DigiRonpa von UrrSharrador (Mut. Freundschaft. Liebe. Wissen. Ehrlichkeit. Zuverlässigkeit. Licht. Hoffnung ... Verzweiflung.) ================================================================================ Fall 03: Klassenprozess I ------------------------- Zuerst erschrak Hikari, als sie Devimons Gestalt anders vorfand, als sie sie in Erinnerung hatte. Das schattenhafte Digimon hatte einen so … bösen Eindruck auf sie gemacht, dass sich der Anblick in ihr Gedächtnis gebrannt hatte, und nun stand es anders da als zuletzt. Allerdings stellte sie auf den zweiten Blick fest, dass es immer noch in seinem Kristall eingeschlossen war. Die einzelnen Auswüchse des Kristalls hatten sich nur irgendwie … verschoben und das ganze Gebilde stand nun auf einem Podest. Devimons Arme waren dadurch nach oben gedrückt worden, und in seinen Handflächen ruhte jetzt ein breites, weiches Kissen. Und darauf hockte niemand anders als – natürlich – Monokuma. Es sah aus, als würde Devimon den Bären als seinen unumstrittenen Meister anerkennen und ihn hochheben – buchstäblich auf Händen tragend. Vor Monokumas neuem Podest reihten sich wieder einmal die Anklagebänke im Kreis aneinander. Diesmal bestanden sie, zur kalten Würde des Tempels passend, aus schwarzem Gusseisen. Die DigiRitter kannten die Prozedur. Auch wenn noch kein Austragungsort so düster und kalt gewirkt hatte, nahmen sie ihre Plätze ein und sahen einander in die Augen. Die Atmosphäre war drückend, aber Hikari sah in den Gesichtern der anderen nicht nur stille Resignation, sondern dann und wann auch einen Funken Entschlossenheit. Sie hatten die Hoffnung noch nicht aufgegeben, und sie waren auch bereit alles zu geben, um den Prozess erneut zu überleben. Vielleicht stärkte der scheinbar einfache Fall auch einfach ihre Moral. „Beginnen wir mit einer einfachen Erklärung des Klassenprozesses“, läutete Monokuma die Diskussionsrunde wie gewohnt ein. „Während des Prozesses bringt ihr eure Argumente vor, um den Mörder oder die Mörderin von Iori Hida und Koushiro Izumi zu entlarven. Seid ihr zu einem Entschluss gekommen, bewegt ihr die Hebel vor euch, um diese Person zu beschuldigen. Wurde dabei der oder die tatsächlich Schuldige gewählt, wird diese Person allein bestraft. Andernfalls werden alle anderen bestraft, und der Mörder oder die Mörderin darf die Insel verlassen.“ „Bevor wir anfangen, hätte ich eine Frage, Monokuma“, sagte Wallace. „Es deutet ja so einiges darauf hin, dass Leomon unsere Freunde umgebracht hat. Was genau versuchen wir dann hier eigentlich herauszufinden?“ „Puhuhuhu.“ Monokuma lachte in seine Tatzen. „Versuchst du mir gerade wichtige Hinweise zu entlocken? Du schlauer, böser Junge. Schäm dich.“ Wallace seufzte nur. „Ohne eine Antwort hat das hier keinen Sinn.“ „Hmm. Lasst mich folgende Regel hinzufügen, damit es zu keinen Missverständnissen kommt“, sagte Monokuma. „Ich habe alle Digimon von der File-Insel entfernt, damit sie meinen teuren Schülern nicht gefährlich werden können. Alle außer die, die ich selbst im Griff habe, und die zwei, die ich hier in dieser Halle verwahrt habe. Das verschlüsselte Programm ist ein Schutzmechanismus von mir. Sollte der Fall eintreten, dass die Versiegelung sich öffnet und eines der beiden eingefrorenen Digimon jemanden umbringt, dann ist natürlich derjenige schuld, der meine Sicherheitsmechanismen ausgehebelt hat. Mit anderen Worten, derjenige, der die Verschlüsselung geknackt und das Digimon befreit hat.“ „Wie ich es mir gedacht habe. Das heißt also, Leomon würde – sofern es jemanden getötet hat“, ergänzte Wallace betont, „als Werkzeug des Mörders gelten, und der Mörder ist dennoch einer von uns?“ „So kannst du es auch ausdrücken“, bestätigte Monokuma. „Ich spiele euch die entsprechende Regel auf eure DigiVices.“ Hikari hörte das kleine Ding in ihrer Hosentasche piepen. Obwohl Monokuma sich nicht mal bewegt hatte, fand sie nun die entsprechende Regel, als sie die Tasten drückte. Regel #7: Sollte ein Todesfall durch das unerwartete Freikommen von Devimon oder Leomon stattfinden, so gilt der- oder diejenige als verantwortlich und somit als Täter oder Täterin, der oder die die Versiegelung aufgehoben hat. „Dann habe ich auch noch eine Frage“, meinte Hikari mit belegter Stimme. Es fühlte sich … falsch an, sich von Monokuma die Regeln dieses kranken Spiels erklären zu lassen. „Wir haben bisher immer nur für einen Täter abgestimmt. Jetzt gab es aber zwei Morde.“ „Sie wurden trotzdem beide von Leomon begangen“, sagte Daisuke. „Das ist noch nicht bewiesen“, hielt Wallace dagegen. „Wir sollten die Sonderregeln für alle Eventualitäten erfahren, denke ich.“ Man konnte in Monokumas Gesicht nicht lesen. Er saß reglos wie ein Plüschtier auf seinem Kissen und antwortete erst nach ein paar Sekunden –als hätte er abwägen müssen, ob eine Antwort bereits zu viel verraten würde. Schließlich erklärte er: „Ihr stimmt weiterhin für einen einzigen Täter ab“, erklärte er. „Puhuhuhu. Wie ihr es vielleicht schon ahnt, gibt es nur einen einzigen, der etwas mit dem Tod eurer Freunde zu tun hat. Außer natürlich euch anderen, die nicht fähig waren, ihre Freunde zu beschützen.“ Der kleine Bär hielt sich lachend den Bauch und bleckte dabei seine Reißzähne. „Halt doch den Mund“, knirschte Taichi. „Also, wollen wir beginnen?“, fragte Wallace. „Wir sollten den Tathergang so gut es geht rekonstruieren. Zuallererst: Leomon scheint freigekommen und, den Regeln entsprechend, als Werkzeug für den Mörder gehandelt zu haben. Hier im Tempel ist es nicht mehr. Aber können wir wirklich davon ausgehen, dass es freigekommen ist?“ Hikari und Miyako nickten unisono. „Wir haben es beide gesehen“, sagte Hikari. „Gut, dann ist das geklärt.“ „Sicher?“, warf Jou ein und zuckte zusammen, als ihn alle anstarrten. „Ich meine, ich will sie natürlich nicht verdächtigen oder so, aber … außer den beiden hat Leomon ja niemand gesehen, und … nun ja …“ „Ich weiß schon, was du sagen willst“, sagte Daisuke, „aber du darfst nicht vergessen, dass man in diesem Spiel keine Komplizen gewinnen kann.“ „Wie meinst du das?“, fragte Mimi. „Ist doch ganz klar: Nur derjenige, der jemanden umbringt und alle anderen täuscht, kommt frei. Wenn zwei zusammenarbeiten würden, dann würde auch einer der beiden sterben müssen – nämlich der, der nur Helfer und nicht Mörder war“, sagte Daisuke. „Also können wir ausschließen, dass Miyako und Hikari gelogen haben. Ich dachte, das hätten wir im letzten Prozess schon geklärt.“ „Ich, ich wollte nur … noch einmal die Sache ansprechen“, sagte Jou mit zur Verteidigung erhobenen Händen. „Alles klar. Niemand wird es dir nachtragen. Wir sollten wirklich alles bedenken“, sagte Wallace. „Selbst jede falsche Theorie ist gut, wie sie uns zur richtigen lenkt.“ Hikaris Blick glitt durch die Runde. So wenige von ihnen waren noch übrig … Die Hälfte der Plätze in dem Kreis war leer, und stattdessen standen Schilder mit den Gesichtern der Verschiedenen in den verwaisten Buchten. Es war eindeutig ruhiger als bei den letzten Prozessen. „Also schön.“ Taichi räusperte sich, nachdem kurz geschwiegen wurde. Wallace hatte die Einleitung gemacht, aber er schien nicht der Wortführer im folgenden Prozess werden zu wollen. „Dann weiter im Text: Leomon ist hier aus seinem Kristall freigekommen, dann runter den Weg bis zu der Stelle, wo wir Koushiro gefunden haben. Dort hat es zugeschlagen, richtig?“ „Es gab dort eine Menge Blut“, erinnerte sich Miyako. „Auf dieser Wand mit den Schriftzeichen und auf dem Boden. Und keine Blutspuren, die anderswo hingeführt hätten.“ „Also können wir davon ausgehen, dass Koushiro dort ermordet wurde, wo wir ihn gefunden haben, und nicht etwa post mortem dorthin geschleppt wurde“, schlussfolgerte Daisuke. „Richtig“, murmelte Jou. „Und dann …“ „Dann ist Leomon weiter den Berg runter und hat Iori gefunden“, sagte Taichi. „Und es hat ihn regelrecht aufgespießt, dieses Monster!“ „Und dann hat es die Fährte von Hikari und Miyako aufgenommen“, ergänzte Daisuke. „Nur von Miyako“, murmelte Hikari. „Ich habe es erst gesehen, als Miyako schon vor ihm davongerannt ist.“ „Erzähl uns, was genau passiert ist“, verlangte Taichi von Miyako. „Ähm …“ Das Mädchen spielte mit den Haarspitzen. „Da gibt es eigentlich nicht viel zu erzählen. Ich habe im Unterholz nach Iori gesucht. Ich dachte mir, wenn er sich dort irgendwo im Geäst oder in Dornen verheddert hat, wäre es schwer, ihn zu finden … Dann habe ich hinter mir schwere Schritte gehört, und dann ist Leomon plötzlich hinter mir gestanden. Es hat geknurrt, und ich bin gerannt. Kurz darauf habe ich Hikari getroffen.“ „Und dann ist Monokuma eingeschritten und hat Leomon in die Luft gejagt, richtig?“, fragte Wallace. „Warum sollte er das überhaupt tun?“ „Puhuhuhu“, sagte Monokuma. „Ich kann doch nicht zulassen, dass es die ganze Klasse ausrottet. Außerdem wäre das gegen die Schulregeln.“ „Wie bitte?“, machte Miyako. „Wieso Schulregeln? Was hat Leomon mit unseren Schulregeln zu tun?“ „Monokuma meint sicher die hier.“ Daisuke hielt ihr sein DigiVice hin, als könnte sie auf die Entfernung die Schrift lesen, die darauf leuchtete. „Regel Nummer zwei. Ein Täter darf maximal zwei Opfer umbringen. Da Leomon als Werkzeug gilt, hat Monokuma es ausgeschaltet, nachdem es schon Koushiro und dann Iori umgebracht hat. Sonst wäre der Täter, wer auch immer es befreit hat, für drei Morde verantwortlich gewesen.“ „Klingt nach etwas, was Monokuma tun würde“, knurrt Taichi und ballte die Fäuste. „Einfach zusehen, wie zwei von uns sterben, und dann erst die Notbremse ziehen. Ich wünsche mir fast, er hätte Leomon nicht mehr aufhalten können und sich das Spiel damit selbst versaut.“ „Taichi!“, rief Mimi erschrocken. Er atmete tief durch und sah sie traurig an. „Sorry. War natürlich nicht so gemeint.“ „Die Frage, vor der wir jetzt also stehen, ist“, nahm Wallace den Faden wieder auf, „wer von uns Leomon befreit hat. Richtig?“ „Rein vom Bauchgefühl würde ich da auf Koushiro tippen“, murmelte Daisuke. „Er war der Einzige vorn uns, der mehr als ein bisschen Ahnung von Computern hatte.“ Miyako sah aus, als wollte sie etwas einwerfen, aber sie klappte den Mund wieder zu. „Aber Koushiro war es nicht, oder?“, fragte Jou. „Sonst würden wir ja kaum einen Klassenprozess abhalten. Er ist ja schon …“ „Er wäre selbst sein erstes Opfer gewesen“, schnaubte Taichi. „Obwohl, Monokuma würde das gefallen.“ „Und wenn es wirklich so war?“, warf Hikari ein. „Wer immer es getan hat, konnte Leomon ja nur befreien – aber nicht steuern. Oder hab ich das falsch verstanden?“ Sie sah Monokuma bei diesen Worten an, und er antwortete ihr sogar. „Natürlich könnt ihr Leomon nicht kontrollieren, wenn ihr mein Versiegelungsprogramm knackt“, sagte er abwinkend. „Wenn nicht einmal ich es kontrollieren konnte … Es hört ironischerweise auf dieses Digimon hier unter mir. Devimon hat es mit der Macht der Dunkelheit infiziert und ihm den Auftrag gegeben, alle DigiRitter zu töten, wann immer es auf sie trifft. Auch wenn jetzt nur Leomon freigekommen ist und Devimon nicht, würde es dennoch nur diesen Auftrag ausführen.“ „Dann ist es tatsächlich möglich, dass Koushiro Leomon befreit hat und dann selbst dessen erstes Opfer geworden ist.“ Daisuke schnaubte. „Er war ja auch wirklich nah an dem Tempel, wenn ich das so sagen darf. Ziemlich riskant.“ „Aber wir können doch nicht für einen Toten stimmen – oder?“, fragte Jou. „Puhuhu, natürlich könnt ihr das“, erwiderte Monokuma. „Was glaubt ihr, warum ich jedes Mal Bilder von euren Freunden in eurem Kreis aufstelle? Sicher nicht, weil ihre Visagen so hübsch anzusehen waren!“ Hikari musterte nachdenklich Koushiros Bild, das auf dem Ständer in seiner Anklagebucht stand. Das Porträt war mit roter Farbe ausgekreuzt, wie um zu verdeutlichen, dass diese Person tot war. Sie sah zu dem Abstimm-Hebel an ihrem Pult. Schuldig oder nicht schuldig. Wenn sie Koushiro als Täter vermuteten, konnten sie auch einfach für ihn stimmen. „Also war es das schon?“, fragte Mimi mit vorsichtiger Hoffnung in der Stimme. „Koushiro ist der Täter, weil er Leomon befreit hat, was dann ihn und Iori das Leben gekostet hat?“ „Wartet noch“, sagte Miyako. „Mich hat da die ganze Zeit über schon etwas gestört …“ Sofort hatte sie die Aufmerksamkeit aller. Eine solche Ankündigung blieb nie ohne eine dramatische Verlagerung des Fokus. „Koushiro hatte im Tod die Hand auf seiner Notebook-Tastatur liegen, und da war das Programm geöffnet, das Leomon befreit hat, stimmt’s? Aber ist das nicht eigentlich hochverdächtig? Er stand ja nicht direkt vor dem Kristall, aus dem Leomon sich auf ihn hätte stürzen können.“ „Ich glaube, ich weiß, was Miyako damit sagen will“, meldete sich Wallace zu Wort. „Ich habe mir das auch gedacht. Es wirkt, als hätte er Leomons Befreiung eingeleitet und wäre dann – zack – von ihm getötet worden. Aber Leomon hätte aus der Kathedrale gehen und dem Weg nach unten folgen müssen. Noch dazu wäre es nicht der einzige Weg gewesen, und es hat sicher auch nicht gewusst, wo es Koushiro finden würde. Koushiro hätte sich kaum vor seinen Laptop gelegt, mit der Hand auf der Tastatur, und gewartet, bis Leomon endlich vorbeikommt und ihm die Kehle aufschneidet. Verzeiht die harten Worte“, fügte er mit Blick auf die Mädchen in der Runde hinzu. „Das ist echt seltsam.“ Taichi massierte sein Kinn. „Du hast recht“, sagte Daisuke. „Es ist fast so, als wollte jemand, dass wir denken, Koushiros letzte Tat wäre Leomons Befreiung gewesen. Also steckt in Wahrheit etwas anderes dahinter?“ „Mir ist … noch etwas aufgefallen“, begann Miyako zögerlich. „Ich … also …“ Wieder sahen die anderen sie an, und sie wich ihren Blicken aus. „Ja?“, hakte Taichi nach. „Ähm … Also … Es ist nur eine Kleinigkeit.“ „Raus damit.“ „Na schön … Als Leomon mich gejagt hat, da wollte es auch mit dem Schwert auf mich losgehen … und auf Hikari. Und ich glaube, da waren tatsächlich Blutspuren an der Klinge.“ „Natürlich waren da welche“, brummte Taichi. „Leomon hat vorher ja schon zwei Morde begangen.“ „Ja, ich meine ja nur … Das beweist, dass Leomon tatsächlich selbst einen Mord begangen hat.“ „Das haben wir uns auch so denken können“, sagte Taichi. „Es zählt trotzdem nur als Werkzeug des Täters. Wer immer es befreit hat, der ist es, den wir suchen. Hast du vorher nicht aufgepasst?“ „Sie hat ja gesagt, dass es nur eine Kleinigkeit ist“, zischte Mimi. „Hör auf, sie fertigzumachen.“ „Mache ich doch gar nicht“, empörte er sich. „Alles klar, ist schon in Ordnung“, sagte Miyako schnell. „Ihr müsst meinetwegen wirklich nicht streiten.“ „Wo ihr doch schließlich ein so hübsches Paar abgebt“, ergänzte Wallace mit einem unpassenden Grinsen. „Tun wir gar nicht!“, schnappten Taichi und Mimi wie aus einem Munde. Hikari nutzte das Geplänkel, um Miyako kritisch zu mustern. Was war das gerade gewesen? War das wirklich alles, was Miyako bemerkt haben wollte? Es war fast, als ob … „Zurück zum Thema“, sagte Taichi. „Dass Koushiros Hand auf der Laptoptastatur gelegen ist, kann also auch eine Täuschungsaktion gewesen sein?“ „Möglich ist es“, erwiderte Daisuke. „Ich bezweifle, dass eine Killermaschine wie Leomon – das noch dazu laut Monokuma irgendwie mit der Dunkelheit infiziert war, was ominös genug klingt – Koushiros Leiche hinterher verändert hätte, um irgendwelche falschen Spuren zu legen. Es hätte ihn getötet und sich dann sofort nach einem neuen Opfer umgesehen.“ „Der Meinung bin ich auch“, nickte Taichi grimmig. „Es wäre doch auch eine Möglichkeit, dass Leomon Koushiro getötet, und jemand anderes von uns seine Leiche gefunden und entsprechend bewegt hat. Derjenige hat den Laptop vor ihm aufgestellt und Koushiros Hand darauf gelegt. Und der Einzige, der etwas davon haben könnte, einen Tatort zu verändern, ist der Mörder. Fragt mich aber nicht, warum er es getan haben sollte“, überlegte Hikari. „Kann es nicht auch sein, dass Koushiros Hand zufällig auf den Laptop gefallen ist?“, fragte Daisuke. „Vielleicht hat er diese Schriftzeichen an der Wand analysieren wollen und das Notebook auf dem Boden abgestellt, und als Leomon ihn getötet hat, ist er so gefallen, dass seine Hand direkt auf der Tastatur gelandet ist?“ „Ganz ausschließen kann man es vielleicht nicht“, meinte Hikari, „aber ich halte das doch für einen ziemlich großen Zufall.“ „Außerdem, hätte er wirklich diesen Versiegelung-geöffnet-Text auf dem Bildschirm gelassen und den Laptop abgestellt, ohne noch irgendwie aufzuräumen?“, fragte Wallace. „Ich weiß ja nicht, wie es in Japan so üblich ist, aber wenn ich an meinem Computer mit irgendeiner Tätigkeit fertig bin, dann schließe ich das Programm. Und wenn ich meinen Laptop nicht mehr brauche, fahre ich ihn gleich ganz runter. Vor allem, wenn ich unterwegs bin und den Akku schonen will.“ „Diese Schriftzeichen auf der Wand“, sagte Miyako. „Von euch hat niemand zufällig eine Ahnung, was die bedeuten könnten?“ Alle schüttelten den Kopf. „Koushiro hätte sich auf jeden Fall dafür interessiert“, sagte Hikari. „Wahrscheinlich so sehr, dass er nicht bemerkt, wie sich jemand an ihn heranschleicht“, sagte Mimi melancholisch. „Aber wenn er sich schon damit beschäftigt – würde er das ohne seinen Laptop tun? Ich denke, er würde sie mit anderen Zeichen vergleichen, die er schon abgespeichert hat, oder eine Bilderkennungssoftware darüber laufen lassen, oder sonst was“, meinte Miyako. „Sind wir jetzt wieder bei seinem Laptop?“ Daisuke hob eine Augenbraue. „Der Laptop ist nun mal vor ihm auf dem Boden gelegen, das ist eine Tatsache. Also hatte er ihn vermutlich nicht in den Händen, um die Symbole zu entziffern. Es waren auch keine Dellen oder Kratzer darauf, so als ob er ihm aus der Hand gefallen wäre.“ „Wisst ihr, was noch merkwürdig ist?“, sagte Jou. „Wir haben Iori seit heute Mittag nicht mehr gesehen. Das alles ist ja erst passiert, weil wir ihn gesucht haben. Wo war er die ganze Zeit?“ „Stimmt!“, rief Miyako aus. „Er sah nicht so aus, als hätte er sich verirrt oder in einer Felsspalte festgesteckt. Warum ist er nicht schon längst wieder zum Haus zurückgekommen?“ „Vielleicht, weil er tot war?“, sagte Mimi schnippisch. Kurz darauf zog sie den Kopf ein, als schämte sie sich für die Bemerkung. „Das halte ich für unwahrscheinlich“, sagte Daisuke. „Wir können wohl davon ausgehen, dass Leomon mit Koushiros Laptop befreit wurde – dem einzigen Gegenstand, der irgendwie dazu in der Lage wäre zu helfen, das Programm zu entschlüsseln. Koushiro war aber noch bei uns, als wir Iori suchen gegangen sind. Denkt ihr, er hätte vorher schon die Versiegelung geöffnet, und Leomon hätte daraufhin Iori in den Bergen überrascht?“ „Daisuke hat recht“, sagte Hikari. „Das würde bedeuten, dass Koushiro die ganze Zeit den Beweis, dass er das Programm geknackt hat, mit sich herumgeschleppt hätte.“ „In Form des offenen Programms auf seinem Laptop, ja.“ Daisuke deutete auf Wallace. „Ich glaube kaum, dass nur unser amerikanischer Austauschschüler ein Programm nach dessen Beendigung schließen würde. Wenn irgendjemand von uns bemerkt hätte, was da auf Koushiros Bildschirm angezeigt wird, wäre er sofort in Verdacht geraten.“ „Schön“, brummte Taichi. „Was glaubt ihr dann, warum Iori so lange abgängig war?“ Hikari überlegte angestrengt. So einfach der Fall zunächst ausgesehen hatte, so sperrig erwiesen sich die Puzzlestücke, die zur Lösung führen sollten. Es war, als hätte jemand die Verbindungsstücke eines Kinderpuzzles mit einer Schere bearbeitet – es sah einfach aus, es gab auch nicht viele Teile, aber wenn man sie genau betrachtete, passten sie einfach nicht zueinander. Iori war relativ weit vom Haus entfernt gewesen, das stimmte. Für ihre Versorgungs- und Erkundungsgänge hatten die Freunde mittlerweile recht lange Wege zurückgelegt. Aber er hatte sich doch wohl nicht verirrt, oder? Es war keine allzu versteckte Stelle gewesen, an der sie ihn gefunden hatten. Sonst wären sie schließlich nicht so sehr mit der Nase darauf gestoßen. Hikari klickte durch die beiden Monokuma-Files. Sie enthielten genauso wenige Hinweise, wie die Freunde ansonsten zusammengetragen hatten. Allerdings war das Fehlen dieser Hinweise auch schon ein Hinweis für sich … Als Hikari zu den Files über Yamato und Sora zurückblätterte, fiel ihr wieder auf, dass Monokuma diesmal mit den Todeszeitpunkten gegeizt hatte. Was, wenn sich darin irgendein gewaltiger Hinweis versteckt hielt? Ihr fiel auch auf, dass Ioris File als Monokuma-File #3 und Koushiros als #4 nummeriert war, aber das spiegelte vielleicht nur die Reihenfolge wider, in der sie die beiden entdeckt hatten. Daisuke und Wallace diskutierten gerade darüber, wie Koushiro seinen Laptop all die Tage gehandhabt hatte. Mimi warf hin und wieder ein, wie sie seine Techniksucht empfunden hatte, was aber eher in die Richtung ging, dass es sie genervt hatte. Hikari klickte zwischen Koushiros und Ioris File hin und her, als könnte sie damit Zusatzinformationen zum Aufpoppen bringen – dann stutzte sie. „Leute“, sagte sie plötzlich. „Wir haben vielleicht etwas übersehen …“ Taichi wandte sich ihr als Erstes zu. Miyako beteiligte sich am Gespräch der anderen, das relativ intensiv geworden war, und so schenkten sie Hikari nur nach und nach ihre Aufmerksamkeit. Sie wartete, bis sie im Zentrum des Interesses stand, und fuhr mit belegter Stimme fort: „Oder eher, wir haben vielleicht eine vorschnelle Annahme getroffen.“ „Und zwar?“, fragte Daisuke. Wallace nickte ihr ermutigend zu – eine Geste, die er sich auch hätte sparen können. Es war nicht so, dass sie sich nicht zu argumentieren traute – sie wusste nur nicht, wie sie es am besten in Worte fasste. „Wenn ihr euch die Monokuma-Files anseht“, sagte sie, „dann achtet mal auf die Todesursachen.“ Die anderen folgten ihrer Aufforderung. „Ich weiß nicht, was du meinst“, sagte Taichi. „Sie wurden beide von etwas scharfem umgebracht, oder?“ „Von Leomons Schwert“, fügte Jou hinzu.  Hikari schüttelte den Kopf. „Erinnert euch daran, was wir gesehen haben … auch wenn es schmerzt. Iori ist regelrecht durchbohrt worden und dann tragisch verblutet. Wenn ich an Leomons Körperbau denke, kann ich mir gut vorstellen, dass es mit dem Schwert zugestoßen und ihn so getötet hat.“ Das entsprach nicht ganz der Wahrheit – sie würgte nämlich ihre Vorstellungskraft mit aller Macht ab, kurz bevor sie sich die tatsächliche Tat ausmalen konnte. „Hm … Es gab da auch diese Spuren am Waldrand, wo wir Iori gefunden haben“, sagte Wallace. „Das sah so aus, als hätte jemand Iori in das Wäldchen geschleudert. Leomon hat ihn sicher aufgespießt und hineingeworfen. Und wenn mich nicht alles täuscht, war da auch so etwas wie ein Pfotenabdruck. Der deutet auch auf Leomon hin. Aber davon sind wir doch ohnehin ausgegangen, oder?“ Hikari nickte. „Aber dann seht euch im Vergleich dazu Koushiros Mord an. Es gab auch eine Menge Blut, keine Frage. Das ist, weil der Täter seine Halsschlagader durchtrennt hat – da spritzt angeblich eine ganze Menge Blut.“ Auch wenn Hikari wenig Erfahrung mit Krimis oder Horror-Filmen hatte, so viel wusste sie. „Aber das ist auch seine einzige Wunde. Er war vermutlich sofort tot, weil sein Gehirn zu wenig Sauerstoff erhalten hat. Das heißt, es hat ihn jemand ganz gezielt mit einem Schnitt an der Kehle umgebracht, und sein Körper hat sonst keine Verletzungen erhalten.“ „Jetzt, wo du es sagst …“ Miyakos Blick wanderte nachdenklich nach oben und verlor sich in den Schatten der hohen Saaldecke. „Leomon wirkt auf mich nicht wie der … Typ, der jemandem die Kehle aufschneidet. Nicht mit so einer Präzision.“ „Mimi hat vorhin etwas gesagt, das uns eigentlich zu denken hätte geben müssen“, erinnerte sich Hikari. Das Mädchen zuckte zusammen. „Ich? Wann?“ „Du hast gemeint, du könntest es dir sehr wohl vorstellen, dass Koushiro von diesen Schriftzeichen so abgelenkt war, dass sich jemand an ihn heranschleichen könnte.“ Mimi erwiderte Hikaris Blick misstrauisch. „Ja, und? Ist daran etwas falsch?“ „Ganz und gar nicht. Es ist genau, wie du gesagt hast: Wenn man sich an ihn anschleicht, könnte es sein, dass Koushiro es nicht bemerkt. Wir haben alle schon beobachtet, wie er alles um sich herum vergisst, wenn er die DigiWelt weiter erforscht. Aber Miyako hat erzählt, dass Leomon plötzlich hinter ihr durch das Gebüsch getrampelt ist. Es hat sich nicht die Mühe gemacht, lautlos zu sein. Es ist eine blutrünstige Killermaschine, und es ist körperlich jedem von uns überlegen. Es braucht sich nicht anzuschleichen. Es muss uns nur lange genug verfolgen und dann zustechen. Ich glaube, dass es auch Koushiro frontal angegriffen hätte – wenn es sein Mörder gewesen wäre.“ „Warte mal, das geht mir gerade ein wenig zu schnell“, wehrte Taichi ab. „Leomon ist nicht der Mörder?“ „Nicht der von Koushiro.“ Je weiter Hikari ihre Überlegungen fortführte, desto sicherer war sie sich dieser Sache. Sie hielt unbewusst den Atem an, als ihr noch eine viel unglaublichere Möglichkeit einfiel. „Noch etwas … Was, wenn Iori schon eine ganze Weile tot gewesen wäre? Wenn er Leomons erstes Opfer war? Danach haben wir ihn gesucht, und der Mörder hat sich schließlich an Koushiro herangeschlichen, als dieser gerade abgelenkt war. Wir waren zu der Zeit alle einzeln unterwegs. So passt alles zusammen!“ „Keine üble Gedankenkette“, stellte Daisuke anerkennend fest. „Aber was ist mit der Tatwaffe? Leomon hatte ein Schwert bei sich, mit dem es stechen und schneiden konnte, aber wir?“ „Es könnte ein Messer aus der Küche gewesen sein“, sagte Hikari. „Wir konnten während unserer Ermittlungen nicht mehr in die Villa, um nachzusehen. Wenn der Mörder das alles geplant hat, dann hat er natürlich eine Waffe mitgebracht.“ Daisuke warf einen Blick in die Runde. „Ihr habt Hikari gehört. Wir werden uns am besten gegenseitig untersuchen, ob jemand die Tatwaffe eingesteckt hat.“ „Die Mühe kannst du dir sparen“, sagte Taichi sarkastisch. „Der Mörder hatte ausreichend Gelegenheit, das Ding wegzuwerfen. Vielleicht in eine möglichst tiefe Felsspalte, wo nie jemand einen Blick reinwerfen würde.“ „Also hat Leomon nur einen Mord begangen? Meinst du, dass es doch noch jemanden gibt, der die Gunst der Stunde genutzt hat und schnell jemanden umbringen wollte, und wir doch zwei Mörder suchen?“, fragte Wallace stirnrunzelnd. Hikari schüttelte überzeugt den Kopf. „Nein, Monokuma hat deutlich gemacht, dass es nur einen Mörder gibt. Die Regeln besagen, dass jeder nur zwei Morde begehen kann. Wir haben uns nur in der Reihenfolge geirrt. Monokuma hat Leomon zerstört, nachdem der Mörder Koushiro umgebracht hat – mit eigenen Händen.“ Taichi stieß einen Pfiff aus. „Nicht übel, kleine Schwester.“ „So weit klingt alles logisch“, meinte Daisuke. „Aber ich frage mich doch, ob das Timing in dem Fall zu deiner Theorie passt. Wir sind uns doch mehr oder minder einig, dass man den Laptop braucht, um die Versiegelung zu öffnen, richtig? Wenn Koushiro nach Iori gestorben ist, dann hätte jemand Leomon befreien müssen, obwohl Koushiro seinen Laptop bei sich gehabt hatte. Ihm wäre das doch wohl auffallen.“ „Darauf gibt es eine ganz klare Antwort“, sagte Wallace. „Jaja, ich weiß.“ Daisuke winkte ab. „Der Laptop war eine Weile verschwunden, ehe ihn Koushiro wiedergefunden hat. Also wenn es so war, wie Hikari vermutet, dann hat der Täter ihn entwendet und die Barriere geöffnet. Da sind wir doch einer Meinung, oder? Leomon wäre somit seit gestern Nachmittag frei gewesen und hätte in aller Seelenruhe auf dem Berg herumschlendern können, ehe es endlich ein Opfer findet. Aber der Täter hat den Laptop dann ja offenbar wieder zurückgestellt. Koushiro hat ihn ja wieder gefunden. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass Koushiro – ausgerechnet ihm, wo er doch ohne das Ding kaum leben kann – nicht auffällt, dass ganz groß auf seinem Bildschirm Versiegelung geöffnet steht!“ Das gab Hikari zu denken. Hatte sie irgendwo einen Fehler gemacht? „Wir dürfen auch nicht außer Acht lassen, dass Koushiro vermutlich der Einzige war, der Leomon hätte befreien können“, überlegte Wallace. „So blöd es klingt, niemand von uns ist vermutlich intelligent genug, eine derart komplizierte Verschlüsselung zu knacken, wenn sogar unser Computer-Crack zugegeben hat, dass es ihm zu hoch ist. Ich meine, ich bin auch nicht ganz unbewandert in Computer-Dingen. Ich habe mir schon ziemlich früh Programmieren und dergleichen beigebracht. Aber mit Koushiro kann ich noch lange nicht mithalten, und im Hacken bin ich sowieso miserabel. Bevor ihr fragt, ja, ich habe ihn sogar gefragt, ob er mir den Code zeigt. Ich dachte mir, wenn wir nur Koushiro die Verschlüsselung untersuchen lassen … Naja. Ihr wisst ja.“ „Du warst misstrauisch, dass er nur so getan haben könnte, als ob es wahnsinnig kompliziert wäre, und in Wirklichkeit wären die Digimon mit einem Knopfdruck zu befreien gewesen“, vermutete Hikari. Wallace hob um Verzeihung heischend die Hände. „War nur als Vorbeugung gedacht. Ich habe ihn nicht wirklich verdächtigt. Außerdem hat es mich tatsächlich interessiert.“ „Und?“, fragte Taichi ungeduldig. „Wie Koushiro es gesagt hat. Sehr komplex. Man braucht nicht mal wirklich Programmierkenntnisse dafür, sondern einfach ein gewaltiges logisches Verständnis. Als würde man ein Schachspiel von vorn bis hinten durchplanen und dann jeden möglichen Zug in einen Computer eintippen, ohne einen davon zu vergessen. Oder als würde man eine total komplizierte Rechenaufgabe im Kopf lösen. Das war jedenfalls mein Eindruck von der Verschlüsselung. Also entweder kann man das, oder man ist ein Profi-Hacker, der auf Wege kommt, die mir nicht eingefallen sind.“ „Dann wären wir wieder bei Koushiro.“ Taichi kratzte sich im Nacken. „Keine Ahnung, wie er im Kopfrechnen war, aber wenn es um Programme und Computer und Codes ging, hatte er klar die Nase vorn. Das heißt, all unsere Überlegungen bisher waren für die Katz. Warum auch immer er es getan haben soll – offenbar hat Koushiro selbst Leomon befreit. Vielleicht hat er auch einfach nicht erwartet, dass wir einen Blick auf den Bildschirm erhaschen könnten, und das Programm deshalb ein paar Stunden geöffnet gelassen.“ „Um sich dann selbst in Gefahr zu bringen?“, fragte Wallace stirnrunzelnd. „Und wie gesagt, niemand würde so etwas Riskantes einfach auf dem Laptop stehen lassen.“ „Ah! Dann weiß ich es!“ Taichi sah aus, als hätte er eben einen gedanklichen Durchbruch erlebt. „Das Programm musste offen bleiben! Hätte er es geschlossen, wäre Leomon wieder versteinert. Kann es nicht so gewesen sein?“ Hikari unterdrückte den Drang, zu Monokuma zu schielen, aber Miyako murmelte: „Nein. Das war ein ganz normales Programm, das wird ausgeführt und tut dann etwas, und irgendwann ist es damit fertig. Was wir gesehen haben, war einfach nur die Bestätigung, dass es funktioniert hat.“ „In erster Linie hat das Programm ja einen digitalen Code geknackt und die Versiegelung dadurch geöffnet. Den Kristall wieder aufzubauen, hätte sicher ein ganz anderes Programm erfordert“, sagte Wallace. „Wie ihr meint – dann her mit euren Erklärungen“, schnaubte Taichi beleidigt. Hikari fasste wieder Miyako ins Auge. Als das Gespräch wieder auf das Programm gelenkt worden war, schien sie irgendwie … nervös geworden zu sein. Sie sah niemandem mehr in die Augen und knetete ihre Finger. Außerdem hatte ihre letzte Erklärung regelrecht duckmäuserisch geklungen – so etwas war man gar nicht von ihr gewohnt. „Was ist los, Miyako?“, fragte Hikari. „W-was?“ Das Mädchen zuckte zusammen. „Was soll sein?“ „Naja, du wirkst, als würde dich etwas beschäftigen. Oder als wüsstest du irgendetwas, das du uns vorenthältst.“ „Ach, echt?“ Miyako lachte verlegen. „Sorry, ich bin nur ein wenig müde. Hab schlecht geschlafen, und dann die Sache mit Leomon … und die Morde …“ Doch Hikari gab nicht auf. „Vorher, als wir schon mal über Koushiros Laptop geredet haben, da hast du doch gemeint, dir wäre noch eine Kleinigkeit eingefallen.“ „Ich erinnere mich“, sagte Daisuke. „Etwas über Leomons Schwert, nicht?“ „Das hat Miyako behauptet.“ Hikari ließ ihre Freundin bei diesen Worten nicht aus den Augen. „Aber ich glaube, sie hat ursprünglich etwas anderes sagen wollen. Es war ein so krasser Themenwechsel, als hätte sie sich verplappert und wollte unbedingt von etwas anderem ablenken.“ „Spuck’s aus, Miyako“, sagte Wallace grinsend. „Du siehst eindeutig ertappt aus. Das schlechte Gewissen steht dir förmlich ins Gesicht geschrieben.“ Miyako kaute auf ihrer Lippe herum. „Es war wirklich nichts …“ „Hast du Koushiro umgebracht?“, fragte Mimi hart. „Was? Nein!“, empörte Miyako sich. „Dann hast du nichts zu befürchten. Also sag uns, wenn dir was aufgefallen ist. Wenn wir den Fall nicht lösen, sterben wir alle. Das willst du doch nicht, oder?“ Aha, dachte Hikari. Mimi konnte offenbar auch anders. Miyako atmete tief durch. „Na schön … Ich hab mir das Programm auf Koushiros Laptop ein wenig genauer angesehen, als wir seine Leiche untersucht haben. Ich habe es … ein zweites Mal ausgeführt.“ „Bist du verrückt?“, entfuhr es Taichi. „Wegen dem Ding wären wir beinahe draufgegangen! Was, wenn dieses Mal Devimon erwacht wäre?“ „Reg dich ab und lass sie ausreden“, sagte Daisuke. Miyako spielte wieder mit ihren Haarsträhnen. Sie wirkte wie ein Kind, das seiner Mutter gerade beichtete, an die Zuckerdose gegangen zu sein. „Ich weiß, es war vielleicht dumm … Aber ich habe damit gerechnet, dass dieses eine Programm nur für Leomon war. Sonst wäre Devimon schon beim ersten Mal mit ihm erwacht. Und Leomon war zu dem Zeitpunkt ja schon tot. So ein Programm tut schließlich immer dasselbe – es öffnet sicher nicht zufällig eines der beiden Kristallgefängnisse.“ Taichi wirkte etwas beruhigt. „Das war trotzdem leichtsinnig.“ „Jetzt weiß ich, was du an dem Laptop gemacht hast“, sagte Wallace locker. Hikari erinnerte sich, dass sie mit ihm und Jou zusammen unterwegs gewesen war. „Und ich dachte, du wolltest die Blutspritzer auf den Tasten untersuchen oder so.“ „Du hast gewusst, dass sie mit dem Ding herumhantiert hat, und hast bis jetzt damit hinter’m Berg gehalten?“, fragte Taichi gereizt. Wallace zuckte mit den Schultern. „Ich dachte mir nicht, dass sie damit noch etwas Schlimmes anrichten könnte.“ „Und es ist ja auch nichts passiert, also hör endlich auf, dich so aufzuregen“, sagte Mimi leise zu Taichi. „Ich soll aufhören, mir um euch Sorgen zu machen?“ Er klang fassungslos. „Wenn wir hier einen Fehler machen, sterben wir! Hast du selbst eben erst gesagt! Ich hab mir geschworen, euch alle hier rauszubringen, und das habe ich verdammt noch mal auch vor!“ Die Offenbarung kam nicht überraschend für Hikari, aber seine Worte berührten sie trotzdem. Er war so unausstehlich während des Prozesses, weil er mit aller Macht versuchte, sie in die Freiheit zu führen. „Hast du auch irgendetwas über das Programm herausgefunden, als du es erneut gestartet hast?“, brachte Jou das Gespräch wieder auf Kurs. „Allerdings. Das Programm läuft nur ein paar Sekunden lang. Ein paar Berechnungen laufen durch, und dann schreibt es auch schon Versiegelung geöffnet hin. Obwohl die Versiegelung bereits geöffnet war, war das die letzte Meldung. Ich schätze, es zeigt einfach den Status der Kristallbarriere an und nicht, ob sie gerade jetzt geöffnet wurde.“ „Mich überrascht, dass du dich mit Computern so gut auskennst“, meinte Daisuke und ließ eine Augenbraue hochwandern. „Ich hätte nicht gewusst, wie ich das Programm starte.“ „Das war echt nicht schwierig“, winkte Miyako hastig ab. „Es war ziemlich gut in den Ordnerstrukturen auf der Festplatte versteckt, aber da das Fenster offen war, als wir den Laptop gefunden haben, wusste ich, wie das Programm heißt, und konnte es recht schnell finden.“ „Trotzdem, ich hätte es dir gar nicht zugetraut.“ Miyako schoss einen vernichtenden Blick auf ihn ab. „Jawohl, Mister Motomiya, ich kenne mich auch mit Computern aus, stell dir vor. Vielleicht nicht so gut wie Koushiro, aber ich hab tatsächlich was mit Technik am Hut.“ „Verstehe“, sagte Wallace, der mal wieder nur für den weiblichen Teil der Gruppe so viel Verständnis aufbrachte. „Darum wolltest du zuerst auch nichts sagen. Wenn wir dahintergekommen wären, dass du dich auch mit Computerprogrammen auskennst, hätten wir dich verdächtigt, die Verschlüsselung geknackt zu haben.“ Sie nickte unglücklich. „Das war ziemlich unverantwortlich“, tadelte Taichi, aber er riss sich zusammen und klang dabei sogar versöhnlich. „Wir müssen alle Fakten berücksichtigen, die wir in die Finger kriegen.“ „Ich weiß“, murmelte Miyako. „Tut mir leid.“ „Das heißt also, das Programm war ein Fake?“, fragte Daisuke. „Weil es so schnell durchgelaufen ist? Hat am Ende etwas anderes als Koushiros Laptop Leomons Versiegelung durchbrochen?“ Miyako schüttelte den Kopf. „Es war eindeutig dieses Programm. Die wahre Kunst bestand darin, es zu schreiben. Wie Wallace schon gesagt hat, mehr als ein paar Zeilen musste man nicht programmieren, aber man musste dafür schon die Verschlüsselung geknackt haben. Wenn man es ausführt, sendet es einfach nur das Signal an den Kristall. Darum war es so schnell abgearbeitet.“ Sie überlegte. „Ihr könnt euch das in etwa so vorstellen. Das Programm ist ein Schlüssel. Man muss wirklich gewitzt sein und hart arbeiten, bis man ihn so geformt hat, dass er ins Schlüsselloch passt. Wenn man das Programm ausführt, ist das so, als würde man ihn einfach nur mehr im Schloss herumdrehen.“ „Und … hilft uns diese Erkenntnis jetzt weiter?“, fragte Mimi vorsichtig. Hikari ging ihre mentale Zusammenfassung der Ereignisse durch. „Allerdings. Das bedeutet nämlich, dass das Programm nicht die ganze Zeit über auf dem Laptop geöffnet gewesen sein musste. Wir haben ja schon vermutet, dass gar nicht Leomon Koushiro getötet hat. Was, wenn der wahre Täter Leomon tatsächlich schon gestern befreit hat, nachdem er Koushiros Laptop gestohlen hat? Er hat das Programm geschrieben, einmal ausgeführt und es dann wieder geschlossen und in den Tiefen des Laptopspeichers versteckt. Koushiro hat das nicht bemerkt. Und heute hat er sich an Koushiro herangeschlichen, ihm mit einem Küchenmesser die Kehle aufgeschlitzt und das Programm anschließend wieder gestartet. Es hat nichts mehr bewirkt, weil die Versiegelung längst offen war, aber es sollte so aussehen, als hätte Koushiro kurz vor seinem Tod Leomon befreit.“ „Nicht übel, Schwesterchen“, meinte Taichi anerkennend. „Du wiederholst dich“, sagte sie augenrollend. „Ich versuche einfach nur mein Bestes.“ „Dann stehen wir immer noch vor dem Rätsel, wer es denn nun war“, sagte Wallace. „Wer hat Koushiro umgebracht? Und wer wäre überhaupt in der Lage, diesen Code zu knacken?“ „Ich kann bestätigen, dass das Programm wirklich unglaublich kompliziert war“, schaltete sich Miyako ein. „Ich habe selbst nicht verstanden, was genau es tut. Monokumas Code muss wirklich eine harte Nuss gewesen sein.“ Hikari seufzte. Egal, wie nahe sie der Wahrheit auch kamen und wie viele Entdeckungen sie in diesem Fall machten, sie kamen also immer wieder an diesen einen Punkt zurück, dass nur Koushiro die Versiegelung hätte öffnen können. Aber wie passte das ins Bild? Hatte er sich mit dem Täter abgesprochen? Laut Monokumas Regeln waren Leomons Befreier und Koushiros Mörder ein- und dieselbe Person – sonst hätte er das Löwenungeheuer nicht in die Luft gejagt. Koushiro hatte sich doch wohl nicht selbst umgebracht, oder? Sie hörte zu, wie die anderen diese Möglichkeiten ebenfalls diskutierten. Dabei fiel ihr etwas auf, was sie schon die ganze Zeit gestört hatte – seit Beginn des Klassenprozesses. Es war immer nur ein Gefühl gewesen, hatte sich am Rande des Wahrnehmbaren versteckt … Aber je länger der Prozess dauerte, desto greifbarer wurde es. Und als sie den anderen jetzt lauschte, wurde das Gefühl plötzlich zu Gewissheit. Einer von ihnen verhielt sich, seit der Prozess begonnen hatte, anders als sonst. Als wäre die Veränderung erst in der Anklagerunde wirklich spürbar geworden. Hikari grub in ihren Erinnerungen, schürfte nach den früheren Geschehnissen auf der Insel. Als sie meinte, fündig geworden zu sein, wurde ihr so schwindlig, dass sie sich am Geländer ihrer Anklagebucht festhalten musste. Das ist es, dachte sie. Natürlich. „Ich muss euch etwas sagen“, schnitt sie in die Diskussion. Plötzlich schwitzte sie so stark, dass ihr ihre Haare auf der Stirn klebten. Sie strich sie nervös zur Seite. „Ich glaube, ich habe … einen ziemlich konkreten Verdacht. Ich glaube, ich weiß, wer es war.“ Sie sah dieser Person fest in die Augen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)