[24/7] Zwischen den Zeilen von halfJack ================================================================================ Kapitel 43: Sein des Scheins ---------------------------- Sein des Scheins   Warum musste das passieren? Warum konnte es nicht anders sein? Was hatten sie falsch gemacht? Kraftlos entließ Light seinen geliebten Freund, seinen größten Feind aus der gewaltsamen Unterwerfung, die er ihm aufgenötigt hatte, um sich selbst eine trügerische Genugtuung zu verschaffen. Ein letztes Mal streifte er die blasse Haut und konzentrierte sich auf das Gefühl der wirren schwarzen Haare zwischen seinen Fingern. Er blieb am Rand des Bettes sitzen, vorgebeugt auf seine Knie, und schaute mit zur Seite gewandtem Kopf und kalten Augen auf seinen Gegner, seinen Mitstreiter im Kampf um die Gerechtigkeit. Warum nur musste L auf der falschen Seite stehen? Am Ende gab es zwischen ihnen doch keinen Unterschied. Eingängig betrachtete Light den mittlerweile vertraut gewordenen, nackten Körper seines Partners. L stützte sich auf seine Ellbogen, blieb allerdings entkräftet auf dem Bett liegen, als wären seine Arme nicht stark genug, um die Last seiner eigenen Person zu tragen, geschweige denn sich wieder vollständig aufzurichten. Seine Schulterblätter traten deutlich hervor, genauso wie Wirbelsäule und Rippenbögen. Das Morgenlicht malte ein Wechselspiel aus weißen und graublauen Schattierungen auf die Knochen und Muskeln. Während seiner Musterung wurden Lights Augen eine Spur ernster. Irgendwie wirkte der Ältere zerbrechlicher als sonst. Bildete er sich das nur ein oder war L in letzter Zeit dünner geworden? Der Detektiv hielt den Kopf gesenkt, sodass ihm die rabenschwarzen Haarsträhnen über seine starr zu Boden gerichteten Augen fielen. Die meisten Leute hätten in diesem Gesicht keinerlei emotionalen Ausdruck erkannt. Doch Light, der in den letzten Monaten mehr von L gesehen und ihm gleichfalls mehr von sich gezeigt hatte als irgendeinem anderen Menschen jemals zuvor, erkannte darin Unverständnis und Schmerz. Vielleicht konnte Light es deshalb sehen, weil er oft genauer hinschaute als der Rest der Welt. Vielleicht sah er es aber auch nur, weil er selbst wusste, wie L sich fühlte. „Hat Light-kun das wirklich nicht gewollt?“, fragte L leise, tonlos, fast stockend. „Nicht einmal mehr... Light-kun hat nicht einmal mehr seine Hände benutzt, um sich zur Wehr zu setzen. Wenn er es wirklich nicht will, warum dann so halbherzig? Wenn Light-kun sich anders verhalten würde... wenn ich ihn nicht so gut kennen würde...“ „Ryuzaki.“ Mit sanfter Stimme sprach Light den Namen seines Freundes aus, als handle es sich dabei um etwas unaussprechlich Kostbares. Sein Gemüt schien sich wieder in das genaue Gegenteil verwandelt zu haben. Er versuchte dem Anderen mit seinen Worten aus der Abwesenheit herauszuhelfen, in der er sich zu verlieren drohte. „Du musst dich nicht von mir distanzieren. Ich bin doch hier, Ryuzaki. Ich bin hier bei dir.“ Stumm blickte L noch immer geradeaus. Light meinte zu sehen, dass sich dessen verschlossener Mund ein wenig verzog und sein Kiefer arbeitete, als würde er die Zähne aufeinanderbeißen. Offenbar war L verletzt und rang mit seinen folgenden Worten. Abwartend brannte sich Light jede Einzelheit vom Aussehen des anderen Mannes ins Gedächtnis, seine leeren, trostlosen Augen genauso wie seine schmalen Lippen, das markante, spitze Gesicht, die leichte Erhebung seines Kehlkopfs, die angehobenen Schultern und seine totenblasse Haut. Jede androgyne oder eindeutig männliche Eigenschaft des Älteren wollte Light in sich aufnehmen und bewahren, damit er nichts von all dem vergaß, was L ausmachte. Er wollte keine dieser Erinnerungen verlieren, sobald er L verloren hatte. Den Arm auf merkwürdig ungelenke Art ausgestreckt zupfte der Detektiv an der zerwühlten Bettdecke, zog sie mit Daumen und Zeigefinger, die restlichen Finger abgespreizt, näher zu sich heran und wickelte sie nachlässig um seinen Körper, während er sich mit angewinkelten Beinen auf die Seite drehte, sich gleichsam seinem jungen Ermittlungspartner zuwandte. Ein paar schwarze Haarsträhnen fielen ihm dabei ins Gesicht. L hob eine Hand zu seinem Ohr und überprüfte, ob es vollständig bedeckt war. Schmerzlich verfolgte Light jede dieser allzu vertrauten Gesten. Trotz kindlicher Verhaltensweisen besaß L oftmals eine unverkennbar erwachsene Ausstrahlung, gegen die sich Light mitunter machtlos fühlte. Sie waren einander so ähnlich und blieben sich dennoch fremd. Mit unverhohlen offenem Blick schaute L ihn an und meinte schließlich: „Ich würde dir niemals wirklich wehtun oder dich zu etwas zwingen wollen, Light-kun.“ Anstatt ihm zu versichern, dass er das zweifelsfrei wusste, wies Light das Zugeständnis entschieden ab. Nüchtern und ehrlich reflektiert war seine ganze halbherzige Gegenwehr ohnehin eher einer Einladung gleichgekommen. „Geh nicht so sorgsam mit mir um, Ryuzaki. Du weißt genau, dass ich es nicht verdient habe.“ Er präzisierte nicht, was er damit meinte. L fragte glücklicherweise nicht nach und ließ stattdessen mit ruhiger Stimme verlauten: „Erst kürzlich hast du gesagt, ich würde einen Freund brauchen, der mich vor mir selbst beschützt, Light-kun. Aber brauchst du den nicht auch? Warum hast du solche Angst davor, dich fallen zu lassen?“ „Glaub mir“, antwortete Light gleichgültig, „das habe ich schon viel zu sehr getan. Außerdem...“ Er grinste zynisch. „So selbstzerstörerisch bin ich nun auch wieder nicht.“ „Doch“, gab L sofort zurück, „ich glaube, genau das bist du.“ Seufzend und mit finsterem Blick erhob sich Light. Er wollte dazu nichts mehr sagen. Er wollte es nicht einmal mehr hören. Bevor er auf dem Weg ins Bad die Hälfte des Zimmers durchquert hatte, ließ Ls tonlose Stimme ihn erneut innehalten. „Du durchschaust einfach alles, Light-kun. Sogar wie meine Psyche funktioniert. Wir verstehen uns blind und denken oft dasselbe. Du bist doch sonst so schlau. Warum verstehst du mich jetzt nicht? Weil du dich selbst nicht verstehst?“ Light drehte sich nicht um. Seine Stimme war kalt, als er sagte: „Es tut mir leid.“ „Verstanden“, gab L monoton zur Antwort, ohne sich zu rühren. „Mir auch.“ Wie einen Stich in die Brust nahm Light die Aussage auf und sperrte sie, zusammen mit all den anderen fremden Worten, in seinem Gedächtnis ein. Er würde alles festhalten und weitertragen, sobald er Namen und Position von L eingenommen hatte, sobald er alles von ihm besaß, sein Leben genauso wie seinen Tod. Im Badezimmer angelangt stieg Light sogleich in die Duschkabine. Er ließ die Tür geöffnet, eine Angewohnheit der langen Zweisamkeit. Sie hatten sowieso nichts mehr voreinander zu verbergen. Vom ersten Moment an, da L seine Aufmerksamkeit auf Light gerichtet hatte, konnte dieser sich der Observation des Meisterdetektivs in keiner Weise mehr entziehen. Light stemmte seine Hände gegen die gekachelte Wand, senkte den Kopf und ließ das Wasser auf sich niederprasseln. L hatte ihm die Maske vom Gesicht gerissen und den hilflosen Jungen entdeckt, der sich darunter noch verbarg. Dabei hatte Light geglaubt, er hätte diesen unschuldigen, idealistischen Jungen schon längst getötet, der die Welt und die Menschen gleichermaßen verachtete wie liebte und aus Langeweile begonnen hatte, sie besser zu machen, als sie überhaupt sein konnten. Wieder schweiften Lights Gedanken ab. Alles, was zwischen L und ihm vorgefallen war, die letzten Monate, die letzten Wochen, die letzten Tage. Und die letzten Stunden... Was L gesagt hatte, kam einem heftigen Liebesgeständnis gleich. Natürlich hatte Light es verstanden. Als Gegner forderte er ihn heraus und spornte ihn an. Als Rivalen hatten sie auf der Jagd nach Kira miteinander gewetteifert. Als Freunde unterstützten und verstanden sie einander. Das alles war schon mehr als genug. Doch gab es noch eine weitere, letzte Eigenschaft, die nur L für ihn auszeichnete. Sich fallen lassen? Wenn es nur so einfach wäre. Lights Abwehrreaktion war weniger Angst als Selbstschutz. Er stellte das Wasser ab, griff nach einem Handtuch und stieg aus der Duschkabine. Der Spiegel über der Armatur, auf welcher sich Light nun tief ausatmend abstützte, war kaum beschlagen. Er blickte sich selbst in die rissige braune Iris, die glanzlosen Pupillen und fragte sich, was er in ihnen noch erkennen konnte. Einen Gott? Ein Monster? Oder war er dafür noch zu menschlich? Im Augenwinkel bemerkte er, wie L ins Bad getrottet kam, mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf. Was war das nur für eine Last, die auf seinen Schultern zu liegen schien? Was hatte diese Augen so leer werden lassen? Das Rauschen von Wasser erfüllte erneut den kalten Raum. Mechanisch widmete sich Light seinen morgendlichen Prozeduren und Gewohnheiten. Er wollte das nicht an sich heranlassen, was um ihn herum geschah. Doch seit einiger Zeit verselbstständigten sich seine Gedanken. Er schaute zu L hinüber, der sich inzwischen in genau derselben Manier an der gekachelten Wand abstützte und das Wasser auf seinen Hinterkopf prasseln ließ, wie Light es kurz zuvor auch getan hatte. Achtlos glitt sein Blick über den gebeugten, drahtigen Körper seines Partners. Unmittelbar spürte Light, dass seine Emotionen schmerzhaft stärker wurden, sich seine Atmung beschleunigte, sein Herz unkontrolliert schlug, das Prickeln in jeder Faser seines Inneren überhandnahm, Nervosität, Erregung, schwächendes Schwindelgefühl, ein Stein in seiner Kehle, Übelkeit, Schuldbewusstsein und unerträgliche Zuneigung. Das durfte doch nicht wahr sein. Er fühlte sich von L unwiderstehlich angezogen. Schon von Beginn an auf hasserfüllte, kindische Weise durch ihre gegenseitige Herausforderung. Später in ihrer Freundschaft durch sein Verlangen nach Anerkennung und Vertrauen. Und jetzt? Light wünschte, er könnte von sich behaupten, dass er L nur besitzen wollte. Vieles, was er an seinem Freund mochte und leider auch sexuell attraktiv fand, war nichts, was Light normalerweise an Frauen gefiel. Aber was gefiel ihm denn an Frauen? Eigentlich wollte er sich an ihnen nur selbst gefallen. Es stimmte, was L über die Freundinnen und Liebschaften des einstigen Schülers, mittlerweile jungen Studenten gesagt hatte. Zwar war es Light lästig vorgekommen, aber er hatte, um von Misa abzulenken, mit mehreren Mädchen ausgehen müssen. Dummerweise war L, der ihn zu diesem Zeitpunkt schon genau ins Visier genommen hatte, diese Verhaltensänderung sofort aufgefallen, denn im Vergleich zu den vormals wenigen Verabredungen war es tatsächlich ungewöhnlich für Light, sich mit so vielen Mädchen zu treffen. Und darüber hinaus, was war das für ihn? Lustgewinn? Bedürfnisbefriedigung? Warum hatte er L vorgeworfen, es würde diesem nur um Unterwerfung und Bestätigung gehen? Weil es bei Light selbst nie anders gewesen war. Er hatte sich mit Frauen vergnügt, die hübsch und beliebt waren, um seiner Umwelt zu zeigen, dass es ein Leichtes für ihn war, sie für sich zu gewinnen. Obwohl man von Gewinnen oder gar Erobern kaum sprechen konnte; sie warfen sich ihm regelrecht vor die Füße. Dass er Erfahrungen mit Frauen sammelte, entsprach einfach den gängigen Konventionen. Es entsprach schlichtweg der Norm. Weil Misa nicht ganz in dieses Bild hineinpasste, hätte sich Light bestimmt nicht mit ihr abgegeben, wenn sie ihm nicht gedroht hätte. Stattdessen war eine völlig andere Frau in seinen Blick gerückt, mit der er wahrscheinlich am ehesten zusammengekommen wäre: Takada Kiyomi, schön, intelligent, erfolgreich und bei allen begehrt. Sie passte perfekt in sein geplant vorbildhaftes Leben. Auch wenn er für sie genauso wenig empfand wie für alle anderen, beliebig austauschbaren Menschen. Das Rauschen des Duschwassers erstarb. Light bemerkte, wie sich L mit Handrücken und Unterarm über die Augen rieb, als wäre ihm versehentlich Shampoo hineingeraten, während er unbeholfen nach einem Handtuch tastete. Ohne Umschweife kam Light auf ihn zu, legte ihm ein Handtuch auf den gesenkten Kopf und begann mit sanften Bewegungen ihm das Haar zu trocknen. „Sonst tropfst du wieder alles voll mit deiner Mähne.“ „Entschuldige, Light-kun.“ Feindschaft konnte auch ohne Anziehungskraft dazu führen, dass man jemanden durch einen sexuellen Übergriff erniedrigen wollte. Im Krieg kam es nicht selten vor, dass Männer von Soldaten vergewaltigt wurden, um sie zu demütigen und zu unterwerfen. Obwohl Light es nicht wahrhaben wollte, war ihm dennoch bewusst, dass es bei der Körperlichkeit zwischen L und ihm vollkommen anders war, trotz häufiger Brutalität. Manchmal hätte es ohne Gewalt einfach nicht gereicht. Dafür wollten sie einander zu sehr. Die ganze Zeit hielt L den Kopf gesenkt, sodass die schwarzen Haarsträhnen seine Augen verdeckten. Das Handtuch ein wenig zurückschiebend strich Light vorsichtig das noch feuchte Haar beiseite. Wie erwartet starrte L leer geradeaus, dem Anschein nach durch seinen Freund hindurch. „Da du gerade unentwegt in der Vergangenheit gräbst, Ryuzaki“, fing Light zu sprechen an, während er das Gesicht seines Freundes sacht in die Hände nahm, „möchte ich dir eine Frage beantworten, die du mir vor einiger Zeit gestellt hast. Du wolltest wissen, ob es nicht reichen würde, mir zu sagen, dass du mein Freund bist.“ „Du warst wach?“ „Tu nicht so, als hättest du das nicht gewusst.“ Light ließ seine Finger über die nasse Haut gleiten, entlang an den dunklen Schatten unter den großen, leeren Augen. Er hätte L gern die Lider geküsst, um herauszufinden, ob er weinte. Zwar schnürte es Light so unangenehm die Kehle zu, dass er kaum zu schlucken vermochte, doch wählte er seine folgenden Worte sehr präzise und gefärbt in eine analytisch kühle, teils jungenhafte Tonlage. Er wusste genau, was er jetzt sagen musste. „Ich glaube, es reicht nicht, Ryuzaki. Wenn überhaupt, dann ist diese Tatsache das Einzige, wovor ich Angst habe. Es ist im Moment einfach alles viel zu kompliziert für mich, um es richtig einzuordnen oder zu verstehen. Also das, was hier geschieht und wieso ich mich so merkwürdig verhalte. Nichtsdestotrotz gibt es auch Dinge, über die ich mir sehr wohl im Klaren bin, schließlich ist da noch Misa, von der ich weiß, dass ich sie liebe und dass ich mit ihr zusammen sein will. Es ist ja schon ein bisschen chaotisch zurzeit, findest du nicht? Dennoch ist es erstaunlich. Ich erkenne mich selbst nicht mehr.“ Light lachte hell und unnatürlich. Die Stimme, die aus seinem Mund kam, klang in seinen eigenen Ohren fremdartig. „Vielleicht liegt es wirklich daran, dass ich ununterbrochen mit dir zusammen bin, Ryuzaki. Wir sollten da aber nicht zu viel hineininterpretieren, okay?“ L schaute weiterhin starr durch den Anderen hindurch. An seiner Mimik schien sich rein gar nichts geändert zu haben. Nach einer Weile setzte er ein verzerrtes Lächeln auf und nickte eigentümlich, ohne Light dabei anzusehen. Dieser sagte daraufhin: „Dann geh jetzt bitte.“ Um sich selbst nicht mehr erkennen zu können, hätte Light überhaupt erst wissen müssen, was seine Person ausmachte, was er am Ende noch war. Unaufhörlich stürmten Eindrücke seines vergangenen, verlorenen, wirklichen oder gefälschten Ichs auf ihn ein. Er konnte nicht sagen, was davon echt war. Und was der Meisterdetektiv ein ums andere Mal von seinem Hauptverdächtigen ins abgeblendete Licht zerrte, war womöglich nur ein Bruchstück der zersplitterten Wahrheit und Vielschichtigkeit. Immer wenn L in das Innere des jungen Mannes blicken wollte, ging er nicht selten grausam vor. Indes hatte sich Light gleichermaßen seinem Freund aufgezwungen, ihn angegriffen, sich gewehrt und fast hingegeben. Das verschlossene Gewaltpotenzial war die einzige Möglichkeit, mit den Aggressionen, der Wut und Verzweiflung umzugehen. Auf Gegenseitigkeit beruhend war das, was Light tatsächlich von L wollte und nach ihm verlangen ließ, so einfach wie komplex. Er wollte ein Teil von ihm sein, alles kennen, jede Stärke und jede Schwäche akzeptieren und ausnutzen, der Auslöser für jedes Gefühl in ihm sein, ihn am Leben halten, streben lassen, ihn erniedrigen und ihm, sobald er am Boden lag, wieder auf die Beine helfen, um zum Schluss, auf dem Höhepunkt ihrer Beziehung, für den Tod dieses Menschen verantwortlich zu sein und damit auch das Letzte von ihm zu besitzen: seinen Namen, sein Leben, seinen Tod. Alles. Light hatte gehofft, wenn Kira erneut in ihm erwachte, würde jede Form der Zuneigung für L verfliegen. Wenigstens hätte rein theoretisch der Widerstand gegen sich selbst die unliebsamen und ungünstigen Emotionen abschwächen müssen. Zu allem Überfluss allerdings, ohne eine logisch akzeptable Erklärung hierfür zu haben, hatte die Rückkehr seiner Erinnerungen die Anziehungskraft sogar noch verstärkt. Je mehr sich Light von nun an darauf einließ, desto mehr würde es schmerzen, diesen Teil wieder aus sich herauszuschneiden. Mit einem dumpfen Laut schloss sich die Tür. L hatte Light allein gelassen, mit sich selbst und seinen Gedanken. Vereinzelt tropfte noch Wasser von seinen Haaren hinab auf seine eisigen Hände. Ungerührt blieb Light auf dem Wannenrand sitzen. Nun endlich hörte er wieder Ryuks kratzige Stimme. „Niemand kann auf Dauer eine Maske tragen, Yagami Light.“ Doch, er konnte es. Und er würde es. Light schaute hinauf in den Spiegel, in welchem sich die Schatten vermehrten und verdichteten. Sie griffen mit ihren Worten durch das reflektierende Glas. „Oh Herr“, riefen sie ihn an, „die Todgeweihten grüßen dich.“ In seinem Nacken breiteten sich, zusammen mit dem Schauer der Angst und Euphorie, die tödlichen Schwingen seiner Hybris aus. Denn im letzten Winkel seines Herzens hauste noch immer dieses Monster, das in jedem Herzen schläft. Auch in L lauerte es. Und immer wieder hörte man es flüstern: „Versuch mich zu leugnen, mich zu ignorieren, zu vergessen, doch töten kannst du mich nicht.“ Nach seinen ersten beiden Morden hatte Light sich entschieden, es nicht zu verleugnen. Sonst wäre er an den Schuldgefühlen zugrunde gegangen. Er musste weitermachen. Er konnte nicht mehr aufhören. Und auch L würde ihm bald zum Opfer fallen. Es war wie ein Rausch, all das Schlechte aus der Welt zu verbannen. Light machte die Welt perfekt. Er machte sie schön. Er schnitt alles Unreine heraus. Wenn er könnte, er würde auch dieses hämmernde, schmerzende und fehlerhafte Ding zwischen seinen Rippen herausreißen. Aber vielleicht war selbst das gar nicht so schwer. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)