmer Zug an seinen Haaren, während eine Bürste durch sie glitt.

Seine Finger, die die Tube seines Lieblingslippenbalsams öffneten.

Sein Spiegelbild und das lächelnde Gesicht einer jungen Frau über seiner rechten Schulter schwebend.

 

Tatsuros Augen schlossen sich länger als ein Blinzeln, bevor er erneut an die Zimmerdecke starrte. Seine Erinnerungen schwappten wie zäher Honig in seinem Kopf umher und schienen davonzutreiben, immer wenn er eine von ihnen greifen wollte.

 

Die Frau …

Yumiko …

Seine Stylistin.

Ob sie hier gewesen war und den Balsam vorbeigebracht hatte? Der Gedanke war sowohl tröstlich als auch furchteinflößend. Allein die Vorstellung, dass er schutzlos in diesem Bett gelegen hatte, schlafend – bewusstlos? – und die Tatsache, dass er sich an ihre Anwesenheit nicht erinnern konnte, schickte ein ängstliches Flattern durch seinen Magen.

 

‚Du kannst dich an vieles nicht erinnern‘, wisperte eine kleine Stimme in seinem Kopf, aber statt ihr Gehör zu schenken, leckte er sich nur noch einmal über die Lippen und dankte dem Schleier des Vergessens, der die Furcht mit sich nahm.

 

Eine Weile starrte er vor sich hin, versuchte, vorerst alle weiteren Gedanken zu vertreiben. Er konzentrierte sich auf seinen Atem – ein, aus, ein, aus – bis ein neues Geräusch seinen beinahe meditativen Zustand durchbrach. Zunächst konnte er das rhythmische Klopfen nicht zuordnen, bis ihm mit einem Mal eine Melodie in den Sinn kam. Er begann zu summen, seine Stimme kratzig, rau und unsicher. Regen, es war Regen, der gegen ein Fenster trommelte.

 

Regen …

Die Melodie …

Ame no orchestra.

Der Film, den sie die letzten Monate über gedreht hatten. Ein Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln, als plötzlich Szenen des Drehs und die Gesichter seiner Kollegen wie in einem Daumenkino vor seinem geistigen Auge vorbeizogen.

 

Eine Glückskatze, ihr Fell ganz nass vom Regen.

Sein Bruder hinter der Kamera.

Eine Frau mit braunen Locken, Ami, mit einer Gitarre auf dem Schoß.

Sein Manager, Gara, der Yumiko im Arm hielt und über irgendwas lachte, das seine Freundin gerade gesagt hatte.

Der kleine, viel zu ernste Regisseur, der ihm lobend auf die Schulter klopfte.

 

Tatsuro zog die linke Braue nach unten, als er nachdachte.

Wie war der Name des Regisseurs noch gleich? Irgendetwas mit M … Mi… Miya, das war es.

Das Prasseln des Regens wurde lauter und Tatsuro drehte den Kopf etwas zur Seite, bis das Fenster in sein Gesichtsfeld rückte. Für einen langen Moment lenkten ihn die Tropfen und Wasserspuren darauf ab, folgte er ihnen mit Blicken, bis eine weitere Erinnerung nach seiner Aufmerksamkeit verlangte.

 

Ein roter Regenschirm, ein lächelndes Gesicht darunter, warme Augen, die ihm einen Stich ins Herz jagten. War es Furcht oder Sehnsucht, was er gerade empfand? Und wessen Gesicht war das gewesen? Tatsuro versuchte, die Erinnerung noch einmal zu sehen, aber sie flatterte wie ein Vogel davon und hinterließ nichts als knochentiefe Müdigkeit. Er schloss sein Auge, sank tiefer ins Kissen zurück, doch lauschte weiterhin dem Regen, der ihn wie ein Wiegenlied in den Schlaf zu singen begann.

 

Später hätte er nicht sagen können, wie lange er zwischen Schlaf und Wachsein getrieben war. Der Regen war lauter geworden, dann zu einem bloßen Wispern und schließlich gänzlich verstummt. Er wünschte sich, er hätte im Freien sein, die Wassertropfen auf seiner Haut spüren können oder wenigstens das Fenster öffnen, um die frische Luft hereinzulassen. Wenn er sich anstrengte, konnte er das würzige Aroma beinahe riechen, das die Stadt nach jedem Regenschauer einhüllte. Er erinnerte sich an seine Kindheit auf dem Land zurück, wie anders es dort geduftet hatte, wenn der Regen auf die Felder und Wälder herniederging. Kein Geruch von abkühlendem Asphalt, dafür der belebende Duft nach nassem Laub und Holz. Ein feines Lächeln legte sich auf seine Lippen, als er spürte, wie die langen Finger eines Traums nach seinem Bewusstsein greifen, ihn mit weiteren Bildern aus seiner Kindheit locken wollten. Doch bevor sie ihn erreichen konnten, holten ihn das leise Klicken einer Tür und gedämpfte Schritte, die sich seinem Bett näherten, zurück in die Realität. Er hörte, wie ein Stuhl nähergezogen wurde, das Rascheln von Kleidung, als ein Körper sich setzte. Erschreckend reale Finger legten sich plötzlich auf seinen Handrücken, begannen, ihn zu streicheln – ein so schönes, echtes Gefühl, von dem er bis zu diesem Augenblick nicht gewusst hatte, dass er es vermisste.

 

„Hey, Schlafmütze“, erklang eine leise, müde wirkende Stimme und für einen Moment verstand Tatsuro nicht, dass er es war, der soeben angesprochen wurde.

„Ich war gerade im Café einige Straßen von hier. Das mit den vielen Grünpflanzen im Inneren des Gastraums, von dem ich dir schon einmal erzählt habe. Erinnerst du dich? Das, wo man sich wie im Dschungel fühlt.“ Der Mann – Tatsuro war sich sicher, dass ein Mann mit ihm sprach – lachte, ein fast erstickter Laut, der sein Herz schmerzen ließ.

„Ich musste mir ein wenig die Beine vertreten und mal ganz unter uns, diese Plürre, die sie hier als Kaffee verkaufen, kann man auf Dauer wirklich nicht trinken. Ich hätte dir auch etwas mitgebracht, aber du hast ja nicht geantwortet, als ich dich gefragt habe. Wie immer.“

Für eine ganze Weile trat Stille ein, in der Tatsuros Ohren nach kurzer Zeit schon zu dröhnen begannen, so angestrengt versuchte er, irgendetwas zu hören.

„Tut mir leid.“ Beinahe wäre er zusammengezuckt, als die Stimme wieder erklang und obwohl er äußerlich keine Regung zeigte, schlug sein Herz wie wild gegen seinen Brustkorb.

„Ich sollte dir keine Vorwürfe machen, es ist nur so …“ Ein seufzen folgte, dann etwas Weiches auf seinem Handrücken, das er als Lippen erkannte, die einen Kuss auf seine Haut drückten. Wärme durchflutete ihn und ein Kribbeln jagte durch seinen Körper, das er bislang nur mit eingeschlafenen Gliedmaßen in Verbindung gebracht hatte.

„Wach auf, bitte, wach endlich auf.“

 

‚Ich bin wach‘, wollte er sagen, wollte irgendetwas tun, um die Trauer zu vertreiben, die er aus der Stimme des Mannes heraushören konnte. Ein Gefühl der Vertrautheit wusch über ihn hinweg, die unumstößliche Gewissheit, den anderen zu kennen. Der rote Regenschirm kam ihm erneut in den Sinn, die warmen Augen …

‚Yukke.‘ Seine Lippen formten einen Namen, aber kein Laut kam über sie. Warum nur war es so anstrengend, sein Auge zu öffnen? Verdammt, er hatte das doch schon einmal hinbekommen. Seine Finger zuckten vor Anstrengung und diese kleine Bewegung musste den Mann auf ihn aufmerksam gemacht haben. Plötzlich spürte er eine zaghafte Berührung an der linken Wange, hatte das Gefühl, als stünde der andere nun direkt über ihm. Für einen Herzschlag zuckte so etwas wie Panik durch ihn, aber noch bevor er sich dieser Empfindung überhaupt wirklich bewusst werden konnte, verschwand auch sie hinter dem Vorhang aus undurchdringlichem Schwarz.

 

„Tatsue?“ Sein Name, so leise gewispert, dass er ihn selbst in der Stille des Krankenzimmers kaum verstanden hatte. Ein Finger streichelte über seinen Unterkiefer und selbst in dieser hauchzarten Berührung konnte er das Zittern spüren, das auch in der leisen Stimme mitschwang.

„Bitte sag mir, dass ich mir das nicht eingebildet habe.“

 

Sagen konnte Tatsuro nichts, das war definitiv zu viel verlangt, aber sein Auge tat endlich das, was er wollte und öffnete sich. Seine Sicht war verschwommen, wie eben auch schon, begann sich jedoch langsam zu klären und den Blick auf ein mageres, besorgtes Gesicht preiszugeben.

 

„Du bist wach.“

 

Er sah Tränen in den schönen Augen schimmern und konnte nicht anders, als schwach zu lächeln. Viel lieber hätte er nun die Hand gehoben, um die Nässe fortzuwischen, die haltlos über eingefallene Wangen rann, stattdessen blinzelte er nur träge, als ein salziger Tropfen wie Regen auf sein Gesicht fiel.

 

„Ich bin gleich wieder da, in Ordnung?“, wisperte der Mann – Yukke, mittlerweile war er sich sicher, dass es Yukke war – mit gebrochener Stimme und hauchte ihm einen kurzen Kuss auf die Stirn. „Schlaf bitte nicht wieder ein, okay? Ich hol Doktor Yoshida.“

 

Nur zu gerne hätte er gesagt, dass er keinen Arzt brauchte, dass Yukke einfach nur bei ihm bleiben sollte, damit er weiterhin die Nähe zu ihm in sich aufsaugen konnte. Doch die Finger verschwanden, ebenso wie sein Gesicht, bis Tatsuro erneut von Stille und Weiß umgeben war. Er hörte ein leises Wimmern und als ihm bewusst wurde, dass er es war, der diesen Laut von sich gab, wurde ihm eiskalt. Die eigenartige Ruhe und Gelassenheit, die bislang seine Gedanken dominiert hatte, bekam erste Risse und das, was dahinter auf ihn lauerte, machte ihm schreckliche Angst.

 

Die Tür öffnete sich erneut, schnelle Schritte kamen auf ihn zu und wieder war Yukkes Gesicht das Erste, was er sah. Hinter ihm tauchten weitere Personen auf, vermutlich der Arzt, von dem der andere gesprochen hatte, und zwei Pfleger. Plötzlich schien grelles Licht in sein Auge, etwas Glattes legte sich um seinen Oberarm und wurde zischend immer enger, bis sich etwas Kühles gegen seine Ellenbeuge presste.

 

„Hundertfünf zu sechzig“, merkte einer der Neuankömmlinge an, dann fühlte er eine weitere Berührung, diesmal an seiner Stirn. „Siebenunddreißig-Vier.“

 

Die Fremden verunsicherten ihn – zu viele Bewegungen, zu viele Stimmen, zu viel Lärm. Seine innere Barriere, der schwarze Vorhang des Vergessens, öffnete sich weiter und der gähnende Abgrund ungewollter Erinnerungen schien ihn wie ein schwarzes Loch verschlingen zu wollen.

 

„Herr Iwakami, hören Sie mich?“ Eine melodische Stimme holte ihn ins Hier und Jetzt zurück und er blinzelte träge. Es war wieder ruhiger im Zimmer geworden. Er hörte das Kratzen eines Kugelschreibers, als einer der Pfleger etwas auf einem Klemmbrett notierte, sah Yukke an seiner Seite stehen, die Finger ineinander verknotend, als würde er ihn erneut berühren wollen.

 

‚Bitte‘, dachte Tatsuro, wünschte sich in diesem Moment nichts Sehnlicheres, als Yukkes vertraute Berührungen, die ihm Halt geben würden. Stattdessen hörte er erneut diese fremde Stimme und versuchte, seinen Blick auf den Mann zu richten, der ihn angesprochen hatte – der Arzt, wie er eben schon vermutet hatte.

 

„Verstehen Sie mich?“

 

Tatsuro nickte langsam – Himmel, warum war selbst diese kleine Bewegung nur so unendlich anstrengend?

 

„Sehr gut. Es ist normal, dass Sie sich müde und schwach fühlen. Sie haben sehr lange geschlafen, Herr Iwakami.“

 

Sehr lange? Was meinte er damit? Tatsuros linke Augenbraue senkte sich ein Stück, als er überlegte.

 

„Sie sind am 21. Juli eingeliefert worden – heute ist der 05. September.“

 

Sein erster Gedanke war: ‚Ich hab Satochis Geburtstag verschlafen‘ und diese Erkenntnis war in diesem Augenblick so unwichtig, dass er gelacht hätte, wäre sein ausgelaugter Körper dazu imstande gewesen. Sechs Wochen. Er war seit über sechs Wochen hier? Das konnte nicht wahr sein. Das war doch nur ein schlechter Scherz, oder?

Tatsuros Atem beschleunigte sich, während sein Blick unverwandt auf dem Gesicht des Arztes ruhte. Kühle Finger legten sich um sein Handgelenk, fühlten den Puls, während Doktor Yoshida ruhig auf ihn einzureden begann. Durch das Rauschen in seinen Ohren verstand er nicht, was gesagt wurde, aber allein die Melodie seiner Stimme hielt die Panik zurück, die mit langen Klauen an den Innenwänden seines Schädels kratzte. Er versuchte, sich zu beruhigen, konzentrierte sich mehr und mehr auf sein Gegenüber. Die durchdringenden, intelligenten Augen des Arztes betrachteten ihn kritisch. Es lag eine Intensität in ihnen, die Tatsuro geängstigt hätte, würden runde Wangen und die Lachfältchen um Mund und Augen das Gesicht vor ihm nicht beinahe jungenhaft wirken lassen. Er bemerkte, dass sein Atem sich wieder gemäßigt hatte, er im gleichen Rhythmus wie der Arzt die Luft in seine Lungen sog. Ein kleiner Teil in ihm, den er einmal als seinen Stolz bezeichnet hatte, protestierte, so manipuliert worden zu sein. Der Rest war jedoch erleichtert, dass sich die Panik fürs Erste zurückgezogen hatte. Er ahnte, wusste, dass sie wiederkommen würde, dass er sich ihr irgendwann würde stellen müssen, aber nicht jetzt.

 

„In Ordnung?“ Doktor Yoshida lächelte ihn an, als hätten sie in den letzten Augenblicken eine sehr erhellende Unterredung geführt. Er nickte, ein schwaches, abgehaktes Zucken, und drehte den Kopf, um Yukke zu fixieren. Er versuchte, die Hand zu heben, sie nach dem anderen auszustrecken, aber viel mehr als ein jämmerlich schwaches Wackeln seiner Finger bekam er nicht hin. Doktor Yoshida entließ sein Handgelenk, richtete sich aus seiner vorgebeugten Haltung auf und tauschte einen Blick und ein Nicken mit Yukke, die ihn dazu veranlassten, näherzukommen und endlich, endlich wieder die Finger um die seinen zu legen. Ein Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln und er ließ es zu, das plötzliche Gefühl der Erleichterung so überwältigend, dass er am liebsten sein Auge geschlossen und der Erschöpfung nachgegeben hätte, die nachdrücklich an ihm zerrte.

 

„Sie können sich gleich wieder ausruhen, Herr Iwakami“, sprach ihn der Arzt erneut an, als hätte er seine Gedanken gelesen. „Ich muss ihnen nur noch einige, wenige Fragen stellen. Versuchen sie zu nicken oder den Kopf zu schütteln, in Ordnung?“

 

Er nickte.

 

„Gut. Ihr Name ist Iwakami, Tatsuro?“

 

Wieder ein Nicken.

 

„Sie sind am 21. August 1979 in Mito geboren?“

 

Nicken.

 

„Sie sind von Beruf Sänger?“

 

Tatsuros Stirn legte sich in Falten, bevor er zaghaft den Kopf schüttelte. Ein Lächeln legte sich auf Doktor Yoshidas Lippen und er glaubte, ein fast hinterlistiges Funkeln in seinen Augen erkennen zu können.

 

„Bitte entschuldigen Sie, mein Fehler. Ich meinte natürlich Schauspieler.“

 

Tatsuro schnaubte, bewegte seinen Kopf jedoch in einer zustimmenden Geste.

 

„Wissen sie, was geschehen ist?“

 

Diesmal dauerte es länger, bis Tatsuro sich zu einer Antwort hinreißen lassen konnte. Er wusste, was geschehen war. Die Antworten waren da, hinter dem Vorhang aus Schwarz, er würde nur nachsehen müssen. Aber wollte er das? Wollte er sich dem stellen, was dort auf ihn lauerte? Er schüttelte den Kopf, ein schwaches Drehen von der einen auf die andere Seite.

 

„Das ist nicht schlimm. Machen Sie sich keine Sorgen, Herr Iwakami. Es ist nicht ungewöhnlich, dass sich Patienten so kurz nach dem sie das Bewusstsein wiedererlangt haben nicht sofort an alles erinnern können. Ihr Langzeitgedächtnis funktioniert einwandfrei und den Rest bekommen wir auch noch hin.“ Der Arzt schenkte ihm ein aufmunterndes Lächeln, das Tatsuro unter anderen Umständen als eine nette Geste empfunden hätte, welches ihm nun jedoch nur ein mulmiges Gefühl bescherte. Er wollte sich nicht erinnern, verdammt. Da gab es nichts wieder hinzukriegen.

 

„Yukke?“

 

„Mh?“

 

Tatsuros Aufmerksamkeit glitt weg von Doktor Yoshida hin zu Yukke, den soeben einer der Pfleger angesprochen hatte.

 

„Wenn er nachher Durst hat, gib ihm ein paar von den Eis-Chips hier, okay? Ich bring später eine Suppe, aber vorerst soll er langsam machen.“

 

„Eis-Chips?“ Yukke nahm den weißen Plastikbecher entgegen, den ihm der Pfleger hingehalten hatte.

 

„Ja. Er darf noch nicht viel auf einmal trinken und das Risiko, sich zu verschlucken, ist damit geringer.“ Die Männer lächelten sich an und die Hand des schwarzhaarigen Pflegers drückte für einen Moment Yukkes Schulter, bevor er sich wieder zurückzog.

 

 Tatsuro gefiel die Vertrautheit nicht, die zwischen den beiden herrschte, und gleichzeitig fühlte er sich schäbig, so zu denken. Was wusste er denn schon? Er hatte sechs Wochen lang nichts Besseres zu tun gehabt, als zu schlafen, während Yukke … ja, was genau? Hatte er ihn ab und an besucht? Einmal die Woche? Täglich? War er nicht von seiner Seite gewichen? Tatsuro blinzelte und es fiel ihm unendlich schwer, sein Augenlid erneut zu öffnen. Es war unwichtig, wie oft Yukke ihn besucht hatte oder wie leger er mit diesem Pfleger umging. Er sah die Erschöpfung im Blick des anderen, die Müdigkeit in jeder Bewegung … und es war ganz offensichtlich seine Schuld.

 

Sich räuspernd richtete Doktor Yoshida das Wort erneut an ihn: „Ich werde heute noch die Polizei darüber informieren müssen, dass Sie aufgewacht sind, Herr Iwakami. Ich denke, die Beamten werden frühestens am Montag vorbeikommen, um Sie zu befragen. Ich tue mein Bestes, dass sie Sie heute und am Wochenende noch in Ruhe lassen.“ Das verschwörerische Augenzwinkern, welches auf diese Aussage hin folgte, irritierte Tatsuro nur für einen kurzen Moment, bevor sich auf seine Lippen ein schwaches Lächeln legte.

Er mochte den Arzt schon jetzt, auch wenn die Aussicht darauf, irgendwann mit jemandem darüber reden zu müssen, was geschehen war, seinen Magen in Aufruhr versetzte.

„Nun gut, ruhen Sie sich etwas aus, ich sehe in ein paar Stunden noch einmal nach Ihnen.“ Doktor Yoshida nickte ihm lächelnd zu, bevor er mit seinen Helfern aus dem Zimmer verschwand.

 

„Willst du was trinken?“ Yukkes leise Stimme riss ihn aus seinen Überlegungen und als er den Kopf sacht zur Seite drehte, badete er regelrecht in der Fürsorglichkeit, die der andere mit jeder Faser seines Körpers auszustrahlen schien. Eine Hand legte sich an seine Wange und er schmiegte sich so gut es ging gegen sie, während etwas herrlich Kühles und Nasses gegen seine Lippen drückte. Er öffnete den Mund gerade so weit, dass das Eis auf seine Zunge gleiten konnte und spätestens, als das schmelzende Wasser seine wunde Kehle beruhigte, schloss er beinahe überwältigt sein Auge. Hätte er sich entscheiden müssen, was sich besser anfühlte, die Nähe zu Yukke oder das Eis auf seiner Zunge, er hätte es nicht sagen können.

„Noch eines?“, fragte Yukke und er brummte zustimmend, ein feines Lächeln auf den Lippen. Die Finger des anderen hatten begonnen, über sein Haar zu streicheln und irgendetwas an dieser Berührung fühlte sich eigenartig an. Doch er konnte nicht sagen, was genau ihn störte und eigentlich war das auch gar nicht so wichtig. Er schluckte und sogleich reagierte Yukke, legte ihm ein neues Eisstückchen auf die Lippen. Gott, wie gut das tat. Wie viel Eis am Ende in seinem Mund geschmolzen war, hätte er nicht sagen können, aber sogar so eine selbstverständliche Tätigkeit wie schlucken schien ihm auch noch die restlichen Kräfte zu rauben. Er seufzte leise und schüttelte kaum erkennbar den Kopf, als seine Lippen erneut kalt wurden. Er war zu müde, um weiterzumachen, obwohl sein Körper noch lange nicht genug zu haben schien.

 

„Ist okay“, murmelte Yukke und er hörte das leise Geräusch, mit dem der Becher beiseitegestellt wurde. „Ich kann dir später noch mehr holen, wenn du magst. Schlaf ein bisschen.“ Er spürte Yukkes Lippen auf seiner Stirn, dann für einen Herzschlag lang nur seinen Atem auf den Lippen, bevor er ihm mit kaum spürbarem Druck einen Kuss schenkte. Am liebsten hätte er seinen Arm gehoben, den anderen nähergezogen und sich an ihn gekuschelt. Aber noch bevor er überhaupt Anstalten machen konnte, sich irgendwie zu bewegen, glitt er in die Dunkelheit der Erschöpfung ab. Er fragte sich noch, wie es sein konnte, dass er so unendlich müde war, wenn er doch so lange geschlafen hatte, aber eine Antwort darauf fand er nicht mehr.

 

~*~

 

Der Nachmittag war ein unscharfes Wirrwarr aus Eindrücken, die Tatsuro nur am Rande seines Bewusstseins miterlebte.

Da war die vertraute Stimme seines Bruders, kräftige Arme, die ihn ungeschickt umarmten.

Der Duft nach Schokoladenkeksen, die ihm das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen, obwohl er zu schwach war, um auch nur einen von ihnen zu probieren.

Miyas ruhige Stimme, die ihm von Ame erzählte, davon, dass der Film mittlerweile fertig geschnitten war und am ersten November Premiere in den Kinos feiern würde.

Yukkes Abwesenheit und das nagende Gefühl, ihn zu vermissen.

 

Tatsuro war erleichtert, Satochi wohlauf zu sehen, freute sich darüber, dass sein Bruder ihn besuchte, aber gleichzeitig war ihm unangenehm bewusst, wie wenige seiner Gefühlsregungen er zeigen konnte. Ein zögerliches Lächeln hier, ein schwaches Drücken einer Hand dort. Er fühlte sich wie eine Marionette, deren Fäden ausgeleiert waren, die Bewegungen abgehakt oder unmöglich.

Von daher war er nun nicht einmal enttäuscht, als die beiden Pfleger von heute Morgen ins Zimmer kamen.

 

„Guten Abend“, wurden sein Besuch und er höflich begrüßt, bevor der eigentliche Grund der Störung preisgegeben wurde. „Ich muss die Herren leider bitten, jetzt zu gehen. Herr Iwakami muss sich ausruhen.“

 

Satochi seufzte, erhob sich aber ohne Proteste und lehnte sich über ihn, um ihn erneut in eine ungelenke Umarmung zu ziehen.

 

„Ich komm morgen mit unseren Eltern wieder. Brav bleiben und ärger die Pfleger nicht zu sehr.“ Er zwinkerte ihm zu und Tatsuro zog so gut es ging eine Grimasse, welche seinen Bruder zum Lachen brachte. „Genau so meine ich das.“

 

Kaum hatte sich auch Miya von ihm verabschiedet und war die Tür wieder ins Schloss gefallen, sah er sich im Fokus der beiden Krankenhausangestellten wieder. Schicksalsergeben beantwortete er die Fragen nach seinem Wohlbefinden durch nicken oder Kopfschütteln, während sie ihn wuschen und sich um weitere, nicht ganz so angenehme Aspekte seines Körpers kümmerten. Zum ersten Mal, seit er aufgewacht war, war er froh darüber, dass sich sein Geist noch immer wie in Watte gepackt anfühlte und sich sein Schamgefühl somit auf ein Minimum beschränkte.

 

„Sie können jederzeit klingeln“, sprach ihn einer der Pfleger an – der, mit dem Yukke Freundschaft geschlossen zu haben schien. Tatsuro musterte sein Gegenüber genauer; beinahe feminine Gesichtszüge, volle Lippen, mandelförmige Augen und die Haare, die er am Morgen noch für Schwarz gehalten hatte, fielen in dunkelbraunen Wellen bis auf seine breiten Schultern. Michiya stand auf dem Namenschild, das er an das Oberteil seiner hellblau-weißen Krankenhausuniform gepinnt trug und auf dem Kugelschreiber, der in seiner Brusttasche klemmte, stand Tokyo Heart Centre geschrieben. Tatsuro zog die linke Braue nach unten, als er überlegte, warum er ausgerechnet in eine Spezialklinik für Herzerkrankungen gebracht worden war. Aber nachzufragen kostete zu viel Energie, genau wie nachdenken, also verwarf er seine Neugierde sogleich wieder.

 

„Bitte versuchen Sie nicht, ohne Hilfe aufzustehen, in Ordnung? Auch nicht, wenn Sie auf die Toilette müssen. Die Station ist rund um die Uhr besetzt, Sie müssen sich nur bemerkbar machen.“

 

Er nickte, auch wenn ihm diese Abhängigkeit von Fremden unglaublich unangenehm war, und atmete erleichtert durch, als er wieder alleingelassen wurde. Lange Minuten blickte er vor sich hin, ohne wirklich etwas zu sehen, und ließ seine Gedanken ziehen. Irgendwann begann er, mit den Füßen zu wackeln, die Hände folgten und erst jetzt spürte er, dass seine Gliedmaßen zu kribbeln begonnen hatten. Der andere Pfleger, der, den er nicht so genau gemustert hatte, hatte seinen Rücken, die Beine und Arme mit einer nach Menthol duftenden Lotion eingerieben, die nicht nur einen angenehm kühlenden, sondern auch belebenden Effekt zu haben schien. Das Rückenteil seines Bettes war etwas nach oben gestellt und er tastete nach der Fernbedienung. Satochi hatte ihm die Funktionsweise des Kästchens eben noch voller Eifer erklärt, sodass er nun wusste, auf welchen Knopf er drücken musste, um noch etwas gerader im Bett sitzen zu können. Allein dieser geringe Positionswechsel ließ ihn schwindeln und für einen langen Moment hielt er die Augen geschlossen. Erst, als sich sein Kreislauf wieder beruhigt hatte und sein Atem gleichmäßig und ruhig ging, öffnete er sie wieder. Die Pfleger hatten das Licht in seinem Zimmer nicht eingeschaltet, bevor sie gegangen waren, und nun warf die untergehende Sonne lange Schatten durch den Raum, immer wenn sie sich durch die dicken Regenwolken mogeln konnte, die den Himmel den ganzen Tag über nicht verlassen hatten. Wie spät es wohl sein mochte? Auf dem Nachttisch neben seinem Bett stand ein Tablett mit mehreren, abgedeckten Schüsseln – sein Abendessen, wenn er sich nicht täuschte. Er war nicht hungrig und hatte den Nachmittag über immer wieder ein wenig getrunken, sodass sich auch sein Durst in Grenzen hielt.

Sein Blick war sehnsüchtig auf die Welt vor seinem kleinen Fenster gerichtet, als es leise klopfte, bevor sich ein nur allzu vertrauter, brünetter Schopf durch den Türspalt schob.

 

„Hey, du bist ja wach.“ Yukke lächelte ihn an und sah tatsächlich ausgeruhter als heute Morgen aus. Ob er nach Hause gefahren war, um eine Mütze Schlaf abzubekommen? Gegönnt hätte er es ihm.

 

„Hey“, versuchte er zu sagen, aber seine Stimme wollte ihm noch immer nicht gehorchen. Noch einer der Nebeneffekte seines ungewollten Dornröschenschlafs, wie Doktor Yoshida es so schön ausgedrückt hatte. Da es also mit einer verbalen Begrüßung nicht klappen wollte, streckte er lächelnd eine zitternde Hand nach seinem Gast aus. Yukke durchquerte den kleinen Raum mit nur drei großen Schritten und umschloss sie mit kalten Fingern. Tatsuro erschauderte, was ein entschuldigendes Lächeln auf die vollen Lippen zauberte.

 

„Sorry, draußen geht ein ekelhaft kalter Wind und ich hab vergessen, mir eine Jacke überzuziehen.“

 

Tatsuro schüttelte lächelnd den Kopf und klopfte auffordernd auf seine Matratze, doch statt sich neben ihn zu setzen, zog Yukke einen der Besucherstühle näher und machte es sich darauf bequem. Die missmutige Schnute, die er daraufhin zog, erheiterte sein Gegenüber hörbar.

 

„Die Pfleger sehen es gar nicht gern, wenn der Besuch auf dem Krankenbett sitzt. Ich will lieber nicht riskieren, es mir mit ihnen zu verscherzen.“ Yukke richtete sich auf, lehnte sich zu ihm herüber und drückte ihm einen kurzen Kuss auf die Lippen.

 

Die Selbstverständlichkeit, mit der er das tat, und mit der Tatsuro diese Geste annahm, war eigenartig, bedachte man, was zwischen ihnen alles passiert und wie ungeklärt ihr gemeinsamer Status war. Als hätten sie den zaghaften Neubeginn, den sie am letzten Tag des Drehs geknüpft hatten, einfach übersprungen und wären zu einer Routine übergegangen, die unerwartet und ungewohnt, aber nicht unangenehm war. Gott, es gab so vieles, worüber er mit Yukke reden wollte, was er ihn fragen, ihm erklären wollte, aber solange seine Stimme nicht zurückgekehrt war, war das ein Ding der Unmöglichkeit.

 

„Ich glaub, dir geht es ein bisschen besser, was? Du wirkst wacher auf mich.“

 

Tatsuro nickte etwas geistesabwesend, während er überlegte, wie er die Fragen, die in seinem Kopf umhergeisterten, formulieren konnte, ohne sie verbal aussprechen zu müssen. Er fixierte Yukke, legte die Hand über sein eigenes Herz und machte dann eine kleine Bewegung mit dem Zeigefinger, die sein Krankenzimmer und das ganze Klinikum mit einschloss.

 

„Mh?“, brummte Yukke und zuckte entschuldigend mit den Schultern. „Tut mir leid, ich versteh nicht, was du von mir willst.“

 

Frustriert schnaubte er und schaute sich um, bis sein Blick auf das Klemmbrett auf seinem Nachttisch fiel, auf dem ein Papier mit dem Logo der Klinik lag. Er deutete darauf, wartete, bis der andere ihm den Zettel gegeben hatte, und betrachtete ihn nachdenklich. Mit den Werten, die darauf geschrieben standen, konnte er nichts anfangen, aber unter dem Logo stand Tokyo Heart Centre – die gleiche Aufschrift, wie auf dem Kugelschreiber des Pflegers. ER tippte auf den Namen, insbesondere auf das Wörtchen Heart und schaute Yukke erneut fragend ins Gesicht. Die Miene des anderen hatte sich verfinstert, wirkte gequält und beinahe schuldbewusst.

 

„Als wir dich fanden, hast du nicht mehr geatmet. Sato hat versucht, dich wiederzubeleben, aber als die Sanitäter eingetroffen sind …“ Er verstummte, schloss für einen Moment die Augen und atmete angestrengt durch. „Dein Herz hat nicht mehr geschlagen. So wie ich es mitbekommen habe, gab es die Möglichkeit, dich entweder in eine Spezialklinik für Kopfverletzungen zu bringen, oder eben hierher …“

 

So war das also. Tatsuro senkte den Blick auf seine Hand, die Yukke in den letzten Momenten ihrer einseitigen Unterredung immer fester gehalten hatte. Er legte seine andere über sie, begann über den leicht zitternden Handrücken zu streicheln, bis der Druck wieder etwas nachließ.

 

„Wären wir nur etwas später gekommen oder hätte Sato nicht so souverän reagiert …“

 

Yukke musste nicht weitersprechen, er verstand auch so. Plötzlich verschwand die Hand und kehrte mit Armen zurück, die sich vorsichtig, aber mit Nachdruck um ihn legten, ihn gegen einen warmen Körper zogen. Er ließ es geschehen, vergrub sein Gesicht an Yukkes Halsbeuge und schloss sein Auge. Es war anstrengend, diese Informationen zu verarbeiten und gleichzeitig alles andere, was sie auszulösen versuchten, beiseitezuschieben. Er wollte sich nicht erinnern, wollte das Wie oder Warum gar nicht wissen.

 Für eine kleine Ewigkeit verharrten sie so, bis es erneut Yukke war, der die Stille im Raum durchbrach.

 

„Weißt du …“, fing er an und strich ihm sacht über den Kopf. „Als du hier lagst und nicht aufwachen wolltest, hab ich dir versprochen, dich nicht allein zu lassen und für dich da zu sein. Mir fällt jetzt erst auf, dass das doch ziemlich anmaßend von mir war, wo ich doch gar nicht wirklich weiß, ob du das auch willst.“

 

Es fiel ihm nicht leicht, den Kopf anzuheben, aber es musste einfach sein und wenn auch nur, damit Yukke den indignierten Blick sehen konnte, mit dem er ihn nun bedachte. Nicht, dass er nicht vor wenigen Minuten ähnliche Gedanken gehabt hätte, aber als er sie nun ausgesprochen hörte, fand er sie schlichtweg absurd. Ja, Yukke und er hatten nicht den besten Start gehabt und ja, er war ein königliches Arschloch gewesen, als er ihm wochenlang aus dem Weg gegangen war, statt ihm einmal richtig zuzuhören. Aber verdammt, er wollte diesen Mann, wollte ihn, wie er noch nichts in seinem Leben haben wollte, und obwohl ihrem Kuss das Feuer fehlte, das in so einer Situation angemessen gewesen wäre, hoffte er, dass Yukke die Geste als das verstand, was sie ausdrücken sollte.

 

„Das heißt wohl …“, murmelte Yukke eine ganze Weile später gegen seine kribbelnden Lippen, „… Ich hab mir umsonst Sorgen gemacht?“

 

Tatsuros Mund formte ein empörtes „Idiot“, das sicherlich beeindruckender gewirkt hätte, wäre seinen Stimmbändern mehr als ein unverständliches Krächzen entkommen. Aber der Wille zählte, und dem Grinsen nach zu urteilen, das nun Yukkes Züge zierte, hatte der ihn schon ganz richtig verstanden. Eine Hand fuhr ihm durchs Haar und mit einer Klarheit, die ihm schon den ganzen Tag über gefehlt hatte, begriff er, was sich an dieser Berührung so eigenartig anfühlte. Da war kein Zug unvermeidlicher Knoten, kein Wispern langer Strähnen über seinen Nacken. Wieder fand sich Yukke im Fokus seines fragenden Auges wieder, doch diesmal schien der Unwille, ihm Antwort zu geben, beinahe noch größer zu sein. Er sah, wie sein Freund die Zähne fest aufeinanderbiss, sich für etwas wappnete, was unvermeidbar schien.

 

„Sie mussten dir deine Haare abschneiden, um die Kopfverletzungen behandeln zu können.“

 

Sein Ärger, mit dem Yukke wohl gerechnet hatte, blieb aus und Tatsuro konnte nicht einmal sagen, dass er sonderlich geschockt war. Vielmehr war es Trauer, die sein Herz schwer in seiner Brust schlagen ließ, als ihm bewusst wurde, dass ihm wieder einmal etwas genommen worden war. Er hob die Hand und als ihm die Kraft ausging, half Yukke ihm, bis er seine kurzen Haare unter den Fingerspitzen fühlen konnte. An einigen Stellen waren es lediglich Stoppeln, die sich über Narben zogen, an anderen waren seine Strähnen vielleicht drei Zentimeter lang. Ein wahrlicher Flickenteppich und Tatsuro war froh, sich im Moment nicht sehen zu können.

 

„Sie wachsen wieder nach“, flüsterte sein Freund und er hätte nicht sagen können, ob diese Worte Yukke selbst oder ihm Trost spenden sollten.

 

Er ließ die Hand sinken, strich auf ihrem Weg nach unten über Yukkes Gesicht, das so mager und eingefallen wirkte. Er fühlte die Erschöpfung lauern, spürte das sachte Beben, das in den letzten Minuten von seinem Körper Besitz ergriffen hatte. Aber, wenn er nun schon dabei war, den anderen mit Fragen zu löchern, war es vermutlich an der Zeit, auch endlich den Elefanten im Raum anzusprechen.

 

Fieberhaft überlegte er, wie er ihm begreiflich machen konnte, dass er wissen wollte, was mit seinem Auge nicht stimmte. Als Doktor Yoshida am Nachmittag noch einmal hier gewesen war, hatte er nicht den Mut gehabt, sich danach zu erkundigen, aber jetzt musste er es wissen. Er suchte den Blick seines Gegenübers, hob langsam die Hand und tippte leicht gegen den Pflasterverband, der die Hälfte seiner rechten Gesichtsseite verdeckte. Fragend hob er die linke Braue und erwiderte Yukkes etwas hilflosen Blick.

 

„Ehm …“, machte der andere nachdenklich und seine Stirn legte sich in Falten. „Tut dir dein Auge weh? Ich kann schnell einen der Pfleger holen, wenn du magst?“ Tatsuro schüttelte langsam den Kopf und zeichnete ein Fragezeichen über den Verband.

„Oh“, machte Yukke und biss sich unsicher auf die Unterlippe. „Tatsue, ich weiß nicht. Ich bin nicht der Richtige, um dir das zu erklären. Vielleicht fragst du morgen lieber einen der Ärzte?“

Wieder schüttelte er den Kopf, energischer diesmal, wobei auch diese Bewegung nur einem trägen Wackeln glich. Yukke haderte sichtlich mit sich, doch Tatsuros rar gesäte Geduld zahlte sich aus, als sich seine Schultern straften und er ihm wieder ins Gesicht sah.

„Deine Hornhaut und die Linse darunter sind verletzt, Doktor Yoshida befürchtet, dass du auf dem Auge nichts mehr sehen wirst, bis du gesund genug bist, um operiert zu werden. Du brauchst vermutlich eine Transplantation, aber sicher ist das noch nicht. Sie vermuten, Nobu muss dich …“

 

Nobu.

Der Name war wie ein Wirbelsturm, der den Vorhang des Vergessens beiseite riss und den Blick auf all die grausamen Erinnerungen freilegte, die dahinter verborgen lagen. Tatsuro wimmerte, presste beide Hände über seine Ohren und versuchte, dem Ansturm zu entgehen, indem er sich so klein machte, wie es ihm nur möglich war. Aber die Erinnerungen an die wütende Stimme, die Beschimpfungen und die Demütigungen, an die Schläge und den nicht enden wollenden Schmerz hallten am einzigen Ort wider, an dem er ihnen nicht entfliehen konnte – seinem eigenen Geist.

 

„Scheiße, Tatsuro!“ Arme legten sich zögerlich um seinen zitternden Leib und obwohl seine erste Reaktion war, sich gegen diesen Übergriff zu wehren, spürte ein Teil in ihm, dass sie Halt und Sicherheit versprachen. Seiner Kehle entkam ein Laut, der sich wie das Jaulen eines verletzten Tiers anhörte, bevor er sich hilfesuchend gegen den Körper presste, der in seiner sich auflösenden Welt gerade die einzige Stabilität darstellte.

 

„Tatsue, es tut mir leid, es tut mir so leid.“ Immer und immer wieder hörte er Yukke diese Worte wiederholen, aber beruhigen konnte er sich nicht. Er glaubte, wieder den rauen Beton unter seinen Fingern zu spüren, sah sein eigenes Blut darin versickern. Schmerz explodierte in seinem Kopf, jagte wie ein Lauffeuer durch seinen Körper und setzte sämtliche Nervenenden in Brand. Er zitterte unkontrolliert, krampfte, bekam keine Luft mehr …

 

Ein Stich in seine Armbeuge, so fein und zwischen all der Agonie ein beinahe reiner Schmerz, war das Letzte, was er noch mitbekam, bevor seine Welt in samtener Dunkelheit versank.

 

~*~

 

Yukke starrte mit ausdrucksloser Miene auf die nun wieder friedlich daliegende Gestalt seines Freundes. Tatsuros Brustkorb hob und senkte sich gleichmäßig, die langen Arme lagen ausgestreckt auf der weißen, glatt gestrichenen Bettdecke und sah man von dem hektisch flatternden Augenlid ab, wirkte er beinahe friedlich. Stumme Tränen rannen Yukke über die Wangen, während sich Schuldgefühle durch seine Eingeweide fraßen.

 

„Du solltest nach Hause fahren, die Beruhigungsmittel werden ihn die ganze Nacht über schlafen lassen.“ Eine warme Hand drückte seine Schulter, aber er konnte sich nicht dazu bringen, den anderen anzusehen. Michiya war über die langen Wochen, die er an Tatsuros Bett verbracht hatte, so etwas wie ein Freund geworden und so dankbar er ihm gerade für seine Fürsorge war, annehmen konnte er sie nicht. Wie auch? Er war schuld daran, dass es Tatsuro nun wieder schlecht ging, da hatte er weder Fürsorge noch Mitgefühl verdient.

 

„Ein Anfall wie dieser war unvermeidlich, Yukke, und es wird auch nicht der Letzte gewesen sein. Das, was dein Freund alles erdulden musste, wird noch lange brauchen, bis es verarbeitet ist.“

 

„Das weiß ich… Verdammt, ich hätte nicht versuchen sollen, ihm irgendwas zu erzählen.“

 

„Worüber genau habt ihr gesprochen, als es angefangen hat, ihm schlecht zu gehen?“

 

„Er wollte wissen, was mit seinem Auge nicht in Ordnung ist.“

 

„Verstehe.“ Die Wärme der Hand auf seiner Schulter verschwand, als der Pfleger Tatsuros Puls überprüfte und die Laufgeschwindigkeit der Infusion verringerte, die den ausgelaugten Körper seines Freundes mit notwendiger Flüssigkeit versorgte.

 

„Versuch, dir keine Vorwürfe zu machen. Das musste früher oder später passieren und da ist es gleichgültig, ob er die schlechten Neuigkeiten von dir oder einem Arzt erhält.“

 

Yukke ließ den Kopf hängen, nickte aber. Die Schuldgefühle nagten an ihm, doch der Teil seines Verstandes, der in den letzten Wochen wenigstens eine Spur Rationalität beibehalten hatte, wusste, dass Michiya recht mit dem hatte, was er sagte.

 

„Kann ich noch etwas bleiben?“ Er wusste, dass die dunklen Augen ihn kritisch musterten und auch, dass er dem Pfleger viel abverlangte. Seit Wochen beugte Michiya die Regeln des Krankenhauses für ihn und brachte sich damit selbst in Schwierigkeiten.

 

„Ich rede nachher mit Nora, sie hat heute Nachtschicht, aber ich behaupte jetzt einfach mal, dass das schon in Ordnung geht.“

 

„Danke.“

 

„Dafür schuldest du mir einen Energydrink.“

 

Yukke lachte ein kurzes, schnaubendes Lachen, bevor er sich vom Anblick seines schlafenden Freundes losreißen und den anderen ansehen konnte.

 

„Wenn es weiter nichts ist, den sollst du kriegen.“

 

„Sehr schön.“ Sein Gegenüber schenkte ihm ein triumphierendes Grinsen und notierte noch kurz etwas auf dem Krankenblatt auf seinem Klemmbrett. „Versprich mir aber, dass du nicht wieder die ganze Nacht hierbleibst.“

 

„Versprochen.“ Yukke fuhr sich durch die Haare und versuchte sich an einem ehrlichen Lächeln. „Nur noch ein paar Minuten, dann geh ich auch.“

 

„In Ordnung, gute Nacht, Yukke.“

 

„Nacht“, murmelte er, lauschte Michiyas leisen Schritten und lehnte sich nach vorn, als die Tür ins Schloss gezogen wurde. „Ach, Tatsuro.“ Er senkte die Stirn auf die Hand seines Freundes und legte den Arm sacht um seine Mitte. Die Tränen, die über die letzten Minuten vertrocknet waren, rannen nun von Neuem über sein Gesicht und hinterließen nasse Spuren auf der weißen Decke. „Es tut mir leid.“

Klappe, die Siebzehnte

Die Zeit war zu einem eigenartigen Konzept geworden, seit er in der Klinik war. Einige Tage vergingen so schnell, dass er das Gefühl hatte, kaum aufgewacht zu sein, wenn die Sonne am Abend wieder unterging, und an anderen Tagen schien er jede verstreichende Sekunde als körperliches Unwohlsein wahrzunehmen. Letztere waren meist die Tage, an denen er mit Doktor Suemura über das sprach, was geschehen war. Anfänglich hatte er sich geweigert, die Hilfe des jungen Therapeuten mit den mitfühlenden Augen und dem offenen Lächeln in Anspruch zu nehmen – wer gab schon gern zu, dass er einen Seelenklempner brauchte, um zu funktionieren? Aber nachdem ihn die Erinnerungen nicht in Ruhe ließen und eine seiner Episoden so schlimm gewesen war, dass er Yukke, der ihm nur hatte helfen wollen, aus Versehen die Lippe blutig geschlagen hatte, hatte auch er einsehen müssen, dass ihn seine Sturheit allein diesmal nicht weiterbringen würde. Sein Körper regenerierte sich stetig, Knochen wuchsen zusammen, Wunden heilten, doch ihm war bewusst, dass die Verletzungen seiner Psyche noch lange brauchen würden, bis sie zu unsichtbaren Narben werden konnten.

 

Tatsuro schaltete die Dusche ab und sogleich verstummte das beruhigende Rauschen des Wassers, das bislang das kleine Badezimmer erfüllt hatte. Erst jetzt hörte er wieder die ihm nur allzu bekannte Melodie, die aus dem Lautsprecher seines Handys kam, und die ihm ein feines Lächeln aufs Gesicht zauberte. Er hatte Miya für verrückt erklärt, als er ihm erzählt hatte, dass er beide Lieder, die Tatsuro für den Film eingesungen hatte, überarbeitet und als eine Art Teaser an verschiedene Radiostationen geschickt hatte. Sein erster Gedanke war gewesen, dass sich sicherlich niemand seinen alles andere als ausgefeilten Gesang freiwillig antun würde. Aber je öfter die Radiostationen Werbung für Ame no orchestra machten, desto öfter wurden auch seine Lieder gespielt. Gerade der Song, der sich durch den ganzen Film zog und daher auch den gleichen Namen trug, schien unheimlich gut anzukommen. Himmel, allein der Gedanke daran, dass ihnen bis zur Prämiere nicht einmal mehr ein Monat Zeit blieb, ließ sein Herz vor Nervosität flattern. So wie es aussah, war er doch investierter in den Film, als er zugeben wollte.

 

Eine feine Gänsehaut rann ihm über den Rücken, während die Melodie weiter anschwoll. Die Streicher schienen die feuchte Luft im Badezimmer zum Vibrieren zu bringen und sein Gesang wirbelte wie ein Gewittersturm durch den kleinen Raum. Er schüttelte den Kopf, nahm das Handtuch vom Haken, um es sich um die Hüfte zu wickeln, und summte eine kurze Tonfolge mit. Es hatte einige Tage gedauert, aber mittlerweile war seine Stimme wiedergekommen, auch wenn sie sich leiser, etwas kratziger anhörte, als er sie in Erinnerung hatte. Ob er überhaupt noch so würde singen können? Für einen Moment wurde seine Kehle unangenehm eng, als ihm bewusst wurde, dass seine Fähigkeit zu singen wieder etwas sein könnte, das Nobu ihm genommen hatte. Er hob die Hand, hielt sie sich vors rechte Auge, das seit einigen Tagen nicht mehr von einem Verband verdeckt war. Seine Sicht wurde dunkler, als er das Linke schloss, Farben wurden durch mattes Grau ersetzt und seine Finger waren nicht mehr als schwarze Schatten, deren Bewegungen er nur erkennen konnte, wenn sie ausladend genug waren. Er seufzte, öffnete das linke Lid wieder und ließ Farben und Formen zurück in sein Sichtfeld. Es war erstaunlich, wie viel das Gehirn ausgleichen konnte, wenn die Sehkraft auf einer Seite so gut wie nicht mehr zu gebrauchen war. Mittlerweile gab es tatsächlich schon Momente, in denen er vergessen konnte, dass er auf einem Auge blind war, ein Umstand, den er noch vor Wochen nicht für möglich gehalten hatte, aber der genau richtig so war. Er ballte die Faust, bis sein ganzer Körper zu zittern begann, und presste die Kiefer aufeinander. Den Teufel würde er tun und Nobu auch noch die Genugtuung geben, sich von diesen ungewollten Veränderungen unterkriegen zu lassen. Er war hier, lebendig und frei, während der Mistkerl, wenn es nach ihm gehen würde, im Gefängnis verrotten konnte. In seinen Gedanken versunken war er an den Spiegel herangetreten und strich nun das Kondenswasser fort, das sich auf der glatten Oberfläche gebildet hatte.

 

Er hatte große Fortschritte gemacht in den Wochen, die er weiterhin in der Klinik verbracht hatte, und nicht wenige spiegelten sich in seinem Aussehen wider. Sein Gesicht war nicht mehr die erschreckend ausgemergelte Fratze, die sie kurz nach seinem Aufwachen gewesen war. Seine Wangen hatten wieder etwas an Fülle gewonnen, seine Blässe war zwar noch vorhanden, wirkte jedoch nicht mehr kränklich, und der Flickenteppich seiner Haare war dank Zeit und Yumikos geschickten Fingern zu einer einigermaßen vorzeigbaren Kurzhaarfrisur geworden. Er vermisste die langen Strähnen beinahe mehr als das Braun seines zerstörten Auges, das ihm gräulich blass entgegensah. Einen Schönheitswettbewerb würde er mit seinem Aussehen nicht gewinnen können, aber vielleicht würde ihm dieser Makel endlich die Charakterrollen einbringen, auf die er schon so lange hinarbeitete? Er war zu Größerem bestimmt, als tragische Helden oder liebeskranke Straßenkünstler zu spielen.

Er erwiderte das Starren seines Spiegelbilds und presste entschlossen die Lippen aufeinander. Heute würde er entlassen werden. Es war also höchste Zeit, dass er mit Gara besprach, wie sie weitermachen würden.

 

Als er einige Minuten später aus dem Badezimmer kam, saß Sato auf dem Besucherstuhl neben seinem Bett und sah von der Zeitschrift auf, in der er bis eben gelesen hatte.

 

„Hey, guten Morgen, Satochi, ich dachte, du wolltest mich erst in einer Stunde abholen? Ich hab noch nicht mal den Arztbrief.“

 

„Mh, das macht nichts. Wir müssen sowieso noch etwas besprechen, bevor du wieder auf die Welt losgelassen wirst.“ Sein Bruder grinste, was jedoch nicht darüber hinwegtäuschte, dass er nervös und angespannt wirkte.

 

„Tu nicht so, als hätte mich die Welt nicht schon längst vermisst.“

 

Tatsuro untermalte seine Worte mit einem überheblichen Grinsen, das ihm irgendwann einmal so vertraut gewesen war, sich nun jedoch wie der Gesichtsausdruck eines Fremden anfühlte. Nobus Übergriff hatte ihn verändert, das konnte er nicht leugnen, auch wenn er alles dafür tat und tun würde, um das wieder rückgängig zu machen.

 

„Sie sehnt sich schrecklich nach dir.“

 

„Schon besser.“

 

Sein Bruder lachte herzhaft auf, während Tatsuro die gepackte Reisetasche vom Bett hob und sie auf den Fußboden stellte, bevor er sich setzte. Sein Blick fiel auf die Zeitschrift, die Sato aufgeschlagen auf dem Schoß liegen hatte und auf das Bild seiner selbst, das ihm von den Hochglanzseiten entgegenlächelte. Für lange Sekunden starrte er das Foto an, bevor es ihm gelang, den Kloß herunterzuschlucken, der ihm das Atmen schwer machen wollte. Er konnte den selbstsicheren Mann mit den langen Haaren und dem arroganten Zug um den Mund kaum noch mit sich in Verbindung bringen, was ihn maßlos verunsicherte. Tief durchatmend schloss er die Augen, zählte bis zehn und rückwärts wieder bis eins, so wie Doktor Suemura es mit ihm geübt hatte. Es funktionierte, sein Zittern ließ nach, bis sich auch sein Geist wieder einigermaßen ruhig anfühlte.

 

Satochis Blick, als er die Augen wieder öffnete, war mitfühlend, aber nicht mitleidig, wofür er ihm unendlich dankbar war. Ohne etwas zu sagen, hielt er ihm die Zeitschrift hin, die Tatsuro zögerlich entgegennahm.

 

»Drama am Set von Ame no orchestra – Tragödie oder Publicity-Coup?«

Die Überschrift, die sein Foto begleitete, ließ das Blut aus seinen Wangen weichen und zu Eis in seinen Adern werden.

 

„Scheiße, das hört sich nicht gut an“, murmelte er zwischen plötzlich taub gewordenen Lippen hindurch.

 

„Nein, leider gar nicht gut. Wir wissen noch nicht, wer von der BLP seinen Mund nicht gehalten hat oder ob ein Journalist schlauer war als wir, aber die Medien stürzen sich gerade auf dich.“ Satos Hand legte sich warm und sicher auf sein Knie und er war seinem Bruder dankbar, dass er in solchen Situationen immer einen kühlen Kopf behielt. Es war nicht das erste Mal, dass die Presse versuchte, ihn in der Luft zu zerreißen, und es würde nicht das letzte Mal gewesen sein.

 

„Du hast recht, wir müssen wirklich noch einiges besprechen. Kommt Gara auch?“

 

„Nein, soweit ich informiert bin, müsste er gerade im Büro sein und sich um die Pressekonferenz kümmern.“

 

„Pressekonferenz“, murmelte Tatsuro tonlos und rieb sich übers Kinn. „Ich kann nicht behaupten, dass ich begeistert davon bin, aber es wird wohl das Beste sein.“

 

„Definitiv, bevor es noch mehr Spekulationen gibt. Der Artikel hier ist nicht der Einzige und es werden nur noch mehr werden, je länger sie nichts von dir hören.“

 

„Ich gehe davon aus, dass Gara die Pressekonferenz für morgen ansetzen wird, oder?“

 

„Ja, das ist zumindest sein Plan gewesen, als wir vorhin telefoniert haben.“

 

„Okay.“ Tatsuro seufzte und schlug die Zeitschrift zu. Seine Neugierde darauf, was dort über ihn geschrieben stand, war im gleichen Maß verschwunden, wie die Vorfreude darauf, bald nach Hause zu können. „Ob auch durchgesickert ist, dass ich heute entlassen werde?“

 

„Ist es, leider. Vor der Klinik stehen bereits einige bekannte Gesichter, wenn du verstehst, was ich meine.“

 

Oh ja, Tatsuro verstand nur allzu gut. Journalisten waren wie Bluthunde. Solang alles gut lief, fraßen sie ihm aus der Hand, aber sobald sie eine Schwachstelle witterten, die es auszukundschaften galt, stürzten sie sich auf ihn. Er hasste dieses Pack mit einer Passion, die er für nur wenige Dinge in seinem Leben aufbringen konnte. Aber auch dieses Mal würde er ihnen die Stirn bieten, nun ja, immer vorausgesetzt er würde hier rauskommen, ohne dass sie ihn in der Luft zerrissen. Gerade als ein unflätiger Fluch über seine Lippen kam, öffnete sich die Tür und spuckte Pfleger Michiya aus, der seinen ertappten Blick nur mit einer keck hochgezogenen Augenbraue erwiderte.

 

„Morgen, Tatsuro, das nenne ich mal eine Begrüßung und das, wo ich deinen Arztbrief dabei habe.“

 

„Guten Morgen“, erwiderte er und setzte sein charmantestes Lächeln auf. „Das war nicht für dich bestimmt, Ehrenwort.“ Trotz der Tatsache, dass Michiya und er die Förmlichkeiten sehr schnell hinter sich gelassen hatten und sich mit dem Vornamen ansprachen, war ihr Verhältnis zueinander weitaus weniger freundschaftlich als es zwischen dem Pfleger und Yukke der Fall war. Vermutlich lag es auch gerade an Letzterem, dass Tatsuro immer ein wenig vorsichtig im Umgang mit Michiya war. Yukke hatte ihm zwar versichert, dass der Pfleger sein Auge auf einen ganz bestimmten, hochgewachsenen Therapeuten geworfen hatte und daher sowieso nichts und niemand anderen um sich herum wahrnahm, aber die Vertrautheit der beiden schmeckte ihm noch immer nicht so ganz.

„Was hast du denn da noch alles dabei?“, fragte er, als Michiya ihm nicht nur den Brief überreichte, sondern auch ein Kleiderbündel auf sein Bett legte.

 

„Eure Verkleidung.“ Das Grinsen, welches sogleich hinter einer gehobenen Hand verschwand, ließ den Pfleger für einen Moment wie einen kleinen Teufel wirken, der sich riesig über einen gefassten Plan freute. Als Tatsuro den Blick von ihm nahm und auf Satos Gesicht einen ähnlichen Ausdruck entdeckte, begann so etwas wie kindliche Vorfreude durch seinen Körper zu kribbeln.

 

 

„Du dachtest doch nicht wirklich, ich komme nur mit schlechten Neuigkeiten hierher?“ Satochi verschränkte selbstgefällig die Arme hinter dem Kopf und lehnte sich im Stuhl zurück. „Ich hab da einen echt guten Plan, dich unbemerkt hier rauszukriegen, glaub mir.“

 

„Okay, ich geb’s zu, ich bin neugierig. Raus mit der Sprache, was hast du dir einfallen lassen?“

 

~*~

 

Auf dem Namensschild, das an seinem weißen Kittel klemmte, stand Doktor Suemura. Michiya hatte zwar behauptet, dass das der einzige Kittel war, der lang genug für ihn wäre und er ihn deshalb aus der Personalumkleide hatte mitgehen lassen, aber als Tatsuro ihm ein wissendes Lächeln geschenkt hatte, waren die Wangen des sonst eher stoischen Pflegers tatsächlich ein wenig rot geworden. Tatsuro freute sich noch immer diebisch, ihm diese Reaktion entlockt zu haben, während er so nonchalant wie möglich die Gänge des Krankenhauses entlangging. Ein Mundschutz verdeckte die Hälfte seines Gesichts und trug zu einer gewissen Anonymität bei. Flankiert wurde er auf der rechten Seite von Michiya, der dafür sorgte, dass er mit seiner eingeschränkten räumlichen Sehkraft nirgendwo anstieß, und auf der linken Seite von einem Sanitäter, der ihm als Ota, Kenji vorgestellt worden war. Im Rollstuhl, den er vor sich herschob, saß Satochi, den Kopf in einen dicken verband gewickelt und auf dem Schoß Tatsuros Reisetasche wie einen Schatz haltend, unter der die Enden seines Gehstocks hervorlugten. Ein Infusionsbeutel schlug im Rhythmus Tatsuros schneller Schritte gegen die Metallstange, die links an der Lehne des Rollstuhls emporragte und deren Schlauch so an der Armbeuge seines Bruders befestigt worden war, dass es aussah, als würde die Nadel tatsächlich in seiner Haut stecken.

Ihre kleine Prozession schien gehetzt genug zu wirken, dass sie von niemandem angesprochen wurden. Satochi kassierte einige mitfühlende Blicke vorbeihuschender Krankenschwestern – alter Herzensbrecher – und der Pfleger nickte hier und da einem seiner Kollegen zu, aber niemand hielt sie auf.

 

„Jetzt gilt’s“, flüsterte Satochi, als die Schiebetüren des Ausgangs in Sicht kamen.

 

„Einmal ein Kotzbeutel zur Tarnung, bitte sehr.“

 

Der Sanitäter, der Satochi gerade besagten Beutel reichte, schien nicht minder Spaß an ihrer kleinen Scharade zu haben. Der schlaksige Mann war kleiner als er, ungefähr Michiyas Größe, und schien auch im gleichen Alter wie der Pfleger zu sein. Seine hellbraunen Haare waren zerzaust und Tatsuro konnte sich nicht entscheiden, ob das modisch sein sollte oder ob der andere ohne einen Kamm zu sehen aus dem Bett gefallen war. Letzteres schien plausibel, so müde wie er aussah, aber seine Erschöpfung schmälerte den Feuereifer nicht, mit dem er bei der Sache war.

 

Erstaunlich überzeugend begann Satochi, in den Beutel zu würgen, kaum hatten sie die automatischen Schiebetüren hinter sich gelassen und waren ins Freie getreten. Tatsuros Herzschlag beschleunigte sich, während er nur darauf wartete, erkannt zu werden. Zunächst fielen ihm jedoch nur vereinzelte Patienten auf, die dort draußen standen, um zu rauchen, zu geblendet war er von der tief stehenden Herbstsonne, die den eher grauen Vorplatz des Krankenhauses in warmes Licht tauchte. Aber kurz darauf bemerkte er das Gemurmel, in dem ein unüberhörbar enttäuschter Unterton lag und das von den Menschengruppen zu kommen schien, die sich in einem losen Halbkreis um den Eingang zur Klinik verteilt hatten. In der Ferne erkannte er die Vans von FUJI TV, FNN und TV ASAHI, und wenn das dort drüben nicht seine Busenfreundin, Saeko Mori, von Channel J war, fraß er einen Besen samt Stiel. Er blieb angespannt, während er mit zielstrebigen Schritten an den teils interessiert, teils gelangweilt Dreinschauenden vorbeiging und Michiyas leise gesprochenen Richtungsangaben folgte. Am anderen Ende des Vorplatzes sah er einen weißen Kastenwagen mit dem auffällig roten Warnlicht über der Fahrerkabine stehen und vermutete, dass das ihr Fluchtfahrzeug sein musste. Satochis Würgen wurde energischer und so auch seine Schritte, sodass ihnen die Anwesenden tatsächlich Platz machten und wirklich niemand auf die Idee kam, sie eines zweiten Blickes zu würdigen.

 

Tatsuro grinste unter seinem Mundschutz, beugte sich etwas zu seinem Bruder herab und flüsterte: „Du solltest in Zukunft wirklich vor der Kamera stehen, statt dahinter.“

 

„Und dir die Schau stehlen? Nee, lass mal.“ Obwohl Sato sein Gesicht fast vollständig hinter dem Spuckbeutel versteckte, konnte er das breite Grinsen förmlich hören, das nun seine Lippen zieren musste.

 

„So gut bist du nun auch nicht, da mach ich mir keine Sorgen“, merkte er an, denn schließlich musste ja irgendwer den Höhenflug seines Bruders unterbrechen, auch wenn sie beide wussten, dass seine Worte nicht ganz ernst gemeint waren.

 

„Siehst du.“ Sato schaute kurz zu ihm nach oben, zwinkerte, bevor er sein Leiden für alle deutlich hörbar erneut in den Beutel würgte.

 

Kenji sprintete den Rest des Weges, um ihnen die hinteren Türen des Krankentransporters aufzusperren und mit ordentlichem Krach eine Rampe herunterzulassen, auf die Tatsuro den Rollstuhl schob. Kaum war auch Michiya im Inneren des Wagens, knallten die Türen zu und kurz darauf spürte er die Vibrationen des Motors unter seinen Schuhsohlen.

 

„Na, das lief doch besser als in jedem Krimi, oder?“ Der Pfleger schnallte den Rollstuhl fest, damit Satochi nicht unkontrolliert durch den Wagen fahren würde, sollte der Sanitäter bremsen müssen und klappte für sie beide je einen der Notsitze an der gegenüberliegenden Fahrzeugwand herunter.

 

„Ich hätte es ja nicht für möglich gehalten“, gab Tatsuro zu, zog sich den Mundschutz vom Gesicht und den Kittel aus, bevor er sich setzte. „Ich glaub, das ist Satochis erster Plan, der nicht nach hinten losgeht.“

 

Lachend schlug der Pfleger zweimal gegen die Wand, die die Fahrerkabine von ihnen trennte, was wohl das Zeichen für Kenji war, den Wagen in Bewegung zu setzen, während sich sein Bruder lauthals empörte: „He! Was soll das denn heißen?“ Mit einem dumpfen Laut landete seine Reisetasche auf dem Boden, als Sato sich streckte, seinen Stock beiseitestellte und begann, sich von seiner Verkleidung zu befreien. „Du verwechselst uns gerade eindeutig, Bruderherz. Wenn ich dich daran erinnern darf, sind es nämlich immer deine Pläne, die von vornherein zum Scheitern verurteilt sind.“

 

„Infame Unterstellung“, behauptete er rundheraus, schenkte seinem Gegenüber jedoch ein breites Grinsen. „Weiß Kenji, wo er hinfahren muss?“

 

„Ja, ich hab ihm Miyas Adresse gegeben.“ Bei der Erwähnung des Regisseurs wanderte Tatsuros Augenbraue fragend gen Haaransatz, was Sato dazu veranlasste, seine Aussage näher zu erklären. „Ich dachte mir, sollte uns doch jemand auf den Trichter kommen, ist das weniger dramatisch, wenn wir die Meute nicht noch zusätzlich direkt zu deiner Wohnung führen. Außerdem, wenn du dir von Miya aus ein Taxi rufst, ist das deutlich unauffälliger, als mit dem Krankenwagen an deinem Wohnblock vorzufahren.“

 

„Hey, das war ja richtig schlau von dir – autsch.“ Grinsend rieb er sich über den Oberarm, gegen den Sato gerade wenig zimperlich geschlagen hatte, und lehnte sich im Sitz zurück. Für einen Moment schloss er die Augen und atmete zum ersten Mal an diesem Tag, so schien es ihm zumindest, befreit durch. Gleich würde er zwar nicht in seinem Zuhause sein, aber wenigstens raus aus der Klinik und in normaler Umgebung. Zehn Wochen waren deutlich länger, als er in seinem Leben jemals wieder ein Krankenhaus von innen sehen wollte.

 

„Aber wo wir gerade bei Miya sind.“ Tatsuro lehnte sich nach vorn, bis er beinahe Nase an Nase mit seinem Bruder dasaß. „In den letzten Wochen hab ich dich kaum ohne ihn gesehen, willst du mir nicht endlich etwas sagen?“

 

„Nö.“ Satochi grinste, bevor er blitzschnell seine Nase zwischen Zeige- und Mittelfinger einklemmte und lang zog. „Gib zu, dass das mit Yukke und dir was Ernstes ist, und wir können drüber reden.“

 

„Niemals!“, presste Tatsuro nasal hervor und versuchte, sich lachend aus Satochis Griff zu befreien.

 

Michiya versteckte sein Grinsen hinter einer Hand und drehte sich von den beiden kabbelnden Brüdern fort. Zugegeben, Tatsuro war ein komischer Kauz, den er nicht so wirklich einschätzen konnte, aber so viel Spaß wie heute hatte er schon sehr lange nicht mehr gehabt.

 

~*~

 

Sato kam hinter ihm langsam die Rampe des Krankenwagens herunter und nahm zu Tatsuros Überraschung sogar die helfende Hand an, die er ihm entgegenstreckte. Sein Bruder erwiderte das Lächeln, welches er ihm darauf schenkte, nur schulterzuckend und machte Michiya Platz. Tatsuro schulterte seine Reisetasche und atmete dann erst einmal die frische, würzig duftende Herbstluft ein. Endlich war nicht mehr alles, was er riechen konnte, mit einem Hauch Desinfektionsmittel unterlegt, an den er sich nicht einmal während seines langen Aufenthalts in der Klinik hatte gewöhnen können.

 

„Na, wie fühlt sich deine Freiheit an?“, erkundigte sich Sato und legte ihm einen Arm um die Schulter, um ihn näher an sich zu ziehen.

 

„Herrlich.“ Vielleicht hätten sie noch mehr gesagt, hätten sie nicht die Fahrertür zuschlagen hören und Kenjis Schritte, die sich ihnen näherten.

 

„Hat doch geklappt wie am Schnürchen“, freute sich der Sanitäter und hielt Michiya die rechte Hand entgegen, die der Pfleger mit einem schiefen Grinsen und einem Augenrollen abklatschte.

 

„Danke, ehrlich“, schaltete sich Tatsuro ein. „Ich kann mich gar nicht genug bei euch bedanken. Hoffentlich bekommt ihr keinen Ärger mit dem Boss, mh?“

 

„Mach dir da mal keine Sorgen.“ Michiya versteckte sein breiter werdendes Grinsen hinter einer Hand, wie es so typisch für ihn war, und zwinkerte ihm verschwörerisch zu. „Wäre Doktor Yoshida nicht gerade im OP gewesen, hätte er selbst den Fluchthelfer gemimt, stimmt’s Kenji?“

Der Sanitäter nickte eifrig und strahlte sie an.

 

„Wir müssen eher zusehen, dass Hiroshi nicht beleidigt ist, weil wir ihm nichts gesagt haben.“

 

Tatsuro konnte es sich gerade so noch verkneifen, eine Augenbraue hochzuziehen. Hiroshi, was? Sah er Gespenster oder kam ihm das Funkeln im Blick des Sanitäters, als er den Arzt beim Vornamen genannt hatte, irgendwie ziemlich bekannt vor? Eine Klinik war vermutlich auch nur ein Dorf, wo jeder jeden kannte und Beziehungen untereinander mehr oder weniger unausweichlich waren.

 

„Na dann …“ Michiya verbeugte sich vor ihnen und schenkte ihnen noch einmal ein schmales Lächeln. „Kenji und ich müssen wieder los, bevor doch noch auffällt, dass wir verschwunden sind.“ Sato und er verbeugten sich ebenfalls, was auch von Kenji erwidert wurde, bevor der Pfleger die wenigen Schritte zum Krankenwagen hinüberging. Tatsuro winkte, als er sich noch einmal zu ihnen herumdrehte und richtete dann seine Aufmerksamkeit auf den Sanitäter, der eigenartig entschlossen an Ort und Stelle stehen geblieben war und ihn nun offen ansah.

 

„Tatsuro-san!“, platzte es da plötzlich aus ihm heraus und überrumpelt streckte Tatsuro die Hand nach dem Klemmbrett aus, das ihm entgegengestreckt wurde.

 

„Also erstens …“, begann er, während er irritiert das weiße Blatt Papier musterte, das zwischen den Klemmen des Bretts steckte. „Lass mal die Förmlichkeiten weg oder hast du vergessen, dass du mein Fluchthelfer bist?“ Er schmunzelte und entlockte seinem Gegenüber ein zaghaftes Lächeln. „Und zweitens … was genau soll ich damit?“

 

„Ich wollte Sie … ehm … dich nach einem Autogramm bitten.“

 

Aha! So lief der Hase also. Na, damit konnte Tatsuro weitaus besser umgehen, als mit der unerwarteten Scheu des bislang so offenen Sanitäters.

 

„Kein Problem. Soll ich irgendwas Bestimmtes schreiben oder nur für meinen Fluchthelfer, Kenji?“

 

„Oh, nein, nein …“ Der Sanitäter lachte und entspannte sich sichtlich. „Das ist nicht für mich. Schreib am besten … für Hiroshi, meinen größten Fan oder etwas in diese Richtung.“

 

„Du meinst Doktor Yoshida? Ernsthaft jetzt?“

 

„Ernsthaft.“ Die Miene des Sanitäters wurde leidend, als er ihm verschwörerisch zuraunte: „Du kannst dir nicht vorstellen, was ich mir in den letzten Wochen alles anhören durfte. Hiroshi ist vermutlich wirklich dein größter Fan.“

 

„Oh …“ Der Unglaube musste nur zu deutlich in seinem Gesicht geschrieben stehen, denn Satochi neben ihm krümmte sich bereits vor Lachen. Aber, hey, war ihm das zu verübeln? Er hatte gerade erfahren, dass der Arzt, der ihn zusammengeflickt und jeden seiner Tiefpunkte in den letzten Wochen miterlebt hatte, ein Fan war. Er konnte sich gerade wirklich nicht entscheiden, ob ihm diese Offenbarung nun unangenehm war oder ob er sie urkomisch finden sollte.

 

„Hiroshi hätte dich nie nach einem Autogramm gebeten, das verbietet schon allein sein Arbeitsethos, aber ich dachte mir, ich könnte dich ja für ihn fragen, vielleicht lässt er mich mit seiner Schwärmerei dann in Ruhe. Weil ganz unter uns, als Freund kann man da schon mal etwas eifersüchtig werden.“ Kenji zwinkerte ihm zu und nun musste auch Tatsuro lachen.

 

„Na, dann lass uns mal den Frieden im Paradies wieder herstellen, was?“ Er nahm den Kugelschreiber entgegen, den ihm sein Gegenüber reichte und tippte sich damit nachdenklich gegen die Oberlippe. Langsam begann er zu schreiben, zeichnete neben seine Unterschrift eine kleine Comicfigur seiner selbst, die den Daumen nach oben reckte, und fügte dann mit einem breiten Grinsen noch ein kleines Nachwort hinzu.

 

„Kenji, kommst du bald mal?“, war plötzlich Michiyas Stimme zu hören, als der Pfleger den Kopf aus dem Krankenwagen reckte und eine hetzende Handbewegung vollführte. „Nora reißt mir den Kopf ab, wenn ich nicht bald wieder auf Station bin!“

 

„Ja, ja, ich hab’s gleich!“

 

„Hier.“

 

Kenji nahm das Klemmbrett wieder an sich und las halblaut vor: „Für Hiroshi, meinen größten Fan. Und hey, Doc? Danke fürs Zusammenflicken. Tatsuro Iwakami. PS. Kenji hat was gut bei dir, dass mir also keine Beschwerden kommen.“ Der Sanitäter erwiderte sein Grinsen und verbeugte sich tief. „Danke, das ist perfekt. Ich muss dann los, danke noch mal und wir sehen uns, okay? Bye!“

 

„Kein Ding.“ Tatsuro lachte kopfschüttelnd. „Fahrt vorsichtig.“

 

„Tschüs, ihr zwei“, rief Sato winkend und er tat es ihm gleich, bis sich der Krankenwagen in Bewegung setzte.

 

„Schon ein komisches Volk, diese Krankenhausleute.“ Die Reisetasche über seiner Schulter zurechtrückend folgte er seinem Bruder, der sich schon in Richtung Eingang begeben hatte.

 

„Ja, aber eines musst du zugeben, so viel Spaß hatten wir schon lang nicht mehr.“

 

„Definitiv.“

 

Im Vorbeigehen glaubte er, einen ihm nur allzu bekannten, roten Mazda auf dem Parkplatz stehen zu sehen, aber da Yukke noch bis morgen bei seinen Eltern sein würde, schenkte er dem keine wirkliche Beachtung. Als ihm Satochi jedoch die Tür zu Miyas Wohnung aufhielt und er im Flur nicht dem Regisseur, sondern dem Mann gegenüberstand, an den er soeben gedacht hatte, jagte mit einem Mal eine derart allumfassende Erleichterung durch seinen Körper, dass er sich für einen Moment gegen den Türrahmen lehnen musste, weil seine Beine drohten, einfach nachzugeben. Bis zu diesem Augenblick hatte er das nagende Unwohlsein ignorieren können, dass seine Eingeweide verknotete, aber jetzt wurde ihm schlagartig bewusst, wie sehr ihm Yukkes haltgebende Präsenz an seiner Seite gefehlt hatte.

 

„Hey, alles in Ordnung?“ Starke Hände umfassten seine Oberarme und besorgte Augen suchten seinen Blick. Eine so vertraute Geste, dass er nicht anders konnte, als leicht zu lächeln und sich mit der Stirn gegen Yukkes Schulter zu lehnen. Sogleich legten sich warme Arme um ihn und er erwiderte diese wohltuende Berührung, zog den etwas kleineren Körper stärker gegen sich.

 

„Was machst du denn hier?“, murmelte er gegen Yukkes Halsbeuge und atmete genießend seinen so vertrauten Duft ein.

 

„Überraschung?“ Yukke lachte leise. „Du dachtest nicht wirklich, dass ich ausgerechnet an dem Tag nicht hier bin, an dem du entlassen wirst?“

 

Doch, genau das hatte Tatsuro gedacht und um ehrlich zu sein, hatte es ihm einen Stich ins Herz versetzt, als Yukke und er vor einigen Tagen darüber gesprochen hatten. Aber statt, wie es früher normal für ihn gewesen wäre, seinen Unmut zum Ausdruck zu bringen, hatte er die Entscheidung des anderen einfach stillschweigend hingenommen. Wie hätte er auch noch mehr von Yukke verlangen können? Sein Freund war ihm in den letzten Wochen kaum von der Seite gewichen, hatte seine Zeit in der Klinik vergeudet, obwohl er sicherlich wichtigere und vor allem spannendere Dinge zu erledigen gehabt hätte. Dennoch. Erst jetzt, hier, in Yukkes Armen wurde ihm bewusst, wie sehr ihn das Wissen mitgenommen hatte, seinen ersten Tag außerhalb des schützenden Raums, der die Klinik auf eine eigenartige Weise für ihn geworden war, allein verbringen zu müssen. Natürlich war da Satochi, sein großer Bruder, der ihm immer eine Stütze war, dennoch war es nicht dasselbe.

 

„Ich bin froh, dass du hier bist“, stellte er mit erstaunlich fester Stimme fest, obwohl er sich innerlich fühlte, als würde er über Treibsand laufen, der ihn jeden Moment verschlucken konnte. Er hörte, wie die Eingangstür hinter ihm geschlossen wurde und fühlte eine flüchtige Berührung am rechten Bein, als Sato die Reisetasche aufhob, die er eben einfach hatte fallenlassen.

 

„Ich geh schon mal vor.“ Die Stimme seines Bruders war leise und er fühlte Yukkes Nicken, bevor sie allein waren. Erst jetzt hob Tatsuro den Kopf, um ihm ins Gesicht sehen zu können.

 

„Du warst beim Friseur.“ Er lächelte und fuhr durch die frisch gefärbten, hellbraunen Strähnen, die weniger akkurat geschnitten waren, als noch für den Dreh zu Ame, und dennoch hatte Yukke seinen typischen Topfschnitt beibehalten. Sein Freund war vermutlich der einzige Mensch, der diesen Haarschnitt mit so etwas wie Würde tragen konnte. Tatsuros Lächeln weitete sich und ohne darüber nachzudenken, dass jeden Moment Satochi oder Miya in den Flur treten konnten, lehnte er sich näher, bis er kurz vor Yukkes Lippen innehielt.

„Du siehst gut aus.“ Ein elektrisierendes Kribbeln jagte seine Wirbelsäule herab, als sich ihre Lippen trafen und der andere keine Sekunde zögerte, ihren Kuss zu vertiefen. Beinahe war Tatsuro überrumpelt von so viel Feuereifer, aber nur beinahe. Er wühlte die Finger in Yukkes weiches Haar, drängte sich noch näher gegen den warmen Leib, obwohl bereits jetzt kein Blatt mehr zwischen sie gepasst hätte. Himmel, wie er diese fordernde Seite seines Freundes vermisst hatte, für die in den letzten Wochen aus den verschiedensten Gründen einfach nie der richtige Augenblick gewesen war. Er fühlte die Tür im Rücken, als der andere ihn nach hinten drängte, spürte Yukkes Bein zwischen seine gleiten, das Vorfreude ganz anderer Natur in ihm aufkommen ließ. Aber Yukke wäre nicht Yukke, würde er hier nun kopflos seinen Trieben folgen und so zog er sich wenige Augenblicke später zurück, obwohl in seinen Augen das gleiche Bedauern stand, das sich auch in seinem eigenen Blick widerspiegeln musste.

 

„Schade, dass wir nicht allein sind“, murmelte er mit einem kecken Schmunzeln auf den Lippen und strich Tatsuro über die Wange. „Aber aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben, oder?“

 

„Worauf du wetten kannst.“ Er hauchte einen beinahe unschuldigen Kuss auf die weiterhin lächelnden Lippen, bevor er den anderen aus seinem Klammergriff entließ. „Du bist doch mit dem Wagen hier, oder? Dann könnten wir gleich fahren. Ich will Miya sowieso nicht länger auf den Geist gehen, als es sein muss.“

 

„Na, jetzt komm erst mal anständig hier an. Die paar Minuten wirst du auch noch warten können.“ Yukke zwinkerte ihm zu und hielt ihm seine Hand entgegen. Tatsuro schloss die Augen länger als ein Blinzeln, bevor er seinen Blick fast bohrend auf die ihm dargereichte Hand richtete. Beinahe zögerlich streckte er seine Eigene aus, verschränkte ihre Finger miteinander, blieb jedoch unbeweglich stehen, als Yukke einen Schritt nach vorn machte. „Was ist denn?“

 

„Es gibt da noch etwas, was ich dich fragen will“, begann er stockend und hob den Blick, um Yukke direkt in die Augen sehen zu können. Er hob ihre verbundenen Hände an und drückte einen Kuss auf Yukkes Handrücken, bevor er weitersprach. „Was ist das zwischen uns, Yukke?“ Er sah das Erstaunen im Gesicht seines Freundes, das Zucken seiner Mundwinkel, die sich nicht entscheiden zu können schienen, ob es angemessen war, nun zu lächeln.

 

„Was willst du denn, dass das zwischen uns ist?“

 

„Es ist unhöflich, eine Frage mit einer Gegenfrage zu beantworten.“

 

„Ich weiß. Aber ich denke, ich hab in den letzten Wochen meine Absichten mehr als deutlich gemacht, findest du nicht auch?“

 

Ein nervöses Zittern jagte durch Tatsuros Körper, als er langsam seine freie Hand hob, um sie gegen Yukkes Wange zu legen. Sogleich schmiegte sich sein Freund in diese Berührung, schloss sogar für ein paar Sekunden die Augen, bevor sein warmer Blick erneut abwartend auf ihm ruhte. Die letzten Monate zogen wie ein Film vor Tatsuros geistigem Auge vorbei.

 

 Ihr erstes Treffen; der Zusammenstoß in der BLP.

Der erste Drehtag; Yukkes Hände in seinen Haaren, als sie sich gegenseitig ein geeigneteres Styling verpasst hatten.

Ihr erstes Abendessen unter Kollegen; Yukkes stützende Arme, die ihn sicher ins Hotel gebracht hatten.

Die vielen Leckereien seiner Mutter, die Yukke mit ihm geteilt hatte; der Körper seines Freundes, der sich nackt und erregt unter ihm gewunden hatte.

Der Zeitungsartikel; wütende Worte, die er Yukke entgegengerufen hatte.

Yukkes Versuche, ihm alles zu erklären; die Kälte in seinem Herz, die ihn daran gehindert hatte, ihm zuzuhören.

Seek im Krankenbett; Yukke in seinen Armen.

Der letzte Drehtag am Meer; Yukkes Versprechen, ihn auf ein Date zu entführen.

Die Feier; ein wutverzerrtes Gesicht, das er für einen schrecklichen Moment für Yukkes gehalten hatte.

Das sterile Weiß im Krankenhaus; Yukkes Präsenz an seiner Seite, die ihm Halt gegeben hatte.

 

Tatsuro blinzelte, als die Realität wieder zurückkehrte. Er leckte sich über die Lippen, schob die Nervosität beiseite, die ihn daran hindern wollte, seinem Freund endlich zu gestehen, was er für ihn empfand. Seine Stimme war sanfter, als er sie selbst je gehört hatte, als er meinte: „Ich will mit dir zusammen sein. Ich will, dass das etwas Ernstes zwischen uns ist, und ich will es offiziell machen.“ Er verbat sich die Unsicherheit, die in ihm hochsteigen wollte, als eine Reaktion zunächst ausblieb. Für einmal in seinem Leben übte er sich in Geduld und wurde schlussendlich auch belohnt. Yukkes Lächeln war wie ein warmer Frühlingsregen, der über ihn hereinbrach und der Kuss, in den er gezogen wurde, süßer als alles, was er jemals geschmeckt hatte.

 

„Ich bin ja eigentlich kein Fan von überromantischen Liebeserklärungen, aber ich glaub, das will ich in meinem nächsten Film haben.“

 

Miyas Kommentar riss Tatsuro aus dem Nebel aus Glückseligkeit, der sein Hirn so herrlich eingehüllt hatte. Aber die Stimme des Regisseurs war derart trocken gewesen, dass ihn diese rüde Störung nicht einmal wütend machte. Eher noch im Gegenteil. Er konnte sich ein breites Grinsen nicht verkneifen, als Yukke ertappt stöhnend das Gesicht an seiner Brust vergrub und Satochi, der mit Miya im Türrahmen des Wohnzimmers stand und sie lächelnd betrachtete, ihm einen Daumen nach oben zeigte.

 

„Wollt ihr zwei eigentlich noch länger im Flur herumstehen?“ Sein Bruder machte eine scheuchende Handbewegung, aber bevor er sich mit Yukke im Arm in Bewegung setzte, drückte er ihm noch einmal einen Kuss auf den Schopf.

 

„Kann ich deine Reaktion als ein Ja auffassen?“

 

„Fragst du mich das ernsthaft?“ Yukke schaute ihn von unten herauf beinahe entrüstet an, aber Tatsuro sah nur zu deutlich, dass er sich ein breites Lächeln kaum verkneifen konnte.

 

„Mh, ich wollte nur auf Nummer sicher gehen.“

 

„Ich geb’s dir auch schriftlich, wenn du magst.“

 

„Na, das ist dann doch zu viel Aufwand.“ Er lachte, als sein Gegenüber mit den Augen rollte und nachdrücklich seine Hand umfasste, um ihn hinter sich her ins Wohnzimmer zu ziehen.

 

„Warte noch kurz.“ Tatsuro stemmte sich gegen den Griff, als er an Satochis Seite angekommen war und musterte seinen Bruder auffordernd. „Also, hast du mir nicht noch was zu sagen?“ Sato zuckte mit den Schultern, drehte sich zu Miya um und verstrickte den kleinen Regisseur in einen derart leidenschaftlichen Kuss, dass Tatsuro für einen Moment die Kinnlade offenstand. Dann jedoch schüttelte er nur grinsend den Kopf und folgte Yukke ins Wohnzimmer, wo sogleich die nächste Überraschung auf ihn wartete.

 

Lautes Jubeln schallte ihnen entgegen, als Yukke und er den kleinen Raum betraten, und Tatsuro konnte so schnell gar nicht alle Anwesenden erkennen, wie er sich schon in Umarmungen und mit Glückwünschen überhäuft wiederfand. Ein wenig überrumpelt ließ er sich zum Sofa dirigieren, vor dem auf dem niedrigen Couchtisch ein so großer Schokoladenkuchen stand, dass gut und gern eine ganze Kompanie davon hätte essen können.

 

„Schön, dass du wieder da bist“, sagte Yumiko an seiner Seite und reichte ihm ein Stück des Kuchens auf einem kleinen Teller.

 

„Danke.“ Er lächelte, noch immer absolut geplättet von der Tatsache, dass sich seine Freunde und Bekannten hier versammelt hatten, nur um ihn willkommen zu heißen. Neben Yumiko waren da natürlich Gara, Ami und Tanaka, der Tontechniker, Yamada und Hayashi vom Staff und sogar Frau Ishida, die in die Jahre gekommene Tiertrainerin, hatte sich der illustren Runde angeschlossen. Tatsuro musste zweimal hinsehen und widerstand nur knapp dem Drang, sich über die Augen zu reiben, als sich nicht gerade tatsächlich Tetochi auf dem Schoß ihres Frauchens streckte, nur um auf den Boden zu hüpfen und zu ihm hinüber zu tapsen.

Ein Lächeln, das den ganzen Raum hätte erhellen können, legte sich auf seine Züge, als er sich nach unten beugte, um die Katzendame hochzuheben.

 

„Hey, meine Süße“, murmelte er und vergrub für einen Moment sein Gesicht im weichen Fell des Tiers. „Mit dir hätte ich ja am wenigsten gerechnet.“ Er schenkte Frau Ishida ein dankbares Lächeln, bevor das große Stühlerücken begann, als sich auch Satochi und Miya zu ihnen gesellten. Yukke endete an seiner Seite, halb auf seinem Schoß sitzend und Yumikos spitzer Ellenbogen hatte schon zum zweiten Mal unangenehmen Kontakt mit seinen Rippen gemacht, aber trotz der Enge hätte er keine Sekunde dieser unerwartet schönen Erfahrung missen wollen. Sie redeten und lachten, Tetochi stibitzte sich Sahne von seinem Teller und als Miya die Spirituosen auspackte, wurde der gemütliche Nachmittag zu einem feuchtfröhlichen Abend.

 

„Ehm …“, räusperte sich Tatsuro irgendwann, als der Alkohol seinen Magen in ein angenehm warmes Knäuel verwandelt hatte und sich sein Kopf mehr und mehr mit wohltuendem Nebel füllte. „Ich vertrag eindeutig nichts mehr.“ Er kicherte, was den Rest der Anwesenden hörbar amüsierte und fuhr sich durchs Haar. „Also, bevor ich mich in den nächsten Minuten komplett abschieße – und ja, das hab ich so was von vor …“ Wieder ging ein erheitertes Murmeln durch die Runde und Yukkes Arm schlängelte sich hinter seinem Rücken hindurch, um ihn näher an sich zu ziehen. „… hätte ich euch allen noch was zu sagen.“

 

„Oje, soll das eine Rede werden?“, unterbrach Satochi sein Gestammel und grinste ihn breit an.

 

„Worauf du einen lassen kannst.“ Tatsuro feixte und setzte mit einem Augenzwinkern nach: „Bereite dich also schon mal auf eine Runde fremdschämen vor, ich werde mich nicht zurückhalten.“

 

„Wo ist ein Loch, wenn man eines braucht?“ Satochi schlug theatralisch die Hände vorm Gesicht zusammen, was Tatsuro erneut etwas zu betrunken kichern ließ.

 

„Also …“, begann er schließlich und räusperte sich. „Ich wollte mich bedanken. Für alles, was ihr in letzter Zeit für mich getan habt, für eure Unterstützung und vor allem dafür, dass ihr heute alle hier seid, um mit mir zu feiern. Auch wenn ich anfangs nicht begeistert von Ame war …“

 

„Die Untertreibung des Jahrhunderts“, warf Gara lachend ein, was er nur ein wenig ertappt erwidern konnte.

 

„Ja~, ich geb zu, dass auch ich mich mal irre.“ Yukke versteckte sein Lachen an seiner Schulter und ohne darüber nachzudenken, drückte er ihm einen kurzen Kuss auf den Haarschopf. Immerhin hatte er gesagt, dass er die Beziehung zu ihm offiziell machen wollte, da konnte er also auch hier und jetzt damit anfangen. „Wie dem auch sei. Ich wollte euch nur sagen, dass ich froh bin, mit euch gearbeitet zu haben. Ich glaub, wir sind eine tolle Truppe.“

 

„Na, dann“, schaltete sich Miya ein, der, während Tatsuro geredet hatte, eine Runde Sake in kleine Becher verteilt hatte und diese nun auf einem Tablett stehend den Anwesenden reichte. „Auf uns, würde ich sagen.“

 

„Auf uns!“

 

~*~

 

„Tatsue? Hey, Tatsue?“ Eine sanfte Stimme holte ihn aus seinem Schlummer und er murrte leise, als zusätzlich noch an seiner Schulter gerüttelt wurde. Blinzelnd öffnete er ein Lid, aber die Welt vor seinem Auge blieb grau, bis er sich daran erinnerte, auch noch das zweite aufzumachen. Yukkes Gesicht schwamm langsam in Fokus und sogleich legte sich ein zufriedenes Lächeln auf seine Lippen.

 

„Selber hey“, murmelte er und hob die Hand, um sie in den Nacken seines Freundes zu legen und ihn daran näher an sich zu ziehen. Der Kuss war träge und etwas unkoordiniert, was dem warmen Gefühl in seinem Magen jedoch keinen Abbruch tat.

 

„Willst du, dass ich dich nach Hause fahre, oder möchtest du hierbleiben? Miya hätte das Gästezimmer frei.“

 

„Mh?“ Tatsuros Stirn legte sich in Falten, als sein müdes Gehirn versuchte, das Gesagte zu verstehen. „Miya?“

 

„Ja, Schlafmütze.“ Yukke grinste und setzte sich neben ihm aufs Sofa. „Du bist einfach eingeschlafen. Die anderen sind schon gefahren.“

 

„Oh.“ Er rieb sich übers Gesicht und bemerkte erst jetzt, dass er ziemlich unbequem auf Miyas Couch lümmelte. Eine Wolldecke war über seinen Schoß drapiert worden und sein Kopf lehnte gegen eines der Sofakissen, aber der leichte Schmerz in seinem Nacken zeigte nur zu deutlich, dass seine Haltung nicht gerade ergonomisch gewesen war. „Tut mir leid“, nuschelte er um ein Gähnen herum und richtete sich langsam in eine sitzende Position auf. „Ganz fit bin ich wohl doch noch nicht.“

 

„Macht doch nichts. Dafür hatte jeder Verständnis und du warst ein sehr dankbares Fotomodell.“

 

Tatsuros Augenbraue wanderte ein ganzes Stück nach oben, aber als Yukkes Finger durch sein Haar strichen, nur um ihn sanft im Nacken zu streicheln, hatte er schon längst wieder vergessen, was ihn eben noch irritiert hatte.

 

„Fährst du mich heim? Ich würde gern mal wieder in meinem eigenen Bett schlafen.“

 

„Natürlich.“ Yukkes warme Lippen strichen in der Andeutung eines Kusses über die Seinen, bevor er sich erhob und ihm die Hand entgegenstreckte. „Na, dann komm, hoch mit dir.“

 

Dankbar ließ er sich nach oben ziehen und auch Yukkes stützender Arm um seine Mitte war mehr als willkommen. Der Alkohol schien sein System fast vollständig verlassen zu haben, dennoch fühlte er sich schwach und unendlich müde. Vielleicht war das heute etwas viel für einen Tag, aber wenn er ehrlich war, hätte er sich seinen ersten Tag in Freiheit nicht schöner vorstellen können. Satochi und Miya unterhielten sich leise in der Küche, aber das gelegentliche Klappern von Geschirr verstummte, als sie sich zu ihnen in den Flur gesellten.

 

„Du fährst heim?“, wollte Satochi das Offensichtliche wissen und schulterte ohne Aufforderung seine Reisetasche, nachdem er genickt hatte. „Ich begleite euch noch schnell zum Wagen.“

 

Tatsuro gähnte erneut ungeniert und richtete seine Aufmerksamkeit dann auf Miya, der im Rahmen der Küchentür lehnte und sie zufrieden musterte.

 

„Danke für deine Gastfreundschaft“, murmelte er etwas sehr förmlich und verbeugte sich, erleichtert feststellend, dass Miya diese Geste ohne Weiteres erwiderte.

 

„Es war mir ehrlich eine Freude, euch heute alle hier zu haben.“ Der kleine Regisseur stieß sich vom Türrahmen ab, kam auf ihn zu, bis er direkt vor ihm stehen blieb. „Hier.“ Verwundert nahm Tatsuro die Zettel entgegen, die der andere ihm soeben gereicht hatte, und blätterte sie durch. Er war zu müde, um sein Auge dazu bewegen zu können, das Geschriebene richtig zu lesen, aber der Aufbau erinnerte ihn an ein Skript. Fragend hob er die Augenbraue, musste jedoch nicht lange auf eine Erklärung warten. „Ich wusste nicht, ob du früh genug entlassen wirst, um Akihikos Monolog selbst einzusprechen …“

 

Tatsuro brummte verstehend und war tatsächlich froh darüber, dass Miya noch immer sein pflichtbewusstes Selbst war, obwohl es in den letzten Wochen manchmal so ausgesehen hatte, als hätte er diesen Wesenszug ihm gegenüber verloren.

 

„Ich schau es mir morgen gleich an, wann brauchst du mich im Studio für die Aufnahmen?“

 

„Ich melde mich im Laufe der Woche bei dir, ist das in Ordnung.“

 

„Klar, ich hab für die nächsten Tage nicht wirklich etwas geplant.“

 

„Ach, und Tatsuro?“

 

„Mh?“

 

„Wenn du Anpassungen für richtig hältst, tu dir keinen Zwang an.“ Das Grinsen, das Miya ihm daraufhin schenkte, war derart frech, dass es ihn wie einen Lausebengel aussehen ließ. Tatsuro lachte, versicherte, dass er sich nicht zurückhalten würde, und gesellte sich nach einer kurzen, aber herzlichen Verabschiedung zu Satochi und Yukke. Die Fahrertür des roten Kleinwagens stand offen, Yukke rauchend davor, während Satochi ihn anlächelte.

 

„Wird höchste Zeit, dass du ins Bett kommst“, stellte Satochi fest und konnte den brüderlich besorgten Unterton in seiner Stimme nicht ganz verbergen.

 

Tatsuro tat so, als hätte er nichts gehört, als er gespielt zerknirscht erwiderte: „Sieht man es mir so deutlich an?“

 

„Ich glaub, deine Augenringe haben schon Augenringe.“

 

„Charmant wie immer.“ Sie lachten und Yukke schnippte seine aufgerauchte Zigarette in einen nahen Gully, bevor er um den Wagen herumging, um Tatsuro die Beifahrertür zu öffnen. „Da siehst du mal, Bruderherz, nimm dir ein Beispiel an Yukke, der weiß, wie so was geht.“

 

„Sorry, aber mein Love-Interest wartet da drüben auf mich. Du bist nur mein Bruder, da brauch ich mich nicht zu bemühen.“

 

„Tja“, seufzte Tatsuro übertrieben resigniert, „Familie kann man sich nicht aussuchen.“ Er grinste, als er Satos Haare durcheinanderbrachte und ihn in eine kräftige Umarmung zog. „Danke für alles.“

 

„Nicht dafür.“ Sato lächelte und klopfte ihm auf die Schulter, bevor Tatsuro sich ins Auto setzte. „Fahrt vorsichtig, ja.“

 

„Machen wir. Gute Nacht, Sato“, entgegnete Yukke und drückte Satochi zum Abschied, bevor auch er einstieg und sich anschnallte.

 

„Nacht, Satochi.“

 

„Nacht, ihr zwei.“

 

Tatsuro lehnte sich gemütlich im Sitz zurück, während Yukke den Wagen durch die Straßen der nächtlichen Stadt lenkte. Immer wieder fielen ihm die Augen zu, bis er den Kopf zur Seite drehte, um seinen Freund ansehen zu können.

 

„Der Tag war wirklich schön“, murmelte er, mit halbem Ohr dem Song im Radio lauschend.

 

„Das freut mich.“ Yukkes Hand lag plötzlich warm auf seinem Oberschenkel und er lächelte, während er ihre Finger miteinander verschränkte. „Ich bin froh, dass du endlich aus der Klinik raus bist.“

 

„Ich auch.“ Er gähnte und blinzelte, als ihn die Lichter eines entgegenkommenden Fahrzeugs kurz blendeten. „Ich mach mir ein wenig Sorgen um Ami. Ist dir aufgefallen, wie ruhig sie war? Sie hat kaum drei Sätze mit mir geredet.“

 

„Ja …“ Yukke drehte sich etwas zur Seite und musterte ihn eindringlich, als wäre er überrascht davon, dass Tatsuro derart aufmerksam gewesen war. Dann jedoch schüttelte er nur leicht den Kopf und konzentrierte sich erneut aufs Fahren. „Es schien ihr nicht gut zu gehen, aber als ich sie darauf angesprochen habe, was mit ihr ist, hat sie nur abgewunken.“

 

„Oh, ehrlich?“ Tatsuro presste nachdenklich die Lippen aufeinander. „Ob ich sie die Tage mal anrufen soll?“

 

„Mh, du hattest den meisten Kontakt zu ihr, warum also nicht? Vielleicht tut es ihr gut, zu wissen, dass sich jemand um sie sorgt.“

 

„Ja, vielleicht.“ Tatsuro rieb sich über die Nase, ein weiteres Gähnen unterdrückend, und nahm sich vor, sich morgen einfach mal bei Ami zu melden. Für einen langen Moment schloss er die Augen und spürte, wie schwer und träge sein Körper geworden war. Sato hatte recht, es war höchste Zeit, dass er ins Bett kam. Aber … apropos Bett, da fiel ihm doch gleich noch etwas ein. „Du lässt mich heute aber nicht allein in meiner Wohnung, oder?“

 

„Nicht, wenn ich nicht muss.“

 

„Gut.“

 

„Mach ruhig die Augen zu, ich weck dich, wenn wir angekommen sind.“

 

„In Ordnung.“ Tatsuros Lächeln wollte gar nicht mehr verschwinden, während er den Blick auf Yukke gerichtet hatte, bis das Bild vor seinem Auge mehr und mehr verschwamm, als ihn die Erschöpfung einholte.

Klappe, die Achtzehnte

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Klappe, die Neunzehnte

Er fühlte sich, wie zu Schulzeiten, wenn er etwas ausgefressen hatte und vor dem Büro des Schulleiters warten musste, bis er eingelassen wurde. Nur dass er diesmal keinen verbalen Klaps auf die Finger zu befürchten hatte, sondern sich einem viel größeren Gegner würde stellen müssen – seiner eigenen Angst. Satochi und Yukke saßen rechts und links neben ihm auf der unbequemen Holzbank und obwohl ihre Gegenwart unter anderen Umständen beruhigend auf ihn wirken würde, hatte er nun beinahe das Gefühl, sie würde ihm jegliche Luft zum Atmen nehmen. Er hasste sich für diese Schwäche, die seine Hände zittern ließ, als er die schweißfeuchten Handflächen an seiner grauen Stoffhose trocken zu reiben versuchte.

 

„Ist alles in Ordnung?“ Yukke sah mindestens so angespannt aus, wie er sich fühlte, und ohne zu zögern, umfasste er seine Hand, verschränkte ihre Finger miteinander. Er nickte abgehakt, brachte es jedoch nicht über sich, auch verbal zu antworten. Sein Freund schien ihm dies nicht übel zu nehmen, lächelte nur kurz und drückte seine Finger, bevor er erneut Löcher in die Luft zu starren begann. Auch Satochis Nerven schienen nur noch an einem seidenen Faden zu hängen, was ihm ein Blick zu seiner Rechten bestätigte. Gara ging schon seit Minuten immer wieder den zugigen Flur, in dem man sie warten ließ, auf und ab, während Yumiko so gebannt auf die Zeitschrift in ihrem Schoß starrte, als wäre dort der Sinn des Lebens abgedruckt worden. Der Einzige, der nicht so wirkte, als würde er jeden Moment türmen wollen, war Miya, doch auch im Gesicht des Produzenten zeichneten sich deutlich tiefere Sorgenfalten ab, als üblich für ihn waren. Die beiden Türen aus dunklem Eichenholz ihnen gegenüber schienen mit jeder verstreichenden Sekunde bedrohlicher auf sie herabzublicken, und als sich eine von ihnen unerwartet öffnete, konnte Tatsuro nicht verhindern, dass sein gesamter Körper wie unter einem Blitzschlag zusammenzuckte.

 

„Sie können den Gerichtssaal nun betreten“, verkündete ein uniformierter Gerichtsdiener, der im entstandenen Türspalt erschienen war, und nickte ihnen freundlich zu. „Die Durchsicht der Videobeweise ist abgeschlossen.“

 

Tatsuro verzog bei der Erwähnung besagter Beweise das Gesicht, erhob sich jedoch und straffte die Schultern. Er würde Nobu nicht auch noch die Genugtuung geben, nun duckmäuserisch das Gericht zu betreten. Schlimm genug, dass er sich von Doktor Suemura hatte überzeugen lassen, dass es für ihn und seine Mitstreiter gesünder war, sich die Videos nicht anzusehen.

 

„Sie denken also, ich würde es nicht ertragen, zu sehen, was dieses Schwein mir angetan hat? Newsflash, Doc, ich war dabei.“ Tatsuro war so unglaublich wütend gewesen, doch der Psychologe hatte keine sichtbare Reaktion auf seinen Ausbruch gezeigt. Nicht einmal ein beruhigendes Lächeln hatte sich auf die ernsten Züge gelegt, was er beinahe noch nervtötender gefunden hatte, als das, was er ihm zu sagen gehabt hatte.

 

„Ich behaupte nicht, dass sie schwach sind, Herr Iwakami. Ich behaupte auch nicht, dass sie es nicht ertragen würden, sich die Videobeweise vor Gericht anzusehen. Aber ich garantiere ihnen, dass es nicht förderlich für sie sein wird. Sie wollen Ihre enormen Fortschritte der letzten Wochen doch nicht nur deswegen aufs Spiel setzen, um sich oder irgendjemandem etwas zu beweisen?“

 

Der so typisch sonore Tonfall des Therapeuten hatte es auch an diesem Tag – wie jedes verdammte Mal zuvor – geschafft, seine Wut so schnell im Nichts verpuffen zu lassen, als wäre sie nie da gewesen. Tatsuro erinnerte sich, wie ertappt er sich in diesem Augenblick gefühlt hatte, denn Doktor Suemura hatte mit seiner Einschätzung den Nagel auf den Kopf getroffen. Er hatte tatsächlich befürchtet, schwach zu erscheinen, wenn er die Videos nicht genau wie alle anderen auch ansehen würde, und diesen Triumph wollte er Nobu keineswegs geben. Aber jetzt, als er den Gerichtssaal betrat und ihm die Blässe im Gesicht seines Bruders und der angespannte Zug um Yukkes Mund auffielen, war er heilfroh, einmal nicht stur gewesen zu sein. Nicht seinetwegen – er war noch immer der Überzeugung, dass er es ohne Folgen für seine mentale Regeneration überstanden hätte – aber für die beiden Männer an seiner Seite. Für sie war es die richtige Entscheidung gewesen. Weder Yukke noch Satochi hätten ihn das allein durchstehen lassen und sie hatten weiß Gott schon genug ertragen müssen.

 

Tatsuros Blick war starr nach vorn gerichtet, als er sich neben seinen Anwalt an den Tisch links vom Richterpult setzte, während seine Mitstreiter auf einer langen Bank hinter ihm Platz nahmen. Er erwiderte das begrüßende Nicken der Richterin und schaffte es sogar, den bohrenden Blick Nobus zu ertragen, als dieser nach vorn in den Zeugenstand beordert wurde.

 

„Ihr Name ist Ogawa, Nobu Kenichi, ist das korrekt?“, begann die Richterin ohne Umschweife, während Tatsuros Anwalt seine Unterlagen auf dem Tisch vor sich ausbreitete. Für einen Moment betrachtete er die Blätter, schnappte hier und da Worte auf, die sich Shiroda-san handschriftlich notiert hatte. Ein Schauer rann ihm über den Rücken, als er begriff, dass es die Reaktionen der Geschworenen auf die Videos waren, die der Anwalt analysiert und festgehalten hatte. Der kollektive Konsens schien Entsetzen gewesen zu sein, was ihn hätte freuen sollen, bedeutete dies doch, dass sie gute Chancen haben würden, Nobu seiner gerechten Strafe zuzuführen, aber andererseits … Ihm wurde schlecht, als ihm bewusst wurde, wie viele Fremde nun wussten, haargenau wussten, was er durchgemacht hatte.

 

„Das ist korrekt, ehrenwerte Richterin.“

 

Er presste seine Lippen fest aufeinander, als Nobu mit klarer Stimme und ohne zu zögern auf die Frage antwortete. Verflucht, wo nahm dieser Kerl die Selbstsicherheit her, mit der er hier auftrat? Als wäre das alles nur eine weitere Rolle, für die er sich qualifizieren wollte.

 

„Sie sind am 29. November 1975 in Kyoto geboren?“

 

„Auch das ist korrekt.“

 

„Herr Ogawa, nachdem dem Gericht die erschütternden Beweise Ihrer Tat vorgeführt wurden, was haben Sie zu Ihrer Verteidigung zu sagen?“

 

„Ehrenwerte Richterin …“, begann Nobu und machte eine kunstvolle Pause, für die er ihm am liebsten ins Gesicht geschlagen hätte. „Ich bekenne mich schuldig, die vorgenannten Taten begangen zu haben, möchte jedoch auf das Gutachten meiner Psychologin, Frau Chang, hinweisen, dass ich zum Zeitpunkt der Tat nicht schuldfähig war.“

 

Ein Raunen ging durch den Gerichtssaal, sodass die Richterin mit zwei Schlägen ihres Hammers auf den vor ihr liegenden Resonanzblock für Ruhe sorgen musste.

 

„Ruhe! Ruhe, bitte! Herr Ogawa, bitte führen Sie ihre Behauptungen näher aus.“

 

„Ich leide seit frühster Kindheit unter einer manisch-depressiven Persönlichkeitsstörung …“

 

Tatsuro schloss sein gesundes Auge – das andere hielt er unter einer schwarzen Augenklappe verborgen – und widerstand nur mit großer Mühe dem Drang, sein Gesicht hinter den Händen zu verstecken, als sich Nobu in ausschweifenden Erklärungen verlor. Erklärungen, die ein komplett anderes Bild der Geschehnisse zeichneten und ihn in einem deutlich besseren Licht dastehen ließen. Verflucht, genau davor hatte ihn sein Anwalt gewarnt.

 

In seinen Ohren hatte sich ein hohes Pfeifen breitgemacht und als Nobu endlich den Zeugenstand verließ, hätte er weder sagen können, was genau der andere alles erzählt hatte, noch wie viel Zeit vergangen war. Mit zitternden Fingern griff er nach dem Wasserglas vor ihm, leerte es in nur wenigen, großen Schlucken und nickte Shiroda-san dankend zu, als er ihm nachschenkte.

 

„Es werden nun nach und nach alle Zeugen aufgerufen. Auch Herr Ogawas Bruder wird seine Aussage machen“, flüsterte Shiroda. Erstaunt hob Tatsuro den Kopf und sah sich zum ersten Mal richtig im Gerichtssaal um. Tatsächlich, auf der Bank hinter Nobu und seinem Verteidiger saß Kaisuke. Beinahe hätte er ihn nicht wiedererkannt. Das lange Haar des jungen Praktikanten wirkte strähnig und ungewaschen, das hagere Gesicht noch blasser als sonst und generell sah er so aus, als hätte er seit Wochen nichts mehr gegessen. Erschreckend, war das einzige Wort, das ihm bei diesem Anblick in den Sinn kam, aber er fand es nicht in sich, Mitgefühl für ihn zu empfinden.

„Wenn Sie zu einem Zeitpunkt eine Pause brauchen, zögern Sie nicht, den Saal zu verlassen. Das steht Ihnen jederzeit frei.“ Erneut riss ihn die Stimme seines Anwalts aus seinen Gedanken und er nickte, ohne richtig zugehört zu haben, weil gerade Yukke in den Zeugenstand gerufen wurde.

 

Wie gebannt hing sein Blick an seinem Freund, an der geraden Linie seiner Schultern, dem scharfen Schwung seines Kiefers. Himmel, wie gerne wäre er jetzt wo anders, weit weg von all dem hier. Wie gerne würde er Yukke nun in seine Arme ziehen, um in seiner Gegenwart alles vergessen zu können.

 

„Wann werde ich mit meiner Aussage dran sein?“, erkundigte er sich ebenso flüsternd und presste die Lippen fest aufeinander, als Shiroda ihm eröffnete, dass er der Letzte sein würde. Verdammt, wie sollte er das aushalten?

 

~*~

 

Miya musste zugeben, dass es ihm alles andere als leicht gefallen war, seine Aussage zu machen. Dementsprechend erleichtert war er gewesen, als er es endlich hinter sich gebracht hatte. Wenn er jedoch geglaubt hatte, damit das Schlimmste überstanden zu haben, hatte er sich gehörig geirrt. Yukkes Schilderungen zu hören, war schon hart gewesen, aber als es an Satochi war, die Ereignisse zu rekapitulieren, hatte er sämtliche Willensstärke aufbringen müssen, um sich nicht schützend an die Seite seines Partners zu stellen. Sein Magen krampfte noch immer, wenn er sich an den Moment zurückerinnerte, als Satochi die Stimme beinahe versagt war, während er den grauenvollen Zustand beschrieben hatte, in dem sich sein Bruder befunden hatte, als sie ihn in diesem Kellerraum entdeckt hatten. Natürlich hatten die Geschworenen zu diesem Zeitpunkt bereits alles gesehen und es schauderte ihn, daran zu denken, welche Details sich auf den Videobändern verbargen, von denen sie alle, bis auf Tatsuro natürlich, nichts wussten. Dennoch war es notwendig gewesen, dem Gericht zusätzlich auch ihre individuellen Erlebnisse zu schildern. Ein naiver Teil in ihm war sich sicher gewesen, dass ihn nach Satochis Aussage nichts mehr aus der Fassung bringen konnte, doch Tatsuro bewies ihm gerade das Gegenteil.

Jedes seiner Worte bohrte sich wie spitzes Glas in das kollektive Trauma, das sie alle in dieser Nacht erlitten hatten. Er konnte es kaum ertragen, der monotonen, nahezu klinischen Berichterstattung des Schauspielers zuzuhören und mehr von den Unmenschlichkeiten, die Nobu ihm angetan hatte, zu erfahren, als er jemals hatte erfahren wollen. Und wenn er sich schon so fühlte, wie musste es da den beiden Männern gehen, die Tatsuro um so vieles näherstanden als er? Er wagte einen Blick zur Seite, musterte Satochis angespanntes, blasses Profil und beschloss, seine Prinzipien für den Moment in den Wind zu schlagen, als er nach den verkrampften Fingern seines Partners griff. Miya war ein rationaler Mensch, schon immer gewesen, und oftmals wurde ihm deswegen Gefühlskälte unterstellt, aber in diesem Augenblick hätte er alles gegeben, um wenigstens einen Teil des Schmerzes, der sich in Satos Augen widerspiegelte, auf sich nehmen zu können.

 

„Hältst du es noch aus?“, wisperte er, um den Ablauf der Gerichtsverhandlung nicht zu stören. „Wir können für einen Moment nach draußen gehen, wenn es dir damit besser geht.“

 

„Nein, ich möchte hier sein, falls er mich braucht.“ Satochi legte seine freie Hand auf ihre verschränkten Finger, als würde er so den Halt suchen, der ihm verloren gegangen war. Und wenn es Halt war, den er in dieser schweren Stunde brauchte, dann würde Miya ihm genau diesen geben. „Aber danke, dass du gefragt hast.“

 

„Nicht dafür.“ Er lächelte nicht beruhigend, drückte auch nicht in einer Geste, die Mut machen sollte, Satochis Hand, aber er war da, würde immer da sein, wenn der andere ihn brauchte.

 

„Wie können sie nur zulassen, dass er das alles noch einmal erzählen muss?“, wisperte Yukke, der auf seiner anderen Seite saß so leise, dass er sich nicht sicher war, ob seine Worte tatsächlich an ihn gerichtet waren. „Reicht es nicht, dass er vor der Polizei schon alles im Detail ausbreiten musste? Sie haben doch gesehen, was dieser Mistkerl ihm angetan hat.“ Yukkes Blick war so starr auf Tatsuro gerichtet, als könne er es kaum ertragen, in diesem Augenblick räumlich von ihm getrennt zu sein. Ein Gefühl, das Miya nur allzu gut nachvollziehen konnte. „Wer jetzt noch denkt, Nobu sei unschuldig, der hat in diesem Gerichtssaal nichts verloren.“

 

„Yukke“, murmelte er mit nur einem Hauch eines mahnenden Untertons in der Stimme. „Damit hilfst du ihm nicht.“

 

„Sieh ihn dir doch an. Ich ertrage es nicht, ihn so zu sehen. Nicht schon wieder.“

 

„Ich weiß.“

 

„Herr Iwakami.“ Die unerwartet feste Stimme des Anwalts ließ nicht nur Miya für eine Sekunde zusammenzucken, als er das Wort an seinen Mandanten richtete. „Ich danke Ihnen sehr für Ihre Schilderung. Ich weiß, dass das nicht leicht für Sie gewesen ist.“

Tatsuro nickte lediglich, das unbedeckte Auge starr vor sich auf einen Punkt gerichtet, den wohl nur er sehen konnte.

„Herr Iwakami. Was hat Ihrer Meinung nach Herrn Ogawa dazu gebracht, diese Tat zu begehen?“

 

„Einspruch!“, rief der Verteidiger aus, noch bevor Tatsuros Anwalt zu Ende gesprochen hatte. „Das sind reine Mutmaßungen, die lediglich das subjektive Empfinden des Zeugen widerspiegeln würden.“

 

„Ganz genau. Gerade deswegen würde ich sie sehr gerne hören. Einspruch nicht stattgegeben“, hakte die Richterin ein, deren scharfer Blick eine Spur einfühlsamer wurde, als sie sich direkt an Tatsuro wandte.

„Herr Iwakami, wenn Sie sich dazu in der Lage sehen, die Frage Ihres Anwalts zu beantworten …“

 

„Ich … Ich denke, es hat schon angefangen, als Nobu kurz vorm Finale der dritten Staffel von WORLD OF DECEPTION aus dem Drehbuch geschrieben wurde. Er hat mir dafür die Schuld gegeben, hat mir unterstellt, ihn vor den Produzenten schlecht gemacht zu haben und ihn …“ Hilflos zuckte Tatsuro mit den Schultern. „Er hat so getan, als wäre mir unsere Beziehung, die zu dem Zeitpunkt schon seit mehreren Monaten Bestand hatte, nie ernst gewesen. Als hätte ich ihn nur benutzt, verführt wie er es genannt hat, um …“ Tatsuros Stimme versagte. Der stoische Ausdruck, der sein Gesicht bis dahin dominiert hatte, verschwand und ließ erahnen, wie es wirklich in ihm aussah.

 

„Wir haben Zeit, Herr Iwakami“, erklang die ruhige Stimme der Richterin erneut und Tatsuro nickte, griff nach dem Glas Wasser, das vor ihm stand, um einen großen Schluck zu trinken. Seine Hand zitterte so stark, dass etwas Wasser über den Rand des Glases schwappte und kleine Pfützen auf der Tischplatte bildete, doch er schien dies gar nicht zu bemerken.

 

„Warum tut sie ihm das an?“, flüsterte Satochi und Miya verzog kurz das Gesicht, als sich die Fingernägel des anderen unangenehm fest in die Haut seiner Handfläche drückten.

 

„Ich bin mir nicht sicher“, antwortete er, obwohl er nicht wusste, ob Satos Frage nicht nur eine rein rhetorische war. „Ich könnte mir vorstellen, dass Sie damit Nobus Aussage entkräften will.“

 

„Denkst du wirklich, irgendjemand nimmt diesem Schwein ab, dass er zum Zeitpunkt der Tat nicht im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte war? Das ist doch Bullshit“, zischte Yukke und anders als Satochi, der müde und niedergeschlagen wirkte, konnte er aus der Stimme seines langjährigen Freundes die Wut heraushören, die sich immer mehr in ihm aufzubauen schien.

 

„Das weißt du und wissen wir, Yukke, aber wir sind nicht die Geschworenen“, murmelte er und atmete unwillkürlich erleichtert aus, als sich Gara, der auf der Bank ganz außen saß, etwas über Yumiko beugte, um dem Schauspieler besänftigend eine Hand auf die Schulter legen zu können.

 

„Wenn du dich nicht beruhigst, verweisen sie uns noch des Gerichtssaals …“

 

Yukke verzog das Gesicht, als wäre ihm tatsächlich jetzt erst bewusst geworden, dass Garas Warnung ein Szenario beschrieb, das durchaus so passieren konnte und das er tunlichst verhindern wollte. Miya seufzte unhörbar und rieb sich über die Schläfen, hinter denen sich Kopfschmerzen anbahnten. Ohne es zu wollen, fiel sein Blick dabei auf Nobu, der mit einer irritierenden Gelassenheit Tatsuros Schilderungen zuhörte. Verdammt, war diese fast apathische Ruhe, die er zur Schau stellte, ein weiterer Bestandteil seiner Taktik, sich als nicht zurechnungsfähig zu präsentieren? Ihm musste doch klar sein, dass sämtliche Aussagen und Beweise gegen ihn sprachen und er nicht einmal mit viel Glück einer harten Strafe entgehen würde. Sie hatten Tapes, auf denen seine Verbrechen im Detail zu sehen waren, verdammt noch mal, wie konnte er da noch so zuversichtlich lächeln?

‚Als wäre es ihm egal, wie die Gerichtsverhandlung für ihn ausgeht … oder als wüsste er, dass er am Ende doch gewinnt.‘

 

„Ich danke Ihnen, Herr Iwakami.“

Miya blinzelte, als sich die Richterin erhob und es ihr die Versammelten gleichtaten. War er wirklich so in seinen Gedanken und Beobachtungen versunken gewesen, dass er das Ende von Tatsuros Ausführungen nicht mitbekommen hatte? Verstohlen rieb er sich über die Unterarme, über die sich eine dicke Gänsehaut zog, und versuchte, das ungute Gefühl, das ihn in den letzten Minuten überkommen hatte, wieder loszuwerden.

„Die Verhandlung ist für heute beendet. Verehrte Geschworene, ich erwarte Sie morgen um zehn Uhr zur Urteilsverkündung.“ Ein zustimmendes Raunen ging durch die Reihen der Schöffen, während sich die Türen des Gerichtssaals von außen öffneten. Zwei uniformierte Männer traten ein, nickten der Richterin grüßend zu und postierten sich links und rechts neben Nobu. „Sie können den Angeklagten abführen“, erklärte sie, bevor sie hinter einer unscheinbaren Tür am Kopfende des Raums verschwand, während die Polizisten ihrer Aufforderung nachkamen.

 

Tatsuro war der Einzige gewesen, der sich gerade nicht erhoben hatte, und so saß er noch immer bleich und kränklich wirkend an Ort und Stelle, bis Yukke die wenigen Meter zu ihm überwunden hatte.

 

„Gehts?“, hörte Miya ihn sagen, bevor er sich abwandte und gemeinsam mit Satochi, Gara und Yumiko den Saal verließ.

 

„Ich brauch eine Zigarette“, murmelte er und hatte kaum fertiggesprochen, als er sich von Satochi am Arm gefasst und durch die Anwesenden dirigiert wiederfand. Ein feines Lächeln legte sich auf seine Lippen, bevor ihm ein langer Seufzer entkam, als ihn endlich frische, unverbrauchte Herbstluft umgab.

 

„Gott, ich hätte es keine Sekunde länger da drin ausgehalten“, gab Satochi zu und lehnte sich gegen die hohe Betonwand, die den Innenhof umgab, in den er sie gelotst hatte. „Ist es schlimm, wenn ich gerade nicht genug Kraft habe, um an Tatsuros Seite zu sein?“

 

„Ich denke nicht, dass er dir das übel nehmen wird“, nuschelte Miya, eine Zigarette zwischen den Lippen klemmend, die er mit einer Hand vor dem Wind abschirmte, um sie sich anstecken zu können. Erst, als er einen tiefen Zug genommen hatte und den blauen Dunst langsam wieder ausatmete, sprach er weiter: „Außerdem ist Yukke bei ihm, der passt auf ihn auf.“

 

„Du hast recht. Wie ich meinen Bruder kenne, will er sowieso nicht, dass ich ein großes Drama aus der ganzen Sache mache. Das will er nie.“ Sato fuhr sich durchs Haar, bis ihm die dunkelbraunen Strähnen in alle Himmelsrichtungen vom Kopf abstanden. Miya schmunzelte, fand das Verhalten seines Partners trotz des Ernsts ihrer Situation schlichtweg bezaubernd, und streckte eine Hand aus, um wenigstens einige der Strähnen wieder glatt zu streichen.

 

„An seiner Stelle würde es mir wohl ähnlich gehen, aber ich kann mir gut vorstellen, wie sehr es dich frustrieren muss, ihm nicht helfen zu können.“

 

„Du meinst wohl eher, ihm nicht helfen zu dürfen. Das ist eigentlich das Schlimmste an der Sache.“

 

„Geht es dir nicht oft genug genau wie ihm gerade?“ Miyas vielsagender Blick ruhte auf Satochis Gehstock, auf den er sich mindestens so schwer stützte, wie er gegen die Wand gelehnt dastand. Er wusste, dass sein Partner schon seit dem letzten Wetterumschwung wieder unter heftigen Schmerzen litt – die verschreibungspflichtigen Schmerzmittel, die er überall mit sich herumtrug, sprachen Bände – und doch hatte er immer abgewiegelt, wenn Miya ihn gefragt hatte, ob alles in Ordnung sei.

 

„Tu das nicht.“

 

„Was denn?“

 

„Mir so deutlich unter die Nase reiben, dass du mal wieder recht hast.“

 

„Tue ich das?“ Nun zupfte ein verhaltenes Grinsen an Miyas Mundwinkel, als er einen Schritt auf Satochi zuging und ihm nach einem schnellen Blick zu allen Seiten einen kurzen Kuss auf die Lippen drückte. „Ich meine ja nur, dass dein Bruder und du euch gar nicht so unähnlich seid. Es fällt euch beiden nicht leicht, Hilfe anzunehmen, und ich bin nur froh, dass Yukke einen Weg gefunden zu haben scheint, wie er Tatsuros Sturkopf diesbezüglich umgehen kann.“

 

„Ja, das ist gerade auch das Einzige, das mich ein wenig beruhigt, wenn ich ehrlich bin.“

 

„Das ist doch schon mal etwas.“ Er drückte seine Zigarette in einem nahestehenden Aschenbecher aus und bot Satochi seinen Arm an. „Na, komm, lass uns wieder zu den anderen und dann nach Hause gehen.“ Sein Herz machte einen glücklichen Sprung, als Sato nur für einen Sekundenbruchteil zögerte, bevor er sich bei ihm unterhakte und zuließ, dass er ihn stützte.

 

~*~

 

Tatsuro fühlte sich wie unter die Räder gekommen, als er an Yukkes Seite den Verhandlungsraum verließ. Sein Kopf dröhnte und sein gesundes Auge machte mit deutlichem Brennen darauf aufmerksam, dass er es überanstrengt hatte. Das Schlimmste jedoch waren der fade Nachgeschmack, den Nobus selbstsicheres Auftreten im Vergleich zu seinem eigenen Beinahe-Zusammenbruch hinterließ und diese aalglatte Stimme, die sich in seine Gehörgänge eingebrannt hatte, ihn zu verfolgen schien. Sein Magen befand sich in hellem Aufruhr und hätte er heute auch nur einen Bissen gegessen, spätestens jetzt wäre er ihn wieder losgeworden.

 

„Herr Iwakami?“ Er schaute von der Betrachtung seiner Schuhspitzen auf und in das seriöse Gesicht seines Anwalts. „Ich wollte Ihnen nur noch kurz Bescheid geben, dass Sie morgen nicht zwingend persönlich bei der Urteilsverkündung anwesend sein müssen, wenn Sie das nicht möchten. Ich habe alle Vollmachten, um in Ihrem Sinne handeln zu können, und werde mich selbstverständlich unverzüglich bei Ihnen melden, sobald die Entscheidung des Gerichts getroffen wurde.“

 

Im ersten Moment wusste Tatsuro nicht, wie er auf dieses Angebot reagieren sollte. Im nächsten Moment fühlte er sich bevormundet, als würde ihm erneut jemand vorschreiben wollen, was er im Stande war auszuhalten und was nicht. Letzten Endes fiel sein Blick auf Yukke, in dessen Gesicht er unendliche Müdigkeit und so etwas wie ein stummes Flehen zu erkennen glaubte. Er seufzte leise, nickte jedoch und versuchte, seinem Gegenüber ein dankbares Lächeln zu schenken.

 

„Ich wäre Ihnen sehr verbunden, wenn Sie das für mich tun könnten, Shiroda-san.“

 

„Selbstverständlich. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Abend.“

 

„Ihnen auch“, murmelte Tatsuro, während sich der ältere Herr kurz verbeugte und Yukke, Gara und Yumiko zur Verabschiedung zunickte, um dann mit brüsken Schritten auf den Ausgang des Gerichtsgebäudes zuzugehen. Tatsuro atmete lang gezogen aus, was sich beinahe wie ein Seufzen anhörte, auch wenn er dies geleugnet hätte, hätte ihn jemand darauf angesprochen. Langsam blickte er sich um, stutzte jedoch, als er weder seinen Bruder noch Miya entdecken konnte. „Wo ist eigentlich Sato abgeblieben?“

 

„Wir sind hier“, erklang Miyas Stimme von rechts, während er mit seinem Bruder im Schlepptau auf sie zukam.

 

„Schön, wenn wir jetzt alle vollzählig sind, würde ich gern nach Hause gehen“, meldete sich Yumiko zu Wort und hakte sich bei Gara unter. Ihr war nur zu deutlich anzusehen, wie sehr sie die letzten Stunden mitgenommen hatten, und damit war sie, wie Tatsuro nach einem schnellen Rundumblick feststellte, in bester Gesellschaft.

 

„Das ist der einzig gute Vorschlag, den ich heute den ganzen Tag über gehört habe“, gab er zu und gönnte es sich, nach Yukkes Hand zu greifen, um ihre Finger fest miteinander zu verschränken. Sein Freund lächelte ihn von unten herauf an, lehnte sich für einen Moment gegen seine Seite, bevor sie sich gemeinsam mit den anderen in Bewegung setzten.

 

„Hast du Kaisuke gesehen?“, murmelte er und schaute über seine Schulter nach hinten, als könnte er den Praktikanten noch immer auf der Holzbank im Gericht sitzen sehen. „Er sah aus wie ein Geist.“

 

„Erschreckend, nicht? Es wundert mich, dass er eine Aussage gemacht hat. Immerhin hat er sich damit selbst belastet.“

 

„Ich glaube, das haben die Tapes schon zur Genüge getan, aber du hast recht, er hätte sich nicht äußern müssen. Was mir da gerade einfällt; weißt du, ob Kenta und dein Freund Seek als Nebenkläger aufgetreten sind?“

 

„Ich weiß es nicht genau. Seek meinte nur vor ein paar Tagen, dass er eine schriftliche Stellungnahme abgegeben hat, aber von Kenta ist mir nichts bekannt.“

Er brummte verstehend und war froh, als Yukke das Thema wechselte.

„Kommst du heute mit zu mir?“, fragte er, einen hoffnungsvollen Ausdruck im Gesicht, dem Tatsuro nicht einmal hätte widerstehen können, wenn er das gewollt hätte. „Nach all dem hier hätte ich Lust, für uns zu kochen, was hältst du davon?“

 

„Du willst kochen?“

 

„Ja, sag das nicht so entsetzt, ich kann das. Außerdem entspannt es mich. Also wäre das was?“

 

„Als hätte ich schon einmal nein zu gutem Essen gesagt.“ Tatsuros Mundwinkel hoben sich zu dem ersten, ehrlichen Lächeln des Tages, das sich länger auf seinen Lippen gehalten hätte, hätte sie Yumiko in diesem Augenblick nicht noch an die letzte Hürde erinnert, die es zu nehmen galt.

 

„Setzt euer Gameface auf, Jungs, wir haben Gesellschaft.“

 

Stimmengewirr und ein wahres Blitzgewitter dutzender Kameras begrüßten sie, als sie das Gerichtsgebäude verließen und auf die große Freitreppe hinaustraten. Gerade so gelang es ihm, nicht genervt das Gesicht zu verziehen, als ihm die ersten Fragen zugerufen wurden. Wieso konnten ihn diese Geier nicht in Ruhe lassen? Hatte er heute nicht schon genug ertragen müssen?

 

„Herr Iwakami, ist das Gericht bereits zu einer Entscheidung gekommen?“

„Können Sie unseren Zuschauern kurz berichten, wie es für Sie war, Ihrem Peiniger heute gegenüberzustehen?“

„Wie fühlen Sie sich nun, Tatsuro-san?“

„Sind Sie zuversichtlich, dass sie gewinnen werden?“

 „Tatsuro-san! Saeko Mori, Channel J. Was sagen Sie zu den Gerüchten, dass die Anschuldigungen gegen Nobu-san lediglich ein Komplott Ihrerseits sind, um ihn ein für alle Mal aus dem Showgeschäft zu drängen?“

 

Tatsuro erstarrte, als er die letzte Frage hörte. Er hätte damit rechnen müssen, dass seine Busenfreundin von Channel J mit derartigen Verleumdungen aufwarten würde, aber diese nun tatsächlich ausgesprochen zu hören, war wie ein Schlag ins Gesicht.

Er hatte den Mund geöffnet, auch wenn er nicht wusste, ob er ihr raten wollte, lieber ihr Schandmaul zu halten, oder sie anbrüllen, dass sie ihn ein für alle Mal in Ruhe lassen sollte. Aber noch bevor auch nur ein Ton seine Lippen verlassen hatte, sprang sein Manager für ihn in die presche. Man mochte es Gara anhand seiner wenig beeindruckenden Größe und feingliedrigen Statur nicht zutrauen, aber wenn er wollte, konnte er zu einer wahren Löwenmutter werden, die ihre Babys verteidigte. Gara baute sich vor ihnen auf, schirmte sie allein durch seine Präsenz ab und wandte sich mit deutlichen Worten an die Meute. Obwohl er nicht laut sprach, hallte seine Stimme über den Vorplatz, als es mit einem Mal Mucksmäuschen Still um sie herum wurde. Nur das muntere Zwitschern einer Spatzenschar, die es sich für die Nacht in einem nahestehenden Ahornbaum gemütlich gemacht hatte, war über die Geräusche der Stadt hinweg noch zu hören.

 

„Die Urteilsverkündung ist für morgen um zehn Uhr vormittags angesetzt. Ich werde Ihren jeweiligen Agenturen den Termin für eine danach zeitnah stattfindende Pressekonferenz zuleiten. Und nun entschuldigen Sie uns bitte, wir haben alle einen sehr ereignisreichen Tag hinter uns.“ Mit geübten Bewegungen bahnte Gara ihnen einen Weg zwischen den erneut wild schnatternden Reportern hindurch und lotste sie zu mehreren bereitstehenden Taxen.

 

„Eines muss man dir lassen, du weißt wirklich, wie man mit diesen Hyänen umgehen muss“, murmelte Tatsuro und versuchte die Fragen, die ihm noch immer zugerufen wurden, weitestgehend zu ignorieren.

 

„Gib es zu, in Momenten wie diesen fällt dir wieder ein, warum dein Manager unverzichtbar ist.“

 

„Na, ich weiß nicht. Soweit würde ich nun doch nicht gehen.“

Tatsuro wusste, dass Gara den entrüsteten Seitenblick nicht ernst meinte und wirklich gut war ihm dieses Schauspiel auch nicht gelungen, aber er fühlte sich gerade großmütig und war seinem Manager ehrlich dankbar, sodass er beschwichtigend die Hände hob.

„Schon gut, schon gut, wir wissen beide, dass du’s drauf hast.“

 

„Das wollte ich hören. Und nun verschwindet, bevor sie uns doch noch mal umzingeln.“

 

Tatsuro riskierte einen flüchtigen Blick über die Schulter, stellte jedoch zu seiner Erleichterung fest, dass einige Polizisten ihnen zur Hilfe geeilt waren und die Reporter körperlich daran hinderten, erneut an sie heranzukommen. Dennoch verlief die Verabschiedung gehetzt und keinen Augenblick später fand er sich neben Yukke auf der Rückbank eines der Taxis wieder. Sein Freund hatte dem Fahrer bereits die Adresse seines Wohnblocks durchgegeben und noch bevor er sich richtig angeschnallt hatte, fuhr der Wagen an. Erst, als das Gerichtsgebäude und die Reporter hinter einer Biegung verschwanden und sie vom hektischen Feierabendverkehr verschluckt wurden, gönnte er sich ein erleichtertes Ausatmen. Seine Schultern waren steinhart und schmerzten mit seinem Kopf um die Wette – ein weiteres, untrügliches Zeichen dafür, wie angespannt er seit Stunden war.

 

„Alles okay?“ Yukkes Hand war angenehm warm, als sie sich auf seinen Oberschenkel legte, und beinahe wäre diese kleine Geste des Mitgefühls zu viel für sein überstrapaziertes Nervenkostüm geworden. Er schob sich die Augenklappe in die Haare und presste Zeige- und Mittelfinger gegen seine Nasenwurzel, um zu verhindern, dass die Tränen, die so plötzlich in seinen Augen brannten, fallen würden. Himmel, wann war er nur so emotional geworden?

 

„Nein, im Moment ist noch nichts okay, aber das wird.“

 

Yukke drückte seinen Oberschenkel kurz, bevor er schweigend seine Hand zurückzog und ihm somit den Freiraum gab, den er brauchte, um sich wieder sammeln zu können. Eine Welle der Dankbarkeit schwappte über ihn hinweg und nicht zum ersten Mal in den letzten Wochen fragte er sich, wie es sein konnte, dass so ein herzensguter Mensch, wie Yukke einer war, ausgerechnet an ihm Interesse hatte.

 

„Du bist wirklich unglaublich, weißt du das?“

 

„Wieso, was hab ich denn gemacht?“

 

„Nichts. Du bist einfach du, das reicht schon.“

 

Yukke lächelte ihn an und täuschte er sich oder zog sich da gerade eine feine Röte über seine Wangen? Tatsuro lächelte, sagte jedoch nichts weiter, und auch sein Freund schwieg, schien seinen eigenen Gedanken nachzuhängen.

 

„Irgendwie hätte ich nachher Lust auf Fisch. Lachs müsste ich sogar noch im Gefrierfach haben. Gemüse dazu und zum Nachtisch … Mmmh, wie war das mit dir und Mangos noch gleich?“

Tatsuro lachte. Ungezwungen. Herzhaft. Und es tat so unglaublich gut. Ein Gefühl, das er in dieser Intensität noch nie gespürt hatte, machte sich in ihm breit und vertrieb für einen herrlichen Augenblick all den Schmerz und all die negativen Emotionen, die er nun schon so lange mit sich herumtrug. In diesem so unscheinbaren Augenblick, auf der Rückbank eines Taxis, wurde ihm eines klar; er würde nicht aufgeben, würde sein Trauma verarbeiten und wieder ein normales, glückliches Leben führen, wenn er sich nur Yukkes erdender Präsenz an seiner Seite sicher sein konnte. Romantische Menschen würden dieses Gefühl wohl Liebe nennen – für ihn selbst fühlte es sich jedoch mehr danach an, als wäre er endlich zu Hause angekommen.

„Was denn?“

 

„Nichts. Mir ist nur gerade etwas klar geworden.“

 

„Und was wäre das?“

 

„Dass ich auch Mangos essen würde, wenn es dich glücklich macht.“

Klappe, die Zwanzigste

[Dieses Kapitel ist nur Volljährigen zugänglich]

Klappe, die Einundzwanzigste

„Hey.“ Mit dem Kinn voller Rasierschaum lächelte er dem Bildschirm seines Handys entgegen, auf dem gerade Yukkes Gesicht erschienen war.

 

„Selber, hey. Sag mal …“ Die rechte Braue seines Freundes wanderte so weit nach oben, dass sie unter seinem überlangen und viel zu akkurat gekämmten Pony nicht mehr zu sehen war. „Stehst du gerade im Bad, während du mit mir telefonierst?“

 

„Ja, warum denn nicht?“ Der Rasierer machte ein kratzendes Geräusch, als er ihn mit langen, sicheren Zügen über seine Wange gleiten ließ. „Schließlich muss ich mich für die Gala heute Abend herrichten.“

 

„Gala? Das hört sich so nobel an.“ Yukke grinste und schüttelte den Kopf. „Auf jeden Fall wäre es zeiteffektiver, wenn du dich nur auf eine Sache konzentrieren würdest.“

 

„Nobel geht die Welt zugrunde, heißt es doch. Und wo würde der Spaß bleiben, wenn ich immer nur eines nach dem anderen machen würde?“

 

„Du wieder. Aber gut, was willst du denn?“

 

„Kann ich nicht einfach mit meinem Freund telefonieren, ohne einen Grund dafür zu haben? Vielleicht hatte ich ja einfach Sehnsucht nach dir.“

 

„DAS würde ich dir abkaufen, hätten wir uns nicht erst heute Mittag gesehen und würden uns nicht sowieso in knapp zwei Stunden wieder treffen.“

 

„Du bist so unromantisch.“ Tatsuro rollte mit den Augen und verkniff sich ein breites Grinsen, das aber auch nur, weil er gerade seine Oberlippe mit dem Rasierer bearbeitete. Er liebte solche Gespräche mit Yukke, die im Prinzip nirgendwohin führten, außer dass sein Freund so herrlich genervt war, ohne es sich anmerken lassen zu wollen.

 

„Ich bin nur Realist, also sag schon, was gibt es?“

 

„Du bist ein alter Spielverderber, das bist du.“ Er beugte sich über das Waschbecken, um die Reste des Schaums von seinen Wangen zu waschen.

 

„Ta~tsue. Ich hab nicht den ganzen Tag Zeit.“

 

„Shiroda hat vorhin noch mal angerufen“, nuschelte er gedämpft in das Handtuch, mit dem er sich das Gesicht trocken rieb, und gab so den wahren Grund für seinen Anruf preis.

 

„Shiroda? Was wollte er denn?“

 

„Mich daran erinnern, dass er eine Entscheidung von mir braucht.“

 

„Und?“

 

„Ich … Ich hab ihm gesagt, dass er es auf sich beruhen lassen soll. Zehn Jahre sind zwar weit von der Höchststrafe entfernt, aber ich …“ Er zuckte mit den Schultern und fixierte erneut das Display seines Handys. „Ich will mit der Sache nur noch abschließen.“ Er hasste die Unsicherheit, die seit dem Telefonat mit seinem Anwalt wieder allgegenwärtig war. Warum konnte das nicht endlich alles aufhören? Er wollte nicht mehr darüber nachdenken müssen.

 

„Ich versteh dich.“

 

„Ehrlich?“

 

„Natürlich.“ Yukkes Gesichtsausdruck zeigte eine Spur Empörung, als könnte er nicht fassen, dass Tatsuro sein Verständnis auch nur im Geringsten anzweifelte. „Mir würde es an deiner Stelle vermutlich nicht anders gehen. Wenn ich ehrlich bin, muss ich zwar zugeben, dass ich mir gewünscht hätte, Nobus Strafe wäre so hoch ausgefallen, dass er für den Rest seines Lebens weggesperrt wäre, aber das war wohl eher unrealistisches Wunschdenken von mir.“

 

„Ich kann Shiroda noch mal anrufen. Er meinte, wir würden mit großer Wahrscheinlichkeit eine anschließende Sicherheitsverwahrung mit psychologischer Evaluation nach seiner Haftstrafe herausschlagen können, sollten wir doch in Berufung gehen.“

 

„Aber dafür müsstest du noch einmal vor Gericht, oder? Wider alles erzählen, ihn noch mal sehen?“

 

„Die Verhandlung wäre deutlich kürzer und somit auch mein Erscheinen dort, aber ja, im Großen und Ganzen würde es darauf hinauslaufen.“ Tatsuro fuhr sich durch die Haare, die ihm frisch gewaschen und noch etwas feucht in die Stirn fielen. „Ich sollte mich noch mal bei ihm melden und ihm sagen, dass ich es doch durchziehen will. So ein bisschen Unwohlsein werde ich schon aushalten und …“

 

„Tatsue?“ Er schaute von der Betrachtung seiner Fingerspitzen auf und erneut in Yukkes Gesicht, das ihm nun besorgt entgegenblickte. „Tu das nicht.“

 

„Was denn?“

 

„Dich und deine Entscheidung infrage stellen.“ Yukke lächelte ihn mit so viel Mitgefühl im Blick an, dass er für einen Moment wegsehen musste. Verdammt, warum konnte der andere gerade nicht hier sein? „Außerdem ist dein Unwohlsein absolut legitim, spiel es nicht herunter. Du hast dich entschieden und das ist gut so. Egal, was Shiroda oder ich sagen. Du weißt am besten, was das richtige Vorgehen für dich ist.“

 

„Tue ich das?“ Yukke sagte darauf nichts, erwiderte lediglich seinen Blick und hatte dieses feine Lächeln auf den Lippen, das ihm jedes Mal das Gefühl gab, alles schaffen zu können, wenn er es sah. Er horchte in sich hinein, als er sich die Frage stellte, ob er damit würde leben können, die Chance verspielt zu haben, Nobu im Gefängnis verrotten zu lassen. Erstaunlicherweise fühlte er keine Rachegelüste in sich, nur dieses tiefe Verlangen, mit der Sache abschließen zu können. „Du hast recht. Es ist die richtige Entscheidung für mich, es auf sich beruhen zu lassen.“ Er straffte die Schultern und zauberte ein unbeschwertes Lächeln auf seine Lippen.

 

„Ich bin stolz auf dich.“ Yukke grinste breit, was vermutlich an der gesunden Farbe lag, mit der Tatsuros Gesicht mit einem Mal gesegnet war. Das hatte seine Lieblingskröte doch mit voller Absicht gemacht.

 

„Gut“, murmelte er und versuchte, sich nicht anmerken zu lassen, dass ihn die unerwarteten Worte seines Freundes ein wenig beschämten. Das wäre ja noch schöner. Ein Grund mehr, das Thema zu wechseln und vor allem jegliche Gedanken an Nobu weit von sich zu schieben. „Da wir das also geklärt haben … mit oder ohne?“ Er hob seine Augenklappe in Richtung der Handykamera, damit Yukke auch sehen konnte, wovon er sprach.

 

„Mmmh“, machte er überlegend, aber auch auf seine Züge hatte sich dieses verschmitzte Schmunzeln geschlichen, das Tatsuro so sehr an ihm liebte. „Du kennst meine Antwort doch.“

 

„Ja, aber ich bin der Meinung, dass ich es mir verdient habe, dass mein Ego etwas von dir gestreichelt wird.“

 

„Dein Ego braucht eher eine Hungerkur als Streicheleinheiten.“

 

„He!“

 

„Ist es mit Augenklappe weniger anstrengend, wenn wir nachher den Film anschauen?“

 

„Definitiv.“

 

„Dann weißt du, was ich dir raten werde.“

 

„Das ist aber nicht das, was ich hören will.“

 

„Tja, auch ein Iwakami Tatsuro bekommt nicht immer seinen Willen“, feixte Yukke und machte keinerlei Anstalten, das Thema weiter auszuführen. „Ich leg jetzt auf, ich muss mich schließlich auch noch herrichten.“

 

„Yukke.“

 

„Bye, Tatsue.“

 

„Yukke!“ Für eine Sekunde stand sein Mund offen, nachdem der andere tatsächlich aufgelegt hatte, dann schüttelte er leise schnaubend den Kopf. Wieder einmal stellte er fest, dass er sich keinen perfekteren Freund hätte vorstellen können. Yukke ließ sich herrlich triezen, konnte aber auch ebenso gut austeilen und nicht zuletzt das schätzte er so an ihm. Wie hatte Sato vor einigen Tagen gemeint?

‚Ihr passt zusammen wie Arsch auf Eimer, ehrlich mal.‘

Gerade, als er das Telefon in seine Hosentasche stecken und das Bad verlassen wollte, vibrierte es in seiner Hand. Verwundert schaute er auf das Display, bevor ihm ein lautes Lachen entkam.

 

»Du weißt, dass ich dich mit Augenklappe unheimlich sexy finde. Also komm mir du heute nach Hause, Mister!«

 

~*~

 

Ein schneller Blick auf seine Armbanduhr zeigte ihm, dass er noch knappe zwanzig Minuten Zeit hatte, bevor Yukke ihn abholen würde. Sein Magen rumorte und obwohl er es sich nicht eingestehen wollte, musste er zugeben, dass er nervös war. So wenig er vom Konzept ihres Films anfänglich begeistert gewesen war – und ja, das war die Untertreibung des Jahrhunderts – so investiert schien er mittlerweile zu sein. Ein Umstand, den er sich selbst nicht wirklich erklären konnte, der nun jedoch auch nicht mehr zu ändern war. Er wollte, dass Ame ein Erfolg wurde, weil er die Vorstellung kaum ertrug, dass all die Arbeit, all das Herzblut, das er widerwillig in dieses Projekt gesteckt hatte, letzten Endes umsonst sein sollte. Nun gut, umsonst vielleicht nicht, schließlich hatte die Arbeit an Ame Yukke und ihn erst zusammengebracht, aber trotzdem.

 

Im letzten Moment hielt er sich davon ab, sich durch die bereits gestylten Haare zu fahren, und setzte sich stattdessen leise seufzend an den Küchentisch. Vor ihm lag ein gepolsterter Briefumschlag, auf den er mit schwarzem Marker Amis Namen und die Adresse eines Ferienresorts auf Okinawa geschrieben hatte. In dem Briefumschlag befand sich bereits die CD mit dem Soundtrack zu Ame, der Anfang der Woche herausgekommen war und den er seiner Gesangslehrerin unbedingt zukommen lassen wollte. Fraglich war jetzt nur, ob und was er ihr schreiben sollte. Das letzte Mal, als sie gesprochen hatten, war Ami kühl und kurz angebunden gewesen. Verständlich, bedachte man, dass sie im Begriff gewesen war, ihr Leben auf den Kopf zu stellen und alle Zelte abzubrechen, aber das machte die Entscheidung, wie er nun mit ihr umgehen sollte, nicht gerade leichter. Schlussendlich gab er sich einen Ruck, nahm einen Kugelschreiber zur Hand und begann zu schreiben.

 

Hallo Ami,

ich hoffe, du bist gut auf Okinawa und in deinem neuen Leben angekommen. Heute ist der Tag der Prämiere, schade, dass du nicht kommen konntest. Ich dachte mir, ich schicke dir den Soundtrack zu Ame, schließlich ist es nur dir zu verdanken, dass man sich die Lieder tatsächlich anhören kann.

Bitte nimm es mir nicht übel, dass ich herausbekommen habe, wo genau du arbeitest – ich sag es auch nicht weiter.

Es wäre schön, von dir zu hören.

Alles Gute.

Iwakami Tatsuro

PS. Miya arbeitet an dem Konzept für Ame II und will, dass ich wieder singe! Ami, überleg dir, ob du nicht zurückkommst. Ohne dich wird das doch nie etwas.

 

Kurz und knapp und hoffentlich nicht zu aufdringlich. Bevor er noch länger über das Für und Wider nachdenken würde, faltete er das weiße Papier zusammen und schob es mit in den Umschlag. Er wollte es nicht zugeben, aber es schmerzte ihn auf eine Weise, die er nicht erklären konnte, dass Ami so sang- und klanglos verschwunden war. Hätte er ihr am Abend vor der Gerichtsverhandlung nicht geschrieben, er hätte wohl nie herausgefunden, dass sie überhaupt die Stadt verlassen wollte und erst recht nicht, was ihre Beweggründe dafür waren. Irgendwie hatte er während ihrer vielen Gesangsstunden den Eindruck gewonnen, es hätte sich eine Freundschaft zwischen ihnen entwickelt, aber das war wohl eine einseitige Empfindung gewesen.

 

Als es klingelte, war er tatsächlich so in seinen Gedanken versunken, dass er kurz, aber heftig zusammenzuckte. Die Hand auf seine Brust gepresst, unter der sein Herz wie wild schlug, erhob er sich und ging die wenigen Schritte zur Wohnungstür hinüber. Sein Besucher musste direkt hinter dem dünnen Holz stehen, war es doch nicht das durchdringende Summen der hausinternen Gegensprechanlage gewesen, das ihn aus seinen Grübeleien gerissen hatte, sondern ein melodisches und ihm nur allzu vertrautes Läuten. Eine feine Gänsehaut zog sich unwillkürlich über seine Unterarme, obwohl er sich sicher war, dass er wusste, wer dort draußen auf ihn warten würde. Yukke, wer sonst? Aber seine Paranoia hatte in den letzten Wochen zu viele Möglichkeiten bekommen, sich mehr und mehr in ihm breitzumachen, dass es ihm immer schlechter gelang, sie einfach beiseitezuschieben. Er atmete tief durch, um sich ein wenig zu beruhigen, und spähte durch den Spion. Eine Sicherheitsmaßnahme, die ihm zwar ungemein lästig war, die ihm aber wenigstens eine Art Sicherheitsgefühl zurückgab. Irgendwann würde in seinem Hirn ankommen, dass Nobu hinter Gittern saß und nicht an ihn herankommen konnte. Es brauchte nur Zeit, immer wieder Zeit.

Yukkes Gesicht schwamm in den Fokus seines eingeschränkten Blickfeldes und Tatsuro spürte, wie sich im gleichen Moment, als er seinen Freund erkannte, Muskelgruppen in seinem Körper entspannten, von denen er gar nicht gewusst hatte, dass er sie anspannen konnte.

 

„Tatsue? Ich bin es, Yukke“, hörte er, noch bevor er die Sicherheitskette ergreifen konnte und lächelte, als er sie aufzog und die Tür schlussendlich öffnete.

 

„Hallo.“

 

„Hey. Tut mir leid, ich hätte dir schreiben sollen, aber ich hab mein Handy unten im Wagen liegen lassen und war zu faul, es zu holen.“

 

„Schon gut, ich muss schließlich lernen, ohne eine halbe Panikattacke an die Tür gehen zu können, auch wenn ich nicht vorgewarnt werde.“ Er trat beiseite, um Yukke hereinzulassen, während die Tür leise klickend ins Schloss fiel. „Komm erst einmal rein. „Sein Freund schenkte ihm einen Blick, den er in den letzten Wochen schon viel zu oft gesehen hatte. Tatsuro wusste, dass er stolz auf ihn und jeden noch so kleinen Schritt in die richtige Richtung war, den er tat, und genau das spiegelte sich in den warmen Augen wider. Darunter verbarg sich jedoch auch immer ein gewisser Schmerz, von dem er nicht wusste, wie er damit umgehen sollte. Aber noch bevor er etwas hätte sagen können, legten sich Arme um seine Mitte und ein lächelndes Gesicht kam seinem ganz nah.

 

„Du siehst gut aus.“

 

„Und du hast was von einem Yakuza“, nuschelte er schmunzelnd gegen die Lippen seines Gegenübers, bevor er ihn in einen ausführlichen und längst überfälligen Kuss zog. Es war nicht das erste Mal, dass Yukke derart mühelos die Stimmung rettete, und doch überraschte es ihn immer wieder. „Aber mir gefällt’s.“ Gefallen war an dieser Stelle eine schamlose Untertreibung, denn der andere sah in seinem schiefergrauen Anzug mit den dunkleren Nadelstreifen wirklich verboten gut aus. Diese Feststellung würde er derweilen jedoch für sich behalten, denn er war sich sicher, dass er heute Abend noch ausreichend Gelegenheiten bekommen würde, seinem Freund dies auf deutlich angenehmere Art und Weise zeigen zu können.

 

„Ich kann deine nicht jugendfreien Gedanken beinahe hören“, wisperte Yukke in sein Ohr, bevor Tatsuro erschrocken zusammenzuckte, als ein kurzer Schmerz durch sein Ohrläppchen jagte.

 

„Au! Hast du mich gerade gebissen?“

 

„Würde mir im Leben nicht einfallen.“ Yukke grinste breit, bevor er eine scheuchende Handbewegung vollführte. „Bist du dann fertig? Wir müssen in zwanzig Minuten am Kino sein und der Verkehr ist gerade nicht der ruhigste.“

 

Tatsuro murrte, während er sich übers Ohr rieb, nahm jedoch sein Jackett vom Haken der Garderobe und schlüpfte hinein. Gerade, als er sich auch die Schuhe anziehen wollte, fiel ihm jedoch ein, dass er Amis Brief auf dem Küchentisch hatte liegen lassen.

 

„Können wir noch an einem Briefkasten halten?“, rief er über die Schulter, während er erst eilends in der Küche verschwand, nur um keinen Moment später mit dem Brief in der Hand wieder im Flur aufzutauchen.

 

„Wenn wir das auch nach der Prämiere machen können, ist das kein Problem. Aber wie gesagt, wir müssen jetzt wirklich los.“

 

„Ja, ja“, nuschelte er, stieg etwas umständlich in seine Schuhe und versuchte, seine Krawatte geradezurücken. „Warum hab ich mich noch gleich von Miya überreden lassen, einen Anzug zu tragen?“

 

„Weil nicht einmal du eine Chance gegen seine Überzeugungskraft hast. Und jetzt hör auf, deine Krawatte zu verknittern, und komm lieber her.“

 

Mit den Augen rollend schob Yukke seine Hände beiseite, zog einmal links, einmal rechts und hatte binnen Sekunden das geschafft, was Tatsuro den restlichen Abend über graue Haare beschert hätte. „So.“ Er grinste zu ihm nach oben, tätschelte seine Brust und strich ihm eine seiner längeren Ponyfransen aus der Stirn. „Jetzt kann man dich auf die Menschheit loslassen.“

 

Nun war es an Tatsuro, mit seinem nicht durch die Augenklappe verdeckten Auge zu rollen, aber bevor sie die Wohnung endgültig verließen und sich auf den Weg machten, ließ er es sich nicht nehmen, seinen Freund erneut ausführlich zu küssen. Allein die Vorstellung, sich die nächsten Stunden über benehmen zu müssen, obwohl Yukke in greifbarer Nähe sein würde, war ihm zuwider. Aber da sich dieser Umstand nun mal nicht ändern ließ, musste er eben jetzt noch nehmen, was er kriegen konnte.

 

„Tatsue~“

 

~*~

„Ach du Schande.“, murmelte Tatsuro und musste sich anstrengen, nicht mit offen stehendem Mund auf die Menschenansammlung zu starren, die sich vor dem Eingang des Kinos tummelte. „Die sind doch nicht wirklich alle wegen Ame hier, oder?“

 

„Ich denke schon.“ Yukke neben ihm wirkte nicht minder überrumpelt und war wie angewurzelt stehen geblieben.

 

„Nicht, dass ich an der Sache mit Nobu auch nur irgendetwas Positives sehen will, aber ich glaube, dem Film hat das Drama nicht geschadet. Mir kam ja schon der ganze Hype um den Soundtrack übertrieben vor, aber das hier?“ Tatsuro schüttelte den Kopf, zog sein Handy aus der Hosentasche und wollte gerade Gara anrufen, um ihn zu fragen, ob sich Yukke und er einfach durch die Meute kämpfen sollten, da erkannte er die kleine Eins neben seinem Nachrichtenikon. Ein kurzer Druck offenbarte die Mitteilung, die sein Manager ihm vor einer halben Stunde geschrieben hatte.

 

»Geht zum Hintereingang, wir warten dort auf euch.«

 

„Kommando zurück“, meinte er, griff nach Yukkes Hand und machte sich mit gemäßigten Schritten auf den Weg zu besagtem Hintereingang. Er hatte wirklich keine Lust auf Stress und war seinem Manager nicht zum ersten Mal für seine vorausschauende Art dankbar. Jetzt hieß es nur noch keine Aufmerksamkeit erregen und …

 

„Seht mal! Sind das nicht Yukke und Tatsuro?“

 

„Lauf!“, rief Yukke ihm zu, eine Mischung aus Lachen und Knurren in der Stimme, die er in ihrer Situation nicht so anregend finden sollte, wie er das gerade tat. Aber er zögerte keine Sekunde, seiner Aufforderung nachzukommen, und so waren sie keinen Augenblick später hinter der nächsten Hausecke verschwunden.

 

Eine graue, unscheinbare Tür zu ihrer Rechten sprang auf und hätte Tatsuro zu Tode erschreckt, hätte er im selben Moment nicht das Gesicht seines Bruders im entstandenen Spalt erkannt.

 

„Hier rein“, zischte er ihnen zu und mit einer wenig eleganten Drehung kamen sie seiner Aufforderung nach. Die schwere Stahltür fiel hinter ihnen ins Schloss, verschluckte den Lärm der Fans, die ihnen gefolgt waren. Für zwei lange Sekunden sahen sie sich gegenseitig an, bevor sie wie auf ein unsichtbares Zeichen hin in schallendes Gelächter ausbrachen.

 

„Du hast uns den Arsch gerettet“, stellte Tatsuro prustend fest, während Yukke gleichzeitig meinte, dass ihm so etwas in all den Jahren seiner Schauspielkariere noch nicht passiert war.

 

„Du bist eindeutig ein negativer Einfluss, Tatsue“, japste er lachend.

 

„Das hätte ich dir von Anfang an sagen können“, hakte Sato ein, noch bevor Tatsuro etwas auf diese vollkommen aus der Luft gegriffene Anschuldigung hätte erwidern können. „Mein Bruder wusste schon immer, wie er alle Aufmerksamkeit auf sich zieht. Damit wirst du wohl leben müssen.“

 

„Ja, ja, was tut man nicht alles …“

 

„He, ich bin auch noch da, redet nicht über mich, als wäre ich Luft.“

 

„Oh, fühlt sich das arme Ego nicht ausreichend gestreichelt?“ Satochi tätschelte seine Wange, wofür er einen angedeuteten Schlag in die Magengrube kassiert hätte, wäre er ihm nicht schnell genug ausgewichen.

 

„Sag mir lieber mal, was dieser Trubel dort draußen zu bedeuten hat. Die sind nicht wirklich alle nur wegen Ame hier? Die können sich den Film doch nicht einmal ansehen oder hab ich da etwas falsch verstanden.“

 

„Nee, bis auf uns und die Presse kommt niemand ins Kino rein. Vermutlich erhoffen sie sich Autogramme oder Fotos nach der Premiere, ich hab keine Ahnung. Wenn den Hype jemand kennen müsste, dann bist doch du das? Für Yukke und mich ist das absolutes Neuland.“

 

„Mh, dafür schlägst du dich aber recht gut, Bruderherz.“

 

„Ist alles Garas Verdienst.“

 

„Verdammt, irgendwann sollte ich ihm doch mal diese sündhaft teure Kaffeeschokolade schenken, von der er immer schwärmt.“

 

„Ja, das solltest du wirklich.“ Gara kam mit Yumiko am Arm auf sie zu und grinste so breit, dass man befürchten konnte, er würde seine Ohren verspeisen. „Ihr seid der Meute also entgangen, sehr schön. Kommt gleich mal mit, ihr habt noch ein Interview zu geben, bevor es losgeht.“

 

„Wenn man vom Teufel spricht“, nuschelte Tatsuro so leise, dass nur Yukke und Sato ihn hören konnten, und setzte dann ein deutlich lauteres Seufzen hinterher. „Muss das sein? Haben wir in der letzten Zeit nicht schon genug Statements abgegeben?“

 

„Maul nicht rum, ich weiß doch, dass du genauso wie wir willst, dass Ame ein Erfolg wird.“

 

„Tu ich gar nicht. Mir ist das so was von egal.“

 

„Na klar.“

 

„Musst du ihm eigentlich immer widersprechen?“ Yukkes Ellenbogen bohrte sich kurz in seine Seite und sein Augenrollen wurde von einem kaum unterdrückten Schmunzeln begleitet.

 

„Natürlich. Warte nur ab, bis er den Manager auch bei dir heraushängen lässt, dann weißt du, wovon ich rede.“

 

„Das glaub ich nicht. Ich hatte noch nie einen Manager, ich stell mir das recht entspannt vor.“

 

„Hach ja, naive Unwissenheit.“

 

~*~

 

Das Interview war besser gelaufen, als Tatsuro befürchtet hatte. Keiner der Reporter hatte es gewagt, Fragen zu stellen, die sich nicht ausschließlich auf den Film bezogen. Die meisten waren daher auch an Miya gerichtet gewesen, der sich mit seinen Antworten zur allgemeinen Frustration der Anwesenden jedoch sehr zurückgehalten hatte.

Jetzt, als sie gemeinsam den überschaubaren Kinosaal betraten und sich ihre reservierten Plätze suchten, lag ein zufriedenes Schmunzeln auf den Lippen des Regisseurs, das ihn vermuten ließ, dass Miya es genossen hatte, den Reportern lediglich Brotkrumen vor die Füße zu werfen.

 

„Wenn er so guckt wie jetzt, bin ich immer wieder aufs Neue froh, dass er auf unserer Seite steht“, wisperte Tatsuro und warf dem zu kurz geratenen Produzenten, der es sich neben Satochi bequem gemacht hatte, erneut einen Seitenblick zu.

 

„Miya möchte man wirklich nicht zum Feind haben, da geb ich dir recht.“ Yukke lehnte sich in seinem Sitz zurück und streckte die Beine aus. „Ich kann dir gar nicht sagen, wie gespannt ich auf das Endprodukt bin.“

 

„Wenn ich ehrlich bin, geht es mir genauso, aber erzähl es keinem.“

 

„Meine Lippen sind versiegelt.“ Yukke grinste und legte die Hand zum Schwur über sein Herz.

 

„Meine nicht“, blökte Satochi von links und erinnerte ihn daran, dass Yukke und er nicht allein hier waren. „Du bist der neugierigste Mensch auf Gottes weiter Flur, glaubst du wirklich, irgendwer kauft dir ab, dass du vor Spannung nicht halb am Platzen bist?“

 

„Du übertreibst mal wieder maßlos, Sato.“

 

„Und das ist deine Standartaussage, wenn du nicht weiter weißt.“

 

„Hört auf zu kabbeln, Kinder, es geht los.“ Yukke strahlte übers ganze Gesicht, als die Lichter im Vorführsaal verloschen und die ersten Bilder begleitet von ruhiger Streichermusik über die Leinwand flimmerten. Er hatte noch etwas sagen wollen, sich vielleicht sogar rechtfertigen, aber bei diesem Anblick verschwand jedes weitere Wort aus seinen Gedanken. Verflucht, er liebte diesen Mann so sehr, das wurde ihm in diesem Augenblick erneut bewusst.

„Nicht mich ansehen.“ Eine warme Hand legte sich an seine Wange und drehte seinen Kopf nach vorn. „Dort vorn spielt die Musik.“

 

„Du bist aber viel interessanter.“

 

„Wer’s glaubt.“ Sein Freund schmunzelte, nahm seine Hand und verschränkte ihre Finger auf seinem Oberschenkel ruhend miteinander. Immer, wenn sie sich etwas gemeinsam ansahen, fiel ihm auf, dass Yukke wirklich ein wahrer Meister darin war, sich in konzentriertem Schweigen zu üben. So auch jetzt. Normalerweise hasste er es, ignoriert zu werden, aber mit dem Gefühl eines warmen Daumens, der hin und wieder über seinen Handrücken streichelte, konnte auch er sich schlussendlich auf die Handlung des Films einlassen.

 

Hier und da verzog er das Gesicht, wenn ihm eine Stelle der Erklärungen oder Dialoge besonders hochgestochen oder übertrieben vorkam, aber irgendwann mischten sich die Bilder des Films mit seinen Erinnerungen an die vielen Wochen am Set.

 

Gerade sah man Akihikos Gesicht in einer Großaufnahme, während erstmals Ame no orchestra zu hören war. Eine dicke Gänsehaut rann ihm über den Rücken, als ihm bewusst wurde, dass gleich die Szene folgen würde, in der Yukke und er zum ersten Mal gemeinsam vor der Kamera gestanden hatten. Er musste zugeben, dass die Art, wie Miya die Musik, seinen Gesang und die Bilder miteinander kombiniert hatte, wirklich als kunstvoll bezeichnet werden musste.

Und plötzlich rannte Tetochi los, über die Straße, bis sie im Menschengewirr verschwand und Akihiko, der ihr hatte folgen wollen, mit Junji zusammenstieß. Er hörte den Dialog nicht, erinnerte sich viel lieber daran, wie Yukke und er sich vor dieser Szene die viel zu akkurat gestylten Haare durcheinandergebracht hatten. Er hatte jetzt noch Yumikos konsternierten Gesichtsausdruck vor Augen und das Gezeter Yukkes Stylistin im Ohr.

 

„Denkst du gerade an dasselbe wie ich?“, wisperte Yukke plötzlich nah an seinem Ohr und ließ ihn wohlig erschauern.

 

„Da bin ich mir fast sicher“, erwiderte er und wuschelte Yukke nur angedeutet durch die kurzen Haare am Hinterkopf. Sein Freund verbarg sein Lachen gegen seine Schulter, bis Gara ihnen von der anderen Seite her entgegen zischte, dass sie hier nicht alleine wären. Stimmte ja, die Reporter … wobei er zugeben musste, dass sie ihm doch ziemlich egal waren. Was wollten sie denn schreiben? Dass sich Yukke und er wie ein frisch verliebtes Paar während der Prämiere benommen hatten? Sollten sie doch. Dann würden diese Geier wenigstens einmal in ihrem Leben die Wahrheit schreiben.

Dennoch gingen sie wieder etwas auf Abstand und Tatsuro versuchte erneut, sich auf den Film zu konzentrieren. Was nicht wirklich leicht war, fand er doch den Zusammenschnitt von Akihikos ach so tragischem Leben auch in der vollendeten Fassung alles andere als realistisch, geschweige denn interessant. Dafür waren ihnen im Nachhinein die ganzen kleineren und größeren Szenen, in denen sich Junji und Akihiko in die Haare bekommen hatten, erstaunlich gut gelungen. Während des Drehs hatte er oft den Eindruck gewonnen, die Art und Weise, wie ihre Charaktere anhand des Drehbuchs hatten reagieren müssen, wäre zu überspitzt dargestellt gewesen, aber am Ende fügte sich alles erstaunlich gut zusammen.

 

„Streiten können wir, was?“

 

„So was von. Sollten wir uns für die Zukunft merken.“ Yukke wackelte mit der rechten Augenbraue, was ihn beinahe lauthals hätte auflachen lassen.

 

„Aber nur, wenn wir das mit der Versöhnung mindestens genauso gut hinbekommen.“

 

„Das ist doch etwas, worauf es sich hinzuarbeiten lohnt.“

 

„Leute.“ Diesmal war es Yumiko, die ihren Missmut über ihre Privatgespräche mit einem schnellen Seitenblick untermalte. Täuschte er sich oder glänzten ihre Augen verräterisch? Er runzelte die Stirn, hakte aber lieber nicht nach. Yumiko konnte ziemlich biestig werden, wenn man sie auf ihre sensiblere Seite ansprach.

 

Kaum eine halbe Stunde später beglückwünschte er sich für diese Entscheidung, denn der große Streit, auf den Junjis Fortgang nach Amerika folgen würde, machte auch ihm die Kehle eng. Obwohl es tatsächlich weniger an der Handlung an sich und mehr daran lag, wie Miya die musikalische Komponente des Films und die Zeitraffer Aufnahmen, die Akihikos Leben in den nächsten Monaten beleuchteten, zusammengeschnitten hatte. Bislang hatte Tatsuro nur entweder die Musik oder die Filmaufnahmen gesehen, während er den Begleittext eingesprochen hatte, aber nun das vollendete Produkt vor Augen geführt zu bekommen, rührte ihn mehr, als er zugeben wollte. Besonders, wenn er daran dachte, dass er beinahe nicht die Möglichkeit bekommen hätte, dem Film auf diese Weise seinen finalen Stempel aufzudrücken. Der Text war schon so umgeschrieben gewesen, dass ein anderer, als eine Art allwissender Erzähler, ihn hätte einsprechen können, wäre er nicht rechtzeitig aus dem Koma erwacht. Er musste seinen Halt um Yukkes Finger verstärkt haben, denn plötzlich spürte er seinen forschenden Blick auf sich.

 

„Geht es dir nicht gut?“, flüsterte er und für einen Augenblick spielte Tatsuro mit dem Gedanken, aufzustehen und den Kinosaal zu verlassen, nur um seinen eigenen Emotionen entfliehen zu können. Dann jedoch lehnte sich Yukke gegen seine Seite und murmelte: „Ich bin so froh, dass es gerade deine Stimme ist, die man hört.“ Ein feines Lächeln legte sich auf Tatsuros Lippen, während er einen Arm um die Schultern seines Freundes legte und ihn näher an sich zog. Einerseits fragte er sich, wie der andere es nur immer wieder schaffte, genau die richtigen Worte zu finden, andererseits war er ihm unendlich dankbar dafür.

 

‚Was täte ich nur ohne dich‘, dachte er und küsste Yukkes Schopf, keinen Gedanken daran verschwendend, ob und wer sie sehen konnte.

 

Für den Rest des Films blieb Yukke gegen seine Seite gelehnt und obwohl seine Fingerspitzen bereits etwas zu kribbeln anfingen, hätte er nicht zufriedener sein können. Wieder schwollen die Streicher an, trieben seine Stimme durch den Vorführraum, während sich Akihiko und Junji vor der Kulisse eines grandiosen Sonnenuntergangs am Meer gegenüberstanden. Die finale Szene entfaltete sich vor ihren Augen, der Dialog der beiden Liebenden schraubte sich immer höher, bis Junji und Akihiko sich so nahe waren, dass sie auf der Leinwand wie ein einziges Wesen wirkten. Wieder überzog eine feine Gänsehaut Tatsuros gesamten Körper.

 

„Verdammt sind wir gut“, nuschelte er, ohne sich richtig darüber bewusst zu sein, und grinste, als Yukke sein kurzes Auflachen gegen seine Halsbeuge verbarg.

 

„Von Bescheidenheit hast du auch noch nichts gehört, was?“

 

„Warum auch? Ist doch nur die Wahrheit.“

 

„Ich liebe dich, Akihiko, und ich werde nie wieder so dumm sein, das infrage zu stellen.“

 

„Junji …“

 

„Siehst du, genau das meine ich.“ Tatsuros Augen hingen wie gebannt an der Leinwand, als die beiden Liebenden auch noch den letzten Abstand zwischen ihnen überwanden und ihre Lippen sich in einem cineastisch hervorragend umgesetzten Kuss berührten.

 

„Ich küsse keinen Mann vor der Kamera!“, hörte er seine eigene, aufgebrachte Stimme aus der Vergangenheit und schüttelte über sich selbst amüsiert den Kopf. Wie verbohrt er damals doch gewesen war.

 

Begeisterter Applaus von allen Seiten riss ihn aus seinen Erinnerungen. Verwundert blinzelte er, war so einen ungezügelten Ausbruch spontaner Freude bei einer Filmpremiere absolut nicht gewohnt. Aber verdammt, es gefiel ihm und nach einem kurzen, vergewissernden Seitenblick auf Gara, erhob er sich und zog auch Yukke mit auf die Beine. Das Klatschen wurde lauter, als gleichzeitig der Saal langsam wieder beleuchtet wurde und die Reporter und anderen Gäste somit einen guten Blick auf sie erhaschen konnten.

 

„Sagte ich nicht, wir sind gut?“ Er grinste Yukke an, der anders als er ein wenig verschämt und überfordert von so viel Aufmerksamkeit wirkte. „Genieß es, wir haben uns das so was von verdient.“

 

„Das habt ihr wirklich.“

Überrascht schaute Tatsuro zur Seite und auf den kleinen Regisseur, von dem er den ganzen Abend über noch nichts gehört hatte.

„Ich hätte zwar nie gedacht, das einmal zuzugeben …“ Miya verzog das Gesicht, als würde ihm dieses Eingeständnis körperliche Schmerzen bereiten, „aber deine unsägliche Art, ständig zu improvisieren, und Yukkes Talent, dabei auch noch so souverän mitzumachen, haben den Film wirklich nach vorn gebracht.“

 

„Oh mein Gott.“ Tatsuro presste eine Hand auf sein Herz und starrte den Produzenten aus einem kugelrunden Auge an. „War das gerade ein Lob aus deinem Mund?“ Miya erwiderte seinen Blick mit strenger Miene, bis etwas geschah, dass Tatsuro für eine Halluzination gehalten hätte, würden nicht alle um ihn herum gleichermaßen verblüfft aus der Wäsche gucken. Miya grinste.

 

„Scheint fast so, was?“

 

~*~

 

„Ich bin wirklich gespannt, ob die Reaktion der breiten Masse auf den Film genau so überwältigend sein wird, wie die der Presse heute.“ Sato war an seiner Seite aufgetaucht, in einer Hand ein Glas Champagner, in der anderen seinen Gehstock. Tatsuro war jedoch so tief in seinen eigenen Gedanken versunken, dass er sein Ankommen erst gar nicht bemerkt hatte und nun etwas überfordert wirkte.

 

„Tschuldige, was hast du gesagt?“

 

„Nicht so wichtig.“ Sato grinste ihn an, bevor er seinem Blick folgte, der bereits seit einer geraumen Weile auf Yukke ruhte. „Die Reporter haben einen Narren an ihm gefressen, was?“

 

„Das ist noch harmlos dargestellt. Ich muss wirklich ein ernstes Wörtchen mit Gara reden. Wieso hat er ihn allein mit der Meute gelassen? Er weiß doch, dass Yukke im Umgang mit Reportern noch ein absoluter Neuling ist.“

 

„Ach, der macht das schon. Schau doch, sie liegen ihm zu Füßen.“

 

Und das stimmte sogar. Gerade ertönte das glockenhelle Lachen einer jungen Frau, die etwas, das Yukke gesagt hatte, wohl sehr amüsant fand. Sein Freund hingegen hatte ein selbstzufriedenes Lächeln auf den Lippen, das Tatsuro in diesem Moment nicht so attraktiv finden sollte, wie er es gerade tat.

 

„Okay, du hast recht“, gab er zu und entwand seinem Bruder den Champagner, um einen großen Schluck davon zu trinken. Sato kommentierte diese Aktion lediglich mit einem herzhaften Augenrollen, leerte den Rest des Schaumweins und winkte einen Kellner heran, auf dessen Tablett er das nun überflüssige Glas abstellen konnte.

 

„Also“, begann er nach einer Weile des einvernehmlichen Schweigens und Tatsuro drehte den Kopf, um seinen Bruder trotz seines eingeschränkten Blickfeldes im Auge zu haben. „Hast du dich schon entschieden?“

 

„Was meinst du?“

 

„Na, ob du bei der Fortsetzung von Ame mitmachst? Miya meinte, du wärst nicht sehr begeistert gewesen, als er dir davon erzählt hatte.“

 

„Er will noch einmal denselben Drehbuchautor engagieren. Kannst du dir das vorstellen? Angeblich, weil er der Einzige ist, der nichts dagegen hat, wenn man sich nicht genau an seine Vorgaben hält. Das ist doch hirnrissig, oder?“

 

„Warum? Was würdest du denn an seiner Stelle machen? Dich das Drehbuch schreiben lassen?“

 

„Zum Beispiel.“ Er grinste und Sato neben ihm schüttelte lachend den Kopf.

 

„Das beantwortet aber noch immer nicht meine Frage. Machst du jetzt mit oder nicht?“

 

„Sieh ihn dir an.“ Tatsuro deutete auf Yukke, der gerade ein wenig hilflos versuchte, die Reporter abzuschütteln, die sich wie eine lebendige Traube um ihn geschart hatten. „Denkst du wirklich, ich könnte irgendjemandem meine Rolle überlassen, solange Yukke mit von der Partie ist? Irgendwer muss doch auf ihn aufpassen.“

 

„Mensch, Tatsue, dich hats ganz schön erwischt.“

 

„Das … ist die Untertreibung des Jahrhunderts, Bruderherz.“

 

~*~

 

„Yukke“, keuchte er, schlüpfte mit den Händen unter das störende Jackett und zupfte so lange an dem Hemd herum, bis er endlich warme Haut unter seinen Fingerspitzen fühlen konnte. Seine Lippen attackierten den Hals direkt vor seiner Nase, womit er seinem Freund herrlich unterdrückte Laute entlockte.

 

„Tatsue, nicht, was, wenn einer deiner Nachbarn auf den Aufzug wartet und uns so sieht.“

 

„Dann hat er was zu gucken, außerdem sollen meine Nachbarn gefälligst schlafen und nicht um drei Uhr morgens im Hausflur umherwandern.“ Sein Kopf fühlte sich wie in Watte gepackt an – ein herrlich erhebendes Gefühl – und es wunderte ihn selbst, dass er noch so klar und deutlich sprechen konnte. Den Champagner, den es den ganzen Abend über in rauen Mengen zu trinken gegeben hatte, hätte er zwar nicht als lecker bezeichnet, aber nach dem fünften oder sechsten Glas war der Geschmack ohnehin nachrangig geworden.

„Mmmh, du riechst so gut“, nuschelte er nah an Yukkes Ohr, fuhr mit der Nase über die weiche Haut direkt darunter und ließ es sich nicht nehmen, auch seine Zunge diese schöne Stelle ausführlich entdecken zu lassen.

Yukkes Finger hatten sich in seine Haare geschoben und es ziepte angenehm auf seiner Kopfhaut, immer, wenn er in seiner aufsteigenden Lust gefangen daran zog.

Der Aufzug machte mit einem hellen Pingen auf sich aufmerksam, als sie seine Etage erreicht hatten, und kaum waren die Türen beiseite geglitten, schob er Yukke über den dunklen Flur. Gut, dass er hier schon so lange lebte und den Grundriss seines Wohnblocks inn- und auswendig kannte, denn so schafften sie den kurzen Weg zu seiner Wohnungstür trotz anhaltender Küsse ohne nennenswerte Zwischenfälle.

 

„Tatsue~“, keuchte Yukke, als er sich an einer besonders schönen Stelle seines Halses festsaugte und gleichzeitig versuchte, den Schlüssel in das Schloss seiner Wohnungstür zu stecken. Wie lange es schlussendlich gedauert hatte, bis sie sein Appartement betreten konnten, konnte und wollte er hinterher nicht sagen, lediglich ein erleichtertes Seufzen entkam ihm, als die Tür hinter ihnen ins Schloss fiel.

„Schlafzimmer“, war das letzte kohärente Wort, das ihm für eine lange Weile über die Lippen kommen sollte, während sie eine Spur aus Kleidern im Flur hinterließen.

 

Den kleinen Zettel, der zwischen Türblatt und Rahmen eingeklemmt worden war, und den das stürmische Öffnen der Tür hinter die Kommode im Flur geweht hatte, hatte keiner von ihnen bemerkt.

 

»Es ist noch nicht vorbei, Tatsuro, ich habe überall Verbündete.«

Der letzte Akt

Sie saß im Schneidersitz auf ihrem Bett, in dem kleinen, nur spärlich eingerichteten Zimmer, das sie seit einigen Monaten bewohnte. Nachdenklich strich sie mit dem Zeigefinger über den Briefumschlag in ihrem Schoß, den ihr eine Kollegin vor wenigen Minuten in die Hand gedrückt hatte. Sie fühlte sich wie erstarrt, konnte sich nicht dazu bringen, ihn zu öffnen. Der Name, der als Absender auf das braune Papier geschrieben war, schien sie zu verhöhnen, ebenso wie die Handschrift, die ihr so unendlich vertraut war. Mit zusammengekniffenen Augen gab sie sich schlussendlich einen Ruck, riss den Umschlag auf, wie ein Pflaster, das schnell und ohne Zögern von einer Wunde entfernt werden musste. Und wie eine Wunde fühlte es sich an, als sich der Inhalt des Umschlags vor ihr auf dem Bett verteilte. Drei Dinge, so unscheinbar, und doch rann ihr bei ihrem Anblick ein kalter Schauer über den Rücken. Ihre Hand zitterte, als sie sie nach der CD ausstreckte, die ihr unbeschriftet und ohne Schutzhülle geschickt worden war. Bereits jetzt zogen sich feine Kratzer über die ansonsten glänzende Oberfläche und ließen sie für einen schwachen Moment hoffen, dass das, was darauf auf sie warten würde, unwiderruflich zerstört war.

 

Mit schweren Gliedern erhob sie sich, ging die wenigen Schritte zum Schreibtisch hinüber und setzte sich, die CD in das Laufwerk ihres Laptops schiebend. Der Datenträger begann sofort melodisch zu surren und zeigte keinerlei Spuren von Beschädigung. Sie seufzte, rief ihren Player auf und startete das Video, von dem sie wusste, dass es dort sein würde, ohne sich den Inhalt der CD vorher angesehen zu haben.

Einige Sekunden blieb der Bildschirm schwarz, bis ein Tisch, vor dem ein leerer Stuhl stand, in den Fokus rückte. Das Bild wackelte, als würde jemand die Kamera justieren, leise Schritte waren zu hören, bevor sie schlussendlich in das Gesicht des Mannes sah, das sie so schmerzlich vermisste und gleichzeitig nur vergessen wollte.

 

„Hallo, Liebes …“

 

Ihr Finger hatte so schnell auf die kleine, portable Mouse gedrückt, die mit ihrem Laptop verbunden war, und damit das Video pausiert, dass die Bewegung einem spastischen Zucken gleichgekommen war. Ihr Atem beschleunigte sich, wurde immer flacher, bis schwarze Punkte begannen, vor ihren Augen zu tanzen.

 

„Ich kann das nicht. Ich kann das nicht“, jammerte sie, vergrub ihr Gesicht in beiden Händen und beugte sich vor, bis ihre Handrücken die Oberschenkel berührten.

 

Sie wusste nicht, wie lange sie derart zusammengekauert dagesessen hatte, aber als sich ihre Atemzüge schlussendlich wieder beruhigten und sie sich langsam in ihrem Stuhl aufrichtete, stand die Nachmittagssonne bereits tief am Himmel und kündigte den frühen Abend an. Der Bildschirm war längst schwarz geworden, doch als sie zögerlich die Mouse bewegte, sah sie sich erneut mit seinem Gesicht konfrontiert. Er sah müde aus, stellte sie fest, müde und umgeben von einer Aura der Resignation, als hätte er bereits während der Aufnahme gewusst, wie die Sache enden würde. Ihre Augen brannten, als sie das Video erneut startete und die Anstrengung, ihre Tränen zurückzuhalten, war schlicht und einfach zu groß. So rannen sie stumm über ihre Wangen, während seine sanfte Stimme das kleine Zimmer erfüllte.

 

„Wenn dich dieses Video erreicht, ist irgendetwas schief gelaufen. Ich hoffe, du hast dich an unsere Vereinbarung gehalten und die Stadt verlassen, bevor sie dich mit mir in Verbindung bringen konnten. Ich könnte es nicht ertragen, dich in Gefahr zu wissen. Wie dem auch sei, du weißt, was zu tun ist. Wir sind den Ablauf so oft durchgegangen, dass ich zuversichtlich bin, dass du alles in unserem Sinne geregelt bekommst.“

 

Sie schloss die Augen, spürte die Tränen, die auf ihre in ihrem Schoß ruhenden und zu Fäusten geballten Hände tropften. Im Hintergrund hatte ein Lied zu spielen begonnen, das sie nur zu gut kannte. Es war ihr Lied, mit dem sie all die schönen, gemeinsamen Momente verband. Das erste Mal, als sie mit ihm tanzte. Ihr erster Kuss. Ein Meer aus Rosenblättern und der Ring, der wie brennender Stahl noch immer um ihren Finger lag.

 

„Ich bitte dich, lass dich nicht von ihm täuschen, hörst du? Ich habe dir gesagt, er wird dir alles nehmen, wenn du ihm dein Vertrauen, deine Zuneigung schenkst. Und siehst du jetzt, was ich damit gemeint habe? Er hat dir deine Karriere genommen, wie er es auch bei mir getan hat, alles, was dir etwas bedeutet hat … deine Liebe. Er ist wie ein Krebsgeschwür, das sich hinter einer Fassade der Normalität verbirgt, bis es aufbricht und mit seiner vollkommenen Hässlichkeit alles um sich herum vergiftet. Lass ihn nicht gewinnen, hörst du? Ich hatte gehofft, das nie von dir verlangen zu müssen, aber du bist die Einzige, die für Gerechtigkeit sorgen kann. Du hast es mir geschworen und ich kenne dich, mein Herz, du würdest nie ein Versprechen brechen. Nicht zuletzt deswegen liebe ich dich so sehr.“

 

Sie zitterte, während die letzten Noten des Liedes verklangen und der Bildschirm erneut schwarz wurde. Mit mechanischen Bewegungen klappte sie den Laptop zu, verstaute ihn samt Zubehör in der obersten Schublade ihres Schreibtisches und erhob sich. In einer Sache hatte er recht – allein der Gedanke daran, ihn nun im Stich zu lassen, ihn auf diese Weise zu verraten, fraß sie innerlich auf. Selbst, wenn sie ihm ihre Loyalität in Unwissenheit versprochen hatte. Sie konnte ihren Schwur nicht vergessen, so sehr sie es in den letzten Monaten auch versucht hatte. Sie hatte alles hinter sich lassen und neu anfangen wollen, aber tief in ihrem Herzen hatte sie immer gewusst, dass dieser Tag irgendwann kommen würde. Der Tag, an dem sie ihr Versprechen einlösen musste. Die Vorstellung schmerzte mehr, als sie sich eingestehen wollte, weil ihr bewusst war, dass sie sich letzten Endes doch von ihm hatte einwickeln lassen. Sie war seinem Charme verfallen, der Fassade des schönen Scheins, genau wie er es vorhergesehen hatte. Grob wischte sie sich über die Augen, bevor ihr Blick auf eine CD fiel, die noch verpackt gegen die Ecke des Fensterbretts lehnte. Sie hatte es nicht über sich gebracht, sie zu öffnen, geschweige denn, sich die Lieder darauf anzuhören. Jetzt griff sie danach, betrachtete für einen langen Moment das Cover. Grauer Asphalt, auf dem sich der Regen in schmutzigen Pfützen sammelte, ein roter Regenschirm, vergessen in einer Gasse liegend, und eine gescheckte Katze, die darunter Schutz suchte. Ame no orchestra hätte ihr bislang größter, beruflicher Erfolg werden können, stattdessen wünschte sie sich nun, sie hätte nie mit ihm zusammengearbeitet. Er hatte sie davor gewarnt, wie er es auch jetzt im Video getan hatte, aber sie war naiv gewesen, hatte ihm bei der Vergeltung seines Unrechts zur Seite stehen wollen. Letzten Endes hatte sie nichts erreicht, nichts von Bedeutung, und so, wie die Dinge nun standen, würde nicht einmal ihr finales Opfer daran noch etwas ändern.

 

Sie legte die CD ebenfalls in die Schublade, bevor sie sie zuschob und die restlichen Dinge von ihrem Bett nahm. Der Schlüssel gehörte zu einem Schließfach, das Logo des Bahnhofs war auf einer Seite eingraviert, die Zahl siebenundsiebzig auf der anderen. Sieben. Sie lächelte gequält und verfluchte ihn für seine Detailverliebtheit. Sie hatten sich an einem siebten Juli kennengelernt. Nur ein Jahr später, ebenfalls am siebten Juli, hatte er ihr einen Antrag gemacht. Sie hatte immer geglaubt, die Sieben wäre ihre Glückszahl – eine weitere Fehleinschätzung.

Auf dem Zettel stand nur eine kurze Notiz, eine zusammengefasste Wiederholung dessen, was ihr das Video bereits offenbart hatte. An der Liebesbekundung am Ende blieb sie hängen, strich mit dem Zeigefinger über das Zeichen, das seinen Namen bildete. Sie hatte ihn immer Kenichi genannt, weil er sie darum gebeten hatte, aber vielleicht war es nun an der Zeit, ihn bei seinem wahren Namen zu nennen.

 

„Nobu.“ Die beiden Silben brannten wie heiße Asche auf ihrer Zunge und ihr Herz schmerzte, als würde es jeden Moment versagen wollen. Sie sehnte sich so sehr nach ihm, nach dem Glück, dass sie nur für eine so kurze Zeitspanne ihr eigen nennen konnten. Das Papier in ihren Händen zerknitterte, als sie die Rechte zur Faust ballte. Ihr brennender Blick fixierte sich auf die Schublade ihres Schreibtisches, als könnte sie die CD durch das Holz hindurchsehen. „Du bist schuld. Du hast ihn mir genommen.“

 

~*~

 

Die kleinkalibrige Waffe lag schwer in der Tasche ihres Mantels, schien sie mit jedem Schritt mehr nach unten ziehen zu wollen. Es war erstaunlich leicht gewesen, die Anschrift, die er so nachlässig auf den Brief an sie geschrieben hatte, zu verifizieren. Sie hatte geglaubt, nach allem, was passiert war, wäre er vorsichtiger geworden, was seine persönlichen Daten anging, aber er schien sich in Sicherheit zu wähnen. Und warum auch nicht? Schließlich war selbst sie in den letzten Monaten dem Irrglauben verfallen, vergessen zu können.

Für einen Moment schoben sich Erinnerungen an schönere Zeiten in ihre Gedanken, versuchten, die Melancholie zu vertreiben, die von ihr besitzergriffen hatte.

 

Ein warmer Sommertag, der Geruch von Schießpulver in der Luft, während sie die Zielscheibe anvisierte. Sie hatte seine stärkende Präsenz in ihrem Rücken gespürt, seine große Hand, die das aufgeregte Zittern ihrer Finger unterbunden hatte.

„Ausatmen, zielen und schießen. Ganz einfach.“

 

Er hatte ihr wirklich alles gezeigt, was sie brauchte, um zu beenden, was ihm nun nicht mehr möglich war. Hätte sie damals schon gewusst, wie es enden würde, wäre sie dann bei ihm geblieben? Es war müßig, darüber nachzudenken, und dennoch versetzte ihr die Vorstellung, sie hätte all dem hier entfliehen können, einen schmerzhaften Stich.

 

Sie vergrub ihr Gesicht tiefer in ihrem Schal und stemmte sich gegen den eisigen Wind, der ihr ihre Haare vor die Augen wehte. Als sie heute Morgen ins Flugzeug gestiegen war, war ihr der leichte Wollmantel zu warm gewesen, doch jetzt beglückwünschte sie sich nicht nur der tiefen Taschen wegen, sich für dieses Kleidungsstück entschieden zu haben. Schwere, nasse Schneeflocken fielen auf sie herab und ließen ihre Haare binnen Minuten unangenehm feucht auf ihrer Kopfhaut kleben. Die Stadt wirkte schmutzig und noch grauer als sonst, während sie über die Straße eilte. Eine junge Mutter, ihr quengelndes Kleinkind auf dem Arm, hielt ihr die Tür des Wohnblocks auf.

 

„Danke“, murmelte sie, deutete eine höfliche Verbeugung an, und dann war sie hier, am Ziel ihrer Reise. Am Ende ihres Weges, ihr Schicksal vor Augen. Sie schüttelte über ihre wirren Gedanken, die so sehr nach den seinen klangen, den Kopf und begann, die vielen Stufen nach oben zu steigen. Sie hätte es nicht ertragen, im Aufzug zum Stillstehen verdammt zu sein. Ihre Oberschenkel brannten, als sie endlich im richtigen Stockwerk angekommen war und ihr Atem kam ihr nur stoßweise über die Lippen. Letzteres, so vermutete sie, lag jedoch nicht nur an der Anstrengung ihrer kurzen, sportlichen Betätigung. Genau so wenig, wie das drückende Gefühl, das ihren Brustkorb beschwerte und ihren viel zu schnellen Herzschlag in ihren Ohren dröhnen ließ.

 

Noch konnte sie umkehren. Noch hatte sie die Chance, alles hinter sich zu lassen und ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. Sie war schon so weit gekommen, hatte sich beinahe wieder eine richtige Existenz aufgebaut …

 

Ihr Finger drückte auf den Knopf der Klingel, der sich neben der unscheinbaren Wohnungstür befand. Das melodische Läuten ließ sie zusammenfahren, die Schritte, die sich ihr langsam und gedämpft näherten, erzittern.

 

Die Tür öffnete sich …

 

„Ami? Das ist ja eine Überraschung. Was machst du denn hier?“

 

„Hallo, Tatsuro, darf ich reinkommen?“

 

 

 

 

~ ENDE ~


Nachwort zu diesem Kapitel:
Dieses kleine, fluffige Intermezzo widme ich rumwolf, die in einem der vorhergegangenen Kapitel die Frage nach dem Unbekannten in den Schatten richtig beantwortet hat und sich daraufhin ein Stichwort und die Personen wünschen durfte, zu denen ich hier etwas schreibe. Ihr Stichwort war Schokoladenkekse und die Personen Miya und Satochi.
Ich hoffe, dir gefällt dein Kapitel und meinen anderen Lesern natürlich auch. Ich denke, so ein wenig Fluff nach all dem Drama der letzten Kapitel tut uns allen gut. Mir auf jeden Fall. *lacht* Komplett anzeigen
Nachwort zu diesem Kapitel:
Nach fast drei Jahren ist das hier jetzt tatsächlich das Ende. Ich kann es noch gar nicht fassen und bin gleichermaßen traurig und froh darüber, es geschafft zu haben. Vermutlich treffe ich mit diesem offenen Ende nicht jeden Geschmack und vielleicht hätte der ein oder andere Lesende sich einen definitiven Abschluss gewünscht. Zu meiner Rechtfertigung kann ich eigentlich nur sagen, dass dieses Ende schon seit über einem Jahr in meinem Kopf gelebt hat und trotz der vielen Änderungen, die TSMGO in den letzten Monaten durchgemacht hat, immer gleichgeblieben ist. Wenn das kein Zeichen ist, weiß ich auch nicht. Ich hoffe auf jeden Fall, dass euch die Story alles in allem gefallen hat und würde mich wahnsinnig drüber freuen, wenn auch die Lesenden, die bislang nur stumm konsumiert haben, sich kurz Zeit nehmen, um mir ein kleines Feedback zu geben. Gerade bei so einem langen Projekt würde mir das doch sehr weiterhelfen und mich riesig freuen.
Abschließend möchte ich mich noch bei hide-cahn bedanken, die immer eine der Ersten war, die mir hier Feedbakc gegeben hat, bei Luna, weil du wohl meine treuste Leserin und Kommi-Schreiberin bist und bei Maya, weil du mich immer motiviert und angefeuert hast.
In diesem Sinne, bis zur nächsten Story.
Eure Yam Komplett anzeigen

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Kommentare zu dieser Fanfic (27)
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Von:  QueenLuna
2020-11-18T17:28:34+00:00 18.11.2020 18:28
So jetzt kommt der eigentliche Kommentar zum 11. Kapitel ^^; sorry hatte mich vertan.

Dunkle Wolken ziehen auf, am Horizont und damit meine ich nicht das Gewitter am Ende des Kapitels auch wenns schön passt xD wobei ja die dunklen Wolken ja schon die ganze Zeit da waren.
Ich traue schon wieder niemanden mehr. Kenta definitiv auch nicht. Wer war eigentlich seine Vorlage? Hiro von nocturnal bloodlust? Der ist auch so aufgepumpt und ein Hauch kleiner xD

Ich finde Tatsurous Gefühle bezüglich Sato kommen hier hervorragend raus, seinen Zwiespalt zwischen Eifersucht und Freude. Und ich mag wie die miya und Sato zusammenwirken. Ja sie tun einander echt gut <3
Und die Szene in Regen mit der Mietze. Hach ja. So schön. Und ich finde du hast da so eine perfekte Mischung aus Szenerie und Tatsurous Gedanken und Erinnerungen drin. Großartig. Und er ist echt ein toller Schauspieler, denn wenn er bei den Gedanken in der Szene bleiben kann ist das echt eine tolle Leistung ^^ Hab ein bisschen Angst um die Mietze. Nicht dass der was passiert.
Ach so und glatt vergessen. Ich mochte den kleinen handy flirt zwischen Yukke und tatsue echt gerne und Tatsurou Gedanken waren herrlich xD hab mich gut unterhalten gefühlt.

Tja und dann die Sache mit seek. Da ziehen echt die dunklen Wolken auf und ich warte jeden Moment auf den großen knall. Aaah ich hab Angst.
Wieder rum haben mich die Vertrautheit zwischen den beiden im Auto wieder etwas positiv gestimmt und mich ruhiger werden lassen.

Liebe Grüße
Luna
Von:  QueenLuna
2020-11-18T16:40:03+00:00 18.11.2020 17:40
Haaach *seufz*
Ich hatte glatt vergessen wie sehr mich das ganze Gefühls Auf und Ab mitgerissen hat.
Ich finde es in dem Kapitel nach wie vor (also ich geh davon aus, dass ich es beim ersten Lesen auch so empfand *lach*) großartig und spannend, mal auf mehreren Perspektiven zu lesen und mit den anderen noch besser mitfühlen zu können. Man merkt bei allen ihre Sorge um Tatsurou und das stimmt mich irgendwie, trotz des erdrückenden Gefühls durch den Stalker, irgendwie positiv. Auch wenn Tatsurou durchaus in seiner Reaktion auf das Interview überreagiert hat, finde ich es absolut nachvollziehbar bei dem ganzen Mist, der bei ihm ab geht und mittlerweile ist auch meine Paranoia bezüglich der Geschichte zurückgekehrt. Hab mittlerweile so einige Paranoias durch deine Geschichten *lach*
Und dann dieser Schluss... Boah. Der zwingt einen regelrecht zum weiter Inhalieren der Kapitel.

So muss weiterlesen xD
Liebe Grüße
Luna
Antwort von:  QueenLuna
18.11.2020 18:11
Huch... Hab grad gemerkt dass der Kommentar fürs 10. Kapitel war. Bin verrutscht ^^;
Von:  QueenLuna
2020-11-18T14:31:35+00:00 18.11.2020 15:31
So, ich mal wieder und ich kanns nicht lassen noch mal kurz meinen Senf dazu zugeben ^^
Ich liebe das Kapitel. Es ist eine herrliche Dynamik zwischen den Beiden und dieses Knistern... Man kann es regelrecht mit den Händen greifen.
Ich finds großartig dass Yukke die Initiative ergreift, weil von Tatsurou wäre doch bestimmt nichts gekommen und wenn erst deutlich später *lach* Der Gute braucht halt etwas auch wenn er auch dem richtigen Weg ist ^^
Also wie gesagt ich mags das hier sehr sehr gerne <3

Liebe Grüße
Luna
Von:  QueenLuna
2020-07-21T12:40:36+00:00 21.07.2020 14:40
Uh was für ein Kapitel, was für ein Anfang, was für Höhen und Tiefen.
Der Einstieg in das Kapitel war krass, so greifbar und nachfühlbar, wie du Tatsurous Zustand beschrieben hast, seinen Schock... Einfach großartig. Wie sich Tatsurous Welt plötzlich verengt hat, er nichts mehr so richtig bewusst warlhr nahm....Ich wiederhole mich, aber es ist nun mal großartig geschrieben.
Ich mag es wie Sato hier seine Stütze ist, ihn auffängt und wiederrum Miya Sato auffängt. Tolle Kombi. Auch ein Hoch auf Miya dass er einen kühlen Kopf bewährt ^^
Aber armer Tatsurou. Er tat mir hier wirklich leid und er wirkte auch wie ein anderer, weils ihn so getroffen hat. Erst durch Yukke fand er ja etwas in seine alte Form zurück <3
Ich mochte das Auftausch zwischen den beiden. Es hat eine wunderbare Leichtigkeit zurück in das Kapitel gebracht <3

Liebe Grüße
Luna ^^
Antwort von:  yamimaru
21.07.2020 19:34
Oh, es freut mich so, dass dir der Anfang des Kapitels so gut gefallen hat. Einerseits hat der sich damals fast wie von selbst geschrieben, weil ich auch so richtig in Tatsuros Empfindungen und seiner Angst drin war. Teilweise war es aber auch nur anstrengen und ein Krampf, weil mir Tatsuro hier auch so wahnsinnig leidgetan hat. U_U Wie schon mal gesagt, ich weiß gar nicht, warum ich ihm das alles antue. XD
Sato ist hier großartig, oder? Ich liebe ihn einfach in der Rolle von Tatsuros Bruder und das klingt hoffentlich nicht überheblich. XD Ich hab damit nämlich nichts zu tun, das macht der Gute von ganz alleine.
Und ja, einer musste einfach einen kühlen Kopf bewahren und zu Miya passt so ein besonnenes Verhalten auch in Stresssituationen einfach.
Ich mag es, die Dynamik zwischen ihm und Sato zu schreiben, irgendwie wird mir selbst da immer richtig warm ums Herz und nach dem Drama hat das genauso gutgetan, wie den Austausch zwischen Yukke und Tatsuro am Ende. ;) Ich brauchte da einfach selbst etwas positives für die Seele. ^__^
Freut mich echt unheimlich, dass dir das Kapitel gefallen hat und vielen, lieben Dank für dein Feedback!

Alles Liebe <3
Yami
Von:  QueenLuna
2020-07-21T06:20:42+00:00 21.07.2020 08:20
Puuuh was für ein Kapitel, wobei das Puh zu 80 Prozent vom Ende kommt.
Also es war wieder super und ich liebe es einfach wie Yukke und Tatsurou miteinander umgehen, das zeitweise leise Knistern um sie herum ist wirklich spürbar, egal wie sehr sich Tatsue dagegen wehrt. ^^
Aber jetzt ist auch ein bisschen besser zu verstehen, warum Tatsurou so drauf ist, in dieser Beziehung, wie er eben ist. Ich würde jetzt zu gern wissen, wer der andere Kerl war, der so scheiße zu ihm war.
Und Kaisuke trau ich nicht über den Weg, schon seit dem ersten Moment, als er aufgetaucht ist -___-
Puuuh und das Ende. Echt ein guter Cliffhanger und bringt noch mehr Schwung rein. Ach herrje, ich muss echt sofort weitersuchten *lach*

Liebe Grüße
Luna
Antwort von:  yamimaru
21.07.2020 08:58
Hach, ich finde es großartig, dass du auch das knistern spüren konntest, das eindeutig zwischen Tatsuro und Yukke herrscht. Egal was der werte herr Iwakami immer behauptet, da fliegen die Funken. Punkt! XD
Aber schön, dass Tatsuros Verhalten yukke gegenüber zum einen angenehm zu lesen ist, seine Distanz, die er trotz allem jedoch zu wahren versucht, auch nun besser zu verstehen ist. Er macht halt nichts ohne Grund, auch wenn seine Gründe oft nicht so ganz klar sind. XD
Wer der Kerl ist, der Tatsuro so zugesetzt hat, wird in späteren Kapiteln noch deutlich.
Ich finde es echt interessant, dass du Kaisuke gleich von Beginn an nicht leiden kannst. Sehr spannend. ;)
Und, ohne dich jetzt demotivieren zu wollen, an die Cliffhanger in dieser Story musst du dich so ein bisschen gewöhnen. *lacht* Das hat mir hier einfach viel zu viel Freude bereitet. *höhöhö*

Vielen lieben Dank für deine tollen worte, dein Feedback und einfach dafür, dass dir die Story bislang gefällt. Das freut mich echt total. ;)

alles Liebe
Yami
Von:  QueenLuna
2020-07-20T19:54:21+00:00 20.07.2020 21:54
Ach Gott, was hab ich beim Lesen gelacht xD
Ich liebe Tatsurous Gemotze einfach und er hat ja auch absolut recht, was das Drehbuch und Co angeht. Allein die Vorstellung dass es ein Pretty Woman Abklatsch ist, mit den beiden Nasen als Hauptrollen bringt mich jedes Mal wieder zum Lachen xD und diese Klischees... herrlich.

Bei der Stelle: „Ehm, Tatsuro? Nicht, dass es schlimm wäre von dir gekrault zu werden, aber was genau wird das, wenn es fertig ist?“ bin ich wirklich in gackerndes Lachen ausgebrochen xD
Generell wie die beiden miteinander umgehen und Tatsurous - Ich nenne es mal aus Mangel eines besseren Wortes - Zerrissenheit (ja er ist nicht wirklich zerrissen aber wie gesagt mir fehlt grad das wort xD), was Yukke angeht. Einfach wie er ihn innerlich teils anschmachtet und dann doch seine Gefühle verleugnet und dann äußerlich einen recht coolen Umgang - mit einigen Ausrutschern natürlich - pflegt. Ich liebe es einfach dem zufolgen <3
Und Gara und Yumiko mag ich auch gerne. Beziehungsweise alle nebencharaktere bisher ^^

Ich fand es großartig, wie die beiden einfach das Drehbuch uminterpretiert haben, sowohl im Aussehen ihrer Charaktere als auch die Szene. Auch wenn letzteres wohl eher Tatsues wundervollen Gesangkünsten geschuldet war. Ich mag die Reaktion der Umstehenden sehr und einfach wie du die Szene als solches beschrieben hast.
Ich muss mal wieder loswerden, wie sehr ich deinen Schreibstil liebe <3 er ist so wunderbar vielschichtig und lebendig, ein wahrer Genuss <3

Der letzte Absatz mit Gara und Sato hat mich wieder arg zum lachen gebracht. Die Reaktionen... Herrlich.

Liebe Grüße
Luna
Antwort von:  yamimaru
21.07.2020 08:52
Hey Luna,
na, da fängst du jetzt doch zu lesen an, obwohl ich mit der Story noch nicht fertig bin. Hoffentlich lasse ich dich dann echt nicht zu lange warten, aber bei der Geschichte hier brauch ich einfach meine zeit. XD

Freut mich aber total zu lesen, dass dir der Einstieg in die Story schon so gut gefallen hat. Es hat beim Schreiben auch echt unglaublichen Spaß gemacht, tatsuro so empört reagieren zu lassen und einfach mal mit sämtlichen Klischees um mich zu werfen. XD

Schön, dass es rüberkommt, wie hin und hergerissen Tatsuro ist, was seinen Umgang und die Gespräche mit yukke angeht. irgendwo findet er ihn halt schon interessant, aber hey, warum sollte man sich das eingestehen, ne? *lacht* Ich bin immer ganz begeistert, wenn du schreibst, dass dich bestimmte Szenen tatsächlich zum Lachen gebracht haben, das freut mich total. Ich sitze in solchen Momenten nämlich auch vor dem PC und hab bestimmt ein ziemlich dümmliches Grinsen im Gesicht, weil ich mich über die eigenen jokes freue. ist das komisch? *lacht* Aber gerade Gara und Sato machen sich mit ihren Kommentaren Tatsuro betreffend auch gern mal selbstständig und dann steht da ein blöder Spruch, ohne, dass ich richtig mitbekommen habe, ihn geschrieben zu haben. Solche Charaktere sind einfach großartig, endlich mal jemand der kooperiert. XD

Vielen lieben Dank für dein Feedback und wie gesagt, freut es mich tierisch, dass du hier mitliest. ^^

Yami
Von:  Rentierchan
2020-03-26T08:57:02+00:00 26.03.2020 09:57
Ich lese noch mit XD und freue mich sehr das ein neues Kapitel entstanden ist
Antwort von:  yamimaru
26.03.2020 10:28
Oh, wie schön! dann hoffe ich einfach, dass sich das lange Warten auf dieses Kapitel auch gelohnt hat. :)
Von:  QueenLuna
2019-12-01T19:58:45+00:00 01.12.2019 20:58
Was für ein toller Einstieg xD
Ich mag die Art von Tatsurou... Man spürt regelrecht seine Verzweiflung und Abneigung gegen diesen Film... Allerdings hält sich mein Mitleid mit ihm in Grenzen xD musste eher lachen... Also die Schadenfreude siegt über den "exzentrischen Schauspieler", wie Gara so schön dachte xD

Es hat wieder so viel Freude gemacht, das Kapitel zu lesen ^^
Find die Idee von der deutlichen schlimmeren Auflage von Pretty Woman (um Tatsurou zu zitieren) klasse und bin gespannt, wie es weitergeht ^^

Liebe Grüße
Luna <3
Antwort von:  yamimaru
02.12.2019 11:15
Hey Luna,

oh, du fängst jetzt doch schon hier zu Lesen an? Also, nicht dass ich mich darüber nicht wie immer riesig freuen würde, aber ich werde erst im neuen Jahr dazu kommen, hier weiterzuschreiben. Ich hoffe, das ist dann keine zu lange Wartezeit für dich?

Aber jetzt erst mal zu deinem Kommentar.
Es freut mich, dass dir der Einstieg in die Geschichte so gut gefällt und ich kann sehr gut nachvollziehen, warum sich dein Mitleid für Tatsuro hier in Grenzen hält. Geht mir nicht anders. XDDDD
Ja, in wieweit sich das Drehbuch dann mit einer schlimmeren Version von Pretty Woman letzten Endes vergleichen lässt, musst du mir dann unbedingt sagen, wenn es soweit ist. Ich habe mir auf jeden Fall Mühe gegeben, es Tatsuro nicht allzu leicht zu machen. XD

Und ich bin persönlich auch schon sehr gespannt darauf, wie dir die weitere Entwicklung der Story gefallen wird. ^^
Vielen herzlichen Dank für dein Feedback!!!

Alles Liebe <3
yamimaru
Antwort von:  QueenLuna
02.12.2019 12:59
Jaa es juckte mir in den Finger deshalb musste ich jetzt einfach mal reinschnuppern xD aber ich versuche mich mit dem Weiterlesen zu zügeln, damit die Wartezeit nicht zu lang wird xD wobei das sag ich ja immer, ne? Mal sehen ob das was wird ^^ lassen wir uns überraschen
Von:  Aka_Tonbo
2019-06-04T11:58:19+00:00 04.06.2019 13:58
Sei mir gegrüßt : )

Da hast Du Dich ja wieder ins Zeug gelegt, was die Länge des Kapitels angeht. Da kann ich nachvollziehen, dass es auch seine Zeit gebraucht hat es zu schreiben. Wie Du ja weißt schreibe ich meine Stories meist erst zu Ende, bevor ich sie veröffentliche, und entscheide die Länge der Kapitel dann quasi nach Gefühl. Irgendwie machte es mir das leichter mich nicht so gedrängt zu fühlen, als wenn ich mir vornehme immer ein Kapitel zu schreiben. Früher ging es mir dann oft so, dass ich nie so recht wusste, wie ich eines abschließen sollte, oder mich irgendwie gezwungen fühlte eine bestimmte Längennorm zu erfüllen.

Aber nun zum Kapitel selbst.

Ich musste schon etwas mitfühlend lächeln, als Tatsuro sich etwas eifersüchtig zeigte, als es um Sato und Miyas Miteinander ging. Es ist immer schwer sich vorstellen zu müssen, dass jemand der einem wichtig ist, womöglich bald von einem wegdriftet, wegen einer anderen Person. Und in diesem Fall ist es wieder auch der Zwiespalt seiner eigenen (egoistischen) Gefühle oder auch Ängsten allein gelassen zu werden und dem glücklich sein des anderen. Das Tatsuro wohl nie komplett darüber hinwegkommen wird das Sato wegen ihm nun ein Leben lang diese Behinderung zu erdulden hat, wird da immer eine Rolle spielen. Aber am Ende glaub ich auch nicht das Sato Tatsuro tatsächlich einfach stehen lassen würde, nur um sein eigenes Glück zu finden. Dazu hat Sato eine zu tiefe Bindung zu seinem Bruder.

Ich muss auch zugeben, dass ich nun auch schon hinter jedem Location-/Szenenwechsel ein Unheil vermute ^^*
Zuerst als Tatsuro Yukke auf dem Parkplatz sah, dann als er zu ihm ging, gefolgt von der Fahrt zum Krankenhaus. Ich dachte immer „Oh, jetzt passiert womöglich wieder was fieses.“

Aber zum Glück war dem nicht so. Mal abgesehen von den unerfreulichen Botschaften.

Umso angenehmer war es zu lesen, das Tatsuro und Yukke sich nun auch mal etwas eingehender ausgesprochen haben und es mit den beiden wieder etwas bergauf geht.

Dein Bodyguard ist auch recht gut umgesetzt, das ich ab und an schon schmunzeln musste.
Zu Deiner Frage wer dafür Vorbild war, kann ich allerdings nur sagen „Ich hab nicht den blassesten Schimmer!“ Vielleicht erleuchtest Du mich ja XD

Ich hab mich nun auch mal mit dem Wahnsinnsprojekt befasst eine meiner neueren Stories ins englische zu übersetzen. Ich hatte den Gedanken schon länger, aber echt nicht die Muse. Nicht zu vergessen was es doch auch an Zeit kostet. Selbst mit einem Translator -_-

Aber nun wo ich es schon angefangen habe und es Leute gibt es sogar lesen und mögen, will ich diese nicht enttäuschen und versuch dranzubleiben. Es hilft einem ja auch seine Sprachkenntnisse zu schleifen.

In diesen Sinn, freu ich mich wieder auf das kommende Kapitel und was uns noch so erwarten wird ; D

Antwort von:  yamimaru
15.07.2019 10:10
Hallo,

oh jee, ich hatte gedacht dir hier schon längst auf deinen Kommentar geantwortet zu haben. U_U sorry dafür.
Aber jetzt erst einmal vielen, vielen lieben Dank für dein Feedback, das mich im Urlaub erreicht hat und mir mal wieder echt den Tag versüßt hat. ^^

Ich muss sagen, dass ich mich immer von Kapitel zu Kapitel vorarbeite und daher sind meine Kapitel auch nie wirklich gleichlang. *lacht* Ich bin viel zu ungeduldig, um mit der Veröffentlichung auf die Vollendung einer Geschichte warten zu können. XD und gerade bei dem Baby hier, das sich ja zu einem Giganten entwickelt, obwohl es ja nur etwas Kurzes für Zwischendurch hatte sein sollen, hätte ich das mit der Fertigstellung nie abwarten können. ;) Und mir ist es jetzt schon ein oder zwei Mal so gegangen, dass mich das Feedback der Leser zu einer Szene inspiriert hat, die es sonst womöglich gar nicht gegeben hat.
Ich finde beide Vorgehensweisen haben ihre Berechtigung, immerhin würde es dir dann nicht passieren, Plotlöcher unentdeckt zu lassen oder dich in einer Szene zu verrennen, wenn du erst mal alles geschrieben hast. Da sind nachträgliche Korrekturen einfach besser umzusetzen, als wenn das gute Stück schon online ist. ^^

Da schätzt du Satochi wirklich genau richtig ein. Tatsuros Ängste und seine kleinen Eifersüchteleien Miya gegenüber sind eigentlich absolut unbegründet, denn Sato würde seinen Bruder nie einfach so alleine lassen. Aber zum einen finde ich es selbst immer ziemlich amüsant, mir Tatsuro ein wenig eifersüchtig vorzustellen und zum anderen hat er nun mal ein Ego von hier bis zum Mond und zurück, da ist es für ihn doch recht schwer zu verkraften, nicht immer und überall das Zentrum der Welt zu sein. XD
Aber insgeheim freut er sich einfach nur für seinen Bruder und verspürt auch so eine gewisse Erleichterung, dass Sato - außer ihm selbst - nun noch jemanden hat, der ihm einfach guttut und der für ihn da ist. Das kann er nicht abstreiten, auch wenn er das natürlich vehement leugnen würde. XD

Ach herrje *lacht* da hab ich ja eine richtig kleine Paranoia bei dir ausgelöst, was? Aber ich müsste lügen, wenn ich sagen würde, dass mir das leidtut. XD Immerhin war genau dieses Gefühl von "Hilfe, leich passiert wieder was" das, was ich mit diesem Kapitel erreichen wollte. ;)
Aber ich bin selbst gespannt, wie sich die nächsten Kapitel so entwickeln. Ich weiß zwar natürlich, was noch alles passieren soll, aber laut meinem inneren Fahrplan hätte das schon vor zwei Kapiteln geschehen sollen und nichts war's. XD Ich glaube, ich hab einfach zu viel Mitleid mit Tatsuro und allen anderen. *g*

Freut mich, dass dir die Szene mit Tatsuro und Yukke gefällt, ich konnte es einfach nicht dabei belassen, dass die beiden nicht miteinander reden und gerade, wo es Yukke jetzt wegen Seek schlecht geht, hat auch Tatsuro es nicht über sich gebracht, ihm nur aus Prinzip noch böse zu sein. Weil wenn er ehrlich ist, kann er Yukke doch gar nicht böse sein ... nicht wegen so was. ^__^

Also, als Vorbild für den Bodyguard hat mir Kenta Koie - der Sänger von Crossfaith gedient. Vielleicht kennst du ihn ja? Aber freut mich, dass du ihn gut umgesetzt fandest. ^^

Oh wow!!! Das ist wirklich mal ein gigantisches Projekt und ich drücke dir die Daumen, dass du durchhalten wirst. Ich finde es ja schon eine ziemliche Herausforderung Texte auf Englisch zu verfassen, sie dann aber vom Deutschen zu übersetzen, stell ich mir noch schwerer vor. Einfach, weil man gute deutsche Formulierungen vor der Nase hat, die man dann irgendwie ins englisch bringen muss, ohne dass das ganze Feeling verloren geht.

Ich nehme gerade am CampNaNoWriMo teil und versuche jetzt im Juli eine FF abzuschließen, die schon ewig und drei Tage hier herumdümpelt. Ich muss sagen, ich hätte es ja nicht für möglich gehalten, weil ich dieses Jahr schreibtechnisch noch nicht so viel auf die Reihe bekommen habe, aber das Camp motiviert mich gerade echt total. Mein Ziel sind 10.000 Worte und ich bin doch zuversichtlich, dass ich das schaffen werde. ^^

Also nochmal herzlichen Dank für deinen Kommentar und sobald die andere FF endlich fertig ist, werde ich mich wieder TSMGO widmen. Ich hoffe, dann hören wir wieder von einander. ^^

Alles Liebe
yamimaru
Von:  Rentierchan
2019-05-21T10:23:41+00:00 21.05.2019 12:23
Es war wieder absolut klasse! Du hast einen tollen schreibstil, der sich sehr flüssig liest und immer Lust auf mehr macht.
Ich wünschte immer das Ende käme nie XD
Ich bin sehr gespannt wie es weiter gehen wird.
Antwort von:  yamimaru
21.05.2019 12:33
Hey,
vielen lieben Dank für deinen Kommentar, darüber hab ich mich grad echt riesig gefreut.
Besonders, dass du sagst, dass sich mein Geschreibe gut liest und dir Freude bereitet hat.
Das ist doch echt das größte Lob, das man als Schreiber bekommen kann. <3 Danke nochmal. ^^
Ich hoffe sehr, dass ich in den nächsten Wochen wieder mehr Zeit und elan zum Schreiben haben werde, damit du auf ein nächstes Kapitel nicht wieder so lange warten musst. ;)
Alles Liebe
yamimaru
Antwort von:  Rentierchan
22.05.2019 12:21
Da würde ich mich sehr freuen!
😁
Aber das Leben geht immer vor. Wenn es länger dauert ist das eben so.
Was lange wärt, wird gut!


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