Vergiss mein nicht von reuab_art (Willkommen im düstersten Kapitel des 19. Jahrhunderts /Otayuri /Victuuri) ================================================================================ Kapitel 5: Nur ein Tanz ----------------------- Nur ein Tanz   Otabeks Herz sprang ihm förmlich aus der Brust, als sie schon von weitem die Laternen des Etablissements sahen. Seine zitternden Hände vergrub er in den Taschen des schweren Mantels, der sein markantes Gesicht geschickt unter einer weiten Kapuze verbarg. Reverend Chris trug seine Amtstracht mit Würde, denn ein Verstecken war ohnehin nicht seine Absicht. Er würde schon dafür sorgen, dass er auffiel. Bedächtig schritten sie zum Eingang und trafen an den verzierten Flügeltüren bereits auf ein bekanntes Gesicht. Die rothaarige Dame begrüßte allerlei Gäste am Eingang und zierte sich nicht, sich selber in Szene zu setzen. Jean achtete stets darauf, dass sein Personal edel und teuer eingekleidet war, schließlich bezahlten die Kunden auch fürstlich. Ihr dunkelgrünes Kleid verbarg kaum die helle Brust, noch war es lang genug für ihre schier endlosen Beine. Mit einem stets recht gekünstelten Lächeln empfing sie jeden, der nur genug Bares in seinen Taschen hatte. Als Chris sich ihr näherte, gefror ihr Gesichtsausdruck jedoch ganz und gar. Sie wusste, dass es nie etwas Gutes mit sich brachte, wenn der Würdenträger hier erschien. „Mein Kind, in diesem Kleid holst du dir bei der Kälte doch den Tod! Ach, ich vergaß, du arbeitest ja für ihn!“, begrüßte der Blonde die Dame ohne Umschweife. Diese verzog keine Miene und hielt ihren Arm ausgestreckt nach vorne. „Ihr werdet sicher verstehen, dass ich euch keinen Einlass gewähren kann.“, entfloh es ihr deutlich gehässiger, als sie es erwartet hatte. Beschwichtigend hob der Reverend die Hände und lachte. „Aber, aber, Kind, ich komme nicht um zu streiten. Lasst einen armen Kirchenmann doch wenigstens einen Drink nehmen und sich am Anblick der Gesellschaft erfreuen.“ Mila zog eine Augenbraue hoch und ließ keinen Zweifel daran, dass sie ihm kein Wort glaubte. Sie ging ein paar Schritte auf ihn zu. „Vergesst es! Hat euer Gott euch nicht beigebracht, dass Sünde zum Fall führt?“, ätzte sie laut, doch Chris lächelte milde. „Hat mein Gott nicht auch die Sünderin zur Heiligen gemacht? Der Ehebrecherin verziehen und die Hure auf den rechten Weg gebracht?“ Die Rothaarige spuckte ihrem Gegenüber wütend vor die Füße und schrie unverhohlen: „Einen Dreck hat er!“ Scheinbar durch den Lärm gewarnt, kam eiligen Schrittes Jean aus dem Saal gerannt und schaute recht verdutzt, als er die beiden Streithähne sah. „Mila, was soll das? Begrüßt man so Gäste?“, tadelte er seine Empfangsdame scherzhaft. In kurzen Schritten stand er bei den Beiden und stemmte die Arme in die Hüfte. Just diesen Moment nutzte Otabek, der sich still im Schatten der Gasse verborgen gehalten hatte und huschte leise durch die Flügeltüren. Zumindest hatte Chris ihm so genug Zeit gegeben, um Jean nicht aufzufallen. „Ich wollte lediglich ein Glas Gin trinken, ich wusste nicht, dass ich hier Hausverbot habe?“ Mit diesem Worten verzog der Priester die Lippen und schmollte spielerisch. Jean schien einen Moment zu überlegen, antwortete dann jedoch gelassen: „Bitte, kommt herein. Das erste Glas geht auf mich. Schließlich gibt es doch etwas zu feiern, nicht wahr?“ Lachend schritt er zurück zu den Türen und verschwand im Saal. Milas Blick schwankte zwischen Argwohn und Sorge, doch der Reverend streckte ihr lediglich die Zunge heraus und folgte dem Geschäftsmann.   Yuri wischte sich den Schweiß von der Stirn. Eigentlich sollte er doch ein Profi auf der Bühne sein, aber jedes Mal bekam er aufs Neue panische Angstzustände. Vorsichtig strich er über die Seiten der fein geschnitzten Geige. Seine Kartentricks waren sehr beliebt, aber noch lieber tanzte man im Saal zu den Klängen seiner irischen Volkslieder. Dennoch machte ihm jeder Auftritt Angst. Lautvoll atmete er ein und aus. Dann erhob er sich langsam, strich seine braune Lederweste zu Recht, fuhr mit den Fingern durch das schwarze, volle Haar und schloss die Augen. Viktor… Nichts als Viktor sah er vor seinem inneren Auge und es beruhigte ihn. Er wusste, dass dieser ihn immer im Blick hatte und egal, was passierte, er würde da sein. Vorsichtig verließ er die Kammer und schritt zur Bühne. Mit jedem Schritt schlug sein Herz stärker und schmerzhafter. Das Publikum an den Tischen im Saal wurde stiller, als sie den jungen Mann auf die Bühne schreiten sahen. Yuri versuchte über sie alle hinweg zu sehen, verbeugte sich langsam und setzte die Geige an sein Schlüsselbein. Noch ehe er die ersten Töne erklingen ließ, schwenkte sein Blick zur Bar hinüber und Viktors liebevolles Lächeln erwärmte sein Herz. Nichts konnte ihm passieren, solange nur sein Liebster bei ihm war. Schwungvoll stimmte er das erste Lied an, sah wie einige sich erhoben und schon alkoholgeschwängert den Damen zum Tanzen den Hof machten. Innerlich seufzte er leise und schloss für einen Moment die Augen. Die Musik sollte ihn nur ein wenig von den schweren und düsteren Gedanken in ihm ablenken.   Jean hatte sich schnell wieder zu seinen Kunden gesellt und plauderte mit einigen besonders einflussreichen Richtern über Politik. Yura stand gelangweilt daneben, tippte von einem Fuß auf den anderen und nestelte mit seinen Fingern in den blonden, langen Haaren herum. Wie ein Haustier stand er brav neben seinem Herren und schwieg, wenn er nicht gefragt wurde. Dies passierte allerdings ohnehin nicht, denn Jean vermied es lieber, damit der Junge nicht auch noch etwas Dummes sagte. Als er die Stille bemerkte und kurz darauf die  lebenslustigen, einladenden Klänge der Geige, erhellte sich sein Blick. Eilig blickte er zu Bühne und sah den Kartenspieler dort in einem besonders schönen, braunen Anzug mit feinen Goldnähten stehen. So festlich hatte er ihn noch nie gesehen. Neugierig beobachtete er das filigrane Spiel und erwischte sich dabei, wie sein Herz bei den Klängen hüpfte. Er liebte Musik einfach, schon früher konnte er stundenlang den Straßenmusikern zuhören, ohne auch nur zu bemerken, wie die Stunden verrannen. Viele tanzten bereits auf der großen, freien Fläche und die Mädchen, die er sonst anders kannte, schienen fröhlich und befreit zu sein. Sie lachten und riefen, hoben die Röcke und klatschten im Takt. Ohne darüber nachzudenken, wandte er sich an Jean und zog bestimmt an dessen Ärmel. „Ich will tanzen!“, bat er mit großen Augen, doch Jean verzog nur die Lippen. „Sei still, du siehst, dass ich mich unterhalte!“, zischte er genervt und schüttelte die Hand des Blonden ab. Traurig sah Yura zu Boden, versuchte es aber noch einmal. „Bitte! Tanz mit mir!“, bettelte er leise, doch Jean schien dies nur wütend zu machen. „Was habe ich dir gerade gesagt!? Sei endlich still oder ich schließe dich oben ein!“ Als der Geschäftsmann sich wieder seinen Gesprächen zugewandt hatte, reichte es dem Blonden endgültig. Beleidigt wandte er sich ab und hielt es nicht für nötig, länger wie eine hübsche Puppe neben Jean zu stehen. Wütend stapfte er zur Bar, setzte sich auf einen der Hocker und legte den Kopf auf die verschränkten Arme. Viktor sah ihn überrascht an, lächelte und fragte ihn vorsichtig: „Was ist passiert? Ist alles in Ordnung?“ Doch Yura schnaubte nur und schmollte. „Nun komm schon, mir kannst du es sagen. Ich bin hier für alle da.“ Langsam hob der Blonde den Kopf und murmelte: „Mach deinen Job und gib mir einen Gin!“ Noch ehe der Barkeeper antworten konnte, vernahm der Junge eine warme Stimme hinter sich. „Bist du nicht etwas zu jung dafür?“ Ruckartig wandte Yura sich um, fiel dabei fast vom Hocker und fing sich im letzten Moment noch auf. Vor ihm stand ein Mann, nicht sehr groß gewachsen, aber seine Statur strahlte Stärke aus. Ein verschlissener Mantel mit großer Kapuze verbarg sein Gesicht. Yura wusste nicht recht, was gerade in ihm vorging. „Halt dich da raus, ich bin fast 18! Zumindest… in ein paar Monaten! Oder so…!“, keifte der Junge und stemmte die Hände in die Hüften. Die Reaktion entlockte dem Gegenüber nur ein seichtes Lachen. „Du möchtest also tanzen, richtig?“, erklang die warme Stimme erneut. Völlig perplex sah Yura den Fremden an und fragte sich, wie dieser das Gespräch mit Jean wohl mitbekommen konnte. „Ich tanze nicht mit irgendwem und vor allem nicht mit solchen wie dir!“. Verächtlich zeigte er auf die verbrauchte Kleidung. Viktor im Hintergrund musste sich zusammenreißen, um nicht laut zu lachen. Längst hatte er erkannt, wer vor ihnen stand und erfreute sich  an dem unerwarteten Besuch. Langsam, nahezu vorsichtig zog der Fremde die Kapuze ein Stück nach hinten, sodass sein Gesicht vom Kerzenlicht erhellt wurde. „Schade, dass ich dir nicht genüge. Gold reichte wohl noch nicht?“, scherzte er belustigt über den völlig verschreckten Gesichtsausdruck des Blonden. Dieser sah ihn an, als hätte er den Teufel persönlich vor sich stehen. „Willst du nun tanzen oder nicht?“, fragte Otabek ihn noch einmal eindringlich und hielt ihm seine Hand hin. Yuras Herz klopfte so laut, dass er Angst hatte, jemand anderes könnte es wahrnehmen. Vorsichtig legte er seine dürre Hand in die des anderen. Sie fühlte sich so rau und geschunden an, dass es dem Jungen im ersten Moment schmerzte, ihn vorher so beleidigt zu haben. Doch ihm blieb nicht viel Zeit, darüber nachzudenken, denn Otabek zog ihn mit sich zum Tanz. „Ist junge Liebe nicht schön?“, erklang eine fröhliche Stimme neben Viktor an der Bar. Der Reverend hatte sich auf einen Hocker gesetzt und blickte den jungen Männern lächelnd hinterher. Der Barkeeper reichte ihm einen Gin hinüber. „Wem sagst du das, mein Freund, wem sagst du das.“, seufzte er und folgte dem Blick des Priesters.   Yura wusste nicht, wann er sich das letzte Mal so frei gefühlt hatte. Otabek hatte seine Hand auf der Hüfte des Jungen und hielt mit der anderen die zarten Finger fest. Entgegen jeder Vernunft war es dem Arbeiter egal, ob Jean sie nun sehen würde oder nicht. Er wollte nur eines – nur bei Yura sein. Der Blonde war erstaunt, wie gut der Ältere tanzen konnte und ließ sich nur liebend gerne führen. Die Musik war schnell und abenteuerlustig, wie in einer hitzigen Nacht voller Nähe. Yura erwischte sich bei dem Gedanken, wie sein Gegenüber wohl als Liebhaber wäre, errötete jedoch leicht bei der Vorstellung. Irgendetwas an ihm zog ihn an wie das Licht die Motte. Obwohl es so gefährlich war, wollte sich kein bisschen Vernunft bei ihm einstellen. Der Blonde genoss die Blicke des anderen und konnte schwören, dass es ihm genauso erging.   Yuri atmete schwer und spürte, wie die Anstrengung der Stücke auf ihm lag. Es verging so viel Zeit, dass seine Kehle langsam austrocknete und seine Finger von den Seiten wund waren. Ein Lied, dachte er, sollte es noch sein. Sein Blick schweifte umher und nicht weit von ihm erblickte er den blonden Jungen. Fast verspielte er sich vor Schreck, als ihm gewahr wurde, mit wem dieser gerade tanzte. Ein Blinzeln holte ihn wieder in die Realität zurück. Scheinbar war den Beiden vor ihm gerade die Welt um sie herum egal. Irgendwie erinnerte es ihn an die erste Begegnung mit Viktor. Sie waren sich auf dem Marktplatz ausversehen in die Arme gerannt und hatten sich danach minutenlang nur völlig perplex angestarrt. Sie hatten nichts mehr um sich wahrgenommen, nur ihre Blicke. Ein Lächeln legte sich auf seine Lippen und er wusste, er musste es einfach tun. Vorsichtig stimmte er ein neues Lied an. Ein ruhiges Lied, das von Liebe, Fernweh, Hoffnung und Sehnsucht handelte. Er sah von der Bühne, wie Otabek Yura näher zu sich zog und seine Arme um den dürren Körper legte. Wenn Yuri sich nicht täuschte, was eigentlich nie passierte, dann hob Yura den Kopf näher zu dem des Älteren. Jeder Ton des Liedes war eindringlich und Yuri war sich sicher, dass er das Richtige getan hatte. Mit tiefer Zufriedenheit beobachtete er, wie Otabek sein Gesicht senkte, den Jungen noch näher an sich zog und… Zu Tode erschreckt verstummte das Geigenspiel, als Yuri panisch ein paar Schritte zurückwich. Ein Glas war zu Bruch gegangen, das Jean an die Wand geworfen hatte und die Stille danach war bedrohlicher denn je. Die Mädchen hielten sich gegenseitig im Arm und verkrochen sich schnell von der Tanzfläche. Sie wussten, dass Jean mehr als gefährlich sein konnte. Die Kunden schauten zwar etwas irritiert, betrachten aber weiterhin neugierig das Schauspiel. Jean schritt langsam durch den Raum, den Blick fest auf sein Eigentum geheftet, das Otabek schützend hinter sich verbarg. Der Arbeiter wusste, er war dumm und unvorsichtig gewesen, doch das sollte Yura nicht abbekommen. „Du!“, zischte der Geschäftsmann wütend. „Lass deine Finger von meinem Eigentum. Du bist nichts weiter als Dreck aus der Gosse! Du bist es nicht wert, auch nur einen Blick auf ihn zu werfen!“ Jeans Kunden johlten vor Belustigung und Hohn. „Geh zur Seite oder ich mache deinem lächerlichen Dasein ein Ende. Verstanden? Geh zurück in das Rattenloch, aus dem du gekommen bist!“ Jeans vorher wütendes Gesicht verzog sich zu einer gehässigen Fratze. Yura zitterte am ganzen Körper, hatte er doch weniger Angst um sich, als um den Mann, der ihm sein Herz gestohlen hatte. Er drängte sich an dem Arbeiter vorbei zu Jean. „Lass ihn in Ruhe!“, fauchte er kämpferisch, bekam jedoch schnell die Quittung in Form einer Ohrfeige. Fast zeitgleich hatte Otabek den Arm des Geschäftsmannes gepackt, ihn festgehalten und ihm mit der Faust einen treffsicheren Schlag in den Magen versetzt. Während Jean schmerzerfüllt auf die Knie sank, betrachtete der Schwarzhaarige ihn mit Ekel. „Du kannst mich behandeln, wie du willst, aber schlägst du ihn noch einmal, dann Gnade dir Gott!“ Mit einem Fußtritt streckte Otabek seinen Gegenüber gänzlich nieder und Jean jaulte laut auf. Bevor noch mehr passieren würde oder gar jemand noch Partei für den Geschäftsmann ergriff, zog Chris Otabek am Unterarm mit sich. Beide flohen schnellen Fußes und ließen eine perplexe, verstörte Gesellschaft zurück. Yura zitterte noch immer und hielt sich die schmerzende Wange. Ängstlich sah er seinem Liebsten nach, hatte er sich doch nichts mehr gewünscht, als diesen Kuss. Doch er sollte noch lange darauf warten müssen. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)