DigiRonpa von UrrSharrador (Mut. Freundschaft. Liebe. Wissen. Ehrlichkeit. Zuverlässigkeit. Licht. Hoffnung ... Verzweiflung.) ================================================================================ Fall 02: Klassenprozess II -------------------------- „Du … du verscheißerst uns doch gerade“, murmelte Daisuke fassungslos. „Was Iori da aus deinem Reisetagebuch vorgelesen hat, sind deine einzigen Erinnerungen?“ Takeru zuckte unglücklich mit den Schultern und schwieg. Hikari fühlte sich ganz hibbelig. Das war doch wohl unmöglich … Takeru erinnerte sich an nichts außer … Bedeutete das etwa …? „Hast du … Hast du einen Schlag auf den Kopf bekommen?“, fragte Miyako. Er starrte sie an, als wäre ihm der Gedanke noch gar nicht gekommen, und betastete seinen Hinterkopf. „Ich weiß nicht … Ich habe da schon eine Beule, aber kann man dadurch Dinge vergessen?“ „Takeru“, murmelte Hikari. Ihre Stimme zitterte. „Weißt du noch, als wir uns am Abend bei der Festtafel getroffen haben? Erinnerst du dich an unser Gespräch?“ An seinem ratlosen Blick erkannte sie die Antwort. „Die Pilze“, sagte Koushiro überzeugt. „Das müssen die Iss-mich-und-du-vergisst-alles-Pilze gewesen sein.“ „Haben im Lagerhaus denn welche gefehlt?“, fragte Miyako. „Schwer zu sagen. Die lagen recht locker in dieser Obsttrage …“, meinte Wallace. „Aber es ist gut möglich.“ „Hast du die gegessen?“, rief Daisuke. Alle Wut und alle Ablehnung waren aus seiner Stimme verschwunden. Er klang ehrlich entsetzt. Takeru hob nur die Schultern. „Das kommt ihm doch zu gelegen, oder?“, fragte Iori. „In so einer Situation das Gedächtnis zu verlieren. Natürlich. Wir können nicht überprüfen, ob das die Wahrheit ist.“ Doch, dachte Hikari. Sieh in seine Augen, dann weißt du es. Aber so etwas ließen die anderen unmöglich als Beweis gelten. Wallace lachte plötzlich. „Das ist nicht gerade witzig“, fuhr Taichi ihn an. „Entschuldige“, gluckste der Amerikaner, „ich kann nicht anders, ich finde es so ulkig … Takeru, sag uns mal, was das Letzte ist, an das du dich noch genau erinnerst.“ Takeru überlegte. „Ich war in meinem Haus. Ich wusste nicht, dass es mein Haus ist und dass wir in der Spielzeugstadt sind … Ehrlich gesagt wusste ich überhaupt nichts. Dann habe ich auf meinem Schreibtisch mein Tagebuch gefunden. Ich war wirklich erleichtert. Hätte ich nicht aufgeschrieben, was wir hier erlebt haben, hätte ich überhaupt keinen Anhaltspunkt gehabt. Ich wusste im ersten Moment nicht mal meinen eigenen Namen.“ „Ich hätte noch eine Frage, Monokuma“, sagte Wallace. „Kann man durch diese Pilze wirklich all diese Sachen vergessen, sich aber trotzdem daran erinnern, was ein Haus oder ein Schreibtisch ist? Und Lesen verlernt man dadurch auch nicht?“ „Du bist da ja wirklich sehr genau“, stellte Monokuma fest. „Es ist, wie du es sagst. Wir können später noch eine Extrastunde zu den Iss-mich-und-du-vergisst-alles-Pilzen machen, aber du hast damit Recht. Man vergisst, wer man ist und was man getan hat, aber solche Sachen wie Fahrradfahren bleiben einem im Gedächtnis.“ „Also könnte es rein theoretisch wahr sein.“ „Das heißt, dass Takeru unschuldig ist?“ Miyako kratzte sich am Kopf. „Nein, oder? Oder doch? Tut mir leid, ich weiß im Moment überhaupt nicht mehr, wonach wir eigentlich Ausschau halten.“ „Takeru wurde quasi unter Drogen gesetzt. So gibt er natürlich einen perfekten Sündenbock ab“, überlegte Iori. „Aber wer soll es sonst gewesen sein?“ Takeru zitterte. „Vielleicht … war ich es ja wirklich“, sagte er leise. „Man kann es ja nicht ausschließen …“ „Wo genau in deinem Zimmer warst du, zu der Zeit, als du dich wieder erinnern konntest?“, fragte Koushiro. „Auf dem … Auf dem Boden. Und ich hatte Kopfweh.“ „Und hast du nicht gesagt, du hättest eine Beule?“ Takeru nickte. „Und wann war das?“ „Ich bin mir nicht sicher. Ich hab nicht auf die Uhr gesehen, aber draußen war es dunkel.“ „Dann wurde Takeru eindeutig von jemandem niedergeschlagen und ihm wurden die Pilze gewaltsam eingeflößt“, kombinierte Mimi. „Jemand hat ihm die Pilze den Hals runtergeschoben? Das zeigst du mir“, schnaubte Daisuke. Sie verdrehte die Augen. „Dann hat sie jemand eben einfach zermixt und mit Wasser versetzt. In unseren Küchen gibt es ja genug Werkzeug, um die Dinger kleinzuschneiden und zu zermatschen.“ „Mit Wasser … oder mit Cola“, sagte Hikari. „Das würde den Fleck auf seinem Hemdkragen erklären … wenn es nicht noch der von vor ein paar Tagen ist. Und laut der Beschreibung im Lagerhaus braucht es nur eine ganz kleine Dosis, damit man sein Gedächtnis verliert.“ „Und wer hat Takeru das angetan? Der Täter?“, fragte Miyako. „Warum hat er dann nicht gleich Takeru ermordet, als er bewusstlos war? Warum hat er stattdessen noch Yamato aus seinem Haus gelockt und ihn dann umgebracht?“ „Vielleicht, weil er einen Sündenbock brauchte?“, meinte Wallace. „Irgendetwas übersehen wir“, brummte Koushiro. „Da muss noch ein Hinweis sein. Etwas ist in dieser Nacht noch geschehen, aber ich komm einfach nicht drauf“, murmelte Iori. Jou kratzte sich am Kinn und sein Blick war abwesend. Hikari hatte diesen Ausdruck auch schon das letzte Mal gesehen. Er hatte etwas Nützliches beizutragen, war sich dessen aber nicht sicher. Es war garantiert gut, alle Meinungen zuhören. „Jou, dich beschäftigt doch was, oder? Lass hören, was überlegst du dir?“ „Naja, mich beschäftigt das Messer, das wir gefunden haben“, murmelte er. „Was ist damit? Spuck‘s schon aus“, forderte Taichi ihn auf. „Wir wissen, dass die Klinge ihn verletzt hat. Sie war ja mit seinem Blut verschmiert. Aber das Heft war auch blutig – wieso?“ „Wieso auch nicht? Wenn man blutet, blutet man doch sicher über die ganze Waffe“, war sich Daisuke sicher. „Aber so viel Blut war an Yamatos Hemd nicht. Die Wunde war wirklich nicht tief. Es wäre nicht so viel über das Messer gelaufen.“ Hikari fiel etwas ein. „Seine Hand war auch blutig, obwohl keine Wunde zu sehen war. Fast so, als ob …“ Und hinter ihrer Stirn rastete etwas ein. „Als ob er das Messer selbst in der Hand gehabt hätte, nachdem er die Hand auf seine Wunde gepresst hatte!“ „Du meinst, er hat versucht zurückzuschlagen, ehe er gestorben ist?“ „Nein, eher dass …“ Sie konnte nicht weitersprechen. Es war einfach zu unvorstellbar, zu weit hergeholt, aber … Hikari fing neu an. „Wir haben das Messer hinter Mimis Haus gefunden. Ein weiterer Versuch, es Mimi in die Schuhe zu schieben. Aber wenn Yamato seinem Mörder das Messer entrissen hätte …“ „Wäre er trotzdem gestorben. Das Gift“, erinnerte Taichi. „Das meine ich nicht.“ Es fiel ihr immer noch schwer, ihre Schlussfolgerungen auszusprechen, obwohl sie in ihrem Kopf nachvollziehbar klangen. Koushiro sprang ihr bei. „Wenn Yamato dem Mörder das Messer entrissen hätte, dann gestorben wäre, und der Mörder das Messer anschließend wieder an sich genommen und hinter Mimis Haus weggeworfen hätte, dann wäre auf dem Griff nicht mehr so viel Blut gewesen. Wolltest du das sagen, Hikari?“ „Genau.“ „Augenblick mal. Auszeit.“ Taichi rieb sich die Augen, als hätte er stundenlang ferngesehen. „Kann es nicht sein, dass trotzdem ein wenig Blut am Griff kleben bleibt?“ „Es war aber wirklich viel Blut darauf. Es sah nicht so aus, als hätte noch jemand das Messer in der Hand gehabt.“ „Und wenn er es mit spitzen Fingern angefasst hat?“ Koushiro unterbrach ihren geschwisterlichen Dialog. „Falls nicht, kann das jedenfalls nur bedeuten, dass Yamato das Messer selbst hinter Mimis Haus gelegt hat, ehe er vor ihrer Tür zusammengebrochen ist.“ „Eben, und das ist hirnrissig“, sagte Tai. War es das? Ja, eindeutig. Hikari stimmte mit ihrem Bruder darin überein, dass der Gedanke vollkommen verrückt war, aber war er deshalb falsch? „Mir geht da noch etwas anderes nicht aus dem Kopf“, sagte Koushiro. „Takeru hat Yamato einen Drohbrief geschrieben, um Mimi zu belasten. Dann hat jemand Takeru in seinem Haus angegriffen, ihn niedergeschlagen und ihm die Pilze eingeflößt. Und jemand hat Yamato ermordet und wiederum das Messer so platziert, als wäre Mimi die Täterin. Wie passt das alles zusammen? Es ist fast so, als hätten hier mehrere Leute dieselbe Idee gehabt.“ „Vielleicht war es ja auch so!“ rief Daisuke impulsiv. „Wer sagt, dass es nur einen Täter gibt? In den ganzen Krimis gibt es ja auch oft Komplizen!“ „Es ergibt keinen Sinn, mit jemandem zusammen einen Mord zu planen“, sagte Wallace sofort. „Nur der Mörder kommt frei, während alle anderen sterben, wenn sie ihn nicht enttarnen. Und der Mörder ist derjenige, der letzten Endes den Tod des Opfers ausgelöst hat. Ist doch so, oder?“ „Präziso-präzuso“, erklärte Monokuma fröhlich. „Aber es können immer noch mehrere Mörder jeder für sich versucht haben, jemanden umzubringen“, meinte Daisuke überzeugt. „Ohne von dem jeweils anderen zu wissen.“ „Und beide wollten Mimi beschuldigen? Ziemlich unwahrscheinlich“, erwiderte Iori. „Einen Moment“, sagte Mimi. „Wissen wir überhaupt mit Sicherheit, dass das Gekritzel Takerus Handschrift ist?“ Neun Augenpaare wandten sich ihr verblüfft zu. „Ich meine, er hat doch sein Gedächtnis verloren? Weiß er noch, wie seine Handschrift aussieht? Hat er seitdem versucht, was zu schreiben?“ „Ähm“, war Takerus einziger Kommentar dazu. „Das auszuprobieren, ist jetzt aber echt lächerlich“, meinte Taichi, als Mimi in ihrer Tasche kramte und einen Kuli zutageförderte, den sie ihm zuwarf. Takerus Hand zitterte, als er seinen Namen auf die Rückseite eines seiner Tagebuchzettel schrieb. Iori und Wallace sahen ihm über die Schulter. „Sieht zumindest nach einer anderen Handschrift aus.“ „Also bitte, das ist billig“, beschwerte sich Daisuke. „Als ob er jetzt in seiner normalen Schrift schreiben würde.“ Takeru jedoch wirkte einmal mehr verwirrt. „Aber … bedeutet das, mein Tagebuch … stammt gar nicht von mir?“ „Hab ich’s doch gewusst“, sagte Mimi triumphierend. „Was gewusst?“, stöhnte Taichi. „Muss man euch allen ständig alles aus der Nase ziehen?“ „Denk halt selbst mal richtig mit“, erwiderte sie schnippisch. „Mir ist dieses Tagebuch suspekt vorgekommen. Ich habe auch schon mal Tagebuch geschrieben, aber mir wäre nie in den Sinn gekommen, am Anfang meinen vollen Namen reinzuschreiben und die Schule, auf die ich gehe. Das weiß ich doch im Normalfall sowieso! Und wenn es andere Leute in die Finger kriegen, Gott bewahre, dann brauchen sie das auch nicht zu erfahren! Ich hätte höchstens Mimi geschrieben und halt meine Schule oder meine neue Schule. Und die Leute, die man neu kennenlernt, so aufzuzählen und dabei noch ein paar Auffälligkeiten dazuzuschreiben? Das ist übertrieben, wenn ihr mich fragt.“ „Wenn du etwas übertrieben findest, muss das echt was heißen“, murmelte Taichi und fing sich einen giftigen Blick von ihr ein. „Vielleicht wollte er sichergehen, dass er sich die Namen wirklich merkt“, schlug Iori vor. „Aber ein Tagebuch schreibt man für gewöhnlich abends, wenn der Tag vorbei ist. Und es hört sich auch danach an, als wären die Einträge jeweils am Ende des Tages verfasst worden. Bis zum ersten Abend hatten wir uns doch hoffentlich längst gemerkt, wer von uns wer ist. Schließlich waren wir die ganze Zeit miteinander unterwegs“, gab sich Mimi überzeugt. „Wenn du es so ausdrückst …“, grübelte Koushiro. „Es klingt tatsächlich so, als hätte Takeru gewusst, dass er alles vergessen würde.“ „Weil das Tagebuch nicht von ihm ist! Yamatos Mörder hat ihn niedergeschlagen und ihn alles vergessen lassen! Dann hat er ihm diesen Bericht hingelegt, damit wir nicht gleich merken, was mit ihm los ist. Er hat ihm alles Wichtige aufgeschrieben, was in den letzten Tagen passiert ist. Und im ersten Moment haben wir ja wirklich nichts gemerkt. Und die Serviette hat natürlich auch der Mörder beschriftet.“ „Wow“, machte Miyako. „Das ist echt gut kombiniert, Mimi.“ „Ja, echt gut“, murmelte Taichi anerkennend. Als sie ihn triumphierend anlächelte, fügte er hinzu: „Für jemanden wie dich“, und der nächste böse Blick folgte. „Aber wer würde erst Takeru niederschlagen und dann Yamato ermorden?“, fragte Iori. „Ich bin immer noch dafür, dass wir einfach einen Handschriftenvergleich machen“, sagte Wallace. „Dann haben wir den Täter gleich.“ „Na gut, tun wir’s“, seufzte Taichi. „Dann reizen wir immerhin alle Möglichkeiten aus. Mimi, darf ich bitten?“ Sie gaben den Kuli im Kreis weiter und jeder schrieb sein paar Sätze auf einen Notizzettel. Das Ergebnis war ernüchternd. „Sieht alles ganz anders aus als die Nachricht an Yamato und das Tagebuch“, stellte Taichi fest. „Was für eine Überraschung“, knurrte Daisuke. Hikari war drauf und dran, den Mut zu verlieren. Sie kamen einfach keinen Schritt vorwärts – es war eher, als bewegten sie sich immer weiter vom Täter weg. „Das Motiv“, murmelte sie. „Wenn wir das Motiv herausfinden, finden wir vielleicht auch den Täter.“ „Leichter gesagt als getan“, meinte Miyako. „Wenn es nicht die Telefonzellen waren, was war es dann?“ „Moment mal“, meinte plötzlich Iori. „Takeru kann sich doch an nichts erinnern, oder? Du weißt nicht, dass du mit niemandem gesprochen hast, stimmt’s? Du hast es nur gelesen.“ Takeru nickte unbehaglich. „Der Täter konnte unmöglich wissen, was Takeru am Telefon gehört hat. Und seinen Gesprächspartner kannte er auch nicht. Darum hat er das Tagebuch dahingehend gefälscht, dass Takeru angeblich gar nicht telefoniert hat“, kombinierte Koushiro. „Aber ist das schon alles, was dahintersteckt?“ „Die Gespräche waren wahrscheinlich doch gleich“, meinte Taichi. „Takeru hat ungefähr dasselbe gehört wie wir. Der Mörder durfte aber auch nicht in diesen Bericht schreiben, was er selbst am Telefon gehört hat – das wäre garantiert auch gegen die Regeln gewesen, und außerdem konnte es immer noch sein, dass wir doch alle etwas anderes gehört haben.“ „Gehen wir doch nochmal davon aus, dass der Mörder die Person am Telefon gekannt hat“, schlug Wallace vor. „Wir waren alle schockiert, aber wir hätten niemanden umgebracht, um von der Insel zu fliehen. Aber stellt euch vor, ihr hättet die Person am anderen Ende der Leitung erkannt. Was hättet ihr getan?“ „Ich würde nie einen Mord … begehen“, murmelte Jou, aber mit jedem Wort wurde seine Stimme schleppender. Die anderen schwiegen nachdenklich. „Die Leute, mit denen wir geredet haben, waren weder unsere Eltern, noch Freunde oder Geschwister“, fasste Wallace zusammen. „Wen kann man sonst noch kennen, der einem wichtig ist? Geliebte? Fällt das unter Freunde? Was ist mit Cousins und dergleichen?“ „Warte!“ Mimi zuckte plötzlich zusammen. „Das stimmt nicht. Es hieß nicht, keine Eltern – es hieß, keine Erziehungsberechtigten!“ „Macht das einen Unterschied?“ „Wenn man Eltern hat, die nicht gleichzeitig die Erziehungsberechtigten sind, dann ja“, sagte Mimi bestimmt. „Die wären nämlich von der Regelung ausgenommen.“ Hikari sog scharf die Luft ein. So hatte sie das noch gar nicht gesehen … Was für ein fieser Trick, den Monokuma sich da überlegt hatte! „Ach du Scheiße“, ächzte Taichi. „Das heißt, falls Yamato und Takeru doch Brüder sind …“ „Aber er hat doch gesagt, dass sie keine Brüder … oh“, unterbrach sich Miyako. „Er erinnert sich ja nicht.“ Takeru blinzelte nur irritiert. Wahrscheinlich dachte er gerade angestrengt nach, ob er nicht doch einen Bruder hatte … „Und wenn die beiden Brüder sind, aber einen anderen Familiennamen haben, sind ihre Eltern vielleicht geschieden“, sagte Mimi eifrig. „Und wenn je ein Elternteil für einen der beiden Söhne das Sorgerecht hat, ist der andere Elternteil kein Erziehungsberechtigter!“ „Das ist doch nur eine wilde Theorie“, murmelte Hikari. „Aber sie ist gar nicht so unwahrscheinlich“, behauptete Wallace. „Ich würde es Monokuma zutrauen, so ein Finte zu legen.“ „Wartet, aber hieße das nicht …“ Hikari konnte schon gar nicht mehr zählen, wie oft ihr im Laufe dieses Klassenprozesses ein heißkalter Schauer über den Rücken gelaufen war, doch dieses Mal war er schlimmer als alle vorhergehenden. „Dass Yamato und Takeru die Einzigen waren, die tatsächlich ein Motiv haben könnten“, beendete Iori ihren Satz. „Jeder von ihnen könnte seinen verlorenen Elternteil am Telefon gehört haben, und deswegen könnte auch jeder von beiden verzweifelt versucht haben, von der Insel fortzukommen.“ „Verdammt noch mal, dann ist Takeru ja wirklich der Mörder!“ Daisuke raufte sich die Haare. „Das heißt dann wohl, er hat die Pilze selbst gegessen, damit er sich nicht verraten kann! Wahrscheinlich, um sein Gewissen zu beruhigen.“ „Nicht so schnell. Da passt immer noch etwas nicht zusammen“, sagte Koushiro. „Angenommen, der Vater würde bei Matt leben und die Mutter bei Takeru. Wenn Takeru nun mit seinem Vater telefoniert und den Entschluss gefasst hat, jemanden umzubringen, um von hier wegzukommen – warum hat er dann ausgerechnet Yamato ermordet? Ausgerechnet seinen Bruder?“ „Es würde so aber alles Sinn ergeben“, überlegte Miyako. „Ich meine, wenn Takeru doch die Nachricht geschrieben hat, um Yamato herauszulocken. Und sich selbst das Tagebuch geschrieben hat, damit er nicht ganz von Null anfangen muss, nachdem er die Pilze geschluckt hat.“ „Aber was ist mit seiner Beule?“, fragte Iori. „Tarnung“, brummte Daisuke. „Vergesst die Beule“, knurrte Taichi. „Die beiden waren ja wohl kaum so schlechte Kerle, dass sie ihren Bruder umbringen könnten! Allein die Vorstellung ist absurd!“ „Im Endeffekt würde es keinen Unterschied machen“, sagte Wallace. „Sobald einer von ihnen einen Mord begeht und beim Strafprozess ungeschoren davonkommt, werden alle anderen getötet, inklusive dem Bruder, den sie verschont haben.“ „Klar, aber es ist noch mal eine ganze Ecke härter, den eigenen Bruder selbst umzubringen!“ Taichi bedachte Hikari mit einem harten Blick. „Ich meine, wenn ich draufkäme, dass Hikari jemanden umgebracht hat, würde ich sie trotzdem beschützen, und meinetwegen sterbe ich dafür, dass sie freikommt.“ Hikari schluckte bei dem Gedanken … und plötzlich wusste sie die Antwort. Sie öffnete den Mund, wagte es aber nicht, zu sprechen. Ihr ging durch den Kopf, welche Auswirkungen es haben würde, wenn sie ihre Gedanken nun laut aussprach. Wenn die betreffende Person tatsächlich überführt wurde … dann würde Monokuma sie umbringen, wie er Ken umgebracht hatte … diese Person, die gar nichts für den Mord konnte … Aber ansonsten würden sie alle sterben. Was war das nur für eine hoffnungslose Situation? Das konnte doch wohl nur ein schlechter Scherz sein! Sie sollte einen Unschuldigen ausliefern, damit die anderen überlebten und dieses kranke Spiel weiterging … Mit einem Mal krallte sie die Hände in ihr Haar und schrie laut auf. Die anderen zuckten zusammen. „Hi-Hikari … Was ist los?“, fragte Daisuke verdattert, als er sie so sah. Sie blickte ihn voller Qual an. „Ich weiß es“, hauchte sie. Tränen stiegen in ihre Augenwinkel. „Takeru, erinnerst du dich daran, was wir damals auf dem Hauptplatz besprochen haben?“, flüsterte sie, obwohl sie die Antwort bereits kannte. „Wir haben über Hoffnung gesprochen …“ Wo war die Hoffnung nun hin? Sie wollte plötzlich einfach einschlafen und in einer Welt aufwachen, die freundlicher war. „Was denn? Jetzt red‘ schon, was hast du rausgefunden?“, drängte Miyako sie aufgeregt. „Die Wahrheit“, schluchzte sie. Sie versuchte gar nicht erst, die Tränen zu verbergen, die über ihre Wangen rollten und auf das Holz der Brüstung vor ihr tropften. Es war ihr egal, dass die anderen sie so sahen – es könnte ihr nicht egaler sein, was noch alles passierte! Nur die beiden Schicksale, die sie erwarteten, bedeuteten ihr etwas, und das eine schloss das andere aus, und sie waren beide gleich schrecklich! Sie biss die Zähne zusammen. „Die brutale, traurige, bittere Wahrheit … Ich bring es nicht über mich, ich kann das nicht sagen …“ „Mach schon“, herrschte Taichi sie an. „Erzähl uns davon! Sonst sterben wir alle!“ „Ich weiß!“, jammerte sie. „Aber das ist auch keine Entschuldigung! Denn der Mörder … Yamatos Mörder … Er weiß wirklich nicht, was er getan hat, er hat keine Ahnung!“ Mit einem Schlag war es totenstill. Nur Hikaris Schluchzen war zu hören, die sich langsam von ihrem Ausbruch erholte. Die anderen waren allesamt erbleicht, und nach und nach ging ihnen auf, was sie meinte. Ihre Blicke wanderten einmal mehr zu Takeru. „Takeru hat ihn getötet“, schluchzte Hikari und presste sich die Hand vor den Mund, als könnte sie ihre Worte dadurch irgendwie abmildern. „Aber er wollte es nicht. Es war alles Yamatos Plan.“ „Wie jetzt, was?“, rief Daisuke aus. „Was soll das heißen, sein Plan? Er hatte doch wohl nicht vor, ermordet zu werden?“ „Doch“, presste Hikari hervor. Wieder herrschte Stille. „Du meinst … Yamato war derjenige, der mit, sagen wir, seiner Mutter telefoniert hat?“, fragte Jou entgeistert. Hikari nickte fahrig. „Taichis Bemerkung eben hat mich darauf gebracht … Yamato hat gewusst, mit wem er gesprochen hat. Seine Mutter war nicht seine Erziehungsberechtigte, aber es war immer noch seine Mutter. Er wollte ihr unbedingt zu Hilfe kommen, aber dafür hätte er jemanden umbringen müssen. Und im Anschluss daran hätten alle anderen sterben müssen, auch sein kleiner Bruder.“ Hikari scherte sich nicht mehr darum, ob sie geheime Informationen zu den Telefonaten preisgab oder nicht, sie redete einfach weiter. „Also hat Yamato beschlossen, stattdessen seinem Bruder zur Freiheit zu verhelfen. Er hat alles so eingefädelt, dass Takeru einen Mord begeht und anschließend den Strafprozess überlebt … damit er seine Mutter retten kann!“ „Dann hat also Yamato diese Nachricht …“, murmelte Taichi. Hikari hätte sich nicht elender fühlen können, nickte aber. „Er hat sie selbst geschrieben. Er hat versucht, den Strafprozess zu beeinflussen, indem er Mimi als mögliche Täterin vorschob. Er hat einen Brief von ihr gefälscht und in sein Haus gelegt – dorthin, wo wir ihn leicht finden würden.“ „Seine Haustür war nicht abgesperrt, wenn ich mich richtig erinnere“, murmelte Koushiro. „Verstehe. Er wollte, dass wir ohne Probleme diese Nachricht finden.“ „Er hat ein … Tut mir leid, ich kann nicht mehr.“ Hikaris Stimme drohte zu versagen, aber sie hatte bereits genug gesagt. Der Stein war ins Rollen gebracht worden, und die anderen konnten sich den Rest selbst zusammenreimen. „Er hat die Pilze aus dem Lagerhaus zermatscht und in eine Colaflasche gemischt. Dann hat er ein Messer aus seiner eigenen Küche genommen und mit Monokumas Gift getränkt. Mit diesen beiden Dingen ist er zu Takerus Haus gegangen“, sagte Wallace. „Der hat seinem Bruder natürlich bereitwillig geöffnet. Wahrscheinlich hat Yamato ihm sogar von der Cola angeboten – und Takeru hatte keinen Grund, sie abzulehnen. Und dann hat die Tragödie angefangen. Das meintest du damit, dass er unschuldig, ist, oder, Hikari?“ Sie nickte. Mimis Augen waren tellergroß. „Das heißt, er hat Takeru die Iss-mich-und-du-vergisst-alles-Pilze zu trinken gegeben, damit er seine Erinnerungen verliert? Da schon? Aber wieso?“ „Ganz einfach“, sagte Taichi bitter. „Damit Takeru ihn nicht mehr erkennt. Er muss total verwirrt gewesen sein, nachdem er einen Schluck getrunken hat. Plötzlich war er in einem fremden Haus, konnte sich an nichts mehr erinnern … und Yamato hat das Messer ausgepackt und so getan, als wollte er auf ihn losgehen.“ Taichi wischte sich über die Stirn und ließ dann die Hand gleich dort, bedeckte seine Augen. „Ich fass es nicht … Yamato … Du Vollidiot.“ „Takeru wird sich gewehrt haben“, fuhr Wallace fort. „Yamato hat sich das Messer entreißen lassen und sich dann auf Takeru gestürzt, sodass dieser ihn im Affekt damit verletzt hat. Monokumas Gift wirkt angeblich erst nach fünf Minuten – so viel Zeit hatte Yamato noch für seinen Plan. Er muss es noch geschafft haben, Takerus Kopf gegen die Wand oder gegen den Boden zu schlagen, damit dieser das Bewusstsein verliert. Als er ohnmächtig war, hat er ihm nochmal einen Schluck von der Pilzlimonade gegeben, damit er sich nicht an den Mord erinnert. Dann hat er das Reisetagebuch, das er im Vorhinein angefertigt hatte, auf Takerus Schreibtisch platziert, damit sein Bruder wenigstens ein paar Anhaltspunkte hat, wenn er wieder aufwacht. Natürlich hat er darin mit keinem Wort erwähnt, dass sie verwandt sind. Anschließend ist er getürmt und hat das Messer hinter Mimis Haus weggeworfen. Er ist noch bis zu ihrer Vordertür gekommen, ehe er zusammengebrochen ist. Ich bewundere gerade seine Idee.“ „Das wollen wir jetzt überhört haben“, sagte Mimi scharf. „War es so?“, fragte Iori Monokuma. „Ist es so in der Art abgelaufen?“ „Puhuhu, das kann ich euch nicht sagen, ehe ihr nicht abgestimmt habt“, erklärte der Bär. „Es passt aber alles zusammen. Das Blut auf dem Messer, die Flecken auf Takerus Hemd, der Brief mit derselben Handschrift wie Takerus Tagebuch … So könnte es tatsächlich gewesen sein“, sagte Jou. „Scheiße.“ Selbst Daisuke, der Takeru ständig verteufelt hatte, wirkte geknickt. „Das ist echt … gemein.“ Takerus eigene Miene war bei jedem Wort verzweifelter geworden. „Das ist ein Scherz, oder?“, hauchte er. „Ich habe einen Bruder? Und ich habe ihn umgebracht? Ich … ich hatte ja keine Ahnung! Ich … ich hab das nicht getan, das müsst ihr mir glauben!“ „Leider ist es sehr wohl möglich“, sagte Taichi traurig. Takerus Blick glitt über alle Versammelten. Hikari hätte es nicht ertragen, wenn er länger als nötig auf ihr verharrt wäre, doch das tat er nicht. Was immer zwischen ihnen gewesen war, diese angenehme Verbundenheit, die sie bei ihrem Gespräch gefühlt hatte … es war nicht mehr. Ausgelöscht von diesen Pilzen. Ausgelöscht von Takerus eigenem Bruder. Monokuma hatte versprochen, dass sie jedwede durch die Pilze verlorene Erinnerung wiedererlangen würden, sobald sie von der Insel fortkämen. Yamato hatte es seinem Bruder wegen der Telefonzellen-Regel nicht mitteilen können, aber er hatte darauf gesetzt, dass Takeru sich an sein eigenes Telefonat erinnerte und den Sinn hinter der Tat seines Bruders erkannte, und dass er im Anschluss nach seiner Mutter suchte. „Aber müsste nicht auch das Tagebuch blutig sein, wenn Yamato den Messergriff schon verschmiert hat?“, wagte Miyako noch einen Einwand. „Nicht unbedingt“, sagte Iori. „Vielleicht hat er den Zettel mit der Linken hervorgeholt, oder er hat später beide Hände auf die Wunde gepresst, weil der Schmerz unerträglich wurde … Ich bin sicher, wenn wir in Takerus Haus gehen, würden wir irgendwo die Colaflasche finden.“ „Ihr müsst gar nicht so weit gehen … Da war wirklich eine Flasche in meinem Zimmer, als ich aufgewacht bin … O Gott …“ Takeru vergrub das Gesicht in Händen. „Und eine Nachricht.“ „Das Tagebuch“, vermutete Taichi. „Nein, noch eine andere Nachricht … Ich wusste nicht, von wem sie ist, ich hab auch gar nicht auf die Handschrift geachtet, aber es war sicher dieselbe … Ich war so verwirrt …“ Er sah aus, als würde er gleich zu weinen beginnen. Es brach Hikari das Herz. Mit zittriger Stimme fuhr Takeru fort. „Es war eine Anweisung. Ich sollte, egal was passiert, nicht verzweifeln. Ich würde mich bald wieder an alles erinnern, hat er mir versprochen. Dazu sollte ich nur möglichst unauffällig sein. Ich sollte mein Tagebuch lesen, und es wäre in dieser Nacht noch einer von den Leuten, von denen es erzählt, gestorben, aber ich sollte mich nicht zu sehr damit auseinandersetzen. Und ich sollte die Nachricht vernichten und das Tagebuch gleich mit, sobald ich es gelesen habe … Und meine Kleidung auf Schmutz untersuchen. Wenn sie wo rote Flecken hätte, wäre das wegen einem Streich von einem von euch, und ich sollte jedes betroffene Kleidungsstück entsorgen, weil mir sonst jemand etwas anhängen würde. Ich war in Unterwäsche, als ich aufgewacht bin, gerade fertig zum Schlafengehen, und mein Unterhemd war rot bekleckert … Ich habe sogar geahnt, dass es Blut ist, aber was hätte ich tun sollen? Derjenige, der mir die Nachricht geschrieben hat, war der Einzige, dem ich vertrauen konnte! Ich wusste ja gar nichts über mich und über diese ganze Situation hier! Also habe ich es ausgezogen und versteckt. Dann war es also wirklich … Oh nein …“ „Kein Zweifel, das waren Yamatos Anweisungen“, sagte Taichi. „Aber an alle hast du dich dann doch nicht gehalten. Du hast das Tagebuch behalten.“ Takeru nickte langsam. „Es war mein einziger Anhaltspunkt. Ich habe es nicht über mich gebracht … Wenn ich wieder alles vergessen hätte, wäre ich verloren gewesen …“ Die anderen schwiegen betreten, bis Monokuma sagte: „Also, das war jetzt das langweiligste Geständnis, das ich je gehört habe. Wir können doch sicher mit der Abstimmung beginnen, oder? Also los!“ Hikari enthielt sich. Sie brachte es nicht über sich, den Hebel zu bewegen, und sie glaubte, dass es den anderen auch so ging. Aber zumindest einer aus ihrer Gruppe bewegte den Hebel. Vielleicht Daisuke – nein, so durfte sie nicht denken. Wenn sie Takeru nicht anschuldigten, würden sie alle sterben. Jedenfalls verkündete Monokuma: „Und es wurde für Takeru Takaishi gestimmt! Gratulation, ihr habt den Mörder ausfindig gemacht!“ „Es tut mir so leid“, hauchte Hikari in Takerus Richtung. Sie hatte wieder Tränen in den Augen. „Wir werden gleich mit der Bestrafung anfangen“, verkündete der monochrome Bär vergnügt. „Allerdings möchte ich unserem armen Mörder – Schrägstrich Opfer – vorher noch einen Gefallen tun.“ „Einen Gefallen?“, fragte Taichi misstrauisch. „Es wäre ja wirklich unfair, wenn er sterben würde, ohne genau zu wissen, warum. Darum werde ich ihm seine Erinnerungen jetzt wieder zurückgeben.“ Was sagte er da …? „Nein!“, rief Hikari. „Warte! Tu das nicht!“ „Zu spät“, kicherte Monokuma. Etwas geschah in der Luft um Takerus Kopf herum. Schillernde Staubpartikel tauchten aus dem Nichts auf und strömten durch seine Schädeldecke – der Anblick war surreal, aber wenn man es genau nahm, geschahen auf dieser Insel sowieso einige unerklärliche Dinge. „Nicht!“, schrie Hikari. „Stopp!“ Monokumas halbseitiges Grinsen war allgegenwärtig. Dann schrie Takeru auf. Und wie er schrie. Seine Augen traten hervor, er hämmerte sich die Fäuste gegen die Schläfen, als er sich an alles erinnerte, was geschehen war. Zweifellos drängten sich ihm die gemeinsamen Erlebnisse mit Yamato auf, er erinnerte sich an alles, was seinen Bruder betraf – und auch, wie er ihn, benebelt vor Angst, mit dem Messer angegriffen hatte. Bald liefen Tränen über Takerus Wangen, tropften zu Boden, während er sich heulend das Haar raufte. „Yamato!“, keuchte er, als er schließlich am Boden zusammenbrach. „Was habe ich getan … Yamato … Das wollte ich nicht … Ich wollte es nicht …“ Seine Faust hämmerte gegen die Holzdielen. „Monokuma, das büßt du uns!“, knurrte Taichi wie ein wildes Tier. „Wenn wir dich in die Finger kriegen, kannst du was erleben! Keiner von uns wird das vergessen, hörst du?“ „Puhuhu“, kicherte Monokuma. „Dabei sind wir noch gar nicht fertig. Die Bestrafung für den unartigen kleinen Bruder!“ Er schlug auf die Schelle vor sich. „Der Schiedsspruch der Spielzeuge! Wahahaha!“ Während Monokumas haltlosem Gelächter stieg plötzlich etwas aus dem Boden unter Takerus Füßen auf. Es sah aus wie ein Luftballon, nein, eine herzförmige Seifenblase. Sie umschloss den am Boden kauernden Jungen und trug ihn fort bis zur Tür des Rathauses, die vor ihm aufsprang. „Hinterher!“, kommandierte Taichi. „Holt ihn da raus!“ Die Seifenblase war zu schnell. Kaum dass sie im Freien war, fiel die Tür mit einem Knall wieder ins Schloss. Die Freunde rüttelten an der Klinke, doch sie ließ sich nicht bewegen. „Schlagt die Fenster ein“, schrie jemand, doch Hikari sah sofort, dass es sinnlos war. Die Fensterkreuze waren aus etwas wie Stein und genauso widerstandsfähig, die Scheiben dazwischen zu klein, als dass man sich hindurchzwängen könnte. Dafür konnten sie sehen, was draußen vor sich ging. Die herzförmige Blase zerplatzte auf der Hauptstraße und ließ Takeru fallen. Im nächsten Moment raste eine Spielzeuglok heran, in der wohl ein Kind sitzen könnte – ohne Schienen, ohne Fahrer. Sie prallte in Takerus Rücken, gerade als er sich aufrappelte, und stieß ihn abermals um. „Takeru!“, schrie Hikari. Mühsam kämpfte er sich wieder in die Höhe, als weitere Herzblasen herangeflogen kamen. Sie schlossen sich um seine Hand- und Fußgelenke und nagelten ihn aufrecht in der Luft fest. Takeru versuchte sich zu befreien, doch er zappelte nur hilflos herum. „Tut irgendwas!“, brüllte nun auch Daisuke. Hikari hörte, wie er einen Stuhl gegen eines der Fenster warf. Das Glas zerbrach, aber mehr geschah nicht. Hikari konnte den Blick nicht von den Geschehnissen draußen abwenden. Was dort geschah, kam ihr so unwirklich vor … Ein aufziehbares Affenplüschtier mit Handzimbeln marschierte auf Takeru zu und schlug dabei kräftig die Becken zusammen. Zu diesem Rhythmus marschierte ihm eine Armee aus Spielzeugsoldaten entgegen – es waren die typischen Zinnsoldaten, wie Kinder vor langer Zeit zum Spielen hatten, nur dass sie etwa dreißig Zentimeter groß waren. Sie formierten sich in einem Halbkreis um Takeru. Dann fiel das Affenplüschtier einfach um, als hätte man es umgetreten, und die Spielzeugsoldaten hoben ihre winzigen Gewehre und legten an. „Nein!“, keuchte Hikari, und auch einige andere stießen erschrockene Rufe aus. Die Spielzeugsoldaten schossen. Und schossen. Und schossen erneut. Hunderte winzige Kugeln prasselten auf Takeru ein, durchschlugen sein Hemd, seine Haut, verspritzten sein Blut auf den Pflastersteinen. Er erzitterte unter den Projektilen, die seinen Körper durchbohrten, und als die Soldaten aufhörten, sackte er schlaff in der Luft zusammen. Hikari hatte gar nicht bemerkt, wann sie zu schreien begonnen hatte. Die Zinnsoldaten marschieren davon, verstreuten sich in allen Gassen. Die Blasen ließen Takeru ins Führerhaus der Spielzeuglok sinken, dann raste diese mit seiner Leiche davon. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)