Vergiss mein nicht von reuab_art (Willkommen im düstersten Kapitel des 19. Jahrhunderts /Otayuri /Victuuri) ================================================================================ Kapitel 3: Begehre nicht, was dir nicht gehört ---------------------------------------------- Hier ist das neue Kapitel. Ich hoffe, es gefällt euch         Wann immer ihm das Leben eine schwere Bürde auferlegt hatte, so hatte er etwas Gutes daraus gemacht. Wenn die Klingel erst nach 16 langen Stunden in den Bleichdämpfen der Textilfabrik zum Schichtende erklang, so hatte er doch nie ein böses Wort verloren. Nicht einmal, wenn er mitansehen musste, wie sein Lohn immer geringer ausfiel, obwohl die Industrie täglich reicher und gieriger wurde. Jeden Tag schleppte er sich müde und hustend zurück zu der kleinen Wohnung am Rande der Stadt, die er sich mit wenigem Geld leisten konnte. Vielen ging es noch schlechter, das wusste er. Immerhin hatte er zwei Zimmer und einen guten Ofen, der alles warmhielt. Hin und wieder reparierte er nach der Schicht noch Maschinen vor Ort und erhielt einen recht erfreulichen Lohn dafür. Das Geld hob er sorgsam in einer alten Tabakdose auf, denn man wusste nie, wann die Zeiten noch schlechter wurden. Kaum älter als 20 Jahre alt, blickte Otabek auf viele leidvolle Jahre zurück. Schon früh hatte er Arbeit in den Textilfabriken gefunden und war für sein ruhiges, aber tüchtiges Arbeiten bekannt. Freunde hatte er keine, aber in welcher Zeit sollte er sich auch mit ihnen treffen? Sein Leben bestand aus den Bleichtöpfen, den Farbchemikalien und den schweren Leinenstoffen, die nass nahezu untragbar waren. In der wenigen Freizeit, die er besaß, half er häufig in der Kirche aus. Dafür wollte er keine Entlohnung, denn er wusste, dass die Ärmsten die Kirche dringender brauchten.   Nach der ihm immer noch seltsam und verwirrend erscheinenden Begegnung hatte es ihn genau dorthin gezogen. Die Kirche – Ein Ort der Stille und Besinnung. Otabek brauchte gerade dringlichst einen klaren Kopf und an Schlaf war ohnehin um diese Uhrzeit nicht zu denken. Sein Husten war in letzter Zeit so schlimm geworden, dass sein Vorsteher ihn zwangsweise ein paar Tage beurlaubt hatte. Natürlich nur unter größtem Protest seitens des jungen Mannes. Keine Arbeit hieß kein Geld. Mit zittrigen Händen entzündete er die Kerzen am Eingang, die der Wind immer wieder durch das marode Gebäude ausgeblasen hatte. Ein Knacken hinter ihm zog seine Aufmerksamkeit auf eine kleine, dunkle Gestalt. Der anfängliche Schreck wich Entspannung als er die kleine Kirchenkatze unter einer der Bänke entdeckte. Im letzten Winter hatte er sie vor einer vorbeifahrenden Kutsche gerettet und mit in die Kirche genommen. Langsam kniete er sich vor sie und streichelte die weichen Ohren. Ein Seufzen entwich seinen Lippen und all die Erinnerungen des Treffens kamen wieder hoch. Warum nur quälten diese ihn so? Mittlerweile sollte ihm doch endlich egal sein, was in der Dunkelheit der menschlichen Seele verborgen lag. Warum nur flammte in ihm immer wieder das Bild von diesem Jungen auf? Otabek versuchte sich einzureden, dass es ihm schließlich nicht schlecht gehen konnte. Immerhin war Jean wählerisch mit seinem Eigentum und sorgte bisweilen recht umfangreich, gar kostspielig dafür. Die kleine Katze schnurrte hörbar und drehte den Kopf von rechts nach links. Wann immer Otabek hier war, klebte sie förmlich an ihm. Als der junge Mann Schritte vernahm, erhob er sich und blickte zum Altar. „Mein Sohn! Was führt dich um so eine frühe Zeit hierher?“, erklang die sorgenvolle Stimme des Priesters. Reverend Chris war stets sehr besorgt um seinen Schützling, würde er ihn doch auch lieber in besserer Verfassung sehen. „Kind, du musst dich ausruhen. Das Dach ist momentan recht dicht und bei Gott, es wird auch diesen Monat wieder überstehen!“ Der Blonde hob die Hände und lächelte. Otabek bewunderte ihn für seinen Optimismus, blieb jedoch lieber der Realität treu. „Father, ich hoffe, ihr irrt nicht! Dennoch werde ich es mir noch ansehen, ich traue den alten Balken nicht. Ihr müsst sie dringend ersetzen lassen!“, warnte ihn der junge Arbeiter vorsorglich. Doch der Priester lächelte nur sanft und schob seinen Gegenüber zu den Bänken. „Setz dich, mein Sohn!“ Mit diesen Worten drückte er ihn an den Schulter hinunter, sodass er sich setzen musste. Vorsichtig hob er das Kinn des Dunkelhaarigen mit dem Zeigefinger und Daumen an. „Ich sehe dir an, dass etwas nicht in Ordnung ist. Willst du einem Mann Gottes widersprechen?“ Mit einem bezaubernden Lächeln setzte er sich zu ihm und wartete auf eine zufriedenstellende Antwort. Er wusste, wie verschwiegen Otabek war, aber das hatte ihn noch nie davon abgehalten, neugierig zu sein. „Nun… Reverend, ist es eine Sünde, etwas zu begehren, das mir nicht gehört?“, fragte der junge Mann völlig emotionslos und gerade heraus, sodass der Geistliche kurz etwas verdutzt schaute. Dann sprang er hastig auf, krempelte die Ärmel hoch, stemmte die Fäuste in die Hüften und rief: „Halleluja, das ich das noch erleben darf! Mein Sohn, du hast also endlich eine Frau für dich gefunden? Verheiratet, was? Kein Problem, können wir annullieren!“ Mit offenem Mund saß Otabek vor dem Priester und sah aus, als wenn ihn gerade der Teufel persönlich angesprochen hätte. „Ähm… ich glaube nicht, dass…!“, begann er zu erklären, doch der Reverend zog ihn schon am Ärmel hoch und mit sich zum Altar. „Ich habe doch extra für gute Tage eine Flasche Gin aufgehoben! Mein Sohn, das müssen wir feiern! Ach, was sag ich da, lass uns in die Kneipe unten an der Straße gehen und du erzählst mir alles über sie!“ Der Blonde war nicht mehr zu bremsen. Etwas verzweifelt hielt Otabek ihn am Ärmel fest. „Father, nein! Ich… ich kann nicht! Versteht bitte! Es…“, versuchte er noch einmal zu erklären, doch sein Husten zwang ihn für einen Moment auf die Knie. Vorsichtig sank er auf die harten Marmorstufen. Besorgt beugte der Priester sich zu ihm. „Kind, du bist krank! Du brauchst einen Arzt. Bitte, du kannst mir später alles erklären, ich werde nach Dr. Lee schicken. Nein, ich hole ihn selber! Leg dich zur Ruhe! Der Ofen hinten in der Kammer ist an. Ich verspreche dir, ich beeile mich.“ Vorsichtig half er dem jungen Arbeiter auf und stützte ihn bis zu dem kleinen Ruheplatz in der hinteren Kammer, ehe er schnell seinen Mantel griff und sich auf den Weg machte.   Victor hatte sich auf dem Rückweg schon die schlimmsten Szenarien ausgedacht. Jean würde ihn hängen lassen, vierteilen, teeren und federn und noch schlimmeres. Panisch hielt er immer noch das Handgelenk des jungen Blonden neben sich fest, als er langsam die Hintertür aufschloss. Mit einem diebischen Blick schaute er sich in dem Vorratsraum um, doch er konnte niemanden erblicken. Sonst war doch um diese Zeit immer die Hölle los? Die unangenehme Stille, die aus dem Barbereich drang, war gespenstisch. Hastig schob er Yura durch die Tür und schloss hinter beiden sorgfältig ab. „Jetzt mach dir nicht in die Hose, hat doch keiner bemerkt!“, raunte die Gestalt unter der Kapuze. Victor verzog den Mund und wollte den Blonden am liebsten gleich wieder zur Tür rausschmeißen. Das Früchtchen hatte heute schon genug Ärger gemacht. „Rein da und ab auf dein Zimmer!“, zischte der Barkeeper genervt und stieß ihn etwas gröber an. Ohne Widerworte verschwand der Junge die Treppe hoch, sehr zur Erleichterung von Yuri, der bereits im Hauptraum wartete. „Na, endlich! Zu unserem Glück muss hier die Hölle losgewesen sein. Keiner hatte Zeit, unsere Abwesenheit zu bemerken.“ Trotz der tröstlichen eigenen Worte, wirkte Yuri blass und gestresst. Victor schloss ihn sofort in die Arme und drückte ihn fest an sich. „Mein Yuri, mein Goldstück, mach mir nie wieder solchen Ärger. Ich würde doch vor Sorge vergehen, wenn etwas passieren würde. Warum bist du nur so blass? Bist du krank? Sprich, mein Liebster!“ Dabei schüttelte er den armen Kartenspieler so sehr, dass diesem wirklich schlecht wurde. „V…Vic…Victor! Nein, es ist nur… Alle sind so aufgebracht. Dr. Lee ist hier. Eines der Mädchen…“ Yuris Stimme brach ab. Tränen kullerten langsam über seine hellen Wangen und glitzernde Perlen benetzten den Boden. „Er meint, sie wird wieder gesund, aber warum Victor? Warum passiert das? Wieso hat sie das getan?“ Victors Augen versuchten Yuris Blick zu finden, doch er scheiterte. Vorsichtig nahm er das Gesicht seines Liebsten in die Hände und legte seine Stirn an die seines Gegenübers. „Yuri, wir leben in schweren Zeiten. Nicht jeder ist so stark. Sei nicht traurig. Wenn Dr. Lee sagt, sie wird wieder gesund, dann ist es so. Jean wird sie nicht mehr hier haben wollen und du weißt doch, dass der Doktor den Mädchen oft einen Job im Krankenhaus anbietet. Wie vielen geht es nun besser?“ Die eigentlich tröstlichen Worte verfehlten ihren Zweck und Yuri weinte noch viel mehr. „Aber… in was für einer Welt leben wir, in der man sich zuerst fast selber alles nimmt, um dann nur einem Funken Hoffnung nachzujagen?“, schluchzte er laut. Der Barkeeper seufzte, wusste er doch selber, dass es eigentlich mehr tragisch, als tröstlich war. Doch wohin mit all dem Schmerz der Welt, wenn nicht doch versuchen, etwas Gutes darin zu sehen. „Warum heulst du hier rum, hast du keine Arbeit?“, ertönte eine wütende Stimme am oberen Ende der Treppe. Jean schritt hastig nach unten und griff den Kartenspieler am Kragen. „Du Nichtsnutz! Räum die Früchte ein und kümmere dich danach um den ganzen Dreck im Vorgarten. Was sollen die Kunden denn denken, wenn alles so aussieht! Und du!“, wandte er sich an Victor. „Füll die Flaschen an der Bar auf, aber vergiss nicht, sie ordentlich mit Wasser zu strecken. Das merken die sowieso nicht!“ Sein Blick traf auf den seines Barkeepers und wurde wütend erwidert. Langsam erst ließ er den Kragen des Kartenspielers los. „Ihr taugt beide zu nichts!“, warf er hinter, bevor er selber ein paar Tische und Stühle zurecht rückte. Yuri war schon wieder völlig den Tränen nahe, doch Victor warf ihm ein warmes Lächeln zu und nickte. Später hätten sie etwas Zeit für sich, dann würde er ihm allen Schmerz der Welt von den Lippen küssen. Noch während er diesen Gedanken nachhing, klopfte es laut und hastig an der großen Flügeltür. „Geschlossen! Komm heute Abend wieder!“, brüllte Jean nur genervt und stellte neue Kerzen auf die Tische. Als das Klopfen jedoch nur fordernden wurde, riss er seinen Schlüsselbund vom Gürtel und knurrte beim Öffnen der Tür: „Dir werde ich Manieren beibringen, du Hund!“ Als er schon die Faust geballt hatte, schaute er verdutzt in das knallrote Gesicht von Reverend Chris. Perplex ging er einen Schritt zurück. „Was denn? Hat dein Gott jetzt auf einmal etwas für Nutten über?“ Jean wollte ihm gerade die Tür vor der Nase zuschlagen, da hielt der Priester mit einer unverhofften Stärke dagegen. „Dr. Lee“, keuchte er nur außer Atem. „Er ist doch hier oder?“ Ohne weitere Worte abzuwarten, schritt er in die unglückseligen Hallen. Sein Blick schweifte umher und er rümpfte kurz die Nase. „Chris!“, rief Victor von der Bar und kam eilig zum ihm gelaufen. „Was bringt dich denn hier her? Ein Notfall?“ Sorgenvoll steckte auch Yuri seinen Kopf aus der Speisekammer hervor. „Sag mal, ist das hier ein Plaudercafé oder eine Nährunde!? Raus hier! Es interessiert mich nicht, welche Ratte auf der Straße zugrunde geht. Ich brauche den Doktor hier! Also verschwinde!“, schrie Jean den Priester unvermittelt an. Dieser sah ihm mit festem Blick in die Augen. „Ich bin mir sogar ganz sicher, dass dir das egal ist!“ Dann wandte er sich an Victor, „Bitte, ich muss mit dem Doktor reden. Otabek ist krank, es geht ihm nicht gut. Du weißt, diese ganzen Mittel in der Fabrik bringen ihn irgendwann noch um! Bitte!“ Während Victor ohne ein weiteres Wort die Treppe hinauf stürmte zu den Zimmern, hatte Jean sich an einen nahen Tisch gesetzt. Mit einem belustigten Lachen schlug er seine Faust auf den Tisch. „Ha, es gibt ja scheinbar doch einen  Gott oder wie erkläre ich mir diese fantastische Nachricht heute?“, spottete der Dunkelhaarige hämisch. Chris war kein Mensch, der leicht zu reizen war, doch gerade musste er sich mehr denn je zusammenreißen, um diesen widerlichen Geschäftsmann nicht mundtot zu schlagen. Ehe er etwas erwidern konnte, kam Victor die Treppe mit Dr. Lee gemeinsam hinunter. „Mister Leroy, ich bin hier fertig. Sie wird ganz genesen, aber bitte, seien sie achtsam! Benachrichtigen sie mich, sollte noch etwas sein. Ich hoffe, sie werden meine Dienste nicht mehr so schnell in Anspruch nehmen!“, verabschiedete sich der schwarzhaarige Mediziner. Er war der Beste in der ganzen Stadt und leitete trotz des jungen Alters bereits das Krankenhaus mit einer erfreulich guten Quote. Der Priester hatte bereits die Tür zum Gehen geöffnet. „Ich begleite euch direkt, Reverend! Zu Fuß brauchen wir zu lange. Bitte, wir nehmen die Kutsche!“ Zurück blieben nur ein noch immer erfreulich dreinblickender Jean, ein Victor der kurz überlegte, dem Geschäftsmann die Ginflasche über den Kopf zu schlagen und ein Yuri, der vor Tränen nicht mehr wusste, wie er die Früchte sehen sollte.   Auf der kurzen Fahrt erzählte der Priester dem Arzt alles und erhoffte sich ein paar beschwichtigende Worte. Doch Dr. Lee schwieg. Schnell erklommen sie die Stufen zur Kirche, durchquerten den Kirchraum und gelangten zur warmen Kammer, die kaum größer als ein Vorratsraum war. Dennoch war sie gemütlich mit einem kleinen Fenster zur Straße. Otabek lag ruhig in den vielen Decken, eine Kerze auf dem kleinen Tisch neben ihm war fast ausgebrannt. Als er die Gesellschaft bemerkte, schreckte er hoch, doch der Husten zwang ihn zurück auf die Pritsche. Vorsichtig hörte der Arzt ihn ab, verzog jedoch keine Miene. Reverend Chris stand besorgt hinter ihm und wartete endlich auf ein paar erlösende Worte. Immer wieder erhoffte er sich zumindest an einem Gesichtsausdruck erkennen zu können, was der Mediziner dachte, doch er scheiterte. Letztendlich erhob Dr. Lee sich und seufzte leise. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)