Ein Leben wie dieses von Juju ================================================================================ Kapitel 14: Meinungsfreiheit ---------------------------- Montag, 24. April 2006   Schon als sie T.K. vor der Schule gemeinsam mit Yolei und Cody auf sie warten sah, spürte sie ein unruhiges Kribbeln in ihrer Magengegend. Sein bloßer Anblick gepaart mit der Erinnerung an den Kuss am Freitag lösten in ihr Herzrasen aus und ließen sie die Probleme ihrer Eltern fast schon für einen kurzen Moment vergessen. Gestern waren sie aus ihrem Kurzurlaub zurückgekehrt. Offensichtlich hatten sie wirklich alles in Ruhe besprochen, denn sie hatten Kari und Tai erklärt, dass sie sich von nun an beide mehr um ihre Ehe bemühen wollten und eventuell sogar eine Paartherapie in Betracht zogen. Auf keinen Fall wollten sie sich aber jetzt trennen. Das hatte Kari vorerst beruhigt. „Guten Morgen“, rief sie den anderen entgegen und umarmte sie. Tai ging zu Matt und Sora, die mit einem kleinen Abstand neben den drei Jüngeren gestanden hatten. „Wo ist eigentlich Davis?“ „Keine Ahnung. Wir sollten aber langsam mal rein gehen, sonst kommen wir zu spät“, antwortete Cody und blickte besorgt Richtung Tür. Die vier Jüngeren und auch Tai, Matt und Sora betraten das Schulgebäude. Dort angekommen traf sie allerdings fast der Schlag. Yolei schnappte nach Luft, alle anderen blieben einfach mit offenen Mündern stehen. „Krass“, hörte Kari Tai murmeln. Überall im Foyer wurden sie von Matt angestarrt. An den Wänden und Schließfächern rings um sie herum waren Plakate aufgehängt worden, die ihn zeigten. Dabei war von Kleinkindfotos bis heute alles dabei. Verziert waren diese Bilder mit Sprüchen wie „männliche Schlampe“, „Danger! Keep out!“, „Eltern haften für ihre Kinder“ oder „Gotta catch 'em all!“. Die Fotos waren vielfältig gewählt. Es gab harmlosere, die ihn beispielsweise auf der Bühne mit seiner Gitarre zeigten, aber auch Fotos, die man eher nicht der Öffentlichkeit preisgab, wie zum Beispiel im Alter von vielleicht vier Jahren beim Essen oder im Alter von fünfzehn Jahren beim Rauchen. Im Foyer tummelten sich viele Schüler, die sich alle zu ihnen umdrehten und miteinander tuschelten, über die Bilder lachten oder sie einfach nur überrascht anstarrten. Die Schüler, die nach ihnen das Gebäude betraten, blieben ebenfalls stehen und sahen sich um. „Was ist denn hier passiert?“, rief Davis, der plötzlich neben Kari stand. T.K. ging kommentarlos zum nächstbesten Plakat und riss es von der Wand. Tai und Sora taten es ihm sofort gleich. Kari drehte sich zu Matt um. Sein Blick wirkte fast schon gleichgültig, doch er rührte sich nicht von der Stelle. „Matt“, sagte Kari, „du musst zum Schulleiter.“ Für den Bruchteil einer Sekunde sah Matt sie an und deutete mit einem Kopfnicken in Richtung der Treppe, die ins obere Stockwerk führte. Etwa in der Mitte stand Herr Watabe und überblickte die Schülerschar. „Alle Schüler begeben sich sofort in ihre Klassenräume! Der Unterricht beginnt in wenigen Minuten!“, brüllte er über das Geschnatter der Schüler hinweg. Er stieg die restlichen Stufen hinunter und kam auf Matt zu. „Yamato, komm bitte mit in mein Büro.“ Tai und Sora und auch Yolei und Cody hatten sich auf den Weg in ihre Klassenräume gemacht, doch Kari und Davis blieben bei T.K. stehen. „Komm schon“, forderte Davis ihn auf. „Wir müssen auch.“ „Ich lass' das hier bestimmt nicht hängen“, zischte T.K. und riss akribisch ein Plakat nach dem anderen ab. „T.K., du bekommst Ärger“, sagte Kari und berührte ihn am Arm, doch er schüttelte ihre Hand ab. „Ihr drei da, geht in eure Klassen“, forderte Herr Watabe sie auf. „Nicht bevor dieser Mist hier weg ist“, erwiderte T.K. grimmig und drehte sich nicht einmal um. Mittlerweile waren sie die einzigen Personen im Foyer. „Geht in eure Klassen, oder ich trage euch eine unentschuldigte Fehlstunde ein“, drohte Herr Watabe. T.K. fuhr herum. „Falls sie es noch nicht geschnallt haben, das ist mein Bruder, der hier überall hängt! Und ich dachte, wir wären hier auf einer Schule, an der Verleumdung und Demütigung nicht geduldet wären!“ „T.K.!“, sagte Matt scharf. „Takaishi, zum letzten Mal. Geh in deine Klasse, oder es wird ein Nachspiel geben“, sagte Herr Watabe ruhig und sah T.K. streng an. Einen Augenblick stand T.K. da und starrte sowohl den Direktor als auch seinen Bruder wütend an, bevor er das Plakat, was er zuletzt abgerissen hatte, zusammenknüllte und Herr Watabe vor die Füße warf. „Nach dem Unterricht in meinem Büro“, rief Herr Watabe, als T.K. sich umdrehte und davonlief. Davis und Kari eilten ihm hinterher. „Sag mal, bist du irre?“, fragte Davis, der links neben T.K. lief. „Was sollte das? Jetzt kriegst du bestimmt ziemlichen Ärger“, sagte Kari stirnrunzelnd. Sie befand sich an T.K.s anderer Seite. „Mir doch egal“, brummte T.K., den Blick stur geradeaus gerichtet. „Was will er denn schon machen? Meine Mutter anrufen?“ _ „Setz dich“, forderte Herr Watabe Matt auf und deutete auf den Stuhl gegenüber seines Schreibtischs. Matt ließ sich darauf fallen und sah Herr Watabe über den Tisch hinweg an. „Also“, begann er und beugte sich nach vorn, die Ellbogen auf der Tischplatte abstützend, „hast du eine Vorstellung, wer das gewesen sein könnte?“ „Vermutlich jemand, der mich nicht sonderlich mag“, erwiderte Matt trocken. Herr Watabe zog eine Augenbraue hoch. „Yamato, es ist mir ernst. Sollte es ein Schüler unserer Schule gewesen sein, wird dieser auf jeden Fall einen Verweis erhalten. So etwas kann ich hier nicht dulden. Also überlege bitte, ob dir jemand einfällt, der das gewesen sein könnte.“ Nachdenklich sah Matt sich um. Der Raum war hell und lichtdurchflutet. Grüne Pflanzen zierten die Fensterbänke, gestreifte Vorhänge schirmten neugierige Blicke von außen ab und Fotos auf dem Schreibtisch zeigten die Kinder des Direktors. Hinter Matt befand sich ein Schrank voller Bücher und Aktenordner. Der Boden war mit Teppich ausgelegt und an den Wänden hingen einige Landschaftsgemälde. Alles in allem hatte man hier drin nicht den Eindruck, sich noch in einer Schule zu befinden. „Nein“, antwortete Matt wahrheitsgemäß. Eigentlich fragte er sich eher, wie derjenige an seine Kinderfotos gekommen war. Herr Watabe beobachtete ihn einige Augenblicke, bis er sich schließlich zurücklehnte. „Nun gut“, sagte er. „Das Ganze muss irgendwann am Wochenende geschehen sein. Jemand muss sich unerlaubterweise Zutritt zur Schule verschafft haben. Ich werde natürlich umgehend dafür sorgen, dass diese... Schmierereien verschwinden.“ Matt nickte langsam. „Kann ich jetzt gehen?“ „Ja, aber bitte geh in deinen Unterricht“, sagte Herr Watabe. Matt stand auf und ging zur Tür. Er drückte die Klinke herunter, doch bevor er das Büro verließ, drehte er sich noch einmal um. „Ach, Herr Watabe?“ „Hm?“ Fragend sah er ihn an. „Könnten Sie bitte mit meinem Bruder nicht allzu streng vorgehen? Ich bin sicher, er hat es nicht so gemeint.“ Herr Watabe faltete die Hände auf seinem Schreibtisch. „Wir werden sehen.“ _ „Hast du eigentlich die Plakate gesehen?“, flüsterte Izzy Mimi während der Mathestunde zu. „Wer hat die nicht gesehen?“, fragte Mimi kopfschüttelnd. Natürlich waren diese Plakate das Erste, was ihr ins Auge gesprungen war, nachdem sie das Schulgebäude betreten hatte. Obwohl sie unmöglich fand, was diese Kleinkriminelle getan hatte, hatte sie sich ein schadenfrohes Lächeln nicht verkneifen können. Dagegen war ihre Idee, ihm eine Schwangerschaft vorzutäuschen, ein Witz. „Ganz schön fies“, kommentierte Izzy. „Tze“, machte Mimi nur. „Morgen sind die wieder weg und in einer Woche haben alle vergessen, dass es sie überhaupt gab.“ „Mimi, ich glaube nicht, dass du es dir nach deinem letzten Testergebnis leisten kannst, im Unterricht nicht aufzupassen“, unterbrach Herr Kuugo ihr Gespräch und warf ihr einen strengen Blick zu. Sofort wandte Mimi sich wieder ihrem Blatt zu und murmelte eine Entschuldigung. „Das klingt fast so, als hättest du sie aufgehangen“, flüsterte Izzy nach ein paar Minuten. „Ich?!“, rief Mimi empört und alle drehten sich zu ihr um. Herr Kuugo hielt in seinen Erläuterungen inne, verschränkte die Arme vor der Brust und sah Mimi mit hochgezogenen Augenbrauen an. „Entschuldigung“, nuschelte sie und senkte den Blick. Herr Kuugo drehte sich wieder zur Tafel und fuhr mit seinem Unterricht fort. „Also weißt du, zwar finde ich, dass Matt eine Abreibung verdient hat, aber ich würde ihn doch niemals so bloßstellen. Das ist nicht mein Stil. Ich bin enttäuscht, dass du sowas von mir denkst, Izzy“, zischte sie Izzy nach einigen Augenblicken der Stille zu. „Aber so habe ich das doch gar nicht gemeint. Ich habe dich nicht verdächtigt“, widersprach Izzy sofort im Flüsterton. „Das hoffe ich“, erwiderte Mimi. „Wenn ich mich an ihm rächen würde, dann würde ich eher -“ „Raus jetzt! Mir reicht's!“, rief Herr Kuugo plötzlich und deutete mit ausgestrecktem Arm zur Tür. „Das ist doch hier kein Kaffeekränzchen! Klär das draußen und heute Nachmittag sehen wir uns im Büro des Schulleiters!“ Starr vor Schreck saß Mimi auf ihrem Platz. Noch nie war sie aus dem Unterricht geworfen worden, auch nicht in den USA. In der Klasse war es mucksmäuschenstill und alle starrten sie an. Sie spürte, dass sie hochrot anlief und stand langsam auf, um den Klassenraum zu verlassen. _ Beim Mittagessen in der Mensa wurde Matt von wahrscheinlich zwanzig Schülern gefragt, ob er wusste, wer für die Plakate verantwortlich war. T.K. stocherte unterdessen mit finsterer Miene in seinem Essen herum, ohne wirklich etwas zu sich zu nehmen. „Vielleicht solltest du noch zur Polizei gehen und Anzeige erstatten“, schlug Yolei vor. Matt runzelte die Stirn und schüttelte den Kopf. „Darüber solltest du wirklich mal nachdenken“, stimmte Sora Yolei zu. „Heute sind es nur Plakate, aber wer weiß, was morgen passiert. Nicht, dass dir jemand ernsthaft was antun will.“ „Vielleicht will dir jemand ernsthaft schaden“, mischte Cody sich ein. „Ach was, macht euch doch nicht so viele Gedanken“, erwiderte Matt und machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ich frage mich wirklich, wer sich so viel Zeit nimmt und die ganzen Plakate ausdruckt, beschriftet und aufhängt“, murmelte Davis und stützte den Kopf auf den Händen ab. „Das hat doch sicher lange gedauert.“ „Anscheinend jemand, der keine Hobbys hat“, sagte Tai trocken. „Vielleicht war es auch einfach jemand, der seine Spielchen satt hat und sich nicht einfach so verarschen lässt“, sagte Mimi schnippisch. Matt warf ihr einen genervten Blick zu. „Halt die Klappe, Mimi. Niemand hat nach deiner Meinung gefragt“, fuhr Tai sie an. „Ich dachte, wir leben in einem Land, in dem es jedem erlaubt ist, seine Meinung frei zu äußern“, giftete Mimi zurück. „Richtig, und deswegen darf ich dir auch offen sagen, dass mich deine Meinung nicht interessiert“, gab Tai zurück. „Oh Leute, bitte!“, rief Sora und sah beide verzweifelnd an. „Streitet euch doch nicht. Wir sollten lieber zusammenhalten, wenn jemandem so etwas passiert wie Matt heute.“ Tai und Mimi wandten sich ab und sprachen während des restlichen Mittags kein Wort mehr. „Sag mal, Kleiner, war das vorhin eigentlich wirklich nötig?“, fragte Matt, als sie gemeinsam auf den Pausenhof gingen, um noch ein wenig frische Luft vor dem Nachmittagsunterricht zu schnappen. T.K. warf seinem Bruder einen mürrischen Blick zu. „Hätte es DIR denn gefallen, wenn du MEIN Gesicht überall an den Wänden gesehen hättest?“ „Nein, aber das wäre für mich kein Grund gewesen, mich mit Herrn Watabe anzulegen“, antwortete Matt trocken. T.K. lachte verächtlich. „Du bist doch der Rebell von uns beiden.“ „Aber ich sehe gerade, dass mein kleiner Bruder anscheinend ein wenig nach mir kommt“, erwiderte Matt und zerzauste ihm das Haar. T.K. konnte ein wenig Stolz aus seinem Tonfall heraushören. „Matt, das ist nicht witzig. Yolei und Sora haben Recht. Wer weiß, was noch passieren könnte“, sagte er, blieb stehen und schob die Hände in die Hosentaschen. Matt verdrehte die Augen. „Mach dir doch keinen Kopf. Ich -“ „Ich bin nicht bescheuert. Ich weiß, was du so nach deinen Konzerten machst und kann mir denken, dass das der Grund dafür ist, weshalb hier diese Plakate von dir hingen“, unterbrach T.K. ihn und funkelte ihn an. Matt kümmerte diese Aktion anscheinend kein bisschen. Alle anderen machten sich mehr Sorgen um ihn als er selbst. Matt schwieg und sah ihn schief an. „Vielleicht solltest du aufhören damit“, sagte T.K. nach einer Weile und ging zu Davis, Kari, Yolei und Cody. _ „Du hast Tai bestimmt noch nicht gefragt, ob er dir Nachhilfe gibt?“, fragte Izzy vorsichtig, als sie wieder in ihrem Klassenraum saßen und sah sie von der Seite an. „Nein und ich glaube nicht, dass ich das noch tun werde“, antwortete sie stur und holte ihre Bücher aus ihrer Tasche. Izzy seufzte und stützte den Kopf auf der Hand ab. „Süße, wenn du Nachhilfe brauchst, kann ich dir auch welche geben und zwar nicht nur in Mathe.“ Izzy und Mimi drehten sich empört zu Katsuro um, der Mimi angrinste. „Wie bitte?“, zischte Mimi und in ihren Augen blitzte es. „Du hast mich schon gehört. Der Nerd hat ja anscheinend keine Zeit für dich. Oder er ist schwul, das halte ich für am wahrscheinlichsten“, sagte Katsuro lässig und warf Izzy einen überlegenen Blick zu. Izzy musste zugeben, dass er sich durch diese Bemerkung ziemlich verletzt fühlte. Ohne Worte drehte er sich wieder um und beugte sich über seinen Schreibblock, um so zu tun, als würde er sich vor dem Unterricht noch etwas durchlesen. „Ach, Katsuro, versuch doch nicht, deinen winzigen Penis mit deiner riesigen Arroganz zu überspielen. So arrogant kann kein Mensch sein“, sagte Mimi tonlos und drehte sich ebenfalls um. Izzy sah sie mit großen Augen an und die Schüler um sie herum, die Mimi gehört hatten, begannen zu lachen und wiederholten für ihre Banknachbarn, was Mimi gesagt hatte. „Das kriegst du wieder, Tachikawa“, hörte Izzy Katsuro zischen. _ „Sag mal, müsst ihr euch eigentlich ständig streiten? Du und Mimi, meine ich“, sagte Sora in einer Pause zwischen zwei Unterrichtsstunden. Tai hatte den Kopf auf die Arme gelegt, die Augen geschlossen und versuchte, ein wenig zu schlafen. Sora stützte den Kopf auf den Händen ab und musterte ihn besorgt. „Das bringt euch doch beide nicht weiter. Außerdem bin ich mir sicher, dass du sie verletzt mit dem, was du immer sagst“, redete Sora weiter. „Na und? Sie nervt eben mit ihrer hochnäsigen Art“, murmelte Tai, ohne die Augen zu öffnen. „Das meint sie doch nicht so. Sie kann sehr lieb und fürsorglich sein, aber wenn du sie ständig dumm anmachst, ist es kein Wunder, dass sie so ist“, antwortete Sora. „Davon, dass sie lieb sein kann, hab ich schon lange nichts mehr gesehen“, brummte Tai. Und wenn er darüber nachdachte, dann hatte er ihre wirklich guten Seiten wohl vor über vier Jahren zum letzten Mal gesehen. Außerdem brachte es doch ohnehin nichts, wieder eine engere freundschaftliche Beziehung zu ihr aufzubauen, da sie nur ein Jahr in Japan bleiben würde. „Hast du schon mal darüber nachgedacht, dass sie es momentan nicht leicht hat?“, fragte Sora und klang nun streng. „Sieh mal, sie hat ihre ganzen Freunde der letzten Jahre alle in Amerika zurückgelassen und ist nun für nur ein Jahr in Japan und muss hier Anschluss finden. Und bevor sie sich richtig eingelebt hat, ist sie auch schon wieder weg. Und dazu hat sie auch noch schulische Probleme.“ „Pf“, machte Tai. „Ihr Papi bezahlt ihr bestimmt einen Nachhilfelehrer. Und Anschluss hat sie doch schon gefunden, Izzy kümmert sich doch um sie.“ Sora verpasste ihm mit dem Ellbogen einen Stoß gegen den Arm. _ Benjiro, ein Junge aus T.K.s Klasse, der ebenfalls im Basketballteam der Mittelschule spielte, wartete nach dem Unterricht wie gewohnt auf ihn. „Mach schon, du weißt, wie begeistert der Trainer immer ist, wenn einer zu spät kommt“, rief er T.K. von der Tür aus zu. „Ich komm' heute nicht. Muss nachsitzen“, brummte T.K. und beeilte sich nicht, seine Sachen einzupacken. „Was? Du musst nachsitzen? Warum?“ Benjiro zog eine Augenbraue in die Höhe und musterte ihn ungläubig. „Er hat sich mit dem Direktor angelegt“, antwortete Davis für ihn und schulterte seine Schultasche. „Kommst du, Kari?“ Kari stand ein wenig unschlüssig neben T.K. und beobachtete ihn. „Geh schon. Ich finde den Weg schon allein“, sagte T.K. etwas spöttisch, ohne sie anzusehen. „Hey, das ist kein Grund, so mit Kari zu reden!“, rief Davis wütend. „Lass gut sein, Davis“, sagte Kari, die sich nicht anmerken ließ, dass sie sauer oder verletzt war. Ohne ein weiteres Wort verließen sie und Davis den Klassenraum. Benjiro sah ihnen verwirrt hinterher. „Und warum hast du jetzt Stress mit Watabe?“, fragte er und wandte sich wieder an T.K. „Wegen dieser Plakate“, murmelte T.K., nahm seine Tasche und ging gemeinsam mit Benjiro aus dem Raum. „Oh, ach ja. Üble Sache. Aber sie sind ja alle wieder weg“, erwiderte Benjiro. „Hat Matt denn eine Ahnung, wer das gewesen sein könnte?“ T.K. seufzte. „Nein.“ Benjiro grinste. „Bestimmt irgendeine Verflossene.“ T.K. zuckte mit den Schultern und vergrub die Hände in den Hosentaschen. Über Matts Verflossene wollte er jetzt nicht nachdenken. Sie kamen zu einem Gang, an dem T.K. zum Schulleiterbüro abbiegen musste. „Ich wünsche dir viel Glück, dass er dich nicht so quält“, sagte Benjiro grinsend und verpasste T.K. einen derben Klaps auf die Schulter. „Und lass dir nicht allzu oft Nachsitzen verpassen. Das ist nicht gut für die Mannschaft.“ „Alles klar“, sagte T.K. und nickte ihm zum Abschied zu. Vor dem Büro des Schulleiters angekommen, klopfte er an die Tür und öffnete, als er hereingebeten wurde. Zu seiner Überraschung stand auch Mimi dort vor dem Schreibtisch und blickte ihn an, als er hereinkam. Auch Herr Kuugo, sein Mathelehrer, stand im Raum. „Da bist du ja“, begrüßte Herr Watabe ihn. „Takeru?“, fragte Herr Kuugo ungläubig. T.K. antwortete nicht, sondern blieb mitten im Raum stehen und sah Herrn Watabe erwartungsvoll an. Dieser griff nach einem Stapel Papier, der auf seinem Schreibtisch lag und stand auf. „Gut, folgt mir beide“, forderte Herr Watabe. Er und Herr Kuugo gingen voran und T.K. und Mimi trotteten hinterher. Sie gingen den Gang entlang zu einem der Unterrichtsräume und traten ein. _ „Miyako, dein Zitronenkuchen sieht wirklich gut aus“, sagte Frau Hirata mit einem Blick in Yoleis Ofen. „Der ist bestimmt gleich fertig.“ „Danke“, sagte Yolei erfreut und sah ebenfalls in ihren Ofen. Im Kochkurs befanden sich außer ihr noch neun andere Mädchen, doch Yolei erhielt stets das meiste Lob der Leiterin. Sie war froh, dass sie diesen Kurs gewählt hatte. Kochen und Backen machte ihr unheimlich viel Spaß und anscheinend besaß sie auch ein kleines Talent dafür. Und nach einem anstrengenden Schultag war das hier wirklich Erholung und Entspannung. Sie nahm sich vor, mal etwas für ihre Freunde zu kochen. Das Piepen der Eieruhr verkündete ihr, dass die Zeit um war. Eifrig öffnete sie die Ofentür und holte den Kuchen vorsichtig mit einem Paar Topflappen heraus. Er verbreitete einen verführerischen Duft und das Mädchen neben ihr warf einen neidischen Blick auf ihn. Yolei konnte nicht anders, als ihren Kuchen anzustrahlen, als hätte er eine Persönlichkeit. Vielleicht sollte sie Bäckerin werden. _ „Der spinnt doch“, murmelte Mimi zum gefühlt hundertsten Mal und starrte auf ihr Aufgabenblatt. „Das ist echt nicht fair.“ „Weshalb musst du eigentlich nachsitzen?“, fragte T.K. und sah von dem Aktenstapel auf, den er sortieren sollte. „Weil Herr Kuugo spinnt“, brummte sie. „Okay?“, erwiderte er verwirrt. „Ich hab im Unterricht zu viel gequatscht“, murmelte sie und ließ den Kopf auf die Tischplatte sinken. „Und du?“ „Hab mich mit Watabe angelegt“, sagte T.K. Mimi sah ihn stirnrunzelnd an. „Du hast dich mit ihm angelegt?“ „Wegen dieser bescheuerten Plakate“, seufzte T.K. „Oh“, machte Mimi. Sie senkte den Kopf und wollte sich wieder ihren Aufgaben zuwenden, doch dann fiel ihr ein, dass sie die Aufgaben nicht einmal verstand. Und Herr Kuugo verlangte doch tatsächlich, dass sie sie am nächsten Tag noch im Unterricht vorstellte. Der Stoff wäre auch Thema der nächsten Klassenarbeit und das Einzige, was sie bisher zustande bekommen hatte, war die Aufgabe abzuschreiben. Ohne Izzy war sie einfach völlig hilflos. Ob er wohl kommen und ihr helfen würde, wenn sie ihn anrief? „So, fertig“, sagte T.K. plötzlich und stand auf. „Wie weit bist du?“ Verzweifelt sah sie ihn an. „Ich... habe noch nicht mal richtig angefangen. Ich kapiere das einfach nicht.“ T.K. schulterte seine Schultasche und kam zu ihr. Er beugte sich über ihr Blatt und las die Aufgaben durch. „Sorry, das kann ich leider auch nicht. Hatten wir noch nicht“, sagte er mitleidig. „Aber Davis und so haben gerade Schluss mit Fußball. Vielleicht ist da jemand aus deiner Klasse dabei, der dir helfen kann?“ „Wer denn?“, fragte Mimi missmutig. Sie hatte zu noch niemandem engeren Kontakt aufgebaut. „Das wird doch nie was. Ich werde mich morgen total zum Löffel machen.“ Sie ließ den Kopf wieder auf die Tischplatte sinken und war den Tränen nahe. Sie hörte, wie T.K. den Klassenraum verließ und sie damit nun endgültig sich selbst überlassen war. _ Nicht gerade bester Laune öffnete Tai die Tür zum Klassenraum, den T.K. ihm genannt hatte, und trat ein. Mimi blickte zunächst verzweifelt, dann überrascht auf. „Was machst du denn hier?“, fragte sie ihn. „Dir helfen“, antwortete Tai entschieden, ging zu ihr, zog sich einen Stuhl heran und setzte sich neben sie. Seine Schultasche und seine Sporttasche hatte er achtlos fallen lassen. „Ähm...“, machte Mimi und sah ihn verwirrt an. „T.K. hat mir gesagt, dass du Hilfe brauchst“, erklärte Tai gelangweilt. „Also zeig mal her hier.“ „Ich kann das allein“, protestierte Mimi nicht sehr überzeugend. Ihr Blick war nun voller Abneigung und Empörung. „Deswegen sitzt du hier auch schon seit zwei Stunden vor einem leeren Blatt“, erwiderte Tai trocken und griff nach ihrem Aufgabenblatt. Er las sich die Aufgaben schnell durch und legte das Blatt zurück auf den Tisch. „Das ist leicht.“ „Tai, was soll das? Warum willst du mir auf einmal helfen?“, fragte Mimi und fixierte ihn mit ihrem Blick. Kurz sah er sie an, wandte sich dann jedoch schnell wieder ab. „Naja, wegen heute Mittag, das war... ähm... lass mich dir doch einfach helfen, okay?“ Das war zwar keine wirkliche Entschuldigung dafür, dass er sie heute Mittag so angefahren hatte, doch mehr wollte er dazu nicht sagen. Außerdem hatte nicht nur T.K., sondern auch Sora dazu beigetragen, dass er jetzt hier bei Mimi saß und ihr helfen wollte. Mimi musterte ihn noch einige Augenblicke, bis sie schließlich nachgab und nach ihrem Stift griff. Sie hatten keine zehn Minuten an der Aufgabe gearbeitet, als die Tür erneut geöffnet wurde und Yolei ihren Kopf herein streckte. „Oh, das ist also der richtige Raum“, stellte sie fröhlich fest, trat ein und schloss die Tür hinter sich. „T.K. hat mir gesagt, dass ihr hier seid und ich dachte, ich bringe euch eine kleine Stärkung.“ Tai runzelte die Stirn, Mimi war erfreut. „Wie schön! Was hast du denn da?“, fragte sie und reckte sich neugierig. „Haben wir gerade im Kurs gebacken. Zitronenkuchen“, antwortete sie und stellte den Kuchen, der nur noch zur Hälfte existierte, auf dem Tisch ab. „Vielleicht sollten wir erst mal die Aufgabe beenden“, mischte Tai sich etwas genervt ein. Eigentlich wollte er nach Hause und nicht hier sitzen, Matheaufgaben lösen und Kuchen essen. „Guter Plan. Und anschließend gibt es dann die Belohnung“, stimmte Yolei ihm grinsend zu. _ „Was musstest du für Watabe machen?“, fragte Davis, als sie gerade auf dem Heimweg waren. Sie hatten sich mehr oder weniger zufällig vor dem Schulgelände getroffen und gingen nun ein Stück gemeinsam nach Hause. „Ein paar Akten alphabetisch sortieren. Total sinnlos, aber besser als Mimis Aufgabe“, antwortete T.K. gelassen. Verdutzt sah Davis ihn an. „Mimi musste auch nachsitzen?“ „Ja, die hatte Stress mit Kuugo.“ Davis stieß einen Seufzer aus. Herrn Kuugo konnte auch er nicht besonders gut leiden und er hatte ebenfalls schon mal bei ihm nachsitzen müssen. Er konnte gut verstehen, wie es Mimi gerade ging. „Naja, Tai hilft ihr ja jetzt“, meinte T.K. Sie schwiegen einen Moment, dann fiel Davis eine Frage ein. „Gibt es schon was Neues wegen der Sache mit Matt?“ „Nein“, antwortete T.K. und klang plötzlich abweisend. „Ich finde es immer noch ziemlich krass. Wer kann das nur gewesen sein?“, überlegte Davis laut und wartete, dass T.K. eventuell eine Vermutung äußerte, doch der schwieg und starrte auf den Boden vor seinen Füßen. „Glaubst du, es war vielleicht ein Mädchen, die sich irgendwie rächen will oder so? Oder vielleicht ein Junge, dem er die Freundin ausgespannt hat.“ Davis grinste und erwartete, dass auch T.K. lachte, doch der schien das gar nicht witzig zu finden. „Was weiß ich“, knurrte er. Davis kratzte sich verwirrt am Kopf. „Wer auch immer es war, ich hoffe, sie erwischen ihn.“ _ „Oh Mann, Yolei, dass du hier aufgetaucht bist, war definitiv der Höhepunkt meines Tages“, sagte Mimi fröhlich und schob sich das letzte Stück Zitronenkuchen in den Mund. Der schmeckte wirklich köstlich, aber das Beste daran war die Füllung aus Vanillecreme. Genüsslich leckte sie sich die Finger ab. „Freut mich, dass der Kuchen so toll ist“, sagte Yolei grinsend. „Ist echt gut geworden. Ich schicke demnächst meine Mutter bei dir in die Lehre“, stimmte Tai zu und Yolei lachte. „Sag doch nicht so etwas Gemeines über deine Mutter. Bestimmt gibt sie sich Mühe“, sagte sie und verstaute die Kuchendose in einer Tüte. „Ich muss jetzt echt los. Habe meinen Eltern versprochen, noch im Laden auszuhelfen. Bis morgen!“ Und schon war sie aufgestanden und aus dem Raum gestürmt. „Ich mache jetzt auch los“, verkündete Tai und stand auf. „Ich komme mit. Ich will keine Sekunde länger hier bleiben“, schloss Mimi sich an. Sie nahm ihre Tasche, stand ebenfalls auf und folgte ihm aus dem Raum. Schnell verließen sie das Schulgebäude und machten sich auf den Heimweg. Mittlerweile war es Abend und Mimis Eltern fragten sich sicher schon, wo sie blieb. Normalerweise wäre sie schon seit drei Stunden zu Hause, aber immerhin musste sie sich nun nicht in der nächsten Mathestunde blamieren. Nur wäre es ihr lieber gewesen, Izzy oder Sora hätten ihr geholfen. „Danke, dass du mir geholfen hast“, nuschelte sie ein wenig verlegen, gerade als ein Auto an ihnen vorbeifuhr. „Was?“, fragte Tai. Jetzt musste sie diesen Satz auch noch wiederholen. „Danke“, sagte sie, nun ein wenig lauter. „Kein Problem. Jetzt sind wir quitt“, erwiderte er lässig. „Quitt?“, fragte Mimi verwirrt. „Ja. Wegen heute in der Mittagspause. Und wegen dem, was ich letztens zu dir gesagt habe“, erklärte er. Mimi wusste zwar noch immer nicht, was genau er mit „letztens“ meinte, doch sie fragte nicht nach. Das Gespräch war ihr ohnehin schon unangenehm. Nie könnte sie ihn fragen, ob er ihr dieses Schuljahr Nachhilfe geben würde. Den Rest des Weges schwiegen sie, bis Mimi in eine andere Richtung weiter musste als er. „Na dann bis morgen“, verabschiedete sie sich von ihm. „Bis dann“, sagte Tai, ohne sie noch einmal anzusehen. _ Müde und hungrig kehrte Matt von der Bandprobe zurück. Sie waren gerade dabei, neue Lieder einzuspielen, was allerdings jedes Mal für Diskussionen sorgte, die dazu führten, dass sie sich weder über den Text noch über die Melodie einig wurden. In Momenten wie diesen dachte Matt hin und wieder über eine Solokarriere nach. An Ideen für Songtexte mangelte es ihm nie. Er nahm die Post aus dem Briefkasten, fuhr mit dem Fahrstuhl nach oben und schloss die Tür zur Wohnung auf. Sein Vater war natürlich noch nicht zu Hause, aber das hatte er auch nicht erwartet. Es machte ihm nichts aus, allein zu essen. Er stellte seine Tasche in der Küche ab, warf die Post auf den Esstisch und erst in diesem Moment fiel ihm der Brief auf, der ganz oben lag. Sein Name stand auf dem Umschlag, allerdings ohne Adresse. Er runzelte die Stirn, öffnete den Umschlag und holte den Zettel darin heraus. Nachdem er ihn auseinander gefaltet hatte, sah er, dass nur ein einziger Satz darauf stand. „Das war erst der Anfang.“ Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)