Zum Inhalt der Seite

[Volatile] - Inception

‚What if I fall?‘ ‚Oh, Darling! What if you fly?‘
von

.
.
.
.
.
.
.
.
.
.

Seite 1 / 1   Schriftgröße:   [xx]   [xx]   [xx]

Zombie

*Eames*

»Hm.«, machte er nachdenklich und starrte in sein Glas, nachdem Arthur ihm offenbart hatte, wieso er an diesem Abend nicht erschienen war.

Er wusste noch sehr genau wie wütend er gewesen war, vor allem auf sich selbst. Niemand machte so etwas mit ihm, hatte er gedacht. Er hatte niemals zulassen wollen, dass er in so eine Situation geriet... ein Moment der Abhängigkeit.

Er war stark, er war ein einsamer Wolf. Er war begehrt und erfolgreich, unbesiegbar und vor allem auf niemanden angewiesen.

An diesem Abend hatte sein Ego geblutet, wie ein abgestochenes Schwein und er hatte es Arthur lange übel genommen.
 

»An dem Abend ging's mir wirklich miserabel, wegen dir.« Nnur wenig Vorwurf in der Stimme. Details wollte er sich dennoch ersparen... zu unangenehm was er aus Frust und Trotz getan hatte, um sich irgendwie davon abzulenken, dass Arthur ihn...IHN! versetzt hatte.

»Wieso hast du mir nicht geschrieben?«

Er ahnte bereits, was die Antwort sein würde und er fürchtete sich davor, wenn er sich sonst auch vor kaum etwas fürchtete. Er wusste, dass es ihn verletzen würde, aber musste es aus seinem Mund hören, um Wege zu finden, damit umzugehen.
 

*Arthur*

Arthur fühlte, wie etwas in ihm heftig schmerzte. Er betrachtete Eames, der so unerwartet getroffen aussah. Das war so echt, wie er ihn erst selten gesehen hatte, und er wirkte in diesem Moment so verletzlich wie noch nie zuvor.

Arthur spürte selbst deutlich, wie es ihm damals gegangen war, wie er sich gefühlt hatte - nachdem Eames ihm anschließend seine Wut hatte spüren lassen. Sein Stolz hatte ihn auf stur stellen lassen. Und sein Unvermögen, über seine Familie reden zu wollen. Dennoch hätte er sich gewünscht, dass Eames mehr Vertrauen in ihn gehabt hätte und auf ihn zugegangen wäre, anstatt auch noch von dieser Seite nur Vorwurf zu spüren.

Es hatte sich richtig beschissen angefühlt. Zeitweilig hatte er geglaubt, dass er Eames Interesse an ihm, jegliche Form der Nähe gänzlich verloren hatte.

‚An dem Abend ging's mir wirklich miserabel, wegen dir.‘

Arthurs zwang sich, sich diesem berechtigten Vorwurf zu stellen. Er würde nicht ausweichen, nicht wegsehen.

‚Wieso hast du mir nicht geschrieben?‘
 

Arthur saß zu Eames gedreht da, ein Bein hochgezogen und angewinkelt. Etwas zögernd streckte er seinen Arm aus, strich Eames durchs Haar.

„Es hatte nichts mit dir zu tun“, sagte er dann. Seine Finger kraulten leicht im Nacken, während er nachdachte, was er sagen sollte, wie er es sagen sollte. Egal was er sagen würde, es würde ihn vermutlich verletzen.„In dem Moment, in dem Tricia vor mir stand und mir gesagt hatte, was los war, habe ich alles andere vergessen.“ Es war eine krasse Nacht. So sehr er seinen Vater für seine Unaufrichtigkeit hasste, so große Angst hatte er gehabt. Aber weniger um dessen Leben, als vielmehr darum, nie die Wahrheit zu erfahren.

„Ich hatte mir gewünscht, du würdest mich fragen, ob alles ok ist. Ich hatte gehofft, dass du wüsstest, dass ich dich nicht wirklich versetzen wollte. Da das nicht der Fall war, hat sich mein Sturkopf eingeschaltet.“
 

Letztlich war es seinem Vater bald besser gegangen - die Wahrheit kannte er bis heute nicht.

Aber um Eames das alles zu erklären, müsste er weiter ausholen. Viel weiter... fast 28 Jahre weiter. Seit Mal hatte er niemandem mehr alles erzählt.

„Du hast Enya kennengelernt“, sagte er zögernd. „Sollen wir nach Belfast? Dann kann ich dir zeigen, was mich seit so langer Zeit von meinem persönlichen Glück ablenkt.“ Darüber zu reden fiel ihm schwer, aber vielleicht könnte er es ihm einfach zeigen, was damals geschehen war.
 

*Eames*

Die ungewohnte, zärtliche Berührung irritierte ihn im ersten Augenblick. Doch wie erwartet konnte er Arthur nicht von sich weisen. Zu sehr sehnte er sich nach dessen Berührung; nach dem Fünkchen Zärtlichkeit, dass ihn aus der Eishölle befreien könnte.

Er senkte die Lider und genoss einen Moment, wartete ab; ahnte, dass es in Arthur gerade arbeitete. Jack Johnsons Zupfen und Klimpern verhallte und für wenige Sekunden war es ganz still.
 

Enya – Belfast – …

Eames wusste, dass Arthur gerade eine Schwelle überschritt, die er vor acht Jahren wahrscheinlich nie für möglich gehalten hätte, also schwieg Eames einen Moment ehrfürchtig, ehe er antwortete.

»Ich will nur, dass du eine Sache weißt.«

Er griff nach Arthurs Hand, die seinen Nacken gekrault hatte und drückte sie. Diese seltene Geste, die ihm für einen kurzen Augenblick das schrecklich fremde Gefühl von Geborgenheit gewehrt hatte.

»Du kannst mir alles zeigen. Meine Meinung über dich wird sich niemals ändern.«

Er beugte sich zu ihm, die freie Hand, legte sich ebenfalls in Arthurs Nacken und hielt ihn; drückte intensiv, fast schmerzhaft. Er wollte diesen Kuss wirklich und nach kurzem Zögern nahm er ihn sich. Der Alkohol minderte ein wenig die Angst vor Konsequenzen. Andererseits gab es keinen besseren Weg ihm zu zeigen, was er meinte: dass er immer und vollkommen verrückt nach ihm sein würde.
 

*Arthur*

Arthur war froh, dass ihm Eames die Nähe nicht verweigerte, obwohl sie von einem Abend sprachen, an dem er ihn verletzt hatte. Er hätte es auch verstanden, wenn jener es unterbunden hätte. Umso erleichterter war er, dass es nicht so war - ja dass er sogar diese Geste zu genießen schien. So gerne würde er ihm viel mehr davon schenken, viel mehr! Wenn dieses Gespräch beendet war, wenn sie aufgearbeitet hatten, was zwischen ihnen stand. Sie waren immerhin auf einem guten Weg.
 

Das Schweigen, die Stille

Arthur spürte die Unruhe wachsen. Er hatte ein Angebot gemacht, das nicht einfach für ihn war. Aber er wusste, dass Eames ihn nur dann verstehen konnte, wenn er es wusste. Sofern jener es wirklich wissen wollte -
 

‚Ich will nur, dass du eine Sache weißt.‘

Arthur spürte sein Herz deutlich, spürte den Druck an seiner Hand. Der Blick des anderen war tief, ging ihm direkt ins Herz.

Ehrlichkeit, pure Ehrlichkeit. Das ist das, was er brauchte, was ihm jegliches Gefühl von Unsicherheit nahm.
 

‚Du kannst mir alles zeigen. Meine Meinung über dich wird sich niemals ändern.‘

In ihm löste sich ein Knoten. Ein Kribbeln machte sich stattdessen breit, das durch seinen Körper zog. Die Hand in seinem Nacken hielt ihn, voll jener Verzweiflung, die er selbst so gut kannte, wenn er an sie beide dachte.

Dennoch erwischte er sich auch bei dem Gedanken, dass er diese Worte vorhin, als es um London ging, auch hätte sagen können. Wo wären sie dann jetzt? Das konnte letztlich niemand sagen, aber Arthur hoffte, dass seine Entscheidung, die Frage zurückzuziehen, richtig gewesen war. Letztlich war das gerade nicht wichtig. Diese Situation, diese Worte hier waren gerade wichtig. Nothing else matters.
 

Eigentlich war ihm klar, dass noch Vieles unausgesprochen war, dass noch Vieles geklärt werden musste. Aber sich zu vergewissern, warum man sich seelisch entblößte und nackt präsentierte, tat gut.

Hätte Thomas sich den Kuss nicht geholt, wäre es Arthur gewesen, der ihn sich genommen hätte. Daher kam er ihm entgegen, erwiderte den Kuss sogleich. Er fühlte sich einfach nur echt an - und damit mehr als begehrt. Es waren viele Aspekte, die dieser Kuss aussagte - Dankbarkeit, Zuneigung, Ehrlichkeit, Vertrauen, Sicherheit
 

Seine Finger krallten sich in den Nacken, er zog Eames näher zu sich. Nähe! Begehrte, ersehnte, vermisste Nähe. Sein Körper bebte in dem Verlangen, das er nun schon so lange verspürte - seit ihrer ersten Begegnung. Umso mehr genoss er diesen Kuss und die Zärtlichkeit, die so anders waren als zuletzt in der Küche. Ganz anders. Sanfter, aber voll Leidenschaft, bedachter, aber genauso berauschend.
 

Es dauerte etwas, bis Arthur sich schließlich löste, es kostete ihn Kraft und Selbstbeherrschung. Heißer Atem rann ihm über die Lippen, seine glasigen Augen suchten die des anderen. Sie könnten jetzt alles vergessen und sich dem hingeben, was sie beide schon so lange wollten. Aber würden sie dann noch weiterreden? Oder einfach alles Unausgesprochene zur Seite schieben und hoffen, dass es nie wieder hochkommen würde? Es würde wiederkommen. Soviel war sicher. Und es wäre dann zerstörerisch.
 

Gerade für ihn wäre es dennoch viel einfacher, wenn er nicht nach Belfast müsste.

Er schluckte. „Die Nacht ist noch lang...“, murmelte er, ohne recht darüber nachzudenken. Vermutlich wollte er damit sagen, dass sie auch dafür noch Zeit finden würden.
 

*Eames*

Belfast rückte noch einmal in weite Ferne, so wie alles um sie herum. Die Sache im Terra Blues vor etlichen Jahren, Tokio... es war plötzlich egal, was damals war, wenn sie sich in diesem Augenblick einfach weiter mit Zärtlichkeiten überschütten könnten. Leider war Arthur schon immer der strengere von beiden gewesen. Der, der es schaffte sein Gehirn einzuschalten, obwohl alles andere zu befriedigen so viel leichter wäre. In Eames' Ausdruck lag etwas von schmerzhaftem Verlangen und Ungeduld, als sie sich voneinander lösten. Er hatte viele Prüfungen in seinem verrückten Leben bestehen müssen, aber diese hier schien eine der schwersten zu sein.

Er ließ den Blick sinken, um nicht weiter in diese tiefen, dunklen Augen blicken zu müssen. Durchaus, die Nacht war noch lange nicht vorbei. Eames meinte ein verstecktes Versprechen aus Arthurs Aussage herauszuhören, das es ihm leichter machte sich von Arthur zu trennen.

Er seufzte schwerfällig, sein Körper wehrte sich, aber er stand auf. Sein Stand war sicher; da brauchte es schon mehr, um ihn ins Schwanken zu bringen, aber er merkte, dass er allmählich einen sitzen hatte. Er warf einen letzten Blick auf die Zeichnungen, die sie beide noch durch viele Epochen ihrer verkorksten Liebesgeschichte führen würden. Dann griff er nach den Gläsern und der Flasche Whiskey und sah zu Arthur.

»Belfast, hm? Hätte nie gedacht es mal zu sehen zu bekommen.«

Und damit meinte er nicht die Stadt, sondern viel mehr das, was sich in Arthurs Erinnerung dort verbarg.
 

*Arthur*

Dass Eames den Blickkontakt abbrechen ließ, machte es Arthur einfacher. Denn es fiel auch ihm schwer, seinen Verstand eingeschaltet zu lassen. Es war erstaunlich, wie sehr sich sein Körper danach sehnte, sich einfach nur in die Arme des anderen fallen zu lassen, darauf vertrauend, dass er aufgefangen wurde. Doch sein Kopf schaffte es nicht im selben Maße. Da waren zu viele Dinge geschehen, die sein Verstand immer und immer wieder heraufholte. Wenn man sich so lange Zeit einredete, dass man kein Vertrauen haben konnte, war es schwer, wirklich loszulassen.

Noch immer - trotz dieses Kusses, der einem Versprechen gleichgekommen war, trotz ihrer Ehrlichkeit und die Nähe, die greifbar war - war da eine Stimme in ihm, die ihn warnte, die ihn bat, vorsichtig zu sein, die ihn schützen wollte.

Beschützt du ihn jetzt? Man konnte Enyas Frage auch ganz anders verstehen, wenn man die Betonung auf jetzt legte...
 

Während der letzten Jahre seit Eames Abgang in Tokyo hatte er diese warnende Stimme laut sein lassen. Jetzt war er gewillt, ihr zu beweisen, dass sie zukünftig schweigen sollte. Er verwehrte sich nun schon seit so langer Zeit dem, was er sich seit ihrem ersten Treffen wünschte. So seltsam es klang: er wollte wirklich nicht mehr einsam sein. Er wollte zumindest wissen, dass es jemanden gab, dem er etwas bedeutete, und der kommen würde, wenn er das wollte. Ob Eames so jemand sein konnte?
 

Eames war aufgestanden und nahm die Gläser.

»Belfast, hm? Hätte nie gedacht es mal zu sehen zu bekommen.«

Arthur atmete tief durch, sammelte sich kurz, stand dann auf. Erst jetzt spürte er, dass sein Bein eingeschlafen war, auf dem er zuletzt gesessen hatte, so dass er sich an Eames kurz festhalten musste. „Scheiße“, murmelte er. „Mein Bein ist eingeschlafen.“ Er lachte entschuldigend, während er das Bein vorsichtig abstellte und darauf wartete, dass das Kribbeln darin nachließ und die Blutzirkulation wieder funktionierte. Dass ihm schummrig im Kopf war und der Alkohol seine Wirkung zeigte, machte es nicht leichter.

Schließlich sah er auf.

„In letzter Zeit hätte ich auch nicht gedacht, dass ich es dir jemals zeigen würde“, sagte er dann wieder ernster. Er öffnete den Mund, wollte noch etwa hinzufügen. Etwas wie: Vielleicht verstehst du mich dann besser. Oder wie: Ich hoffe, dass du dann siehst, dass ich damals Zeit gebraucht habe. Oder vielleicht auch wie: Ich glaube, dass du diese Dinge wissen solltest. Und ich hoffe, dass ich auch von dir zu sehen bekomme, was dich geprägt hat.

Doch er sagte nichts, schwieg, schloss den Mund wieder.
 

Da er sich ohnehin schon bei Thomas am Arm festhielt, nahm er ihm eines der Gläser ab und ließ dann seine Hand in die des anderen gleiten. Warum auch immer, aber er hatte Angst, dass körperliche Distanz das zerbrechen könnte, was sie gerade aufgebaut hatten.
 

Auf ihrem Weg hinüber ins Arbeitszimmer, spürte er, dass er unruhig war, aufgewühlt.

Belfast. Er war selbst lange nicht mehr dort gewesen, weil er keine neuen Antworten hatte, die Rätsel noch immer ungelöst waren. Vielleicht würde Eames ja auch etwas wahrnehmen, was er selbst nicht bewusst in der Erinnerung hatte. Wer wusste es schon…
 

Sie setzten sich auf die Sessel, der Koffer stand noch so da, wie sie ihn zuletzt vor zwei Tagen hatten stehen lassen. Eames legte die Zugänge, was ihm recht war. Seine Hand war nicht ruhig genug. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Er wusste nur, dass er gerade einen sehr großen Schritt machte, bei dem er nicht wusste, ob er ihn zu Fall bringen würde oder nicht. Er dachte an den Kuss, das Versprechen. Es war richtig, was er tat. Aber die Angst blieb.

Bevor das Somnacin sie in den Traum befördern würde, griff er erneut nach Eames‘ Hand.
 

~.~.~.~.~.~.~.~.~. Belfast vor 28Jahren~.~.~.~.~.~

Ein Vorort von Belfast, eine eigentlich neutrale Zone, doch politisch gesehen näher an der Falls Road gelegen als andere Viertel. Hier lebten Iren, die sich auch als solche verstanden, aber aufgrund verschiedener Umstände es nicht laut kundtaten. Zum Beispiel, weil man für den Staat arbeitete wie sein Vater.

Zweistöckige Einfamilienhäuser aus rotem Backstein reihten sich in Monokultur aneinander, ein Vorgarten, der eigentliche Garten hinter dem Haus. Vereinzelt standen Autos in der Garageneinfahrt, einige Einfahrten waren leer. Es war Mittag, früher Nachmittag und noch nicht jeder von der Arbeit zurück.

Der Frühling war nicht zu übersehen, die Luft relativ mild, der Wind hielt sich in Grenzen. Die Wolken ließen hin und wieder einen Blick auf den blauen Himmel zu, vereinzelt Sonnenstrahlen. Eigentlich ein schöner Tag für irische Verhältnisse.
 

Arthur und Eames standen auf dem Gehsteig. Arthur hätte gern die Hand des anderen in seiner, doch diesmal nahm er sie nicht. Er hatte einen Anzug an, nicht mehr die Freizeitklamotten vom Sofa. Es gab ihm die Haltung, die er brauchte.

Arthur blickte auf die andere Straßenseite. Ein Haus – ganz offensichtlich mit Kindern im Haushalt. Ein altes Kinderfahrrad lag auf dem ungepflegten Rasen des Vorgartens, ein Ball nicht weit weg. In der Einfahrt stand eine Polizeistreife. Der Wagen mit dem landestypischen gelb-blauen Schachbrettmuster gehörte seinem Vater, der eigentlich Dienst hatte. An diesem Tag war er mittags heimgekommen - für sein ‚Goldkind‘, wie er Enya nannte. Er wirkte nervös – schon seit ein paar Tagen.

Luftballons und Luftschlangen an der Haustür zeugten von dem Kindergeburtstag, der heute dort stattfinden sollte. Noch eine Stunde, dann würden die Freunde kommen – Enyas Freunde. Neben der Haustür ein buntes Schild: “Familie Darling“ Seine Mutter war sehr stolz auf diesen Namen und lebte ihn.
 

Arthur blickte Eames an, die Unsicherheit versuchte er zu verbergen, steckte die Hände in die Hosentasche. Es hing an ihm, wann es losging, es war sein Unterbewusstsein. Eames Blick machte ihm Mut, beruhigte ihn irgendwie. Er war da, für ihn, für sie. Arthur nickte, dann blickte er die Straße hinab. Letztlich waren es Erinnerungen, die er danach rekonstruiert hatte, woran er sich erinnern konnte.
 

Ein Lieferwagen fuhr vor, er hatte damals nur den Motor gehört, das Quietschen des Reifens, es musste ein schwerer Wagen gewesen sein. Er versperrt ihnen die direkte Sicht, vermutlich weil es nur Geräusche waren, die er kannte, keine Bilder. Eine Schiebetür war aufgegangen, dann wurde sie wieder zugeschlagen. Man hörte hastige Schritte zur Tür gehen, etwas wird abgelegt, ein kurzes Klingeln, eine Person, dessen Gesicht man nicht wirklich wahrnehmen kann, - fast wie ein Schatten - eilt zurück zum Wagen, steigt ein, braust die friedliche Straße entlang davon.

Arthur schluckte, deutete Eames, mit ihm über die Straße zu gehen. Gleich würde die Tür aufgehen und er selbst als kleiner Junge würde im Glauben, die ersten Gäste kämen, das Paket finden, hochnehmen und hineintragen. Erst jetzt konnte man gut sehen, dass das Paket schön verpackt war – wie ein Geschenk.

Ein schwarzhaariger Junge öffnet die Tür, 5 Jahre alt, pausbäckig mit scheuem Blick. Er blickt sich um, nimmt überrascht und verwundert das Geschenk und kehrt ins Haus zurück.

Arthur geht zügig weiter, zum Seitenfester neben dem Haus, von wo aus man ins Innere sehen kann: das Wohnzimmer, in das gerade der kleine Arthur eintrat, noch immer das bunt verpackte Geschenk betrachtend.

Die Einrichtung war von dem Kitsch und Nippes geprägt, den seine Mutter liebte, mit dem sie ihr Hausfrauendasein schmückte und versuchte fröhlich zu gestalten.
 

Er weiß noch, dass er sich darüber gewundert hatte, weshalb jemand so ein schönes Geschenk abstellte, ohne sehen zu wollen, wie sich jemand darüber freute.

Ein Lachen kommt, Schritte, die verrieten, dass ein Kind gerannt kam. „Arthur?“, rief Enya und stürmte ins Wohnzimmer. „Ist schon jemand da?“ Offenbar hatte sie die Klingel auch gehört, aber sich erst jetzt auf den Weg von der Terrasse hierher gemacht.

Sie hatten dort zu Mittag gegessen, die ganze Familie. Dann hatten sie im Garten gespielt. Nur Arthur nicht. Ihm war der Trubel zu viel gewesen.

„Was hast du da?“, fragt sie und nimmt ihm das Paket ab. „Ist das für uns?“ Er zuckte mit den Schultern und sie stellte das vermeintliche Geschenk auf den Glastisch vor dem Sofa, begann es zu öffnen. Er sah ihr dabei zu, gespannt, was wohl darin wäre, wer sich diesen Spaß erlaubt hatte.

Mit einem Mal hielt sie inne, blickte irritiert hinein, sah dann ihn an. Er fragte sich bis heute, woher sie wissen konnte, was das war, was sie da ausgepackt hatten. Ob es Intuition war? Ein Gefühl von Gefahr?

Was auch immer es gewesen war - es hatte ihm das Leben gerettet.

Sie stand auf, drückte ihn von dem Paket weg. „Renn weg, Arthur!“, rief sie panisch, während sie selbst hinter ihm lief, damit er wirklich ginge. „Renn!“

Er war noch nicht durch die Tür, als die Bombe detonierte. Durch die Wucht wurden sie umgerissen. Bis heute hatte er das Gefühl, dass Enya ihn von hinten umarmt hatte, so als wollte sie ihn beschützen. Letztlich war es das, was ihm das Leben gerettet hatte - und sie getötet.
 

Arthur spürte, wie angespannt er war, wie sich jede Faser seines Körpers zusammenzog und er darum kämpfte, Haltung zu bewahren. Er hatte Thomas rechtzeitig vom Fenster weggezogen, bevor die Druckwelle das Fenster vor ihnen zum zerbersten gebracht hatte.

Trotz aller Bemühungen zuckte er wie immer zusammen, spürte die Druckwelle heftig auf dem Zwerchfell. Wie immer wurde ihm schlecht vom Geruch nach Sprengstoff und Verbranntem. Wie immer versuchte er das Zittern zu unterdrücken, das er wohl nie loswurde. Diesmal hielt er sich an Eames Arm fest.
 

Einen Moment schien alles still zu stehen - bis der Schrei seiner Mutter die Stille zerriss. Sie rief ihre Namen. An mehr konnte er sich nicht erinnern. Er war erst im Krankenhaus wieder aufgewacht. Sein Arm war eingegipst gewesen, etwas Schweres hatte ihm den Unterarm zertrümmert. Ansonsten ging es ihm gut - körperlich. Seelisch sah es anders aus.
 

*Eames*

Auch Eames trug einen Anzug in respektvoller Andacht. Hellgrau, kombiniert mit gestreiftem Hemd und gestreifter Krawatte – seine Interpretation von Eleganz und Zurückhaltung.

Das Bild, das sich ihm nun bot, überraschte ihn nicht minder und machte ihm eine weitere, bittere Tatsache bewusst: im Grunde wusste er nichts über Arthur. Er kannte ihn und ‘Kennen‘ in diesem Sinne, hatte sicherlich einen ganz anderen Nährwert als bloßes Wissen über eine Person. Dennoch wurmte es ihn. Wie konnte er all die Jahre so ignorant gewesen sein?
 

Eames beobachtete entzückt wie die fünfjährige Version von Arthur das Paket mit hineinnahm, obgleich sich direkt ein ungutes Gefühl in seiner Magengegend ausbreitete. Es war leider offensichtlich, dass ein Geschenk unter diesen ominösen Umständen überbracht, kein gutes Zeichen sein konnte.

Dennoch folgte er der erwachsenen Version über die Straße, sah zu wie Klein-Arthur das Paket ins Wohnzimmer trug. Das Haus, die Einrichtung, die Atmosphäre waren schrecklich befremdlich für Eames und er fühlte sich einen Augenblick wie ein Außerirdischer. Sie kamen wirklich aus gänzlich anderen Welten. Er hatte jedoch keine Chance den Gedanken weiterzuführen; plötzlich ging alles schrecklich schnell. Enya öffnete das Paket, in ihrem Blick lag blankes Entsetzen und ehe Eames wirklich realisierte was passierte, zog Eames ihn mit einem Ruck vom Fenster weg, ehe ihm die Glasscherben das Gesicht wegreißen konnten. Die Druckwelle war deutlich spürbar und in Anbetracht der unweigerlichen Folgen dieser Explosion wurde ihm sofort schlecht.

Arthur hielt sich an seinem Arm fest und Eames hielt ihn, trostspendend.

Das Geschrei einer Frau – Mutter Darling vermutlich – zerriss erneut die Stille der friedlichen Nachbarschaft. Eames harrte aus, bis ihre Stimme verebbte und sämtliche Farben leicht an Sättigung verloren. Die Platte war durchgelaufen. Was blieb war Stille und ein leises, monotones Pochen.
 

»Tut mir leid, was mit deiner Schwester passiert ist«, begann er. Seine Stimme war dunkel, leise und irgendwie belegt.

Die Chance Opfer eines Terroranschlags zu werden ist verschwindend gering. Solche Dinge passieren; aber niemand rechnet damit selbst betroffen zu sein. Und wenn es doch passiert, bleibt der Eindruck des Schreckens für immer.

Eames wurde langsam bewusst wie schwerwiegend dieses Ereignis war; es war nicht nur der bloße Tod seiner Zwillingsschwester, es waren auch die Umstände. Und noch mehr... er spürte, dass da noch mehr war.

»Ich befürchte wir sind noch nicht am Ende der Geschichte, oder?«

Er drückte Arthurs Oberarm und streichelte mit dem Daumen sanft darüber. Er hoffte so sehr ein bisschen Halt geben zu können. Nur ein kleines bissen Trost und Frieden in dieser ausweglosen, unabänderlichen Situation.

Vermutlich eine der schlimmsten Erkenntnisse, die Eames in seinem Leben je machen musste: Erinnerungen im Traum zu rekapitulieren machte sie nicht besser oder erträglicher. Es verhinderte, dass man vergaß und hielt den Schmerz lebendig mit der ständigen, irrationalen Hoffnung doch etwas verändern zu können.
 

*Arthur*

Er hatte diese Situation nun schon so oft durchgespielt, in seinen realen Träumen genauso wie in den Träumen, die er konstruierte. Doch es änderte nichts daran, wie er sich fühlte, wie es auf ihn wirkte. Vielleicht genau deshalb, weil er die Vergangenheit nicht ruhen lassen konnte, wie seine Geschwister und seine Mutter, vor allem aber sein Vater sich so oft gewünscht hatten. Er konnte es nicht. Nicht, bis er nicht wusste, warum sie hatte sterben müssen. Gleichzeitig hatte er aber auch Angst vor dieser Wahrheit. Angst davor, seine ganze Familie zu zerstören. Die Familie, die in dem Lügenkonstrukt sich so gut halten konnte – bis auf ihn. Es ließ ihn zögern, effektiver nach Antworten zu suchen, als sie nur von seinem Vater zu verlangen, der die Wahrheit mit ins Grab nehmen wird.

Eames‘ Worte lösten ihn etwas aus der Starre, in die er gefallen war. Er nickte leicht, als er nicht das übliche überschwängliche und damit falsche Mitleid in seinen Augen las, das damals so viele der Familie und auch ihm gegenüber vorgeheuchelt hatten.

‚Ich befürchte wir sind noch nicht am Ende der Geschichte, oder?‘

Er spürte die warme Hand an seinem Arm, spürte nun den Druck, das Streicheln. Leider versagte wie stets in diesem Traum seine Stimme. Er hatte sie damals auch verloren, lange hatte er geschwiegen, fast ein Jahr. Seine Mutter war die einzige, die ihn nicht aufgegeben hatte.

Arthur streckte sich etwas, versuchte durchzuatmen. Wo sollte er weitermachen? Was sollte er zeigen? Er wollte kein Mitleid für das, was er erlebt hatte. Aber manches war wichtig, damit Eames begriff, was ihn beschäftigte. Und vor allem, was ihn damals so beschäftigt hatte, dass es ihm unmöglich war, sich auf jemanden wie Eames einzulassen.

Er entwand sich dem Griff und ging zur Straße zurück, in seinen Gedanken formte er ein anderes Gebäude, ein Krankenhaus, das sich wie aus dem Nichts erschuf. Es war nur rudimentär. Seitdem sie Nordirland verlassen hatten, war er nicht mehr da gewesen. Er konnte sich nur bedingt an die Räumlichkeiten erinnern. Und auch die Erinnerungen an das, was er Eames gleich zeigen würde, waren recht jung. Er hatte nur durch Zufall zu ihnen gefunden.

Sie betraten das Krankenhaus quasi direkt in den Flur, in dem sein Vater saß. In Uniform, niedergeschlagen, ein gebrochener Mann, dessen Tochter einen Kampf kämpfte, den sie noch vor Mitternacht verlieren sollte, während sein Sohn nebenan lag und darauf hoffte, von ihm Unterstützung zu bekommen. Doch sie blieb aus. Aber darum ging es hier nicht. Es ging darum, was er gehört hatte.

Es war wieder ein Schatten, eine unkonkrete Person, die sich zu seinem Vater gesetzt hatte. Sie trug eine Uniform. Er hatte es gesehen, als er an seinem Zimmer vorübergegangen war. Es war definitiv ein Polizist gewesen.

„Du solltest nicht hier sein!“ Die Stimme seines Vaters klang drohend und besorgt gleichermaßen. „Du hast mir das alles eingebrockt! Ich hätte niemals auf dich hören sollen. Niemals!“ „Du hast das einzig Richtige getan! Besser hätte es nicht laufen können.“ Die Stimme klang schneidend, bedrohlich. „Dank dir sind wir näher an Sands dran, als jemals zu vor. Bald schnappen wir ihn und dann hat das alles hoffentlich bald ein Ende!“

Sein Vater schüttelte den Kopf, blickte den Mann neben sich fassungslos an. „Mir wurde das Wichtigste genommen. Das fällt alles auf mich zurück. Sie sind skrupellos und berechnend, sie werden erkennen, wer dahinter steckt. Sie werden meine ganze Familie…“ Doch der andere Mann schnitt ihm das Wort ab. „Ich habe dir mein Wort gegeben, dass ihr in Schutzhaft kommt, sobald Sands festsitzt. Du weißt, was du tun musst, damit das passiert. Er hat es jetzt mehr denn je verdient, dass du ihn uns auslieferst.“

Arthur wusste nicht, was sein Vater geantwortet hatte. Er konnte sich nicht erinnern. Vermutlich war er nur kurz aufgewacht. Vermutlich war er wegen der Schmerzmittel wieder eingeschlafen.

Erneut verwischten die verblassenden Erinnerungen das Gesamtbild. Arthur verließ das Krankenhaus, lief ein Stück die Straße hinunter.

„Bobby Sands war einer der IRA Anführer damals. Er starb ein Jahr später im Gefängnis.“ Zumindest hatte er seine Stimme wiedergefunden.

„An das hier konnte ich mich erst vor acht Jahren wieder erinnern, ausgelöst durch den Namen. ‚Bobby Sands‘“ Er blickte zur Seite, wo ein anderes, nicht zu Irland, vielmehr zu den USA passendes Haus stand. Dann sah er wieder zu Thomas. „Seit meinem sechsten Geburtstag begeht mein Vater den Todestag meiner Schwester. Kurz bevor ich dich kennengelernt habe, war mir bewusst geworden, dass die Ursache dafür bei ihm zu suchen war. Damals habe ich ihn damit konfrontiert.“ Er lächelte matt. Sollte er ihm das Gespräch zeigen? Lieber nicht.

„Ich weiß bis heute nicht, ob die Bombe eine Reaktion auf den Verrat meines Vaters war, oder als Mittel genutzt wurde, um ihn zum endgültigen Verräter zu machen.“

‚Besser hätte es nicht laufen können.‘ und ‚Er hat es jetzt mehr denn je verdient, dass du ihn uns auslieferst.‘ . waren die Sätze gewesen, die ihn hatten stutzig werden lassen. Waren die Bomben von den Kollegen gelegt worden oder von Sands Leuten?

„Er hat mich damals aus der Familie ausgestoßen und mir gedroht, dass ich mich nicht in Dinge einmischen solle, die ich nicht verstehen könnte und die mich nichts angehen." Er sah wieder zu dem Haus, in dem seine Familie mittlerweile lebte.

Aus dem Haus kam er selbst heraus, so wie Eames ihn damals kennengelernt hatte. Er war von seinem Vater hinausgeschubst worden, fing sich gerade noch. Arthur war deutlich angetrunken, wütend und letztlich auch verzweifelt. Sein Vater schrie ihm hinterher, dass er sich hier nie wieder blicken lassen solle. Seine Mutter hielt ihn davon ab, seine Wut an Arthur direkt auszulassen. Dennoch konnte sie das „Damals ist das falsche Kind gestorben!“ nicht unterbinden, das sein Vater ihm hinterherschrie und Arthur erneut verstummen ließ. Die Worte waren heftig gewesen.
 

*Eames*

Er wusste, dass es hart werden würde. Das war klar, seit Arthur ihm gesagt hatte, dass es einen Grund für seine Zurückhaltung vor acht Jahren gegeben hatte. Dennoch hätte ihn nichts auf die Augenblicke vorbereiten können, die er nun durch Arthurs Erinnerungen miterlebte. Es war nicht nur die grausamen Auswirkungen politischer Verstrickungen. Was ihm am Ende das ganze Ausmaß des großen Ganzen spüren ließ, war die bittere Kälte seines Vaters. Niemand wusste, ob Darling Senior Schuld hatte oder doch nur ein Opfer war. Und im Grunde spielte es auch keine Rolle. Am Ende hatte man doch immer eine Wahl.
 

Eames folgte ihm schweigend durch den Traum. Die Szenarien waren grob; äußerst untypisch für Arthur. In Anbetracht dessen was er preisgab kein Wunder. Eames hätte selbst kein großes Interesse daran solcherlei Erinnerungen bis ins letzte Detail auszuschmücken und sich der Gefahr auszusetzen, die Gefühle nicht tragen zu können.
 

Er spürte eine deutliche Unruhe und stumpfe Kälte.
 

‘Damals ist das falsche Kind gestorben!‘
 

Die Worte hallten in seinem Kopf, wie in einem hohlen Raum. Unwillens sie anzunehmen oder gar zu verstehen.

Auf absurde Weise konnte er mit Arthurs Vater mitfühlen. Er wusste nicht, was damals passiert war und wer nun Schuld an all dem Unglück hatte, das Familie Darling durchleben musste. Aber er ahnte, dass er vielleicht nur versuchte seine Liebsten zu schützen. Und er versuchte mit seinen Taten zu leben. Vielleicht auf Kosten seines Sohnes.
 

‘The path to hell is paved with good intentions‘
 

Enyas Tod musste ihn zerfressen haben und ein Loch hinterlassen haben, das Arthur nicht füllen konnte. Die Schuld bei Arthur zu suchen, wäre jedoch genauso absurd.

Was dies damals in ihm ausgelöst haben musste war, retrospektiv betrachtet, zumindest etwas greifbarer als vorher. Es war noch immer eine Frage der Persönlichkeit – Eames selbst hatte nichts für seine Familie übrig und hätte so einen Spruch wahrscheinlich einfach ohne Effekt hingenommen. Aber sie beide kamen aus anderen Welten mit anderen Werten und er war in den letzten Jahren erwachsener geworden. Einfühlsamer, wenn man so wollte.
 

Er wartete bis er sicher war, dass nichts mehr kommen würde und Eight-Years-Ealier-Arthur an ihnen vorbeigegangen und verschwunden war.
 

»Verletzte Menschen sagen schreckliche Dinge.«

Er legte eine Hand auf seinen Rücken. Versuchte ihm irgendwie Halt zu geben, auch wenn es sich gerade anfühlte, als rang etwas verzweifelt nach Luft.
 

Eine Idee formte sich in ihm und begann langsam zu wachsen, ausgelöst durch einen tief sitzenden Beschützerinstinkt für Arthur und dem Drang, Dinge selbst anzupacken statt sich auf andere zu verlassen.

Wozu überhaupt fragen? Sie waren verdammte Traumdiebe. Keine Information war vor ihnen sicher, wenn man nur lange genug bohrte.

Doch dieses Vorhaben schob er weit nach unten auf seiner To-Do-Liste und erst auf der Liste der Dinge, die er noch mit Arthur besprechen wollte.

»Habt ihr noch Kontakt?«
 

*Arthur*

‚Verletzte Menschen sagen schreckliche Dinge.‘

Arthur zuckte zusammen, als er die Hand an seinem Rücken spürte. Die körperliche Nähe war in dieser Situation ungewohnt. Er blickte zu Eames. Oder war er wegen der Worte zusammengezuckt? Einen Moment musterte er sein Gegenüber kritisch.

»Verletzte Menschen sagen schreckliche Dinge.«

Das war wahr, das wusste er mittlerweile auch, konnte das ganze anders sehen, als er es damals gesehen hatte. Damals hatte es zu dem Gesamtbild gepasst, das er von seinem Erzeuger hatte haben wollen. Er selbst hatte sicher auch nicht nur Nettigkeiten gesagt. Er war damals dumm und naiv gewesen, hatte Wut entladen, die sich viel zu lange angestaut hatte. Dass diese Wut nur einfach nichts veränderte, war ihm heute klar.

Allerdings war es nicht das, was ihn an Eames‘ Worten irritierte. Es war vielmehr der kurze Gedanke, dass diese Worte auch auf sie beide zutrafen, oft zutrafen. Sie waren grandios, sich gegenseitig zu verletzen und sich schreckliche Dinge zu sagen – besonders seit Tokyo. Doch die Hand auf seinem Rücken sagte ihm, dass Eames diesmal nicht über sie beide gesprochen hatte. Früher hätte er diese Andeutung sicher mitschwingen lassen. Vorwürfe, dass Arthur auch ihm gegenüber schreckliche Dinge sagte. Aber dann hätte er ihn einfach fallen gelassen und sich in seinem eigenen Triumph gesuhlt. Diesmal schien er wirklich betroffen zu sein von dem, was er ihm gezeigt hatte.

Was er ihm gezeigt hatte… War es doch ein Fehler, ihm diese Dinge zu zeigen? Würde er ihn nicht immer ganz anders ansehen, als er es bisher getan hatte? Würde sich seine Schwäche gegen ihn wenden? Aber war das noch seine wirkliche Schwäche?
 

Damals war lange her, sehr lang. Es war nicht so, dass seine Wut, sein Misstrauen gänzlich verschwunden waren. Aber er konnte anders damit umgehen, rationaler. Er wusste, dass die Familienstruktur komplex war und nur funktionierte, weil das, was damals geschehen war, nicht hinterfragt wurde. Er wusste, dass sein Wunsch nach Wahrheit all das zerstören könnte. Zumindest wenn sein Verdacht sich bestätigte, dass sein Vater Ursache für alle Geschehnisse war. Es war ihm klar geworden mit der Zeit. Eames hatte ihm damals im Training geholfen, seine Wut abzubauen, hatte ihn abgelenkt und ihm die Möglichkeit gegeben, Dinge anders zu sehen. Sicher wusste er nichts davon. Es jetzt zu sagen, war nicht wichtig.

Wichtig war jedoch, dass er in seinem steten Wunsch nach Wahrheit und Fakten schwankte, was seinen Vater betraf. Er wusste nicht, was es bei ihm verändern würde, was es in seiner Familie verändern würde. Dass es den anderen egal war, war seine größte Angst. Dann würde dieses Wissen nur ihn zerstören, nicht die Familie. Beide Optionen wirkten wenig verlockend. Also stellte er es hinten an, mit der Option, diese Situation niemals geklärt zu wissen. Dass sein Vater und er keinerlei Beziehung zueinander hatten, hatte er nun schon lange akzeptiert. Sich den Zorn der restlichen Familie aufzuladen, wollte er nicht riskieren. Er würde gern die Wahrheit kennen, aber ob er damit würde umgehen können, stand auf einem anderen Blatt.
 

»Habt ihr noch Kontakt?«

Arthur sah aus seinen Gedanken auf. Dann zuckte er mit den Schultern, lockerte seine viel zu steife Haltung. Seine Schutzmechanismen funktionierten immer.

„Patricia, meine Schwester, hatte mich in der Nacht, in der ich dich versetzt habe, mit ins Krankenhaus geschleppt. Eigentlich wollte ich nicht hin. Ich wusste genau, dass Tricia und meine Mutter die Situation nutzen wollten, um die Wogen zu glätten. Meine Mutter hält die Familie zusammen. Sie ist die gute Seele. Ich kann ihr keinen Wunsch lange verwehren. Und Tricia versucht alles, mir das Gefühl zu geben, nicht bei allen unwillkommen zu sein. Mit meinen Brüdern ist es komplizierter. Ted redet Vater nach dem Mund. Er lässt mich spüren, dass er froh ist, dass Enya ihm den Platz als Lieblingskind nicht mehr streitig macht. Collin ist mir ähnlich, aber steht unter Teds Fuchtel und kommt nicht davon los.“ Er lächelte matt. Alles nicht so einfach. Uns er redete sich vieles schön.

„Mein Vater und ich haben ein Friedensabkommen. Er ignoriert mich weiterhin, ich lasse ihn in Frieden. Theoretisch bin ich jeden Sonntag zum Mittagessen eingeladen, praktisch versuche ich zu den Geburtstagen da zu sein.“ – oder dem Todestag, wenn es ihm einigermaßen gut ging. Es war nicht einfach, einen Todestag zu begehen, wenn man eigentlich Geburtstag hatte und die Tote sein besseres Ich war. Damals vor 8 Jahren war es der schlimmste Geburtstag seines Lebens gewesen. Er war in dieser Nacht noch völlig abgestürzt. Zum Großteil konnte er sich nicht mehr erinnern, was passiert war.
 

Er sah zu dem Haus hinüber, in dem er zwölf Jahre seines Lebens gelebt hatte. Als er mit 17 ausgezogen war, hatte er sich befreiter gefühlt. Mittlerweile war er wirklich befreiter von der ganzen Situation. Er hatte es gut verdrängt – vor allem, weil er nicht wusste, was er wirklich wollte. Wenn er ehrlich zu ihm war, müsste er zugeben, dass er seinem Vater ähnlicher war, als er es wahrhaben wollte. Mit Lügen zu leben, um sich zu schützen, auch wenn man damit andere verletzte, war ihm auch selbst nicht fremd.

Er atmete tief durch, sah wieder zu Eames.
 

„Ich denke, du verstehst jetzt vielleicht ein wenig, weshalb ich mich nicht einfach so auf ein Abenteuer mit jemandem einlassen konnte, der mein Leben sicher nicht stabilisiert hätte. Ich habe dich damals nicht anrufen oder mich melden können, weil ich nicht wusste, ob du mir zuhören könntest, ob du dir das alles hättest aufhalsen wollen.“ Besonders nicht mit dem Gefühl dabei, dass er mehr als ein Abenteuer für ihn bedeutete, wenn er auf all das Werben eingegangen wäre. Und mit dem Wissen, dass Eames viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, als dass er sich mit ihm hätte ernsthaft auseinandersetzen können. Er hatte Zeit zum Verarbeiten gebraucht, Mal hatte ihm viel geholfen. Eames, ohne es zu ahnen. „Zumindest anfangs nicht.“

In den Monaten, die sie so intensiv miteinander verbracht hatten, in denen sie sich gegenseitig im Job vorangetrieben hatten, war er gewachsen – wegen Eames, für Eames. Er hatte die schönen Momente gesammelt, die Erinnerungen daran waren wesentlich wichtiger geworden, als andere Momente, negative Momente. Terra Blues – der Inder – die Vorbereitungszeit in Tokyo. Mit der Zeit ging es ihm viel besser. Er wurde selbstsicherer in vielerlei Hinsicht.

„Lass uns zu den schöneren Erinnerungen zurückkehren. Ich brauch was Positives.“ Er lächelte leicht. "Welche ist deine schönste Erinnerung an unsere Zeit vor Tokyo?" Er wusste genau, woran er sich gerne erinnerte. Aber umso gespannter war er, welche Erinnerung Eames positiv belegte.
 

*Eames*

‚Es ist wohl keine Familie, wenn es nicht kompliziert ist‘, ging es Eames durch den Kopf, als er Arthur bei seiner Schilderung über die Verhältnisse bei den Darlings zuhörte. Das alles klang wie ein Familien-Drama aus einer TV-Serie... oder war das vielleicht einfach nur das was in Familien passierte? - oder nicht passieren sollte?

Es fiel ihm nicht schwer zu folgen, es haperte nur ein wenig am Verstehen. „Familie“ in Arthurs Sinne war eben doch eine ganz andere Hausnummer, als seine eigene.
 

... Ich habe dich damals nicht anrufen oder mich melden können, weil ich nicht wusste, ob du mir zuhören könntest...‘
 

Ein dicker Kloß hatte sich in Eames Hals gebildet, den er weder schlucken noch hochwürgen konnte. Arthur hatte wohl Recht mit seiner Befürchtung gehabt. Die Frage war nur, ob er noch immer der egoistische Bastard von damals war, oder ob sich mittlerweile etwas bei ihm getan hatte. Er hatte sich verändert, das stand außer Frage. Aber vielleicht war das nur die Art, wie er sein inneres Scheusal verbarg.

Er nickte betroffen, den Blick nach unten. Erst als Arthur die guten Erinnerungen ansprach, sah er wieder auf. Forschte mit wachsendem Interesse in den undurchdringlichen Augen seines Gegenübers.
 

»Die Schönste?«

Er machte einen nachdenklichen Brummlaut und streichelte das stoppelige Kinn dabei. Hätte Arthur jetzt nach „einer“ schönen Erinnerung gefragt, aber seine persönliche Nummer eins, war schwer zu bestimmen, aus diversen Gründen. Erst einmal hatte er in er Zeit eine Menge erlebt; viele neue Erfahrungen hatten auf ihn eingewirkt. Er hatte ein traumatisierendes Erlebnis hinter sich, was er mit allen Mitteln mit allerlei Substanzen und Ablenkungsversuchen zu besiegen versuchte; sein Charakter war noch nicht ganz fertig und dann war da auch noch Arthur gewesen, der auf emotionaler Ebene noch ganz andere, schlimme Dinge mit ihm gemacht hatte (nicht bewusst natürlich). Er hatte ihm beigebracht was ‚Sehnsucht’ bedeutete, um nur eins der verwirrenden Dinge aufzuzählen, die ihm in dieser kurzen Zeit zwischen Amityville und Tokio das Leben auf den Kopf gestellt hatten.

»Wie wär's mit dem Abend, an dem ich dir Billardspielen beigebracht habe?«, warf er schlussendlich in den Raum. Statt der gedrückten Stimmung, war er nun fast wieder der Alte, mit der leichten Arroganz in der Stimme, die hin und wieder in seinem Akzent mitschwamm.

Rekapitulation (aus dem Fachjargon der Traumdiebe) hatte durchaus seine Schattenseiten. Er wusste von Leuten, die immer wieder zu Erinnerungen zurückkehrten, um sich selbst wehzutun. Allerdings hatte man auch die Möglichkeit den Verlauf der Dinge zu ändern – zumindest scheinbar. Zumindest für einen Moment.


Nachwort zu diesem Kapitel:
So viele Leser...
Keiner, der kommentieren möchte?
Würde mich freuen :) Komplett anzeigen

Fanfic-Anzeigeoptionen

Kommentare zu diesem Kapitel (0)

Kommentar schreiben
Bitte keine Beleidigungen oder Flames! Falls Ihr Kritik habt, formuliert sie bitte konstruktiv.

Noch keine Kommentare



Zurück