Vergiss mein nicht von reuab_art (Willkommen im düstersten Kapitel des 19. Jahrhunderts /Otayuri /Victuuri) ================================================================================ Kapitel 7: Poesie ----------------- Kapitel 8 Poesie   Otabek polierte den letzten Altarleuchter, stellte ihn vorsichtig ab und betrachtete seine rauen Hände. Ein leises Seufzen ging über seine Lippen. Was sollte er nur tun? Auf dem Tisch vor ihm lag der Schlüsselbund zu seinem Glück. Oder würde es ihn gar in die Verdammung bringen? Verzweifelt strich er sich die dunklen Haare zurück und legte den Kopf in den Nacken. Der Kirchenraum war nur von wenigen Kerzen erleuchtet und die Schatten des großen Kreuzes fielen auf ihn. Bisher hatte er nie an dem gezweifelt, was er getan hatte. Nichts hatte ihn von seinem Weg abbringen können. Doch nun stand seine ganze Welt Kopf. Langsam ging er auf das von der Decke hängende Kreuz zu und kniete sich auf den harten Steinboden. „Vater, in deine Hände lege ich meinen Geist.“, betete er leise und faltete die Hände. Doch so sehr er sich auch konzentrieren wollte, der bittere Geschmack der Niederlage vergiftete seine Gedanken. Warum war ausgerechnet ihm das Glück vergönnt? Was hatte er der Welt getan, dass er so grausam gestraft wurde. Wütend erhob er sich und seine Augen richteten sich zur Decke. Die Hände zu Fäusten geballt, gab er seinem Frust nach. „Mein Gott, warum hast du mich verlassen?“, schrie er gen Himmel. „Was habe ich falsch gemacht!? Womit habe ich das verdient!?“ Noch wütender schlug er den kargen Blumenschmuck vom Altar, der in seine Einzelteile zerbarst. „Wieso?! Dir ist es doch völlig egal, wie wir leiden! Jeden verdammten Tag habe ich an dich verschwendet! Und soll ich nun in die Hölle kommen, so mag es mein Schicksal sein!“ Ein Messkelch flog klirrend gegen die schlichte Steinwand. „Hörst du mich!? Bin ich nur ein Staubkorn in deinen Augen, wertlos und nicht mehr als ein Wimpernschlag in deinem Plan!?“ Er stieß kraftvoll mit dem Fuß die kleine Kniebank vor dem Altar um, sodass sie einige Meter flog und das Holz lautstark zerbrach. Atemlos sank er zurück auf die Knie und verbarg das Gesicht mit den Händen. Keine Träne konnte ihren Weg finden, auch wenn es noch so sehr schmerzte. Chris stand im Schatten der alten Säulen und besah seinen Schützling sorgenvoll. Mit jeder Faser seines Körpers konnte er die Zweifel des jungen Arbeiters verstehen. Nachdenklich blickte er zum Kreuz auf und suchte nach den passenden Worten. Doch ehe er sich noch bemerkbar machen konnte, wurde eine der großen Kirchentüren leise geöffnet. Schritte hallten über den Gang und Otabek blickte sich erschrocken um. „Ich wusste, ich würde dich hier finden.“, zischte eine unangenehme Stimme und lachte leise. Der Mann trug einen schweren Ledermantel und eine Eisenkette raschelte in seinen Händen. „Schau an, was verschafft mir das Vergnügen, Georgi? Jean traut sich also selber nicht hierher?“ Otabek ging langsam um den Altar herum und die Stufen zum Gang hinunter. Sein Gegenüber zuckte mit den Schultern und erklärte ausschweifend: „Otabek, Otabek, was fühlst du dich doch wichtig! Nein, ich komme nicht deswegen. Ich habe eine Nachricht für dich. Dein Werben ist leider nutzlos, der Junge hat kein Interesse an dir. Du sollst ihn in Ruhe lassen. Er möchte nicht noch einmal von dir belästigt werden.“ Die Eisenkette raschelte unheilvoll. Otabek verzog das Gesicht und verschränkte die Arme vor dem Körper. „So und das hat er dir persönlich gesagt, ja? Deine billigen Tricks kannst du dir sparen.“ Georgi lachte hysterisch, was Otabek ein mehr als ungutes Gefühl im Magen verschaffte. „Nun, ich habe es auf die vernünftige Art versucht. Du lernst wohl nie?“ Mit den Worten stürzte er auf den Arbeiter zu, die Kette als Peitsche gespannt. Etwas unbeholfen wich Otabek aus, fand jedoch keinen Halt und stürzte. Georgi nutzte den Moment und schlug mit dem Eisen aus. Schützend hielt Otabek den Arm vor sein Gesicht, doch nichts berührte ihn. Anstelle dessen klirrten die Ketten auf etwas Metallisches. Perplex besah der Arbeiter die Szene, in der Chris dem Angreifer einen der schweren Altarleuchter entgegengehalten hatte. Der Priester reagierte schnell, zog Georgi kraftvoll zur Seite und wehrte ihn ab. „Otabek, der Stab!“, rief der Reverend nur hastig und zeigte auf den langen Stock, der dem Entzünden der obersten Kerzen diente. Eilig sprang der junge Mann auf, ergriff den Stab und konnte gerade noch einen weiteren Schlag mit der Eisenkette abwehren. Schwungvoll ließ er den Stab kurz kreisen, versetzte seinem Widersachen zwei Stöße in die Rippen und schlug ihm in dem Überraschungsmoment die Beine unter dem Körper weg. Georgi ging mit einem Schmerzensschrei zu Boden und blieb keuchend liegen. Grinsend drückte Otabek ihm die schwere Stange in die Rippen. „Ich glaube, du bist derjenige, der seine Lektion nicht lernt!“, spottete er amüsiert. „Los, verschwinde, bevor ich es mir anders überlege!“ Georgi ließ es sich nicht zweimal sagen und rannte winselnd wie ein Hund davon. Der junge Arbeiter wandte sich an den Priester: „Ich danke euch, ihr seid mein Schutzengel!“ Der Angesprochene musste grinsen. „Nun, dein Gott hat dich nicht verlassen, mein Sohn!“ Chris musste lachen, als er sah, wie der Andere errötete. „Ihr.. ihr habt meine Worte gehört? Oh…“ Peinlich berührt rieb er sich den Nacken. „Die Kniebank baust du aber wieder zusammen, Kind!“, tadelte der Priester ihn zum Spaß und versuchte, ein ernstes Gesicht aufzusetzen. „Aber das kannst du machen, wenn du wiederkommst!“ Mit diesen Worten drückte er dem Jüngeren die Schlüssel in die Hand. „Geh, aber sei vorsichtig!“   Mila rannte die Treppe hinauf und seufzte laut. Der Saal war bis oben hin voll und ausgerechnet sie musste schon wieder nach diesem Jungen schauen. Warum konnte er nicht einfach einmal gehorchen? Eilig öffnete sie die Tür zur Kammer und erwartete schon wieder eine Schimpftirade, doch Stille schlug ihr entgegen. Besorgt durchschritt sie den Raum und entdeckte eine zusammengerollte Gestalt auf dem großen Bett. „Yura? Ist alles ok?“, fragte sie vorsichtig und das Knäuel bewegte sich. Der Junge schien noch blasser als sonst zu sein. Behutsam setzte sich die Empfangsdame zu ihm und strich ihm über die Wange. „Du glühst ja?! Himmel, wann hast du das letzte Mal etwas gegessen und getrunken?“, fragte sie erschrocken und besah das noch immer unangerührte Frühstück. Innerlich schimpfte sie auf Jean, dass er sich so wenig um den Jungen kümmerte. Die Augen ihres Gegenübers sahen müde und abgekämpft aus. Mit einem milden Lächeln strich die Rothaarige ein paar Strähnen aus dem feinen Gesicht. „Ich hole eine Schüssel Wasser und ein Tuch für deine Stirn. Dann schäle ich dir ein paar Früchte, keine Widerrede! Victor werde ich nach Tee fragen, irgendwo muss noch ein Kessel sein.“ Yura fehlte die Kraft zum Protestieren, also rollte er sich wieder auf dem Bett ein. Es brauchte nicht lange, da kam Mila mit allem wieder. Der Tee roch bitter und scharf. Vorsichtig setzte sie sich zu dem Jungen und begann, ein paar Früchte mit einem alten Messer zu schälen und in kleine Stücke zu schneiden. „Iss!“, befahl sie sanft. Vorsichtig richtete der Blonde sich auf und aß einige Bissen der süßen Köstlichkeiten. Es schmeckte herrlich und er spürte, wie der Schmerz in seinem Magen nachließ. Auch den Tee musste er in kleinen Schlucken trinken. „Der schmeckt widerlich!“, bemerkte er kühl und streckte die Zunge heraus. „Sei nicht so verzogen. Salbeitee ist das Beste bei Fieber! Die Blätter habe ich immer bei mir verwahrt. Für den Notfall!“ Liebevoll tupfte sie ihm die Stirn und die Wangen mit dem kühlen Tuch ab. Er ließ es geschehen und legte sich wieder in die weichen Kissen. „Du willst uns doch wohl nicht an gebrochenem Herzen sterben? Keine Sorge, ich kümmere mich schon um dich.“ Mit einem Lächeln legte sie sich zu ihm und tupfte weiterhin seine Stirn ab. Yura verstand nicht, warum sie auf einmal so nett zu ihm war, aber er genoss ihre Nähe enorm. Vorsichtig legte er seinen Kopf auf ihren Schoß, während ihre zarten Finger durch seine Haare fuhren. „Ich gebe dir einen Rat. Jeder von uns weiß, wie es ist, wenn man verliebt ist. Aber hier, in dieser Welt, zählt das nicht. Du wirst lernen müssen, ihn zu vergessen.“, raunte sie mahnend. Doch Yura hob den Kopf und protestierte: „Ich will aber mit ihm zusammen sein!“ Sanft drückte sie ihn wieder zurück nach unten und kraulte seinen Kopf. „Du musst es lernen, Yura. Du gehörst Jean und je mehr du ihn wütend machst, desto härter wird dein Leben. Nutze weise, was du hast. Gib ihm das Gefühl, dass du sein bist und die Welt steht dir offen. Mach dich nicht selber unglücklich.“ Yura war so elendig zumute, dass er lieber auf der Stelle eingehen wollte, als diesem Mann hörig zu sein. Doch die Kraft reichte nicht zum Widersprechen. Seine Augen fielen zu und er versank in einen traumlosen Schlaf. Als Mila ihm noch einmal ein frisches Tuch auf die Stirn gelegt hatte, wandte sie sich zum Gehen. Just in dem Moment klickte der Schlüssel in der Tür und sie erwartete Jean, doch da sollte sie eines Besseren belehrt werden. Perplex standen sich in dem Moment Otabek und die Rothaarige gegenüber, nicht wissend, wie sie gerade reagieren sollten. „Du…!“, entfloh es beiden zeitgleich. „Bist du denn nun endgültig lebensmüde?!“, zischte Mila und entdeckte ausgerechnet ihren Schlüsselbund in seinen Händen. „Ich sollte dich direkt an Jean verpfeifen!“, keifte sie leise, doch wandte ihren Blick dann zum Bett. „Aber ich bin nicht herzlos, auch wenn du das von mir denkst.“ Otabek hatte bisher geschwiegen, doch auch nun wusste er nicht recht, was er dazu sagen sollte. „Ich möchte keinen Ärger machen. Bitte, lass mich zu ihm. Nur ein paar Momente!“, bat er und senkte ergeben den Kopf. „Ich flehe dich an!“ Mila wusste, dass sie einen großen Fehler beging und dieser sogar ihr Leben kosten könnte. Doch sie hatte den Jungen in ihr Herz geschlossen. Sie hatte Otabek versprochen, ein Auge auf Jean zu haben, damit sie ungestört waren. Der Arbeiter hatte sich auf den Bettrand gesetzt und nahm sorgenvoll das mittlerweile erhitzte Tuch von der Stirn des Blonden. Ein leises Murren zeigte ihm, dass er wohl noch schlief. „Yura?“, flüsterte er leise, doch der Junge schlief ruhig weiter. Nur hin und wieder zuckte er leicht. Ein kleines Lächeln stahl sich auf Otabeks Lippen, als er ihn im Schlaf beobachtete. Vorsichtig beugte er sich über ihn und entdeckte neben dem zarten Körper ein Buch, das aufgeschlagen auf dem Bett lag. Neugierig hob er es an und blätterte darin. Es war ein kunstvoller Gedichtband mit allerlei schönen und melancholischen Worten. An einer Seite blieb sein Blick besonders haften und er las laut vor:   An Ihn    (von Louise Aston) Kann ich lindern dieses Sehnen, Das mich träumend Dir vereint? Dir verhaßt sind diese Thränen, Die der blasse Kummer weint; Die ein Opfer des Geschickes Weint am Grab entschwund'nen Glückes! - »Ihre Todten zu begraben, Laß' die Todten sich bemüh'n! Doch des Lebens reichste Gaben Mögen den Lebend'gen blüh'n.   Ewig soll's im Herzen lenzen, Neue Triebe, neue Kraft! Und mit frischen Blüthenkränzen Schmücke sich die Leidenschaft! Was im Sturm der Zeit verloren, Sei verjüngt und neugeboren! Wenn der Sonne Glanz versunken, Wenn verglüht des Tages Pracht; Steige auf, von Wonne trunken, Gluterfüllte Liebesnacht!«   Otabek musste schlucken, fiel sein Blick doch immer wieder auf den feinen Körper, der ihn so lustvoll anzog. Warum kamen ihm solche Ideen, wo er doch wusste, dass es sich nie erfüllen würde? Noch in seinen Gedanken versunken, bemerkte er nicht, wie sein Liebster erwachte. Völlig verschreckt entwich Yura ein kleiner Schrei, den Otabek mit der Handfläche erstickte. „Psst! Nicht schreien, man könnte uns hören!“, mahnte er ernst, ließ dann aber seine Hand sinken. Der Junge wusste nicht, was er gerade fühlen sollte. Wut, Freude, Sehnsucht, Trauer. Alles ging ihm durch Herz und Kopf. Was ihm blieb, waren Tränen, die unverhohlen seine Wangen entlangrannen. Von den Gefühlen übermannt, schlug er mit den Fäusten gegen Otabeks starken Brustkorb. Fragend ließ der Arbeiter die eher leichten Schläge über sich ergehen. „Ich hasse dich! Ich hasse dich!“, keuchte der Jüngere und sein Gegenüber verstand die Welt nicht mehr. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)