The show must go on von yamimaru ================================================================================ Kapitel 4: Klappe, die Vierte ----------------------------- Mit einem lauten Klappern fiel Satochis Gehstock zu Boden, aber Tatsuro war noch immer zu geschockt, um darauf großartig zu reagieren. Nur seinen Kopf drehte er mit apathischer Langsamkeit zur Seite, die trüben Augen erst auf die Krücke, dann auf seinen Bruder gerichtet. In Satochis aschfahlem Gesicht stach die purpurne Narbe wie ein Brandmal hervor und der Schmerz verzerrte seine Züge, als er sich mit ungelenken Bewegungen hinzuknien versuchte. Tatsuro beobachtete ihn stumm dabei, fühlte sich wie ein unbeteiligter Zuschauer, unfähig etwas zu tun oder ihm Hilfe anzubieten. Sein Herz schlug erstaunlich langsam in seiner Brust und dennoch schmerzte jedes angestrengte Pochen, als würde es jeden Augenblick einfach stillstehen wollen. In seinen Ohren lag ein hohes Summen, fast schon ein Pfeifen und es verstrichen mehrere Sekunden, in denen sich Satochis Lippen zwar bewegten, er den Sinn des Gesagten jedoch nicht verstehen konnte. „Atme, Tatsue, verdammt!“ Satochis Griff tat weh, als er beide Hände wie Schraubstöcke um seine Oberarme legte und ihn zweimal heftig schüttelte. Zischend sog er die Luft zwischen den Zähnen ein, schnappte im nächsten Moment auch schon gierig nach Atem, als wäre er minutenlang unter Wasser gewesen. Wie ein ertrinkender keuchte er und würgte, als der faulige Gestank des verwesenden Tierkadavers wieder in seine Nase stieg und sich mit dem kupfernen Geschmack von Blut in seinem Mund mischte. „Dem Himmel sei Dank.“ Satos Griff wurde noch fester, trieb ihm beinahe Tränen in die Augen, bevor er sich in einer verzweifelt energischen Umarmung wiederfand. Die Hand seines Bruders legte sich an seinen Hinterkopf, presste ihn noch näher und erst jetzt spürte er das Zittern, welches nicht nur von seinem Körper besitzergriffen hatte. „Sato, Scheiße“, wimmerte er unzusammenhängend, hörte beinahe wie das Monster, das sich Panik nannte, seine Krallen wetzte und nur darauf wartete sie in sein Hirn zu stoßen, um ihm auch noch den letzten Rest Verstand zu rauben. Tatsuro begriff nicht, was geschehen war, traute sich nicht genauer darüber nachzudenken, aber allein die Angst, die er in Satochis Gesicht erkannt hatte, wollte ihm erneut die Kehle zuschnüren. „… Ich habe die Macht dir alles zu nehmen, was dir lieb und teuer ist …“, halten die Worte in seinem Kopf nach, wurden lauter und lauter und so spürte er kaum, wie er sich immer verzweifelter im Oberteil seines Bruders verkrallte. Er wusste nicht, ob er Halt suchte oder ob er Satochi festzuhalten versuchte, damit er ihm nicht weggenommen wurde. Denn genau dies hatte diese ekelhaft verzerrte Stimme angedeutet, sie würde ihm alles rauben, alles was ihm etwas bedeutete und  … oh Gott. Er stemmte sich gegen Satochis Umklammerung, bis sie sich soweit gelockert hatte, dass er ihm ins Gesicht blicken konnte. „Der Unfall …“, stammelte er, seine Gedanken überschlugen sich regelrecht und machten es ihm nicht gerade leicht sich zu konzentrieren. „Er hat es auch auf dich abgesehen … du hast es doch selbst gehört. Der Unfall war kein Versehen, er wusste genau, was er tat und … und …“ Die weiteren Worte blieben ihm im Halse stecken, genau wie die Luft, die einfach nicht mehr durch die Enge seiner Kehle passen wollte. Seine Augen weiteten sich, als er japsend versuchte wieder ausreichend Sauerstoff in seine Lungen zu bekommen. „Tatsuro!“ Satos energische Stimme durchbrach den roten Schleier der Panik, der sich erneut über seinen Geist gelegt hatte. „Sch, sch, atme Tatsue, einfach nur atmen.“ Beruhigend redete sein Bruder auf ihn ein, die Arme nun locker um seine Schultern gelegt und begann ihn im Nacken zu kraulen. Genau wie er es früher, als sie noch Kinder waren, immer getan hatte, wenn ihn Albträume geplagt hatten, weil er der festen Überzeugung gewesen war schon alt genug für die Horrorfilme im Abendprogramm zu sein. Egal ob sie sich tags zuvor gestritten hatten, selbst wenn sie sich die Nasen  blutig geschlagen hatten, immer, wirklich immer, wenn Tatsuro schreiend aus einem Albtraum hochgeschreckt war, war da Satochi gewesen. Sie hatten noch nie wirklich darüber gesprochen, viel zu peinlich war es ihm immer gewesen, dass er damals seinen gerade einmal um neun Tage älteren Stiefbruder gebraucht hatte, um die Monster seiner Träume zu vertreiben und dennoch war Tatsuro ihm bis heute unendlich dankbar. Satochi war immer für ihn dagewesen, war auch jetzt der Fels in einer Brandung, die ihn in den Abgrund reißen wollte. Und wo war er gewesen, als sein Bruder ihn gebraucht hatte? Als die Ärzte über Stunden alles getan hatten, um sein Leben zu retten? Er hatte ein weiteres, sinnloses Casting über sich ergehen lassen, das Handy ausgeschaltet, um wenigstens den Eindruck zu vermitteln, vollkommen engagiert zu sein. „Es tut mir so leid“, wollte er sagen, aber kein Wort kam ihm über die Lippen. „Kannst du aufstehen?“ Satochis Gesicht hatte in den letzten Minuten wieder etwas an Farbe gewonnen und das Entsetzen, welches Tatsuro noch immer ganz knapp unter der Oberfläche seiner Selbstbeherrschung lauern fühlte, war aus den Augen seines Bruders gewichen. Grimmige Entschlossenheit lag nun in Satos Blick und ein großer Teil Besorgnis, als er ihn nun kritisch musterte. „Du brauchst dringend einen Arzt und …“ „Satochi? Tatsuro?“ Es klopfte leise am Rahmen der Tür, die Satochi vorhin wohl nur angelehnt hatte, bevor sie langsam nach innen aufschwang. „Ich wollte nur fragen, ob …“ Miya stieß einen ekelerfüllten Laut aus und hielt sich den Handrücken unter die Nase, nachdem er den Kopf ins Arbeitszimmer gestreckt hatte. „Was stinkt hier denn so?“ Keine Sekunde später konnte Tatsuro mit ansehen, wie sich die oftmals so verschlafen wirkenden Augen erschrocken weiteten und Miyas generell blasses Gesicht eine grünliche Färbung annahm. „Scheiße, was …? Kopfschüttelnd eilte er die wenigen Schritte auf sie zu und obwohl sich Tatsuro sicher war, dass Miya die Tragweite dessen, was hier vorgefallen war, noch weniger verstand als er selbst, wirkte sein Boss beinahe geschäftsmäßig, als er den Gehstock aufhob und ihn seinem Bruder hinhielt. „Wir sollten die Polizei rufen und … seid ihr beide verletzt oder nur …?“ „Nur Tatsue, das ist sein Blut.“ Sato deutete auf sein vormals weißes Shirt, auf dem Tatsuro nun dunkelrote Flecken ausmachen konnte. Blut? Er war verletzt? Die Information sickerte quälend langsam in sein Bewusstsein, während er dabei zusah, wie Miya seinem Bruder wieder auf die Beine half. Aber kaum begriff er, was Sato soeben gesagt hatte, machte seine linke Wange mit wütendem Pochen auf sich aufmerksam. „Was …?“, wisperte er und legte zitternde Fingerkuppen an sein Gesicht. Der Schmerz verstärkte sich und er spürte die Nässe, sah nun auch das Blut, welches auf den hellen Parkettboden getropft war. Mit der Zunge tastete er nach der Quelle des metallischen Geschmacks in seinem Mund und würgte trocken, als die Haut an einer kleinen Stelle sogar nachgab. Mühsam rappelte er sich hoch, schwankte leicht, aber da war wieder Sato, der seinen freien Arm nach ihm ausgestreckt hatte und ihn sicher auf den Beinen hielt. Tatsuro schluckte, was die Übelkeit nur noch verstärkte und ging einige, langsame Schritte auf die Tür zu. Er musste hier raus, sonst würde er tatsächlich noch den Verstand verlieren. Aus dem Augenwinkel sah er etwas silbern aufblitzen, was ihn unweigerlich an den Moment  erinnerte, als er die Schachtel geöffnet hatte. Das Ding, von dem er dachte, dass es ihn nur knapp verfehlt hatte, lag nun vollkommen unschuldig am anderen Ende des Zimmers und trotz seines eben gefassten Vorhabens änderte er die Richtung und ging darauf zu. „Ein Wurfstern“, murmelte Sato neben ihm und machte Anstalten sich nach dem Gegenstand zu bücken, aber Miyas Stimme hielt ihn zurück. „Es ist besser, wenn wir hier nichts anfassen, solange die Polizei nicht alles dokumentiert hat. Der Notarzt ist auch schon unterwegs.“  Tatsuro blickte zur Tür, in der der andere wieder aufgetaucht war, ohne dass er überhaupt bemerkt hatte, dass Miya den Raum verlassen hatte. Seine Augen richteten sich wieder auf den Gegenstand und eine weitere Welle der Übelkeit packte ihn. Das war nicht nur irgendein Wurfstern. Das war einer der Wurfsterne, mit denen er am Set von WORLD OF DECEPTION so viele Stunden geübt hatte. Kamuis Wurfstern. ~*~ Körperlich und geistig am Ende seiner Aufnahmefähigkeit angelangt schlurfte Tatsuro über den hell erleuchteten Flur der Privatklinik, in die der Notarzt ihn vor über einer Stunde gebracht hatte. Er war zu erschüttert gewesen, um überzeugend protestieren zu können, aber trotz der Tatsache, dass man ihn unter anderen Umständen nie im Leben hätte überreden können in ein Krankenhaus zu fahren, war er jetzt doch froh alles hinter sich gebracht zu haben. Der Chirurg war optimistisch gewesen, dass die Wunde, trotz ihrer Tiefe, gut verheilen würde und die Narbe, die zwangsläufig zurückbleiben würde, später mit einer Lasertherapie behandelt werden konnte. Der ältere Herr hatte noch mehr gesagt, aber Tatsuro war zu sehr damit beschäftigt gewesen nicht panisch von der Liege aufzuspringen, während er nicht nur mit Spritzen, sondern auch mit Nadeln traktiert worden war. Er hasste Nadeln, auch wenn das Nähen an sich – nach all dem Betäubungsmittel – dann gar nicht mehr so schlimm gewesen war. Nur die beiden Stiche, die in seinem Mund gesetzt werden mussten, um die Wunde endgültig zu schließen, waren grauenhaft gewesen. „Sie hatten wirklich unglaubliches Glück“, hatte der Chirurg zum Abschied gesagt und Tatsuro hatte ihm da nur zustimmen können. Hätte ihn der Wurfstern nur etwas höher getroffen, hätte er sein Augenlicht verlieren können, etwas tiefer und er wäre in seinem Arbeitszimmer jämmerlich ausgeblutet. Seine Hände begannen zu zittern und er ballte sie zu Fäusten, bevor er sie in die Taschen seiner Jeans stopfte. Scheiße, wie war dieser verfluchte Dreckskerl an diesen – seinen – Wurfstern herangekommen? Oder war es womöglich nur eine täuschend echte Nachbildung? Ein perfides Detail, welches ihm vor Augen führen sollte, dass der Stalker weitaus mehr über ihn wusste und ihm näher war, als Tatsuro bislang angenommen hatte? Er hatte die Gefahr unterschätzt, das stand nun definitiv fest. Der Kerl hatte gewusst, wozu die Manipulationen an seinem Auto führen würden und in Kauf genommen, dass diese auch mit dem Tod hätten enden können. Genau wie ihn der Wurfstern heute hätte umbringen können, hätte er ihm die Halsschlagader durchschnitten. Das waren keine bloßen Einschüchterungsversuche mehr - das waren sie nie gewesen. Himmel, er war so dumm gewesen. Er hatte darauf bestanden, dass er keinen Polizeischutz benötigte, dass der Unfall lediglich eine Verkettung unglücklicher Umstände war und der Stalker sicherlich derart abgeschreckt vom Ergebnis seiner Tat, dass er ihn in Zukunft in Ruhe lassen würde. Und Satochi hatte mitgespielt, auch wenn er noch nicht wusste, ob sein Bruder dies ihm zu Liebe getan hatte oder ob er den Gedanken, dass mehr dahinter stecken könnte, einfach ebenso wenig hatte ertragen können wie Tatsuro selbst. Er verlangsamte seine Schritte, als er sich dem Wartebereich näherte. Satochi und Miya saßen auf überaus geschmackvollen, aber ziemlich unbequem wirkenden Kunststoffstühlen und unterhielten sich leise. Unter Satos Augen lagen dunkle Schatten und die tiefen Sorgenfalten um seinen Mund ließen ihn weitaus älter aussehen als seine sechsundzwanzig Jahre. Selbst Miya, sonst immer stoisch und kontrolliert, wirkte erschüttert und deutliche Besorgnis stand ihm ins Gesicht geschrieben, als er nun eine Hand auf Satos Schulter legte. „Ich bin froh, dass du da bist“, murmelte sein Bruder so leise, dass er ihn auf die Entfernung hin kaum verstehen konnte. So unauffällig wie möglich ging Tatsuro näher an die beiden heran, nicht weil er lauschen wollte, sondern … Ach, verdammt, wem machte er hier etwas vor? Natürlich wollte er lauschen, weil es seinem Bruder schlecht ging und weil er wusste, dass Sato ihn immer beschützen würde, selbst wenn das hieß, seine eigenen Probleme hintenan zustellen, nur um ihn damit nicht zu belasten. Wie um seine Einschätzung zu bestätigen sackten Satos Schultern herab und machten nur noch deutlicher, wie schlecht es ihm ging. „Ich hätte nicht gewusst, was ich tun soll, wärest du nicht da gewesen. Tatsu-“ Satos Stimme brach und Tatsuro presste die Lippen aufeinander, als das schlechte Gewissen in ihm zu einem regelrechten Orkan anschwoll. Es war seine Schuld, dass es Sato schlecht ging, dass er überhaupt erst verletzt worden war und ihn die Spuren des Unfalls für den Rest seines Lebens zeichnen würden. Seine geballten Fäuste, die er noch immer in den Hosentaschen vergraben hatte, begannen wieder zu zittern, als Wut und grenzenlose Ohnmacht in seinem inneren um die Vorherrschaft kämpften. Warum tat man ihm das an? Warum tat man ihnen das an? Er verstand es einfach nicht. „Tatsuro verletzt zu sehen, Himmel Miya, ich … Das hat mich im ersten Moment alles so an den Unfall erinnert. Sein Gesicht …“ Satos Finger berührten die Narbe an seiner Wange, bevor er Daumen und Zeigefinger gegen seine geschlossenen Lider presste. „Ich hab so verfluchte Angst um ihn.“ Ein Zittern ging durch den Körper seines Bruders, bevor er tief durchatmete und mit deutlicher Anstrengung versuchte sich wieder zu beruhigen. „Aber was ich eigentlich sagen wollte - danke, danke für alles.“ Satochis Lächeln war zittrig und dennoch lag eine gewisse Wärme darin, als er den Kopf drehte, um den kleineren Mann ansehen zu können. Tatsuro schluckte, als sich Satos Hand über Miyas schob und die beiden für einen Augenblick wirkten, als gäbe es niemanden außer sie, als wären sie allein in ihrer eigenen, kleinen Welt. „Schon gut. Ich bin so lange für dich da, wie du mich brauchst.“ Miyas Stimme war ungewöhnlich sanft, trug einen Unterton in sich, den Tatsuro so noch nie gehört hatte und er wusste nicht, ob er seinem Boss dankbar sein oder ihn zum Teufel wünschen sollte. Immerhin war das sein Bruder, dem er hier schöne Augen machte, zum Kuckuck. Er musste unbewusst ein Geräusch gemacht haben, denn augenblicklich lag Satochis volle Aufmerksamkeit auf ihm und wäre es seinem Bruder körperlich möglich gewesen, wäre er wohl aufgesprungen und auf ihn zugeeilt. So ließ er sich von Miya auf die Beine helfen – ein deutliches Zeichen dafür, wie erschöpft er wirklich war – und humpelte, begleitet vom altbekannten Klacken seines Gehstocks, auf ihn zu. Tatsuro kam ihm entgegen und zog ihn ohne etwas zu sagen in eine feste Umarmung, in die er all das legte, was er gerade einfach nicht sagen konnte. Aber Satochi würde ihn auch so verstehen, das tat er immer, schließlich war er sein Bruder. „Alles gut soweit?“ Sato musterte ihn kritisch, bis seine Augen an dem großflächigen Pflaster hängen blieben, welches sein halbes Gesicht verdeckte. Morgen schon würde er dieses durch ein weitaus kleineres ersetzen dürfen, aber heute brauchte die Wunde noch den Druck, den das Pflaster darauf ausübte.   „Ja, die Medikamente wirken hervorragend.“ Tatsuro grinste schief oder zumindest versuchte er es, aber seine Gesichtsmuskulatur wollte ihm nicht so ganz gehorchen. „Hey, jetzt können wir als Zwillinge durchgehen“, versuchte er zu scherzen und Satochi tat ihm den Gefallen leise zu lachen, auch wenn er in seinem Blick nur zu deutlich erkennen konnte, dass ihm eigentlich nicht der Sinn nach dummen Witzen stand. „Eher als Spiegelbilder. Fragt sich nur, wer es schlimmer getroffen hat.“ „Ich natürlich. Immerhin hast du mein Gesicht als Spiegelbild, gibt es etwas Schöneres?“ Er lachte leise, als ihn Satochis Faust am Oberarm traf und legte seinen Arm vertraut um die Schultern des kleineren Mannes. „Lass uns gehen, bevor mir von dem Krankenhausgeruch doch noch schlecht wird.“ Für einen Moment trafen sich ihre Blicke und so sehr er tatsächlich von hier weg wollte, so sehr scheute er wieder Fuß in seine Wohnung zu setzen. Zumindest nicht jetzt, da die Erinnerungen an das Geschehene noch so frisch waren und die Spuren noch nicht beseitigt. Satochi schien es nicht anders zu gehen, denn sein Bruder zögerte und er wollte gerade nachfragen, ob sie sich für die Nacht nicht lieber ein Hotelzimmer nehmen sollten, da richtete Miya, der sich die letzten Minuten über diskret im Hintergrund gehalten hatte, das Wort an sie. „Ihr könnt auch bei mir übernachten, wenn ihr das wollt. Mein Haus ist zwar klein, aber ich kann euch ein Gästezimmer anbieten.“ „Gern.“ Ohne Zögern nickte Tatsuro seinem Boss dankbar zu. Nicht, weil er wirklich bei Miya übernachten wollte, sondern, weil er hatte spüren können, wie im selben Moment, als der Ältere seine Hilfe angeboten hatte, ein Teil der Anspannung aus Satochis Körper gewichen war. „Danke, Miya.“ ~*~ Seufzend ließ sich Tatsuro auf die Kante des doch recht großzügigen Bettes in Miyas Gästezimmer sinken und vergrub sein Gesicht für einige Momente in beiden Händen. Er war seinem Boss wirklich dankbar, dass Sato und er die Nacht über hier bleiben konnten und dass der Ältere in den letzten Stunden auch wirklich alles getan hatte, um sie vom Grübeln abzuhalten. Besonders, dass sich Satochi auf den spontanen Videoabend mit Knabbereien und Bier hatte einlassen können, erleichterte ihn ungemein, auch wenn er selbst davon nicht viel gehabt hatte. Den Alkohol hatte er sich laut Anweisung des Arztes lieber verkniffen und auch das Essen gestaltete sich mit halb betäubtem Mund derart schwierig, dass er es sehr bald aufgegeben hatte. Nachdem ihm sein Körper dann auch noch überdeutlich gezeigt hatte, dass Erholung dringend nötig war, hatte er sich von den anderen beiden verabschiedet, um ins Bett zu gehen. Aber sobald er die Tür hinter sich geschlossen und ihn die Stille im Raum umfangen hatte, hatte sich sein Gedankenkarussell erneut zu drehen begonnen. Obwohl es nun also bereits auf Mitternacht zuging, war an einschlafen nicht zu denken. So hatte er sein Smartphone zur Hand genommen, ein paar E-Mails gecheckt und dann einer spontanen Eingebung folgend den gefalteten Kassenbon aus seinem Portmonee gezogen. Wieder seufzte er und nahm die Hände vom Gesicht, um erneut freie Sicht auf diesen kleinen, vollkommen unschuldigen Zettel zu haben. Er hatte ihn bereits so oft gelesen, dass er selbst die darauf geschriebene Telefonnummer auswendig konnte, dennoch las er erneut die wenigen Zeichen, von der die Zahlenfolge begleitet wurde. Falls du es dir doch noch anders überlegst. Ich hab auch Katzenvideos, die ich dir zur Aufmunterung schicken könnte. Y. Tatsuro bezweifelte zwar stark, dass ihn Videos von Katzen im Moment aufmuntern würden – nein, vermutlich würden sie genau das Gegenteil bewirken – aber dennoch wurde der Wunsch in ihm, wenn schon nicht Yukkes Stimme zu hören, dann sich doch wenigstens mit ihm unterhalten zu können, immer präsenter. Was genau er ihm sagen wollte, wusste er selbst noch nicht, aber das war gerade auch eher unwichtig, immerhin würde Yukke sowieso nicht auf eine Nachricht von ihm reagieren, weil er vermutlich noch immer viel zu beschäftigt mit seinem Freund war. »Bist du noch wach?«, tippte er, bevor er noch länger darüber nachdenken konnte und sendete die Nachricht ab. Einen Augenblick wartete er noch, den Blick starr auf das Display des Handys gerichtet, bevor er schnaubend den Kopf schüttelte und das Gerät auf den Nachttisch legte. Gerade, als er sich hingelegt hatte und die kleine Lampe ausschalten wollte, vibrierte es neben seiner Hand. Einen Herzschlag lang wurde er ganz starr, dann griff er fast schon hektisch nach dem Telefon und rief die Nachricht auf. »Ja. Wer will das wissen?« Tatsuro richtete sich im Bett wieder auf, stopfte sich die Kissen in den Rücken und zog die Beine an. Kurz überlegte er, dann begann er wieder zu tippen. »Hast du in den letzten Tagen so vielen Leuten deine Handynummer gegeben, dass du jetzt nicht einmal weißt, wer ich bin?« »Ich bin gekränkt.« »Tatsuro?« »Na, das ging jetzt aber doch schneller als gedacht.« »Ich kenne niemanden, der Fragen so oft mit Gegenfragen beantwortet, wie du. Von daher …« »Und außerdem gebe ich meine Nummer nicht leichtfertig her.« »Ach?« »Ja.« »Dann kann ich mir also etwas darauf einbilden, dass ich deine Nummer bekommen habe?« »Ja.« »Ich dachte schon, du hättest sie vielleicht nicht gefunden, weil du heute … gestern gar nichts gesagt hast.« »Hätte ich etwas sagen sollen?« »Ja.« »Yukke, ich hab deine Nummer in der Tasche meines Kapuzenpullis gefunden, darum schreibe ich dir jetzt. Besser?« »Besser.« »Heißt das, du gehst doch mal nach dem Dreh mit mir einen trinken?« Tatsuro lachte leise in sich hinein, als er die Nachricht las. »Warum fragst du mich das immer wieder?« »Ich hab zuerst gefragt … also?« »Nein.« »Warum nicht?« »Weil du ein Kollege bist.« »Das ist kein Grund.« »Doch, für mich schon.« »Erklär’s mir.« »Was soll ich dir erklären?« »Warum du mit mir keinen trinken gehen willst. Weil ich dein Kollege bin zählt nicht.« »Warum willst du das wissen?« »Weil … ich es verstehen will?« »Mh …« »Hat Seek denn nichts dagegen, wenn du so lange mit mir schreibst?« »Seek? Wie kommst du darauf, dass er … oh.« »Seek ist mein Freund, aber nicht mein fester Freund.« »Dachtest du etwa, wir wären zusammen?« Auf Tatsuros Lippen breitete sich ein strahlendes Lächeln aus, nachdem er die Nachricht gelesen hatte, und ein wahrer Funkenflug schien sein Inneres zu wärmen. Er wusste, was diese Reaktion zu bedeuten hatte, aber er ignorierte diese Erkenntnis genauso geflissentlich, wie seinen beschleunigten Herzschlag. Er wollte nicht darüber nachdenken, weil er sich seit Stunden endlich wieder einigermaßen wohlfühlte. Er wollte sich weiter ablenken, weiter mit Yukke schreiben und wenn das hieß, diesem Gefühl in sich freien Lauf zu lassen, dann sollte das eben so sein. »Du willst also wissen, warum ich mit Kollegen keinen trinken gehe?« »Du hast meine Frage nicht beantwortet.« »Ich weiß, also …?« »Ja.« So knapp wie möglich erzählte er von Nobu und all dem, was seinetwegen geschehen war. Er wusste nicht, warum er sich Yukke nun derart öffnete, warum er ihm Dinge erzählte, die nicht einmal Satochi wusste, aber auf eine verquere Art und Weise tat es gut, auch wenn es die Erinnerungen an Nobus Verrat erneut an die Oberfläche seines Bewusstseins spülte. »Verstehst du? Er war auch nur ein Kollege … am Anfang zumindest ...« »Himmel, das … Du überraschst mich wirklich immer wieder, Tatsuro. Ich hätte nicht  gedacht, dass so eine unschöne Geschichte dahintersteckt.« »Was hattest du denn gedacht?« »Mh, dass du exzentrisch bist und mich ärgern willst.« »Das auch.« »Idiot.« »Nein, ernsthaft. Tut mir leid, ehrlich.« »Ist doch nicht deine Schuld.« »Nein, natürlich nicht, aber es tut mir trotzdem leid, dass du so etwas durchmachen musstest.« »Danke.« »Ich würde so etwas nie tun.« »Ich hoffe, du weißt das.« »Ja, vermutlich würdest du das wirklich nicht.« »Heißt das, ich darf dich weiterhin fragen, ob du mit mir ausgehst?« »Tu, was du nicht lassen kannst.« Tatsuro lächelte sein Smartphone an und war nur froh, dass Satochi sich nicht ausgerechnet diesen Moment ausgesucht hatte, um auch ins Bett gehen zu wollen. Der hätte nur wieder die falschen – richtigen – Schlüsse gezogen. »Uh, ich nehm dich beim Wort Tatsuro, das war ein Fehler..« »Nichts anderes hab ich erwartet.« »Gute Nacht, Yukke.« »Och, schade.« »Pass auf, sonst bilde ich mir noch ein, dass du dich gern mit mir unterhältst.« »Schreckliche Vorstellung, oder?« »Grauenhaft.« »Schlaf gut, Yukke« »Du auch, Tatsuro. Gute Nacht.« Mit sichtlicher Überwindung schaltete er sein Handy ab und legte es zurück auf das Nachtkästchen. Sein Herz wollte sich noch immer nicht beruhigen und flatterte selbst dann noch aufgeregt in seiner Brust, nachdem er bereits das Licht gelöscht und sich unter die Bettdecke gekuschelt hatte. Die Bettwäsche roch anders, als bei ihm zu Hause, die Geräusche unterschieden sich von denen in seiner Wohnung und aus dem Wohnzimmer konnte er gelegentlich Miyas oder Satochis Stimme hören. Aber trotz der unbekannten Umgebung war er binnen Sekunden in einen tiefen Schlaf abgedriftet, der erholsamer und ruhiger war, als die Schrecken des Tages hätten vermuten lassen. ~*~ „Yukke weiß Bescheid, dass der Dreh heute nicht ganz nach Skript verlaufen wird.“ Ohne einleitende Worte ging Miya auf einen der freien Stühle zu und setzte sich neben ihn, woraufhin Tatsuro nur träge die Lider hob. Er war Yumiko unendlich dankbar, dass sie ihn in Ruhe gelassen hatte, während sie sich um seine Haare und das Make-up gekümmert hatte, sodass er sich vor dem Dreh wenigstens noch etwas ausruhen konnte. Der gestrige Tag hatte einem Spießrutenlauf geglichen und immer, wenn in Tatsuro die Hoffnung aufgekeimt war, dass er endlich Ruhe finden würde, um seine Gedanken sortieren zu können, hatte wieder irgendwer etwas von ihm gewollt. Die Polizeibeamten waren in seiner Wohnung ständig ein und ausgegangen, hatten Spuren gesichert, Nachbarn befragt und wollten immer wieder aufs Neue seine Version des Tathergangs erfahren. Sato war es da kaum besser ergangen, nur hatte dieser sich nicht auch noch mit einem aufgewühlten Manager herumschlagen müssen, der ihm am liebsten einen Bodyguard auf den Bauch gebunden hätte. Auch jetzt stand besagter Manager schräg hinter ihm und ließ ihn nicht aus den Augen, ganz so, als würde er sich todesmutig jedem in den Weg stellen wollen, der Tatsuro auch nur schief ansah. Es ehrte Gara wirklich, dass er sich so um ihn sorgte, aber weder wollte er Personenschutz, noch ein halbes Hemd, wie der Ältere eines war, als seinen persönlichen Wachhund. Er murrte leise und verzog das Gesicht, als Yumiko vorsichtig damit begann das Pflaster von seiner Wange zu lösen. „Tschuldige“, murmelte sie, aber Tatsuro lächelte nur abtuend, bevor seine rechte Augenbraue ein Stück weit nach oben wanderte, als er schlussendlich begriff, was ihm Miya soeben unterbreitet hatte. „Was genau hast du Yukke gesagt?“, erkundigte er sich misstrauisch, immerhin hatte er keine Lust darauf, dass in wenigen Stunden die gesamte BLP darüber informiert war, dass ihm ein irrer Stalker nach dem Leben trachtete. Auch, wenn er nicht glaubte, dass Yukke mit dieser Information hausieren gehen würde, aber er wusste aus Erfahrung nur zu gut, wie schnell sich brisante Neuigkeiten verbreiten konnten, wenn zu viele Menschen Bescheid wussten.   „Nichts weiter. Nur, dass ich mehr Realismus in den Film bringen will und Akihiko daher nicht immer wie aus dem Ei gepellt aussehen soll.“ Miya lächelte Verschmitzt, als er eine von Tatsuros vielen Beschwerden über das unrealistische Drehbuch zitierte. Tatsuros rechter Mundwinkel hob sich – da steckte doch tatsächlich ein kleiner Rebell in der Fassade des professionellen Produktionsleiters, wer hätte das gedacht. „Wirst du singen können?“ Der Schalk war aus Miyas Augen gewichen und hatte Platz für eine Mischung aus Sorge und Zweifel gemacht, während er Yumikos Fingern mit Blicken folgte, als sie damit begann die klebrigen Überreste des Pflasters von seiner Wange zu entfernen. Tatsuro antwortete nicht sofort, drehte stattdessen den Kopf zur Seite, um seinem Spiegelbild kritisch ins Gesicht blicken zu können. Die Wunde war dunkelrot, wirkte an den Stellen, an denen sich eine Kruste gebildet hatte, fast schwarz und die ebenso schwarzen Stiche waren nur zu deutlich zu sehen. Dank Yumikos Schminkkünsten jedoch sah auch sein linkes Auge geschwollen aus und die Haut rundherum war bläulich-violett verfärbt. Der Bluterguss würde sich später noch weiter an der Nase entlang nach unten ziehen, um gemeinsam mit der Schnittverletzung und einer aufgeplatzten Lippe dafür zu sorgen, dass Akihiko aussah, als wäre er verprügelt worden. Kein besonders schöner Anblick, wie er fand, aber passend zu dem, was Miya sich für die heutige Szene überlegt hatte. „Ich denke schon. Sprechen geht ja auch ganz gut und zur Not werden wir uns damit begnügen müssen, den Song später über die Szene zu legen.“ Ein herausforderndes Funkeln hatte sich in Tatsuros Blick geschlichen und er konnte regelrecht mit ansehen, wie sich Miya innerlich dagegen sträubte, den Dreh derart dem Zufall zu überlassen. Für einen langen Moment trafen sich ihre Blicke über den Spiegel – Tatsuros fast schon trotzig, Miyas eher abschätzig – bis sein Boss schließlich zähneknirschend zustimmte. „In Ordnung.“ Miya erhob sich und nickte ihnen nochmal zu, doch bevor er den Raum verlassen konnte, richtete Tatsuro erneut das Wort an ihn. „Bekomme ich das geänderte Skript nicht?“ Auffordernd streckte er eine Hand nach den Blättern aus, die der Produktionsleiter noch immer in Händen hielt und die er für den Text der geänderten Szene  gehalten hatte. „Behauptest du nicht immer, dass du gut im Improvisieren bist?“ Miya hatte sich nicht nochmal zu ihnen umgedreht, aber Tatsuro hatte das Gefühl eine deutliche Herausforderung aus den Worten des kleineren Mannes heraushören zu können. „Ich bin nicht gut im Improvisieren, ich bin der Beste!“ -_-_-_-_- An dieser Stelle mal ein dickes, fettes DANKESCHÖN an all meine lieben Review-Schreiber. Ich freue mich jedes Mal tierisch, wenn ich Feedback von euch bekomme und merke, dass euch die Geschichte gefällt und ihr sie auch weiterverfolgen wollt. An alle anderen ... wenn euch die Story gefällt, würde ich mich natürlich auch hier freuen, wenn ihr mir einen Review oder einen Favoriten dalassen würdet. Das hilft einfach immer so enorm weiter und motiviert total. ;D Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)