Die Weiße Schlange von MorgainePendragon ================================================================================ Kapitel 28: Tränen ------------------ Madoka war es leid warten zu müssen. Aber sie hatte es erstens versprochen und zweitens war ihr durchaus klar, dass sie bei dem Kampf, der unten am Hafen unablässig tobte, keine große Hilfe sein würde. Das änderte jedoch überhaupt nichts an der Tatsache, dass sie sich unendlich große Sorgen machte. Sie stand am Fenster ihres Zimmers im Obergeschoss des "Aka-Chochin", von wo aus sie einen guten Blick hinab auf das Hafenviertel hatte. Sie erkannte deutlich, dass das an mehreren Stellen ausgebrochene Feuer nun auch bereits auf die angrenzenden Wohnviertel übergegriffen hatte. Schwarze Ströme von Menschen flohen durch die Gassen und Straßen den Hügel hinauf in Richtung Kaiserpalast, hofften dort vor den gierigen Flammen zweifelhaften Schutz zu finden. Gigantische schwarze Rauchsäulen stiegen selbst vom Wasser auf, wo eines oder sogar zwei der großen Segelschiffe mittlerweile lichterloh brannten. Nicht genug damit, so war innerhalb der letzten halben Stunde das Wetter derart umgeschlagen, dass der Regen nun in wahren Sturzbächen aus den dräuenden Wolken herabkam. Blitze zuckten und der Donner rollte tief und ohrenbetäubend dahin. Ein wahrhaftes Unwetter war über Kyoto hereingebrochen, als würde selbst der Himmel ob des Krieges zürnen, den die Menschen hier austrugen. Und dunkel war es geworden, als wäre es bereits später Abend - und nicht etwa eine Stunde nach Mittag. Madoka zog fröstelnd die Decke enger um ihre Schultern, als eine Windböe zu ihr hereinleckte, die Vorhänge bauschte und Papier, das hinter ihr auf der Erde lag, leise rascheln ließ. Sie hatte versucht etwas in den alten Schriftrollen zu lesen, die sie schon in Takeos Zimmer gesehen hatte - aber sie konnte sich einfach nicht konzentrieren. Ganz davon abgesehen, dass sie in einer derart altmodischen Sprache verfasst waren, dass sie ohnehin Schwierigkeiten beim Deuten der Texte gehabt hätte. Aber ihre Gedanken waren nicht hier. Sie waren bei Takeo. Die ganze Zeit. Ihre Sinne gaukelten ihr Kampflärm vor - was auf diese Entfernung hin vollkommen unmöglich war. Dennoch glaubte sie die Schmerzens- und Wutschreie, das Waffengeklirr und das Wiehern der Pferde beinahe zu hören. Ihr Blick glitt ruhelos über die Häuser und dunklen Straßen. Dann stutzte sie. Sie blickte konzentriert hinab in den regenverhangenen Innenhof des "Chochin". Hatte sich da nicht etwas bewegt? Ein dunkler, huschender Schemen? Und jetzt fiel ihr auch auf, dass das Haupttor zur Straße hin sperrangelweit offen stand! Von den Wachposten, die am Tor Aufstellung bezogen hatten, war keine Spur zu sehen. Was zum Teufel ging hier vor? Eine eiskalte Hand schien ihr den Rücken hinabzustreichen. Alarmiert machte sie auf dem Absatz kehrt, ließ die Decke zu Boden gleiten, während sie schon loslief, aus dem Zimmer hinaus, die Treppe hinab und durch den nun verwaist daliegenden Speisesaal in Richtung Küche, von der sie wusste, dass sich Kanoe und ihre Bediensteten dort aufhalten mussten. Als sie im Laufschritt die Küche betrat fand sie Kanoe und ein paar andere Frauen dabei vor, wie sie das heutige Abendessen vorbereiteten als wäre nichtsweiter geschehen. Der homosexuelle Koch des "Chochin", Kagushima Sanji, war ebenfalls anwesend und amüsierte sich gerade über einen von ihm selbst zum besten gegebenen Witz. Er warf den Kopf zurück und lachte, wobei eine Schmalzlocke seines strohblond gefärbten Haares nach vorn und über seine Augen fiel. Er war ein hagerer, hochgewachsener, immer etwas kränklich wirkender Mensch - mit dem schrägsten Humor, der Madoka je begegnet war. Und er war ein Schleimer. In Madokas Augen gab es beinahe nichts Schlimmeres. Alle wandten sich ihr zu, als die junge Frau polternd die Tür öffnete und hereinkam. In Kanoes Augen blitzte es kalt auf. Sie enthielt sich jedoch jeden Kommentars. "Das Haupttor vorn ist offen und die Wachposten sind verschwunden!", sagte Madoka atemlos in die nun eingekehrte Stille. Sanji blinzelte. "Das ist nicht möglich." Sein Blick war geradezu einfältig. "Wenn ich es euch doch sage! Wo sind die Wachen?" Madoka war nahe daran die Fassung - und auch ihre Geduld - zu verlieren. Sie wandte sich direkt an Kanoe. "Wir müssen sofort..." Bevor sie auch nur ein weiteres Wort hervorbringen konnte hörten sie alle plötzlich einen markerschütternden Schrei. Dann fiel etwas sehr Schweres lautstark polternd direkt im Zimmer über ihnen um. Und das löste die Erstarrung, in die sämtliche Personen in der Küche bei Madokas Eintreten scheinbar gefallen waren. Kanoe und die Mädchen sprangen auf, Sanji griff nach der erstbesten Waffe, die ihm in die Hände fiel - genauer gesagt HATTE er sie schon in der Hand, wobei es sich auch nicht im eigentlichen Sinne um eine "Waffe" handelte: Ein langes Küchenmesser. Dennoch sah der junge Mann nicht wirklich wild entschlossen aus, sich damit auf einen Gegner zu stürzen. Aber Madoka fand die Idee gar nicht so schlecht. Während alle anderen bereits aus der Küche und in den Speisesaal hinauseilten, griff sie selbst ebenfalls nach einem der an der Wand aufgereihten, scharf aussehenden Messer. Sie stürmte hinter den anderen her, doch als sie die Diele erreichte, da erkannte sie mit kaltem Entsetzen, dass die Eindringlinge, die auch die Wachposten am Tor ausgeschaltet haben mussten, bereits im Haus waren: Männer in den blauen Roben der Shinsengumi! Mit weit aufgerissenen Augen war Madoka mitten in der Tür zur Eingangshalle stehen geblieben, versuchte zu verstehen, irgendwie zu verarbeiten, was hier geschah. Die Männer, deren Gesichter mit weißen Tüchern verhüllt waren, überfielen rücksichtslos die Frauen, die im "Chochin" zurückgeblieben waren. Sie hörte Schreie, einige der Mädchen waren wohl die Treppe hinaufgeflohen. Doch ein halbes Dutzend der Schwertkämpfer war ihnen bereits auf den Fersen. Auch hier, direkt in der Diele wurde gekämpft, auch wenn man das nicht wirklich einen Kampf nennen konnte. Die Mädchen, die als erstes aus dem Saal gekommen waren, mussten den Angreifern buchstäblich ins Messer gelaufen sein! Madoka sah überall Blut und inmitten dieses scharlachroten Gemäldes puren Chaos wanden sich die Körper schreiender Frauen und ihrer Peiniger, die sie auch noch zu schänden versuchten. Binnen Sekunden war auch Madoka blutbesudelt. Es war nicht ihr eigenes Blut. Sie starrte wie paralysiert auf die albtraumhafte Szene vor sich, war unfähig auch nur einen Muskel zu rühren. Nie zuvor hatte sie etwas derart Grauenvolles gesehen! Zwei der verhüllten Shinsengumi-Krieger wurden jetzt auf sie aufmerksam. Sie gaben sich Zeichen und näherten sich der jungen Frau von zwei Seiten. Madoka stand einfach nur da. Und obwohl sie sich sehr wohl der Gefahr bewusst war, in der sie schwebte, und obwohl sie die beiden Männer kommen sah, war alles was sie denken konnte: 'Warum...?' Wie in einer Endlosschleife immer nur dieser eine Gedanke: 'WARUM!? Welchen Sinn hatte dieser Überfall auf hilflose Frauen, wenn nicht...?' Ihr fiel es wie Schuppen von den Augen. Sie hätte Okita Sojis kaltes Lächeln nicht einmal sehen müssen, der in diesem Moment durch die Tür das Haus betrat, und auch seinen scharfen Befehl nicht hören müssen, dass SIE es sei, die sie suchten - sie wusste in diesem Moment bereits, warum die Männer der Shinsengumi hier waren. Sie würden sie töten, ebenso wie die anderen, dessen war sie sich in diesem Augenblick sicher. Sie ließ das Küchenmesser fallen. Jetzt, viel zu spät, wollte sie sich zur Flucht wenden, hätte es aber niemals geschafft, wenn da nicht plötzlich Kanoes Gestalt wie aus dem Boden gewachsen vor ihr aufgetaucht wäre. "Lauf, du dumme Gans! Was stehst du hier herum? Bring dich in Sicherheit!" Madoka sah sie mit grenzenloser Überraschung ein langes Katana schwingen. Sie hatte sich breitbeinig vor der jungen Frau aufgebaut und ließ die Angreifer nicht aus den Augen, ein gefährliches, nicht minder kaltes Lächeln, als das von Okita, auf den Lippen. Gelinde Überraschung spiegelte sich in Okitas dunklen Augen wieder. "Hirosaki Kanoe, wie ich meine. Schön und gefährlich - so hat man sie mir beschrieben. Und jedes Wort ist war." Langsam zog er sein eigenes Katana und bedeutete den beiden Schwertkämpfern zurückzutreten. "Ein so junges Küken wie dich verspeise ich zum Dessert.", ließ sich Kanoe verächtlich vernehmen. "Oh, tatsächlich.", sagte Okita ruhig. "Vielleicht ist Ihnen nicht klar, mit wem Sie es zu tun haben. Aber ich war unhöflich und vergaß mich vorzustellen. Okita ist mein Name, wenn Ihnen das etwas sagt." Kanoes Augen weiteten sich erschreckt - aber lediglich für den Bruchteil einer Sekunde. Sie hatte sich gut in der Gewalt. Allerdings schien sie nicht damit gerechnet zu haben, dass der berüchtigte Okita Soji noch ein halbes Kind war. Doch jetzt war es zu spät für sie, sich zurückzuziehen. Mit grimmiger Entschlossenheit erwiderte sie seinen Blick. "Madoka! Jetzt verschwinde endlich!" "Zu edel." Okitas Stimme war nur noch ein leises Flüstern. Er schnippte mit den Fingern und bedeutete seinen Männern, sich um Madoka zu kümmern, während er selbst auf Kanoe zutrat. "In diesem Moment werden auch die anderen Häuser, in denen sich die Aufrührer verschanzt hatten, von uns eingenommen. Wir konnten ja nicht genau wissen, in welchem der Domizile sich die verehrte Sakurai Madoka befindet. Ich fürchte, ich kann die Kleine nicht gehen lassen. Das Mädchen ist Herrn Mamoru sehr wichtig." Kanoe hob schwungvoll ihre Klinge. Sie schnitt den anderen Kriegern den Weg ab. "Madoka! JETZT!" Und Madoka, die noch immer nicht glauben konnte, dass Kanoe - ausgerechnet KANOE - ihr zuhilfe gekommen war, erwachte endlich aus ihrer Lethargie. Sie sprang auf und lief den Korridor entlang nach hinten aus dem Haus. Hinter sich hörte sie Schwerter aufeinanderprallen, dann einen Schrei. Sie hoffte, dass es nicht Kanoe gewesen war, war sich jedoch nicht sicher. Wer hätte auch nur ahnen können, das so etwas geschah? Und wer hätte der Edel-Kurtisane die Fechtkunst zugetraut? Völlig unpassenderweise fragte sie sich kurz, ob wohl Takeo davon wusste. Aus welchem Grund war sie der Shinsengumi, speziell Yamazaki Mamoru, so wichtig, dass diese so viele Menschen überfiel und tötete? Sollte es tatsächlich nur aus dem Grund so sein, weil sie mit Mamorus Bruder befreundet war? Sollte sie als Pfand gegen den "Roten Schatten" eingesetzt werden, damit man seiner endlich habhaft wurde? Oder war es Mamorus eigener Wunsch und Wille, sie für sich zu rauben? Madokas Gedanken rasten und sie fühlte lähmendes Entsetzen in sich aufsteigen, sollte es wirklich ihretwegen sein, dass so viele unschuldige Frauen und auch Männer sterben mussten, all die Menschen, die zurückgeblieben und nicht mit in den Kampf gezogen waren. Das KONNTE einfach nicht sein. Sie war doch so UNWICHTIG! Die Shinsengumi musste sich noch etwas anderes davon versprechen. Die Gruppe um Hijikata und Saito wollte möglicherweise Herz und Seele der Revolution treffen. Denn die Freunde der Erneuerer, die in den Unterkünften auf deren Rückkehr warteten, WAREN Herz und Seele dieser Männer, das, wofür sie unter anderem kämpften und für deren Zukunft sie sich einsetzten. Würde man sie töten, dann nahm man den Revoluzzern die Basis, den Grund, für den sie fochten. Madokas Glück, dass ihr niemand den Weg verstellte, war wirklich nur von kurzer Dauer gewesen. Hinter dem Haupthaus des "Chochin" erstreckte sich ein kleiner Wandelgarten von der Art, wie sie ihn auch von Shigerus oder Ysidros Haus kannte. Als sie hinauslief und der hernieder prasselnde Regen sie binnen Sekunden bis auf die Haut durchnässt hatte erkannte sie, dass sie kaum eine Chance haben würde zu entkommen. Denn auch hier war ein halbes Dutzend Männer damit beschäftigt, die Bewohner des Hauses zu verfolgen. Sie stolperte über etwas, fing sich gerade noch an der Hauswand ab und blickte zurück. Was hatte ihr im Weg gelegen? Es war Kagushima Sanjis Leichnam. Der Koch war von oben bis unten aufgeschlitzt, beinahe halbiert, und lag in seinem eigenen Blut, die Augen weit und ungläubig aufgerissen. Absurderweise erinnerte er sie an einen ausgeweideten Seelachs. Der Regen ließ dünne Rinnsale aus Blut und Wasser in der Erde versickern. Der Impuls kam schnell und war sehr heftig: Madoka fuhr herum und erbrach sich. Sie keuchte, war wimmernd vor der Wand in die Knie gesunken. Madokas allererster Gedanke, dass Okita hier war um sie zu töten, nicht um sie gefangen zu nehmen, nahm nun doch wieder sehr viel intensiver Gestalt an. Der Beigeschmack von Panik haftete ihm an und auch Okitas Worte, dass sie Mamoru wichtig sei, änderten nichts an der lähmenden Angst um ihr nacktes Überleben, die ihre Kehle jetzt zuschnürte. Sie wusste nicht mehr, was sie noch denken sollte. Gott, diese Welt war so... grausam! Etwas scharrte leise hinter ihr. Madoka drehte sich voller Angst herum - und sah in Okita Sojis hübsches Gesicht, das schmal, blass und vollkommen gleichmütig zu ihr hinabblickte. Also war Kanoe... Okita hatte sein Katana zurück in die Scheide gesenkt. Er richtete sich auf. "Ich denke, für dich brauche ich kein Schwert." "Du... du willst mich nicht...?", stammelte sie zitternd. "...töten? Oh, doch. Ich WILL schon - aber leider hat man etwas anderes mit dir vorgesehen. Pläne, bei denen der "Rote Schatten" eine beträchtliche Rolle spielt." Okitas Mundwinkel zuckten nach oben - vielleicht hielt er diese Grimasse für ein Lächeln. Wie konnte jemand das Gesicht eines Engels haben und so abgrundtief böse sein? "So, und jetzt denke ich, dass du keinen Widerstand mehr leistest, nicht wahr? Sei ein braves Mädchen." Er entfernte die Kordel, die unter seinem Umhang die Hose zusammenhielt. Es war ein kleines Wunder, dass sie daraufhin nicht rutschte. Madoka zuckte zurück. "Komm schon. Keine Angst. Nicht das, was du denken magst." Okitas Stimme klang beschwichtigend. Er griff nach ihren Handgelenken und fesselte sie. "Ich habe kein Interesse daran..." Etwas traf Okita mit Wucht am Hinterkopf. Mit einem überraschten Laut auf den Lippen taumelte Soji zur Seite, er fiel und fing sich mit einer Hand ab. Benommen blieb er einen Moment so, versuchte einen klaren Kopf zu bekommen. Hinter Okita, hoch aufgerichtet und gegen den dunklen Himmel von ihrem Standpunkt aus nur als noch dunklerer Schemen zu erkennen, konnte Madoka nun die hünenhafte Gestalt eines ihr wohlbekannten jungen Mannes ausmachen. Der nächste Blitz erhellte sein Gesicht, das seltsam bleich und krank aussah. Und im selben Moment erkannte Madoka, dass Shido schwer verletzt war. Die gesamte linke Körperhälfte war dunkel von seinem eigenen Blut. Der provisorische Verband, den er sich selbst angelegt zu haben schien, war bereits hoffnungslos durchtränkt. Er taumelte, die improvisierte Waffe, ein Holzscheit, entglitt seinen Fingern. Er flüsterte etwas, dass sich wie ihr Name anhörte. Dann sank er gegen die Hauswand. Mit einem Schrei war Madoka auf den Beinen. Sie wollte zu ihrem Freund eilen, aber Okitas Hand schoss vor und schloss sich wie ein Schraubstock um ihren Arm. Wie aus dem Boden gewachsen stand der junge Shinsengumi-Kommandant wieder neben ihr. Ein einziger Blick auf seinen alten Schwertgefährten machte Okita jedoch klar, dass er seine Klinge nicht ziehen musste. Shido-san schien unglaubliche Schmerzen zu haben. Er atmete schwer, hatte die Augen geschlossen und hielt sich die linke Seite. Sein sonst in alle Richtungen abstehendes Haar hing ihm feucht und lang in den Nacken und klebte an seinen Wangen. Okita lachte kalt. "Sieh an. Shido-san, mein alter Freund. Das trifft sich gut. Ein wenig schwach auf der Brust heute?" Shido biss die Zähne zusammen. Und als er jetzt die Augen öffnete und den Blick seiner dunklen Augen auf Okita richtete, da waren eine Entschlossenheit und Wut darin zu erkennen, die Madoka erstaunte und den Shinsengumi-Samurai einen Augenblick sprachlos machte. Shido stieß sich von der Wand ab. Und obwohl es ihm unsägliche Pein bereiten musste stand er nun völlig frei und aus eigener Kraft da. Madoka starrte ihn an. Wie kam er überhaupt hierher? War er nicht mit Takeo zum Hafen hinuntergeritten? Und wer hatte ihn so schwer verletzt? Woher nahm er die Kraft noch zu stehen? Hunderte von Fragen - und keine einzige Antwort. Okita pfiff leise durch die Zähne. "Ich bin beeindruckt. Du bist nach wie vor ein zäher Bursche, Kanzaki. Doch wie ich sehe, hat man mir schon vorgegriffen, was deine Verletzungen betrifft." Er lachte leise und vollkommen gefühllos. "Doch jetzt werde ich es beenden. Hab keine Angst, mein Freund. Dein Leiden hat gleich ein Ende." Er lächelte Shido an - und trat ihm dann unvermittelt die Beine unter seinem Körper weg! Der junge Mann ging schwer zu Boden. Er krümmte sich, aber nicht ein Laut der Qual kam über seine Lippen. "M... Madoka... Lauf... Geh zu... Takeo...", flüsterte er. Doch Madoka, noch immer mit gefesselten Händen, stand hinter Okita und schaute mit blankem Entsetzen zu ihrem Freund hinunter. Etwas, von dem sie nicht so ganz verstand was es war, fand hinter ihrer Stirn statt. Ein Vorgang, der etwas vollkommen Irrsinniges zur Folge haben würde, wenn sie nicht auf der Stelle genau das tat, was Shido ihr geraten hatte und floh. Aber sie blieb, wo sie war, starrte mit weit aufgerissenen Augen hinab, während Okita erneut sein Schwert zog und es singend hoch über den Kopf schwang. Und Shido öffnete die Augen. Sein Haar wirkte beinahe schwarz und war ihm feucht über das Gesicht gefallen. Sein Stirnband hatte er verloren. Blut lief aus einer bösen Platzwunde an seiner Schläfe über die Wange und Lippen, lief ihm in dünnen Rinnsalen in den geöffneten Mund. Er stöhnte leise. Doch jetzt sah er sie direkt an. Unverwandt. Unbeirrbar. Sein Blick saugte sich an ihrem fest - und es stand so viel... verzweifelte Liebe darin... Madokas Augen füllten sich mit Tränen. "Es... tut mir Leid..., Madoka...", sagte er dann leise. Und jetzt fühlte die junge Frau plötzlich einen Zorn in sich aufwallen, den sie zuvor noch nie empfunden hatte - und von dem sie auch nicht wirklich wissen wollte, woher er kam. Ohne nachzudenken sprang sie nach vorn, stieß Okita zur Seite, der jedoch nicht übermäßig überrascht wirkte. Er machte einen Ausfallschritt und hatte sofort sein Gleichgewicht wiedererlangt. Madoka selbst, durch ihren eigenen Schwung nach vorn gerissen, taumelte ein gutes Stück an ihm vorbei, stolperte und fiel - direkt neben Sanjis Leiche und buchstäblich mit der Nase auf das große Küchenmesser. Sie sah sich hektisch um und bemerkte, dass Okita sich wieder Shido-san näherte, der sich nun in eine halb sitzende, halb liegende Position aufgerichtet hatte. "Stirb, du Verräter!", brüllte der junge Shinsengumi-Krieger. Und Madoka schloss ihre gefesselten Hände um das Messer. Kühl und feucht fühlte es sich in ihrer Handfläche an. Sie erhob sich, wandte sich herum. Auch jetzt wusste sie kaum, was sie tat. Im Nachhinein versuchte sie später ständig zu rekonstruieren, was ihr bewusstes Selbst abgeschaltet und ihre Instinkte geweckt haben mochte. Sie war sonst nie der impulsive Typ gewesen. Und sie war schon gar kein gewalttätiger Mensch. Doch jetzt schien ihr das bisher vorhandene Gewissen abhanden gekommen zu sein. Sie sah nur noch Shido, wie er in seinem Blut dalag, unfähig sich zu rühren. Sie lief los. Für den Bruchteil einer Sekunde sah sie in Shidos schreckgeweitete Augen - und auch Okita hatte noch Zeit herumzufahren und das Schwert zu senken. Doch zu mehr reichte es für den jüngsten Kommandanten, den die Shinsengumi je gehabt hatte, nicht mehr. Madoka lief weiter, rammte ihm das Küchenmesser in vollem Lauf in den Bauch. Das Gefühl, mit dem die Klinge in das Fleisch eindrang, und auch der Schrei, der daraufhin dicht neben ihrem Ohr ertönte, würden sie ihr ganzes Leben lang verfolgen, das wusste sie. Madoka stürzte. Ihre Hände waren voller Blut und sie starrte sie ungläubig an, konnte selbst nicht ganz glauben, was sie da gerade getan hatte. Okita stand stocksteif da. Sein Blick glitt beinahe ebenso ungläubig wie der von Madoka an sich selbst hinunter, blieb an dem Griff des Messers hängen, der aus seinem Bauch hervorragte. Er blutete nicht einmal sehr stark. NOCH nicht. Okita Soji hob mühsam den Kopf. Er sah Madoka an - vollkommen fassungslos. Schmerz schien er keinen zu empfinden oder aber er war für ihn derart unwichtig neben der Tatsache, dass... "... ein... Mädchen...?", fragte der junge Mann flüsternd, scheinbar verwirrt, und Blut rann aus seinem Mund und über sein Kinn. Er konnte einfach nicht glauben, dass einer jungen Frau das gelungen sein sollte, was so vielen Schwertkämpfern bislang versagt geblieben war.Er brach lautlos in die Knie, fiel dann schwer zur Seite und blieb reglos in einer immer größer werdenden Pfütze seines eigenen Blutes liegen. Madoka zitterte. Was hatte sie getan? Der Regen ging flüsternd um sie herum nieder. Das Grollen des Donners schallte dumpf und nun von weiterer Ferne herüber. Auch die Blitze zuckten nicht mehr so oft. Es war, als würde das Unwetter für eine Sekunde innehalten, um dem Mädchen mit dem Blut an seinen Händen noch bewusster zu machen, was es gerade getan hatte und dass kein Regen der Welt seine Schuld mehr würde fortwaschen können. Madoka wimmerte leise. War es das, was Takeo immer wieder empfunden hatte, als er so viele Leben auslöschte? Sie begann, wie eine Besessene die Hände an ihrer Kleidung abzureiben, versuchte verzweifelt das Blut abzuwischen. Sie rieb und rieb, kroch auf allen Vieren und wie ein kleines Kind heulend zu einer Pfütze in ihrer Nähe, tauchte die Hände hinein und versuchte sich das Blut mit Erde und Wasser abzuwaschen. Es ging nicht. "Es geht nicht!", jammerte sie, nur noch Nuancen davon entfernt zu schreien. "Es geht nicht, es geht nicht... Mmmmnnhh... Ich... rieche es... Das Blut... Ich will es nicht! So... schmutzig! Ich wollte das nicht!" Sie wiegte ihren Oberkörper vor und zurück, ihre Tränen mischten sich mit dem Wasser des Regens auf ihren Wangen. Sie starrte ihre Hände an und wiederholte immer und immer wieder dieselben Worte: "Ich wollte das nicht! Ich will nicht!" Shido hatte in stummem Entsetzen verfolgt was soeben geschehen war. Und Madokas Nervenzusammenbruch überzeugte ihn von einer Vermutung, die er schon früher von ihr gehabt hatte: Sie hatte noch nie zuvor einen Menschen getötet. Und das Gefühl, was sie nun empfinden mochte, ähnelte wahrscheinlich stark eben jenen Empfindungen, die er selbst gehabt hatte als ER zum erstem Mal Blut an seinen Händen fühlte, das nicht sein eigenes war... Madokas Augen blickten starr. Sie war in eine Art Wahn verfallen. Unablässig stieß sie dieselben Worte hervor. Unablässig rieb sie ihre Hände im Dreck. Sie würde den Verstand verlieren, wenn er nichts unternahm. Shido-san kroch - ebenso wie sie zuvor - auf allen Vieren langsam auf sie zu. Es war ihm gleichgültig, dass er sich dabei von oben bis unten mit dem Schlamm besudelte, in den sich mittlerweile die Erde des Hinterhofes verwandelt hatte, und es war ihm auch egal, dass die Wunde an seiner Seite einen reißenden, feurigen Schmerz durch seinen gesamten Körper schickte. Mit zusammengebissenen Zähnen kroch er zu Madoka hinüber. Als er sie erreichte richtete er sich mühsam in eine sitzende Position auf. Er ergriff ihre zitternden, zuckenden Hände. "Madoka... Du... darfst jetzt nicht den Kopf verlieren! Madoka! Sieh mich bitte an!" Seine braunen Augen waren groß und dunkel. "Was du getan hast..., Madoka... Du... hast mir das Leben gerettet! Bitte! Was du getan hast... war nicht falsch..." Jedenfalls war es das nicht von seinem Standpunkt aus. Er würde nicht mehr leben, hätte sie es nicht getan. Doch plötzlich hatte er Angst. Die ganze Zeit, während des Kampfes am Hafen und auch hier, als er sich auf das Gelände des "Chochin" geschlichen hatte, hatte er nicht ein einziges Mal richtig Angst verspürt. Nicht einmal, als man ihn verwundete. Keine Angst um sich selbst, keine wirkliche Angst um seine Freunde, die um ihr Leben kämpften... Da war eine wilde Entschlossenheit in ihm gewesen, die alles andere zurückdrängte. Adrenalin hatte den Rest erledigt. Doch jetzt, zum ersten Mal, verspürte er wirkliche, handfeste, nackte Angst, als er in Madokas leere Augen blickte. Angst um sie. Würde er sie verlieren? Es war eine Angst, die er nie zuvor gekannt hatte. Und er hätte viel darum gegeben, sie nie kennen lernen zu müssen. Doch da war sie, die junge Frau, die er mehr liebte als sein eigenes Leben - und verflucht sollte er sein, wenn er sie jetzt im Stich ließ! Er dachte an Takeo - und daran, was er dem Freund versprochen hatte. Er sollte sich um Madoka kümmern. Und er würde es verdammt nochmal tun. Auch wenn er sie liebte und es doch nie jemandem sagen konnte. Nein, gerade WEIL er sie liebte! Es tat beinahe körperlich weh ihren Schmerz zu sehen. Sein eigener trat vollkommen in den Hintergrund. Und ohne weiter darüber nachzudenken zog er sie in seine Arme, presste sie fest an sich, vergrub sein Gesicht in ihrem regennassen Haar und flüsterte nur immer wieder ihren Namen, sprach beruhigend auf sie ein. Es war ihm gleich, ob da noch Soldaten der Shinsengumi waren, die ihn jederzeit von hinten angreifen konnten. Er vergaß alles um sich herum, seinen Schmerz, den Kampf, seine Freunde... Was zählte war sie. "Ich liebe dich, Madoka... Bitte bleib bei mir..." Er weinte. Er hatte noch nie geweint. In seinem ganzen Leben noch nicht. Aber jetzt konnte er es nicht aufhalten und schämte sich seiner Tränen auch nicht. Ein leises Wimmern drang an sein Ohr. Als Shido den Kopf hob, da sah sie ihn an - noch immer furchtbar entsetzt und fassungslos und mit einer Kälte, die dort zuvor nie gewesen war, aber doch ohne diese schreckliche Leere, die ihre Augen zuvor ausgefüllt hatte. Auch sie weinte. Erneut und sehr viel heftiger schloss er sie in die Arme. Und so saßen sie lange Zeit inmitten des herabströmenden Regens im Schlamm, hielten sich umklammert, als gelte es in dem Meer aus Chaos und Gefühlen, das sich um sie herum aufgetan hatte, nicht unterzugehen, und weinten, weinten bis sie keine Tränen mehr hatten. Um sie her mischte sich das Blut der Opfer mit dem Regen. Die restlichen Soldaten waren beim Tod ihres Anführers geflohen. Es war vorbei. Zumindest der Kampf in unmittelbarer Nähe schien durch Okitas Tod ein jähes Ende gefunden zu haben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)