DigiRonpa von UrrSharrador (Mut. Freundschaft. Liebe. Wissen. Ehrlichkeit. Zuverlässigkeit. Licht. Hoffnung ... Verzweiflung.) ================================================================================ Fall 02: Tägliches Leben – Mit dem Essen spielt man nicht --------------------------------------------------------- Nach Kens Hinrichtung war die Stimmung wie zu erwarten. Kaum einer der übrig Gebliebenen sprach mehr als unbedingt nötig, oder nicht mal das. Sie alle hingen trüben Gedanken nach, schwelgten in Verzweiflung und tödlicher Unsicherheit. Niemand betrat den unterirdischen Bereich der Fabrik ein zweites Mal, außer um seine wenigen Habseligkeiten zusammenzusuchen. In den ersten Momenten wollte auch keiner der toten Sora mehr in die Augen blicken – nicht etwa, weil sie gedacht hätten, sie verdiene kein anständiges Begräbnis. Es wäre einfach viel zu schrecklich für sie gewesen, sich ihren grauenhaften Tod in Erinnerung zu rufen – einen Tod, den sie bereits zur Genüge ausgeschlachtet hatten. Schließlich hatten sich Taichi und Yamato doch dazu durchgerungen. Doch als sie ein weiteres Mal in die Kantine gingen, war die Leiche verschwunden – und alle Hinweise auf ihren Tod ebenso. Monokuma hatte offenbar aufgeräumt. Es schien, als hätte es die Person namens Sora gar nie gegeben. Für Hikari schien die Realität immer weiter in ein Fantasiereich abzudriften. Das gewaltige Loch in der Werkshalle schien so wenig mit Kens und Soras Tod zu tun zu haben, dass der Junge, der sich DigimonKaiser genannt hatte, genauso gut nur ein Streich ihrer Erinnerung hätte sein können. Hatte er ihnen tatsächlich ins Gesicht gelacht und behauptet, das hier wäre nur ein Spiel? Hatte tatsächlich einer von ihnen Sora ermordet, ohne einen Funken schlechten Gewissens? Sie bemerkte, dass sie mehr denn je die Nähe ihres Bruders suchte, doch Taichi schien so sehr damit beschäftigt, seine ebenfalls dunklen Gedanken zu ordnen, dass sie es nicht wagte, ihn zu stören. So stromerte sie ziellos durch die Fabrik und versuchte, ihr Bewusstsein und ihr Schmerzempfinden zu betäuben, indem sie den Maschinen bei ihren stumpfsinnigen, immer gleichen Arbeiten zusah. Die anderen hatten ebenfalls ihre Strategien, um mit der ganzen Sache fertigzuwerden. Wallace zum Beispiel schien nicht mit der Ernsthaftigkeit ihrer Lage klarzukommen. Wann immer er auf jemanden traf, scherzte und flirtete er drauflos, als hinge sein Leben davon ab. Koushiro hatte sich mit seinem Laptop in eine riesige, batterieähnliche Röhre gesetzt und tat die ganze Zeit über nichts anderes, als irgendwelche Daten abzurufen. Hikari sehnte sich nach Gesellschaft. Ihre Schritte trieben sie zu Takeru, doch der hing die meiste Zeit mit Yamato ab, der Hikari mit seiner ruppigen Art immer noch ein wenig suspekt war. Schließlich ging sie sogar zu Daisuke, aber anstatt sie ihr schweres Herz bei sich erleichtern zu lassen, bürdete er ihr seine eigenen Gedanken auf. Er verstand nicht, wie Ken so etwas getan haben könnte, und die Anschuldigung, er, Daisuke, wäre dazu einfach nicht intelligent genug, schien ihn irgendwie schwer getroffen zu haben. Iori entschuldigte sich förmlich bei ihr, sie während des Prozesses so sehr verdächtigt zu haben. Sie erkannte, dass er es ehrlich meinte und dass es ihm ein Bedürfnis war, die Sache noch einmal anzusprechen. Dazu passte er sogar einen Moment ab, in dem möglichst viele der anderen die Entschuldigung mitbekamen. Bis zum Nachmittag machte sich selbst bei den Letzten der Hunger bemerkbar. Es musste nicht einmal ausgesprochen werden – sie würden nicht hierbleiben, an diesem Ort, wo zwei von ihnen ihr Leben gelassen hatten. Ein paar von ihnen diskutierten eben, wohin sie gehen sollten, als Koushiro aufgeregt mit seinem Laptop zu ihnen stieß und sie bat, ihm zu helfen, den Rest zusammenzutrommeln. Er hatte eine Entdeckung gemacht. In der Eingangshalle versammelten sich alle. „Also, das hier ist wirklich eine Insel“, begann der Rotschopf mit der schlechten Nachricht. Er zeigte ihnen eine Landkarte, die er auf seinen Laptop geladen hatte. „Ich habe in den Archiven dieser Fabrik viele Aufzeichnungen über Wesen gefunden, die man tatsächlich Digimon nennt und die hier leben sollten, allerdings nichts Konkretes. Auch über die DigiVices steht da etwas – komischerweise sollen es heilige Artefakte sein, die das Böse in dieser Welt bekämpfen sollen. Und diejenigen, die sie besitzen, nennt man DigiRitter. Mehr ist angeblich in einem alten Labyrinth darüber zu finden.“ „Und wo ist dieses Labyrinth?“, fragte Yamato. „Dazu habe ich keine Informationen gefunden. Überhaupt sehen die Daten irgendwie … löchrig aus. Als hätte jemand die wichtigsten Stellen herausgelöscht. Zum Beispiel sind auf der Karte der Insel, die ich gefunden habe, erstaunlich viele leere Flecken, wo einfach die Beschreibung fehlt, ob es dort nun Wald, Wüste oder Städte gibt.“ „Denkst du, Monokuma hat an den Archiven herumhantiert?“ „Möglich.“ Koushiro zuckte mit den Schultern. „Und hast du auch was zu Ken gefunden?“, fragte Daisuke aufgeregt. „Irgendetwas zu dem Zeug von dem DigimonKaiser, von dem er geredet hat?“ „Nicht viel, leider“, meinte Koushiro bedauernd. „In einer Aufzeichnung ist die Rede von einem Kontinent, auf dem tatsächlich ein DigimonKaiser die Digimon knechten soll … Aber es steht nirgends, ob das wirklich Ken ist, oder wie man diesen Kontinent erreicht.“ Daisuke brummte etwas Missmutiges in seinen nicht vorhandenen Bart. „Aber ich habe auch eine gute Nachricht“, meinte Koushiro, als die Stimmung wieder einmal gegen den Nullpunkt zu kippen drohte. „Ich habe die nächste Stadt ausfindig gemacht – und es ist wirklich eine Stadt.“ „Meinst du, wir finden Menschen dort?“, fragte Mimi. „Schön wär‘s“, brummte Yamato. „Aber ganz ehrlich? Ich glaube es nicht.“ „Einen Versuch ist es wert“, meinte Koushiro. „Und es ist sicher besser, wenn wir dorthin gehen, als wenn wir hier bleiben.“ Dagegen konnte niemand etwas sagen. „Und wie kommen wir da hin?“, fragte Iori. „Die Fabrik ist offenbar über ein Abwasserrohr fast direkt mit der Stadt verbunden. Es ist schnurgerade und führt auf ein Feld in ihrer Nähe.“ „Ich steige sicher nicht in die Kanalisation hinab“, sagte Mimi naserümpfend. „Wir können auch versuchen, dem Verlauf des Rohrs oberirdisch zu folgen“, räumte Koushiro ein. „Das wäre wahrscheinlich weniger schmutzig.“ „Worauf warten wir dann noch?“ Nach seiner Trauer schien Taichi nun wieder voller Tatendrang zu sein – oder er zwang sich dazu, so zu tun. „Marschieren wir los!“ Und so geschah es.   Die Stadt war quietschebunt und so fröhlich, als wollte sie sie verhöhnen. Koushiro hatte ihnen gesagt, dass sie Spielzeugstadt hieß, und danach sah sie auch aus. Hübsche Häuser mit verspielten Türmchen und bunten Schindeln und Ziegeln warteten in Straßen aus Kopfsteinpflaster auf Besucher. Von vielen Dächern flatterten bunte Ballons im Wind, und ein riesiges Schild verkündete in krakeligen Lettern: Willkommen in der Spielzeugstadt! Das Spielzeug selbst war auch nicht schwer zu finden. Fast war es, als lauerten sie in allen Ecken und Winkeln und Gassen der Stadt: aufziehbare Affenpuppen, hölzerne Loks, Heere aus Spielzeugsoldaten, sogar ein riesiger Vogel mit spitzem Schnabel. Sie standen oder lagen verwaist herum, und der Anblick stimmte die Gruppe wieder traurig. Es war, als hätten die Bewohner all die lustigen Dinge liegen gelassen, um die Bühne zu räumen für eine Tragödie, die mit den Freunden kam. „Niemand da“, berichtete Jou, der nacheinander ein paar der Häuser unter die Lupe genommen hatte. Die Türen besaßen allesamt Schlösser, doch die Schlüssel steckten innen und nichts war abgesperrt. „Naja, immerhin brauchen wir uns keine Sorgen darüber zu machen, wo wir die Nacht verbringen sollen“, meinte Taichi und sah zum Himmel hoch. Er färbte sich im Westen langsam purpurn. „Als ob das unsere einzigen Sorgen wären“, knurrte Yamato. Taichi wollte etwas Scharfes erwidern, als plötzlich der Boden bebte. „Herzlich willkommen in der Spielzeugstadt!“, verkündete eine dröhnende, dennoch verspielt klingende Stimme … Elf Augenpaare fuhren herum. Und ihnen blieb der Mund offen stehen. Hinter einem hohen Turm kam ein riesiger Bär hervorspaziert, ein paar bärenkopfförmige Luftballons in der Hand. Und es war nicht einfach nur irgendein Bär, der da so groß wie ein Haus um die Ecke stampfte – es war Monokuma. Sein rotes Auge glühte teuflisch. „Was habt ihr denn? Da die Stadt im Moment keinen Bürgermeister hat, muss ich als Leiter der Pfadfindergruppe eben die Begrüßung übernehmen.“ „Nicht schon wieder“, stöhnte Mimi, die sich ob der plötzlichen Größe des Bärs nicht sonderlich zu erschrecken schien. „Gut, vergesst diese Stadt. Wir suchen uns woanders was.“ „Denkst du, ihr könntet mir entkommen?“ Monokuma lachte in seine Pfoten. „Puhuhu. Der Lehrer lässt seine Schüler natürlich nie aus den Augen. Ich wollte euch eigentlich zu einem Willkommensessen einladen.“ „Willkommensessen?“, fragte Taichi misstrauisch. Dabei knurrte sein Magen verräterisch, als wollte er auch einen Kommentar dazu abgeben. „Als ob wir irgendwas von dem, was du uns anbietest, essen würden!“, ereiferte sich Miyako. „Puhuhu. Esst es, oder esst es nicht. Es steht jedenfalls auf dem Hauptplatz. Ihr könnt es euch ja einmal ansehen.“ „Stellen wir eine Regel auf, dass niemand zum Hauptplatz geht, ja? Zur eigenen Sicherheit“, brummte Yamato. „Ach, warum tut ihr mir so unrecht?“, fragte Monokuma weinerlich. „Ich will nur, dass meine Klasse gut versorgt ist! Ihr seid schließlich alles, was ich habe!“ „Warum bist du eigentlich plötzlich so groß?“, fragte Takeru. „Ist doch scheißegal“, knurrte Daisuke. „Hm? Ach so“, machte Monokuma, als fiele ihm dieser Umstand gerade erst wieder auf. „Ich dachte, so würde ich einen besseren, beschützermäßigen Eindruck machen. Aber keine Sorge, ich schlafe nicht in der Stadt, ihr braucht euch also nicht zu fürchten, dass ihr zu wenig Platz habt.“ Er hob eine Pfote. „Aber lasst euch gesagt sein, dass ich euch trotzdem beobachte! Keine Ungehörigkeiten also, ja? Natürlich dürft ihr morden, so viel ihr wollt.“ Miyako stöhnte auf. „Ich verstehe dieses Stofftier einfach nicht!“ „Ignorier es einfach“, schlug Iori trocken vor. „Also dann, ich empfehle euch, einen Blick auf das Festmahl zu werfen. Die Lagerhallen der Spielzeugstadt stehen nur für euch offen!“, verkündete Monokuma. „Lieber verhungere ich, als etwas zu essen, das du vermutlich vergiftet hast“, stellte Mimi fest. Etliche andere stimmten ihr zu. „Das kann ich aber nicht gutheißen“, sagte Monokuma. „Als ob ich euch vergiften würde! Ich bin euer Lehrer, habt ihr das vergessen? Überzeugt euch selbst; zu eurer Sicherheit habe ich alles gekennzeichnet, was irgendwie giftig oder gefährlich ist.“ „Na bitte, also gibt es giftiges Essen!“, rief Miyako aus. „Puhuhu. Natürlich. Ihr sollt euch ja umbringen. Viel Erfolg dabei, und Mahlzeit.“ Damit stapfte er davon, und kurz darauf hörte man seine schweren Schritte nicht mehr. Es spielten wohl mehrere Faktoren zusammen, als die Gruppe sich doch ziemlich schnell auf den Weg machte, um zu sehen, was Monokuma vorbereitet hatte. Wenn es schon nicht Neugier war, dann vielleicht Hunger – oder auch Misstrauen. Einmal waren sie schon von einem der ihren verraten worden, und es war sicher besser zu wissen, welche Chancen diesmal für einen willigen Mörder bereitstanden. Es war dunkel, als sie den Hauptplatz erreichten, aber die bunten Lichterketten verstärkten diesen Eindruck auch eher. Der Hauptplatz war dekoriert wie bei einem fröhlichen Fest, und unter den Lichterschlangen stand eine gedeckte Tafel mit so ziemlich allem, was das Herz begehrte und was sie so lange vermisst hatten. Es gab Fleisch, Fisch, Pilzsuppe, Brot, Milch, Butter, Nudeln, Reis, Eier … Auch wenn es nichts im Vergleich zu Haubenrestaurants war, war es das Köstlichste, was Mimi seit langem gesehen hatte. Eine Weile standen sie unschlüssig davor herum. „Und das soll reichen?“, sprach schließlich Taichi aus, was sie alle dachten. Es war zwar ein Festschmaus, aber es war wenig. Die Portionen waren winzig klein, und elf Personen sattzukriegen, schien unmöglich. „Dieser verfluchte Monokuma“, knurrte Yamato. „Er will, dass wir uns umbringen, weil nicht alle satt werden können. Wie billig.“ „Seht mal!“ Takeru war eine Art Schuppen getreten, dessen Tor weit offenstand – nicht nur das, eiserne Pflöcke hinderten es sogar am Zufallen. Grinsend kehrte er mit einigen Kränzen Würsten daraus zurück. „Verhungern müssen wir hier sicher nicht. Da drin ist noch viel mehr.“ „Könnte das …“, murmelte Iori. „Was hast du?“, fragte Jou, als der Jüngere auf den Schuppen zulief. Nach und nach folgten die anderen. „Ich wusste es“, murmelte Iori düster. Es dürfte sich um das Vorratslager handeln, von dem Monokuma gesprochen hatte. In breiten Holzstellagen waren haltbare Lebensmittel gelagert, fein säuberlich sortiert und die Regale, Einmachgläser und Fässer beschriftet. Mimi fühlte sich fast wie in einem Museum, als sie die ganzen professionellen Plaketten sah, die den Namen des Nahrungsmittels und dann weitere Eigenschaften verkündeten. Die Würste, die Takeru genommen hatte, trugen den Hinweis: Harte Würste. Lang haltbar, aber schwer zu kauen. Trotzdem nur bedingt geeignet, um jemanden damit zu erschlagen. „Soll das ein Witz sein?“, fragte Taichi gereizt. „Leider nicht“, murmelte Wallace. Er stand am anderen Ende des Regals. „Seht mal.“ Die eindeutig gefährlicheren Sachen waren hier gelagert. Zuerst war da noch eine Schale mit Chilischoten mit der Beschriftung: Scharfmacher. Verleihen dem Essen eine gewisse Würze. Warnung des Schulleiters: Eine mutwillige Überdosis kann zu einem Kreislaufkollaps führen. Gleich daneben wurden die Effekte schlimmer. Eine hölzerne Obsttrage war bis obenhin mit Pilzen gefüllt, die gewöhnlichen Steinpilzen gar nicht so unähnlich sahen. Die Plakette sagte aber etwas anderes. Iss-mich-und-du-vergisst-alles-Pilze. Schon eine geringe Menge führt zu totalem Gedächtnisverlust. Anmerkung des Schulleiters: Keine Sorge, Schüler! Die Schule hat all eure Erinnerungen in digitaler Form gespeichert und wird sie euch zurückgeben, wenn ihr die Insel verlasst – der Schulleiter wünscht nicht, dass die Schüler alles vergessen, was sie im Camp gelernt haben. „Na, sehr beruhigend“, murmelte Miyako. „Totaler Quatsch“, meinte Iori. Das letzte Behältnis war das besorgniserregendste: ein Glasfass mit einem bezeichnenden Totenkopf darauf. Die Flüssigkeit darin sah leicht trübe aus. Die Beschriftung besagte: Dr. Monokumas Spezial-Gift. Kann eingenommen oder auf Waffen aufgetragen werden. Das Gift braucht etwa fünf Minuten, um seine Wirkung zu entfalten, und führt dann zu sofortigem Organversagen. Der Schulleiter wünscht frohes Morden. „Das ist ein Scherz, oder?“, platzte Miyako heraus. „Hab ich auch schon gesagt“, knurrte Taichi. „Ich fürchte, das ist bitterer Ernst. So wie alles hier“, murmelte Hikari düster. „Okay, was haltet ihr davon, dass wir dieses Lagerhaus zu einer Tabuzone erklären?“, schlug Iori vor. „Keiner von uns geht hier rein. Dann muss sich keiner fürchten.“ „Wieso?“, fragte Daisuke angriffslustig. Es war das erste Mal seit einer Weile, dass er den Mund aufmachte. „Glaubst du etwa, unter uns versteckt sich noch ein Mörder, oder was?“ Iori atmete tief durch, als hätte er es mit einem dummen Kind zu tun. „Nein, aber es dient unserer Beruhigung. Wir nehmen uns ein paar Nahrungsmittel mit raus, dann brauchen wir dieses Lagerhaus nie wieder zu betreten.“ „Ich will aber nichts essen, was neben einer Gifttonne gestanden ist“, meinte Mimi. „Dann hungerst du eben. Was nehmen wir mit?“ Murrend fügte sie sich. Trotz allem waren sie misstrauisch, weswegen sie vor allem Früchte und solche Dinge mitnahmen, die man gut waschen konnte. Sie pumpten Wasser aus dem Brunnen am Hauptplatz, Taichi erklärte sich dazu bereit, es vorzukosten. Damit spülten sie die Früchte ab und machten sich schließlich über das Essen her. Obwohl das Bankett so festlich war, war die Stimmung bedrückter denn je. Nach dem Mahl drehte sich das Gespräch wieder in Richtung Vorratskammer. Iori schlug vor, man solle das Giftfass einfach rausholen und irgendwo über eine Klippe werfen. Die Sache erübrigte sich jedoch, als sie bemerkten, dass es an der Wand angeschraubt war. Man konnte es mit einem Drehverschluss öffnen, aber es schien keine Möglichkeit zu geben, ihn zu blockieren. Schließlich gaben sie es auf. Es war, als hätte Monokuma damit gerechnet, dass sie versuchen würden, die Gefahr einfach zu bannen. Da sie alle immer noch müde und nun auch vollgefressen waren, meldeten schließlich die Ersten, schlafen gehen zu wollen. Rund um den Hautplatz lagen einige Häuser, die dafür wie geschaffen schienen. Sie waren verlassen, aber gut in Schuss, kaum staubig und hatten allesamt weiche Märchenbetten. Für Mimi würde es das Paradies auf Erden sein, endlich wieder in einem richtigen Bett zu schlafen. Die Schlüssel steckten alle, und die Schlösser funktionierten. Sie brauchten nicht zu fürchten, dass sie nachts jemand überfiel. Das reichte Mimi auch schon. Nachdem sie sich in ihrem Haus eingeschlossen hatte, fühlte sie sich schrecklich allein, doch das Gefühl währte nur kurz – so lange nämlich, bis sie sich in die weichen Daunen sinken ließ und fast auf der Stelle einschlief.   Miyako konnte auf diesem Bett nicht schlafen. Nicht, weil es nicht weich gewesen wäre, im Gegenteil. Aber es war einfach so viel geschehen, was ihr im Kopf rumgeisterte. Sie lag auf dem Bauch, das Kinn auf dem Kissen, die Decke bis über den Kopf gezogen, und versuchte ihre Gedanken zu ordnen. Es schienen Stunden zu vergehen, in denen sie einfach nur von einem finsteren Grübelstrudel in den nächsten gezogen wurde. Als sie eben beschloss, sich in ihrem Haus noch ein wenig die Füße zu vertreten, klingelte es an der Tür. Wie von der Tarantel gestochen schoss sie in die Höhe. Wer konnte das sein? Sie waren alle dazu angehalten, sich hier gegenseitig umzubringen; was, wenn das bereits ein neuerlicher Mordversuch war? Schließlich würgte sie ihre Ängste mit dem Argument ab, dass sie so gar nicht zu ihr passten, und öffnete. Wallace stand vor der Tür. „Hey“, sagte er. „Lässt du mich rein?“ Kurz darauf saßen sie im Wohnzimmer des Hauses, wo es einen Tisch und mehrere Stühle gab. „Wie, äh, kann ich dir helfen?“ fragte Miyako verwundert. Auch Wallace wirkte nicht, als hätte er bereits geschlafen, obwohl es nach Mitternacht sein musste. „Ich wollte dich sehen“, sagte er. „Äh, okay.“ „Weißt du, ich war einsam“, fuhr er fort und beugte sich zu ihr. Seine unglaublich blauen Augen schwebten direkt vor ihr. „Es war so kalt und deprimierend in meinem Haus, da dachte ich, ich besuche jemanden.“ „Okay …und warum ausgerechnet mich?“, fragte sie verwirrt. Er lächelte. „Brauche ich dazu einen Grund?“ Miyako dachte an die Gefahr, in der sie alle möglicherweise schwebten, und nickte. Er lachte leise. Ohne dass sie es bemerkt hatte, war er noch näher gerückt. „Vielleicht ist der Grund, dass du wirklich hübsch bist, Miyako. Ich bin gern in deiner Nähe.“ Miyako merkte, wie ihre Wangen zu glühen begannen. „Danke“, murmelte sie mit belegter Stimme. „Aber was .. soll das jetzt auf einmal?“ Nun lachte er lauter. Sie fühlte sich irgendwie … außen vor gelassen. Als hätte er einen lustigen Witz gehört und ließe sie nicht daran teilhaben. „Du hast nach dem Grund gefragt, ich habe dir geantwortet“, sagte er. „Im Ernst, Miyako. Ich finde dich echt toll. Deine zappelige Art ist irgendwie süß, und deine Haare sind echt der Wahnsinn.“ „Sind sie nicht“, erwiderte sie verlegen. „Die sind doch mittlerweile ganz verfilzt und strähnig und …“ Sie verstummte, als sein Gesicht so nah kam, dass sie sich selbst in seinen Augen spiegeln sah. „Miyako“, sagte er leise, „ich finde so einige Aspekte an dir toll. Und ich würde gern noch mehr von dir kennenlernen.“ Seine Lippen kamen näher. „Stopp.“ Sie drehte den Kopf zur Seite. „Das geht nicht.“ „Wieso nicht?“, fragte er verwundert. „Das ist … falsch, okay?“, stammelte sie. „Ich meine, ich kenne dich kaum, also eigentlich gar nicht, und nach allem, was passiert ist … Ich meine … heute sind zwei unserer Freunde gestorben, wir sollten nicht …“ „Waren das wirklich unsere Freunde?“ fragte er unvermittelt. „Was?“ „Du kanntest sie doch auch kaum, oder?“ Miyako druckste herum. Eigentlich war ihr Sora schon sympathisch gewesen. Ken auf der anderen Seite auch … „Es ist trotzdem schrecklich. Das alles“, sagte sie bestimmt. „Ich meine, dieser komische Bär hält uns hier auf irgendeiner Insel fest und wir haben alle keine Ahnung, was eigentlich abgeht!“ „Sieh es einfach als weiteren Grund“, meinte er ernst. Sie starrte ihn fragend an, und er grinste. „Naja, das ist auch was, das ich mir überlegt habe. Theoretisch könnte uns morgen jemand umbringen. Denkst du nicht, wir sollten die Zeit da gut nutzen?“ „Was meinst du mit Zeit gut nutzen?“, platzte sie raus. „Ach, komm schon“, sagte er mit einem schiefen Lächeln. „Wir sind auf einer einsamen Insel gestrandet. Niemand von außerhalb stört uns. Und die anderen schlafen. Das ist doch eine einmalige Gelegenheit, meinst du nicht?“ Sie blickte ihn an, sah sich selbst in seinen Augen und erkannte, wie schockiert sie aussah. „Wi-wir sitzen hier total in der Scheiße“, brach es aus ihr hervor. „Ich kann nicht mal schlafen wegen all dem verrückten Zeug, das uns passiert ist, und du willst …“ „Ich helfe dir beim Einschlafen“, bot er an. „Ich kann nämlich auch nicht schlafen.“ Sein Grinsen sollte vielleicht charmant wirken, aber nach all den Geschehnissen kam es Miyako einfach nur aufgesetzt vor. „Ich schaffe das schon selbst“, murmelte sie verschnupft. „Heißt das, du wirfst mich raus?“ „Nein. Ja. Ach, was weiß ich … Hör mal, ich weiß nicht, was du von mir erwartest, aber das mit uns wird nichts, okay? Ich meine, also, falls überhaupt, also, nicht hier, verstehst du? Das ist alles viel zu abgefahren, und ich …“ Sie verstummte verlegen. Wallace seufzte schließlich und stand resigniert auf. „Dass ihr aber auch alle so furchtbar prüde sein müsst.“ Sie blickte auf. „Wen meinst du mit alle?“ „Nichts.“ Er lächelte unschuldig. „Euch Japaner im Allgemeinen.“ Zwinkernd ließ er sie allein, und Miyako war sich nicht sicher, ob er wirklich das gemeint hatte.   Takeru fand Hikari auf dem Hauptplatz sitzend vor, auf einem der Stühle rund um die verwüstete Festtafel. Sie sah in den Himmel hoch, wo gegen die finsteren Silhouetten der Gebäudetürmchen einige Sterne zu sehen waren. Es war eine laue Nacht. „Wenn du hier so allein rumsitzt, verdächtigt dich am Ende jemand“, versuchte er einen Scherz und verwünschte sich im nächsten Moment dafür. Hikari zuckte zusammen und drehte sich zu ihm um. „Du bist’s“, murmelte sie. „Auch schlaflos in der Spielzeugstadt?“, fragte er und setzte sich neben sie. In der Hand hatte er eine Flasche, die er mit Cola aus dem Lagerhaus aufgefüllt hatte. Hikari betrachtete das Getränk stirnrunzelnd. „Und da wunderst du dich, dass du nicht einschlafen kannst, wenn du so ein Zeug trinkst?“ Er zuckte mit den Schultern. „Macht auch keinen Unterschied mehr.“ Eine Weile schwieg er. „Das, was mit Sora passiert ist, war schrecklich.“ „Ja“, murmelte sie tonlos. „Tut mir leid, dass dich die anderen verdächtigt haben. Das muss … hart gewesen sein.“ Er brachte es nicht über sich zu sagen, dass auch er sie kurz im Verdacht gehabt hatte, einfach weil die Beweislast so erdrückend gewesen war. „Schon okay“, versuchte sie die Sache mit einem Schulterzucken abzutun. „Es hat sich ja alles gefügt.“ „Was Ken getan hat, war furchtbar“ brummte er finster. „Hätte ich ihm nie zugetraut.“ „Ich habe darüber nachgedacht“, gab sie zu. „Vielleicht hatte Ken einfach nur … mehr Ahnung von alledem hier.“ „Klar. Hat er uns ja lang und breit vorgeleiert“, schnaubte Takeru. Er konnte dem Jungen nicht verzeihen. „Schon, aber irgendwie … hatte er vielleicht recht, oder? Er hat etwas von der DigiWelt gesagt und von Digimon, und allein damit hat er mehr gewusst als wir alle zusammen.“ „Das rechtfertigt nicht, dass er so was abzieht“, knurrte er und trank ein paar gewaltsame Schlucke aus seiner Flasche. „Natürlich nicht“, sagte Hikari schnell und seufzte. „Tut mir leid. Ich hab oft komische Gedanken, wenn ich müde bin.“ „Geht mir auch so“, seufzte er. „Momentan zum Beispiel denke ich mir, ich muss unbedingt einen Ausweg von hier finden, obwohl ich weiß, dass es unmöglich ist. Keine Ahnung, wie wir hergekommen sind, aber eins steht jedenfalls fest: Falls wir keinen Flughafen oder Hafen finden, kommen wir hier nicht wieder weg. Und wenn selbst eine Stadt wie diese hier unbewohnt ist, stehen unsere Chancen eher schlecht.“ Er starrte geradeaus in seine düsteren Gedanken, als er den nächsten Schluck machte, und kippte dabei die Flasche zu stark. Cola lief über sein Kinn und tropfte auf sein Hemd. „Toll“, murrte er. „Das gibt Flecken. Und hier kann ich es nicht mal waschen. Was kann jetzt noch alles schiefgehen?“ Sie lächelte schwach. „Was?“ „Ich glaube, wenn du müde bist, wirst du auch schwarzmalerisch“, meinte sie verschmitzt. Takeru schnaubte. „Und das, obwohl ich eigentlich als Ultimative Hoffnung auf die Hope‘s Peak aufgenommen wurde.“ „Echt? Das ist dein Talent?“ „Angeblich. Ganz schön bescheuert, oder?“ „Finde ich nicht“, sagte sie leise. „Hoffnung zu haben ist wichtig. In so einer Lage mehr denn je. Außerdem habe ich gelesen, dass die Hope‘s Peak genau zu diesem Zweck gegründet wurde.“ „Was meinst du?“ „Naja, sie wollen die Talente ihrer Schüler fördern und erforschen, damit sie irgendwann mal die ultimative Hoffnung der Menschheit ausbilden können, die … ich weiß auch nicht, total talentiert ist und so. Vielleicht suchen sie ja in Wahrheit Leute wie dich.“ Er lachte bitter. „Das wäre doch wohl zu komisch.“ „Wer weiß.“ Sie drückte seine Hand. „Hab ein bisschen Hoffnung.“ Jetzt musste er doch lächeln. „Und was ist dein ultimatives Talent, wegen dem sie dich aufgenommen haben?“, wechselte er das Thema. Sie druckste herum. „Licht“, meinte sie schließlich. „Licht?“ „Siehst du? Und du glaubst, dein Talent wäre verrückt.“ „Was macht man denn so als Ultimatives Licht?“, neckte er sie. „Keine Ahnung, ehrlich. Ich hab vermutet, dass es ein Druckfehler ist oder dass sie mich damit veralbern wollen.“ Takeru sah in den Nachthimmel. „Weißt du, was ich sagen würde, was man als Ultimatives Licht so macht?“, sinnierte er. „Man verliert selbst in der Dunkelheit nicht das Ziel aus den Augen. Man sieht das Licht immer vor sich als etwas Erstrebenswertes, und man versucht es zu erreichen, und irgendwann schafft man es und führt alle anderen aus ihrer Verzweiflung raus. Ziemlich mächtiges Talent, wenn du mich fragst.“ Sie kicherte. „Du bist süß.“ „Nicht wahr? Das ist mein zweites Talent, gleich neben der Hoffnung“, sagte er. „Ich werde jedenfalls darauf hoffen, dass du uns mit deinem Licht schon irgendwie hier rausbringst.“ „Jetzt bist du albern“, meinte sie, rang sich aber ein Lächeln ab. Takeru konnte spüren, wie ihre Stimmung sich gehoben hatte. „Na dann“, meinte sie schließlich. „Vielleicht versuch ich noch mal, einzuschlafen.“ „Gute Idee.“ „Übrigens ist dort drüben ein Klamottenladen. Vielleicht findest du Ersatz für dein bekleckertes Hemd.“ Sie zwinkerte ihm zu. Er grinste breit. „Gute Idee“, wiederholte er. Sie standen auf. Hikari nahm seine Hand in ihre, ihre Finger waren warm. „Danke, Mister Hoffnung.“ „Immer wieder gern.“ Sie lächelten sich an und gingen dann ihrer Wege.   Der nächste Morgen brannte gleißend auf dem Kopfsteinpflaster der Spielzeugstadt. So gut wie jeder von ihnen wirkte müde, als sie sich an der Banketttafel einfanden. Die meisten murmelten nur einsilbige Begrüßungen. Ein paar Langschläfer wollten einfach nicht auftauchen, zum Beispiel Taichi und Daisuke. „Was machen wir? Sollen wir auf sie warten?“, fragte Yamato. „Mir knurrt der Magen“, seufzte Miyako. „Warum richten wir das Frühstück nicht schon mal her?“ „Wir haben abgemacht, nicht heimlich an die Vorräte zu gehen“, erinnerte sie Jou. Tatsächlich hatten sie nur darüber diskutiert, aber keine endgültige Entscheidung gefällt. „Das ist ja wohl kaum heimlich, wenn wir fast alle da sind“, empörte sie sich. „Sie könnten es aber als Verrat auffassen.“ „Schon gut“, meinte Hikari. „Ich werde dann mit Taichi reden. Und Daisuke kriegen wir auch wieder ein, wenn es ihm überhaupt was ausmacht.“ Daisuke war seit Kens Verrat ziemlich finster drauf, aber sie fürchtete, wenn die anderen knurrende Mägen bekamen, würde nur ein weiterer Streit ausbrechen. Also griffen sie sich Brot, Butter und Käse aus den Vorräten, dazu getrocknete Beeren und was sie sonst noch Frühstückfertiges fanden. Koushiro war als Letzter der Anwesenden aufgestanden und sehnte sich seufzend nach Oolong-Tee oder wenigstens Kaffee. Jou half ihm beim Suchen, aber sie fanden nur Früchtetee und keine Möglichkeit, Wasser zu kochen. Als endlich Taichi auftauchte, war er mürrisch, aber er schien gar nicht zu bemerken, dass die anderen ohne ihn angefangen hatten. Auch Daisuke verlor darüber kein Wort, als er am späten Vormittag zu ihnen stieß. Da sie nichts Besseres zu tun hatten, überlegten sie gemeinsam, wie sie den heutigen Tag verbringen könnten. Koushiro hatte die Daten, die er auf seinen Laptop gespielt hatte, genauer analysiert und erklärte ihnen die Lage der Stadt und was es in der Nähe gab. Sie teilten sich in kleine Grüppchen auf, die teils die Umgebung erkunden, teils nach Essen suchen sollten. Die Vorräte der Stadt waren zwar nicht zu verachten, aber irgendwann würden auch sie zur Neige gehen, und es war besser, wenn sie vorbereitet waren. Eine Gruppe durchstreifte die umliegende Hügellandschaft und brachte einfach alles mit, was sie fand und was irgendwie nützlich erschien, darunter Holzstöcke zur Verteidigung, seltsame Knochen, um vielleicht herauszufinden, von welchem Tier sie stammten, und hübsche Steine, von denen Daisuke behauptete, dass sie etwas wert wären. So verging der Tag, und als sich die Sonne blutig rot senkte, hielten sie ein gemeinsames Abendmahl ab und sprachen über ihre Entdeckungen. Die Stimmung war schon etwas besser als am Morgen, obwohl es immer noch keinen Kaffee und keine Hoffnung gab, die Insel zu verlassen. Koushiro zeichnete in die lückenhafte Karte, die er von der File-Insel hatte, die Informationen ein, die die anderen ihm gebracht hatten, dann vereinbarten sie eine ungefähre Uhrzeit für das morgendliche Frühstück und gingen wieder schlafen.   „Wohl die gleiche Idee gehabt, was?“, fragte Taichi. „Oder läufst du mir nach?“ „Mach dich nicht lächerlich“, erwiderte Yamato. Nach Einbruch der Nacht waren sie auf den obersten Turm des Rathauses geklettert – des höchsten Gebäudes der Stadt. Taichi wollte einfach noch nicht schlafen gehen und der hohe Turm hatte irgendwie sein Interesse geweckt. „Ich wollte eigentlich schon tagsüber herkommen“, meinte Yamato und deutete aus dem Fenster. Es war finster in dem Turmraum und in der gähnenden Leere kitzelte ihnen Staub in der Nase. „Bei Tag hätte man hier sicher eine bessere Aussicht. Ich finde, das hat mehr Sinn, als zu versuchen, die Karte der Insel auf Koushiros Computer fertigzuzeichnen.“ „Wenn du die Aussicht genießen willst, müsstest du wohl auf diesen Berg da klettern“, meinte Taichi trocken und deutete auf den riesigen Monolithen, den man gewiss von überall auf der Insel sehen konnte. „Hast du mir nicht zugehört? Es geht nicht um die Aussicht, sondern darum, eine vollständige Karte zu bekommen“, entgegnete Yamato. „Außerdem wäre es dumm, einfach so einen Berg zu erklimmen, ohne irgendwelche Ausrüstung.“ „Es wird ja wohl auch gangbare Wege geben“, stöhnte Taichi. „Ich sag ja nicht, dass man auf nacktem Fels klettern muss.“ Eine Weile schwiegen sie. „Merkst du was?“, fragte Yamato plötzlich. „Was?“ „Wenn wir miteinander reden, streiten wir eigentlich fast immer.“ „Ach? An wem das wohl liegt?“, giftete Taichi. „Zum Streiten gehören zwei“, erklärte Yamato ruhig. „Dabei halte ich dich eigentlich gar nicht für einen schlechten Kerl.“ „Ich dich eigentlich auch nicht“, brummte Taichi. „Frieden?“, schlug Yamato vor. „Von mir aus. Solange du nicht wieder Müll von dir gibst.“ Yamato seufzte. „Du bist unverbesserlich.“ „Musst du gerade sagen.“ Sie sahen einander an und mussten plötzlich lachen. „Du solltest dich wieder mit Hikari vertragen“, meinte Yamato dann. „In so einer Lage muss man vor allem den eigenen Geschwistern vertrauen.“ Taichi verzichtete darauf ihm zu sagen, dass er und Hikari sich bereits ausgesprochen und gegenseitig um Verzeihung gebeten hatten. Zwischen ihnen brach schnell mal Streit aus, aber sie konnten ihn danach meistens ohne Probleme beilegen. „Du redest, als hättest du selbst Geschwister“, merkte Taichi an. Yamato sah ihn verblüfft an. Dann lachte er leise. „Ach so. Wir haben es ja noch nicht öffentlich klargemacht. Hast du es noch nicht gemerkt?“ „Was denn?“ „Ich hab einen kleinen Bruder. Ich lasse dich raten, wie er heißt.“ Damit ging er die Turmteppen hinunter und ließ Taichi vor dem Fenster stehen. Dieser sah ihm verwirrt nach. Was sollte er? Den Namen von Yamatos Bruder erraten? Machte sich der Blondi jetzt über ihn lustig, oder was? In Mimis Haus brannte noch Licht, als er daran vorbeikam. Auf den zweiten Blick sah er auch, wie sie vor dem Fenster saß und in die Nacht hinausstarrte. Als sie ihn entdeckte, winkte sie ihm zu. Er hob grüßend die Hand. Sie öffnete das Fenster. „Was machst du so spät noch auf?“, rief sie ihm zu. „Könnte ich dich auch fragen Ich hab mir mal wieder Yamatos Spinnereien angehört.“ Da bemerkte er, dass er vielleicht zu laut gesprochen hatte – Yamatos Haus lag immerhin direkt neben Mimis. Sie winkte ihn aufgeregt näher. „Komm her! Ich muss dir was zeigen!“ Verwundert ließ sich Taichi in ihr Haus bitten. Er fragte sich, was in sie gefahren war. Sie führte ihn zu einer verwahrlosten Abstellkammer. Taichi hatte gedacht, dass er für heute bereits genug Staub eingeatmet hatte, und meinte mürrisch: „Willst du mir deine Spinnwebensammlung zeigen?“ „Hier.“ Sie drückte ihm ein rundes Gefäß mit einem Kabel in die Hand. „Was ist das?“ „Ein Wasserkocher, du Genie.“ „Aha.“ Verdattert musterte er das Ding, dann wieder Mimi. „Und weiter?“ Sie rollte mit den Augen. „Damit können wir endlich was kochen. Tee zum Beispiel, oder Kaffee, wenn wir welchen finden. Und wir können Suppe und Fleisch kochen und eigentlich alles, ohne uns um ein Feuer oder so kümmern zu müssen.“ „Und deswegen bist du so aufgeregt?“ Taichi konnte das nicht nachvollziehen. Sie seufzte auf. „Wenn man so lange abseits der Zivilisation ist, lernt man eben, sich über jeden noch so kleinen Luxus zu freuen.“ Da war etwas dran. Aber ob man deshalb so aus dem Häuschen sein musste? Vielleicht versuchte Mimi auch nur zwanghaft optimistisch zu sein. Oder sie sprach einfach laut aus, was immer ihr gerade durch den Kopf ging. „Sag mal, warum bist du eigentlich auf die Hope‘s Peak gekommen?“ „Was meinst du damit, warum?“, fragte sie. „Weil man danach gute Zukunftsaussichten hat, natürlich.“ „Schon klar, aber was ist dein Talent? Oder bist du auch so eine Reserve-Schülerin?“ Er hatte aufgeschnappt, wie Miyako und Iori darüber geredet hatten. Offenbar waren sie beide nicht wegen irgendwelcher Talente rekrutiert worden, sondern hatten es in den Reservekurs geschafft – was immer das genau war. Es klang irgendwie nach einer Möglichkeit für Normalsterbliche, auch auf die Akademie zu kommen. Mimi dürfte ebenfalls so weit darüber informiert sein, denn sie zog eine Schnute. „Klar hab ich ein Talent. Stell dir vor, ich hab sogar eine ganze Menge Talente.“ „Ultimative Meckertante vielleicht?“, fragte er, als er sich daran erinnerte, dass sie sich bei jeder Gelegenheit über die Umstände beschwerte. „Sehr witzig. Versuch’s weiter.“ „Hm.“ Er verengte die Augen zu Schlitzen. „Ultimatives Model?“ Sie starrte ihn an. „War das gerade ein Kompliment oder ein Anmachspruch?“ „Was? Äh, gute Frage.“ Eigentlich weder noch. Er hatte einfach nur ausgesprochen, was er sich gedacht hatte. Verlegen kratzte er sich am Kopf. „Ultimative Bescheidenheit ist es mal sicher nicht“, versuchte er das Thema zu wechseln. „Ich kann mir auch ein paar Sachen ausmalen, die du eindeutig nicht kannst“, meinte sie spitz. „Dann sag schon, weswegen haben sie dich ausgewählt?“ Sie zögerte. „Ehrlichkeit“, murmelte sie dann. „Was?“ „Ehrlichkeit! Hast du was an den Ohren?“ „Ist das denn ein Talent?“ „Offenbar, ja. Keine Ahnung, vielleicht ist es ein Fehler. Oder die haben ein Rad ab. Als sie mich aufgenommen haben, hab ich nicht weiter nachgefragt. Was ist mit dir?“ „Ultimativer Mut“, meinte er und lächelte schief. „Ziemlich cool, oder?“ „Ziemlich nutzlos“, gab sie zurück. „Besser als Ehrlichkeit“, gab er zurück. „Echt, sieht irgendwie so aus, als wüssten die keine richtigen Talente mehr, die sie verfolgen sollten.“ Mimi zuckte mit den Schultern. Eine kurze, peinliche Weile schwiegen sie. „Hör mal, willst du ein wenig die Zeit totschlagen?“, schlug Taichi dann vor. „Ich hab in einem der Lagerschuppen Kartenspiele gefunden.“ „Du willst spielen? In so einer Situation?“ Er zuckte die Achseln. „Die Situation wird auch nicht toller, wenn wir uns langweilen und gar keinen Spaß haben.“ Mimi sah ihn einen Moment zweifelnd an, ehe er spürte, wie etwas hinter ihrer Stirn umschaltete. „Naja, warum auch nicht?“   Der nächte Morgen war bewölkt und es herrschte Kopfwehwetter, aber er war eindeutig fröhlicher als die beiden vorherigen. Wieder trafen sich alle an der Banketttafel und frühstückten gemeinsam, und diesmal wurde sogar geplaudert. Die lockere Stimmung hielt genau so lange an, bis Monokuma auftauchte. Er sprang unvermittelt auf die Festtafel – nicht der Riesenbär, als der er sich zuletzt präsentiert hatte, sondern wieder als kleines Plüschtier. „Guten Morgen, Schüler!“ Taichi stöhnte auf. „Was willst du denn?“ „Puhuhuhu, nicht gleich so ruppig. Ich bringe euch gute Neuigkeiten.“ „Wie gut können die schon sein?“, fragte Yamato. Wenn es um Monokuma ging, schienen er und Taichi, die sonst wie Sonne und Mond waren, ganz einer Meinung. „Es hat ja jetzt bald zwei Tage lang keinen Mord gegeben, da dachte ich, ein wenig Abwechslung würde euch allen gut tun“, sagte der schwarzweiße Bär. „Weil ihr alle so eine gute Führung gezeigt habt und es immerhin schon einen Mord gegeben hat, dachte ich, ich belohne euch ein bisschen. Da das hier eine Schulexkursion ist, muss euch euer Lehrer schließlich auch irgendwann erlauben, zuhause anzurufen.“ „Ist das wahr?“ Jou war aufgesprungen. „Du lässt uns telefonieren?“ „Aber ja, aber ja“, versprach Monokuma. „Koushiro hat doch eine Karte von der Insel, wenn ich mich nicht irre. Wir werden einen kleinen Wandertag zum Strand einlegen. Ich zeige ihn euch auf der Karte. Dort habe ich ein paar Telefonzellen aufgebaut.“ Dieser Ankündigung folgten gemischte Gefühle. Die meisten waren sich einig, dass an diesem verlockenden Versprechen etwas faul war. Schon die Tatsache, dass Monokuma Telefonzellen installiert haben sollte, war verdächtig – warum Telefonzellen und kein Satellitentelefon oder etwas anderes, womit sie von einer einsamen Insel aus ihre Eltern anrufen konnten? Die andere Fraktion beharrte darauf, die Außenwelt zu kontaktieren. Und es schien auch ein sinnvoller Schritt: Sie wurden mittlerweile sicher schon vermisst. Wenn sie Bescheid geben konnten, dass sie entführt und auf einer Insel gestrandet waren, könnten ihre Eltern die Polizei einschalten und ihre Schritte nachverfolgen. Dann würde man vielleicht ausforschen, wer hinter der Sache steckte und wohin man sie verschleppt hatte. Nur warum sollte Monokuma ihnen diese Möglichkeit überhaupt bieten? Der intellektuelle Teil der Gruppe fand das merkwürdiger als alles andere, doch die Hoffnung, endlich jemanden zu erreichen, der ihnen helfen konnte, gewann schließlich die Oberhand.   Es war früher Nachmittag, als sie den Strand erreichten. Erst hatten sie den Weg eher vorsichtig zurückgelegt, da sie ein Attentat von Monokuma erwarteten, aber da nichts geschah, wurden sie bald leichtsinniger. Und wenn man es genau nahm, hatte Monokuma nie direkt etwas gegen sie unternommen … Er hatte immer nur gewollt, dass sie sich gegenseitig umbrachten. Jou konnte aber nicht behaupten, dass ihn der Gedanke sonderlich beruhigte. Die Telefonzellen waren tatsächlich in einer Linie auf einem herrlichen Sandstrand aufgestellt. Es war das erste Mal, dass sie das Meer sahen. Es gab elf der Kästen, genau so viele, wie sie waren – ein Zufall? Monokuma wartete davor und winkte ihnen zu. Jou hatte es aufgegeben zu überlegen, wohin der Bär immer verschwand und wie er so schnell wieder an anderen Orten auftauchen konnte. „Willkommen, Schülergruppe“, begrüßte er sie. „Seht ihr? Ich habe die Wahrheit gesagt.“ „Und die alten Dinger funktionieren?“, fragte Taichi wenig überzeugt. „Ich habe sie so modifiziert, dass man damit Tokio erreichen kann“, erklärte Monokuma stolz. Früher haben sie nur generelle Informationen und Wettervorhersagen überbracht. Was bin ich doch schlau, nicht?“ „Nicht“, betonte Yamato. „Ich kann’s irgendwie nicht glauben, dass du uns einfach so unsere Eltern anrufen lässt. Die Sache stinkt.“ „Puhuhu.“ Monokumas Kichern hatte etwas Unheilvolles. „Natürlich dürft ihr nicht einfach irgendwen anrufen. Ich als euer Schulleiter muss schließlich dafür sorgen, dass alles im Bereich des Ordentlichen bleibt.“ „Ich wusste, dass ein Haken dran ist“, sagte Daisuke düster. „Ihr dürft als Schüler natürlich in eurer Heimat anrufen, aber ich will euch ja zur Selbstständigkeit erziehen. Darum will ich nicht, dass ihr eure Erziehungsberechtigten anruft, sondern andere Leute in Tokio. Ich habe die Leitungen fix verlegt, jede Telefonzelle verbindet genau zu einem Telefon in eurer Heimat. Und natürlich ist es genau vorgeschrieben, wer von euch welche Telefonzelle betreten darf.“ „Mit anderen Worten, du bestimmst, wen wir anrufen dürfen“, knurrte Yamato. „Na toll.“ „Glaubt ihr denn, der Lehrer hätte auf einem Schulausflug weniger Autorität als in einem Klassenzimmer?“, kicherte Monokuma. „Das ist ein Missverständnis, dem sich allzu viele Schüler jährlich hingeben. Nur weil wir abseits der Schulmauern sind, habt ihr keine Freikarte zur Zügellosigkeit.“ „Was ist denn Zügelloses daran, wenn man nur seine Eltern anrufen will?“, seufzte Jou, doch er stieß auf taube Ohren. „Noch etwas“, sagte Monokuma, als sie sich den Telefonzellen näherten. „Ich werde streng darauf achten, dass ihr die Regeln nicht brecht. Wer in die falsche Telefonzelle geht, wird von Shellmon bestraft.“ „Shellmon?“, fragten sie wie aus einem Munde, und wie aufs Stichwort begann die Erde zu beben. Etwas bohrte sich mit einem Kreischen aus dem Sand hervor – ein riesiges Meeresschneckenhaus, so groß wie ein Kleinbus. Den Freunden blieb entweder die Luft weg oder sie stießen sie in einem Schrei aus. Aus dem Schneckenhaus kroch ein rosafarbenes, schleimig wirkendes Etwas mit einem großen Maul und dicken Pranken. Jou glaubte, im falschen Film zu sein. „Ist das … Ist das eines dieser Digimon, von denen Ken geredet hat?“, platzte Koushiro heraus. Jou fiel der schwarze Ring auf, den das Wesen um die Kehle trug, und fühlte sich an Andromon erinnert … Aber während das noch ein Roboter und somit einigermaßen realistisch gewesen war, überstieg dieses Wesen hier seinen Horizont. „Puhuhuhu“, machte Monokuma. „Ja, das ist ein Digimon, und es ist ein folgsames Helferlein von mir. Seid also genauso folgsam, wenn ihr nicht ein unschönes Ende finden wollt. Ich beobachte euch.“ Sprach er, und verschwand hinter einer Sanddüne. Shellmon fixierte die Menschen wachsam, rührte sich ansonsten aber nicht. Taichi war der Erste, der die Telefonzellen inspizierte. In den Rahmen einer jeden war der Namen desjenigen eingeritzt, der sie betreten durfte. Jou wagte es zuerst gar nicht, tatsächlich zu telefonieren. Auch dabei war Taichi der Erste. Sie hörten nicht, was er sprach, da er die Tür hinter sich schloss, aber es dauerte nicht lange. Als er auf den Strand trat, wirkte er irgendwie … verstört. „Und?“, wollte Yamato wissen. „Alles Schwachsinn“, brummte Taichi. „Monokuma ist ein Arsch. Ich hab … um Hilfe gerufen, aber ich glaube nicht, dass die verstanden haben, was ich will.“ „Wen konntest du denn anrufen?“, fragte Mimi. „Keine Ahnung, wer das war.“ „Dann eben ungefähr! Hat es wirklich nach Tokio verbunden? War es ein Mann oder eine Frau? Hast du irgendeinen Dialekt gehört? Wonach hat sich …“ „Verdammt, ruf doch selbst wen an, wenn du’s unbedingt wissen willst!“, fuhr er sie an und Mimi zuckte zusammen. „Das war jetzt unnötig“, befand Yamato. „Ach, lasst mich doch in Ruhe!“ Nach dieser Eröffnung fiel es Jou noch schwerer, seine Telefonzelle aufzusuchen. Auch die anderen zögerten, aber wieder triumphierten irgendwann Hoffnung und Neugier. Als er selbst die alte Box betrat, sah er einen kleinen Zettel auf dem Telefon kleben. Regeln für die Benutzung der Telefonzelle, stand da. 1) Schließe die Tür, bevor du telefonierst. 2) Jeder Schüler kann nur eine bestimmte Person anrufen. Diese Person ist vorbestimmt. Damit die Schüler zur Selbstständigkeit erzogen werden, hat der Schulleiter sichergestellt, dass es sich dabei nicht um einen Erziehungsberechtigten, Freund, Bruder oder eine Schwester des Schülers handelt. 3) Über den Inhalt des Gesprächs ist Stillschweigen zu bewahren. 4) Der Schüler darf nach dem Gespräch nichts über seinen Gesprächspartner preisgeben. 5) Bei Nichteinhalten einer dieser Regeln droht eine schwere Strafe. Daher wehte also der Wind. Taichi hatte auch so einen Zettel gefunden. Es war ihm nicht erlaubt gewesen, etwas von dem Gespräch zu erzählen … Die Sache wurde immer suspekter. Jou war jemand, der sich gern an Regeln hielt. Aber diese Regeln, die so vollkommen willkürlich und boshaft waren, störten ihn ungemein. Vielleicht nahm er deswegen nun doch den Hörer ab und lauschte, während automatisch die Verbindung aufgebaut wurde. Das flaue Gefühl in seinem Magen steigerte sich bis ins Unerträgliche, ehe jemand abhob. „Hallo?“, fragte eine weibliche Stimme. „Äh, ja … hallo“, brachte Jou mit einiger Verspätung über die Lippen. Sein Herz pochte wie wild. Immerhin in einem schien Monokuma die Wahrheit gesagt zu haben: Sie konnten tatsächlich andere Menschen anrufen. „Hier ist Jou Kido von der … äh … Hope’s Peak-Akademie … Ich bin hier … Das heißt …“ „Hallo?“, unterbrach die Frau ihn. Ihm brach der Schweiß aus. „Ähm … hallo?“ „Hallo? Hören Sie mich? Wer ist da?“ Er hätte am liebsten aufgeheult. Sie durften offenbar jemanden anrufen, aber diejenigen konnten sie nicht hören! Seufzend wollte er schon wieder auflegen, als die Frau ihn mit bebender Stimme fragte: „Sind Sie … auf der File-Insel? Bitte … wissen Sie, wo ich festgehalten werde? Sie wissen es doch, oder?“ Jou erstarrte wie vom Blitz getroffen. Obwohl ihm klar war, dass sie ihn nicht hören konnte, sprudelten die Worte aus seinem Mund. „Was meinen Sie? Wer sind Sie? Ja, ich bin auf der File-Insel, mein Name ist Jou Kido, und wir wurden entführt! Sind Sie auch hier? Sind Sie auch entführt worden?“ Ein ersticktes Schluchzen ertönte. Jou bekam eine Gänsehaut. „Bitte … wenn Sie wissen, was hier vorgeht, kommen Sie und retten Sie mich! Ich werde bedroht, ich darf Ihnen nur sagen, dass ich Yuuko heiße und … Und Sie sollen herkommen, wenn Sie mich retten wollen … Sie haben bis morgen Abend Zeit …“ „Wohin? Wer bedroht Sie? Was ist überhaupt los?“ „Ich muss auflegen … Ich hoffe, Sie hören mich … Bitte, beeilen Sie sich …“ Sie nannte ihm noch eine Adresse im Tokioter Innenbezirk, dann erstarb die Leitung mit einem Knacken. Minutenlang stand Jou mit dem Hörer in der Hand in der Telefonzelle. Als er endlich wieder auf den Strand trat, bewegte er sich wie ein Roboter. Er war der Letzte, der fertig war – und die anderen waren ebenfalls äußerst still. Jou machte den Mund auf, erinnerte sich dann aber daran, dass er schweigen musste. Was war das wieder für eine Teufelei, die Monokuma sich ausgedacht hatte? Jener erwartete sie auf der Klippe, die den Strand eingrenzte. „So, da ihr nun sicher alle erleichtert seid, weil ihr die Gewissheit habt, dass es in der Zwischenzeit keine Zombieapokalypse gab und ihr die letzten lebenden Menschen seid, wird es Zeit zurückzugehen. Passt auf, wohin ihr eure Füße setzt. Bis ihr wieder in der Spielzeugstadt seid, ist es dunkel.“ Ausnahmsweise erwiderte keiner etwas auf die absurden Worte ihres absurden Schulleiters. Schweigsam trotteten sie los.   Der Rückweg war deprimierend. Sie kamen tatsächlich erst lange nach Einbruch der Nacht in der Spielzeugstadt an und verzichten sogar auf ein gemeinsames Abendessen. Stattdessen plünderte jeder von ihnen für sich die Speisekammer und verzog sich in sein Haus. Hikari hatte Lust, bei Taichi zu klingeln. Sie wusste, dass in jedem der Häuser nur genau ein Bett stand, aber im Moment fühlte sich die Erinnerung an die Tage, an denen sie nach einem Albtraum noch zu ihm unter die Decke gekrochen war, warm und angenehm an. Letzten Endes erstickte dieses Vorhaben an der allgemeinen Schweigsamkeit. So schloss sie sich in ihr Haus ein, aß ein paar langsam schrumpelig werdende Äpfel als Abendessen und legte sich schlafen. In ihrem Kopf drehten sich die Gedanken um diesen Mann, den sie an der Strippe gehabt hatte. Er hatte sie angefleht, ihm zu helfen – in Tokio, innerhalb des nächsten Tages. Was nichts anderes bedeutete, als dass sie jemanden ihrer Kameraden töten müsste, um von hier wegzukommen … falls Monokuma sie dann wirklich wegließ. Sie schüttelte den Kopf und zog sich die Decke bis zur Nasenspitze. Allein diese Überlegung war verrückt. Sie würde keinen Mord begehen, schon gar nicht für einen Fremden, den sie nur übers Telefon gehört hatte und von dem sie nicht einmal wusste, ob er wirklich in Gefahr war. Zweifellos war es das, was Monokuma wollte. Ein Motiv für einen neuerlichen Mord schaffen. Sie schnaubte. Als ob irgendjemand von ihnen so dumm wäre, anzubeißen. Am nächsten Morgen war sie früh wach, aber obwohl die Sonne durch das Fenster schien, hatte sie keine Lust aufzustehen. So blieb sie im Bett liegen, während die finsteren Gedanken von gestern sie wieder einholten und in ihrem Gehirn herumtosten wie eine Horde gemeiner Kobolde. Als die Stimme laut und klar von draußen ertönte, zuckte sie zusammen. Es war Monokuma, und es hörte sich an, als würde er durch ein Megaphon vom höchsten Turm der Spielzeugstadt brüllen. Und was er brüllte, ließ ihr das Blut in den Adern gefrieren. „Eine Leiche wurde gefunden. Nach einer gewissen Zeit werden wir den Klassenprozess abhalten. Ich wünsche frohes Ermitteln.“ „Nein“, keuchte Hikari. „Neinneinneinneinnein!“ Sie schwang die Beine aus dem Bett und war so schnell bei der Tür, dass ein plötzliches Schwindelgefühl sie beinahe wieder umwarf. Sie erinnerte sich gerade noch daran, sich etwas anzuziehen, und hüpfte schließlich auf einem Bein aus dem Haus, während sie noch in ihre Hose schlüpfte. Ihre Schuhe ließ sie stehen. Sie musste nicht lange suchen. Zwei Häuser weiter sah sie die anderen. Taichi war noch in Unterwäsche, sein Haar zerzauster als üblich. Mimi war weiß wie die sprichwörtliche Wand. Miyako hatte ihre Brille in der Eile nicht aufgesetzt und Iori war barfuß unterwegs … Und dann kam die Leiche in Sicht, von der Monokuma gesprochen hatte. Hikari schlug die Hände vors Gesicht. Das Opfer lag auf dem Bauch, und im ersten Moment erkannte sie nur einen blonden Haarschopf dort auf den Pflastersteinen. Ihr Herz drosch wie verrückt gegen ihren Brustbkorb, als ihr der Gedanke kam, dass es Takeru sein könnte, der dort lag … Als sie sah, dass er es nicht war, fühlte sie einen Hauch von Erleichterung und schämte sich sofort dafür. „Scheiße!“, jaulte eben Taichi auf. „Wer macht so was?“ Nach und nach kamen auch die anderen hinzu. Hikari konnte nicht sagen, ob sie mittlerweile vollzählig waren. Sie konnte ihren Blick nicht von Yamato loseisen, der leblos dort auf der Straße lag. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)