Die Weiße Schlange von MorgainePendragon ================================================================================ Kapitel 17: Schlaflos --------------------- Blut. Überall war Blut. Es klebte an ihren Händen, an ihrer Kleidung, es bedeckte den sie umgebenden Boden und wenn sie aufblickte, dann würde sie Takeo sehen, das wusste sie. Sie durfte nicht aufsehen! Sie hatte es die letzten Male auch getan - und hatte es bitter bereut. Doch auch dieses Mal konnte sie einfach nicht anders, als den Kopf zu heben und den Blick auf das Unvermeidliche zu richten. Da stand er. Takeo. Er war verletzt und zwar in solchem Maße, dass man hierfür beinahe ein neues Wort erfinden musste. Es schien nicht einen Zentimeter seiner Haut zu geben, der NICHT in irgendeiner Form verletzt war und blutete. Madoka wimmerte. Dennoch konnte sie den Blick nicht abwenden. Weiter hob sie den Kopf - bis sie in sein Gesicht blickte. Ein totes, lebloses Gesicht, mit Augen ohne Pupillen, aus denen Blut wie ein endloser Strom von Tränen floss. Er hob die Hand flehend in ihre Richtung. Blut quoll über seine Lippen, als er nun mit einer tiefen, unmenschlichen Stimme zu ihr sprach: "Madoka! Hilf mir! Bitte hilf mir!" Und Madoka schrie. Sie schrie wie von Sinnen. Sie schrie, schlug blind um sich, weinte vor Qual - und wachte jäh aus diesem immer wiederkehrenden Albtraum auf. Sekundenlang tat sie nichts anderes als schweratmend die rote Decke über sich anzustarren, sich darauf zu konzentrieren langsamer zu atmen. Ihr Herz raste wie nach einem Hundert-Meter-Sprint, sie fühlte kalten Schweiß auf ihrer Haut und die Spur heißer Tränen auf ihren Wangen. Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Wenn sie nicht gleich irgendetwas tat, um ihre Gedanken abzulenken, dann würden sie sich selbstständig machen und wieder zurückkehren zu dem entsetzlichen Traumbild, dass sie von dem jungen Samurai seit jener Nacht voll Kampf und Blut verfolgte. Und das wollte sie nicht. Sie fühlte erneut Tränen in sich aufkommen und hielt sie mit Gewalt zurück. Es hatte keinen Sinn zu heulen! Konzentrierte sie sich besser auf das Hier und Jetzt, nicht auf das was war. Entschlossen, jedoch noch etwas fahrig, griff sie nach dem schlichten roten Kimono, den man ihr zur Verfügung gestellt hatte und zog sich an. Ihr Pulsschlag hatte sich noch längst nicht beruhigt als sie nun zitternd die Tür zu ihrem Zimmer aufschob und lauschte. Draußen war es noch dunkel - natürlich. Wenn es so etwas wie Armband-Uhren in dieser Zeit schon gegeben hätte, dann hätte sie ihr Leben darauf verwettet, dass es dieselbe nachtschlafende Uhrzeit war, zu der sie auch in den letzten Nächten aus ihrem Alptraum erwacht war. Das Haus war ruhig. Die meisten schliefen wohl tief und fest - und bis zum Morgengrauen würde es auch noch eine ganze Weile dauern. Dennoch wusste sie, dass sie nicht mehr schlafen konnte, wenn sie sich nun wieder hinlegen würde. Und sie wusste außerdem genau, was sie nun tun würde - ebenso wie in den letzten Nächten, in denen sie diesen Traum gehabt und die Furcht um Takeo ihr die Kehle zugeschnürt hatte. Leise trat sie auf den Flur hinaus, nahm vorsichtshalber die Kerze aus ihrem Zimmer mit, und ging in die Richtung, in der sie das Zimmer des verletzten Schwertkämpfers wusste. Das "Aka-Chochin" ("Die Rote Laterne") war genau das, was der Name vermuten ließ: Ein Luxus-Bordell - für damalige Verhältnisse jedenfalls. Da konnten auch nicht die sündhaft teure Einrichtung, die beinahe luxuriös ausgestatteten Zimmer oder die ausnehmend teuer aussehende Kleidung der Kurtisanen hinwegtäuschen. DIESES Mal, TARNTE sich das Haus nicht als Bordell, wie das bei Shigerus Anwesen der Fall gewesen war, sondern es WAR eines. Zwar - wie schon erwähnt - eben luxuriös, aber mit einem solch verschwenderischen Hang zum Kitschigen, dass es schon beinahe weh tat wenn man auch nur hinsah. Das Haus hatte seinen Namen nicht von ungefähr: Die vorherrschende Farbe in sämtlichen Räumen war Rot. Die Futons waren mit dunklen, roten Stoffen bezogen, die Wände mit etwas bespannt, das wie roter Samt aussah, die Laternen waren rot, die Vorhänge (sofern vorhanden) waren rot - ALLES war rot. Und dies hatte den unangenehmen Nebeneffekt in der jungen Madoka die Erinnerung an das was geschehen war nur umso deutlicher wieder aufleben zu lassen. So viel Blut... Er hatte so viel Blut verloren, dass es ein Wunder war, dass er überhaupt noch lebte. Der Leibarzt der Kurtisanen hatte beinahe vierundzwanzig Stunden in Takeos Zimmer damit verbracht, den jungen Mann zu versorgen. Er hatte Wunden gewaschen und genäht, er hatte aufgrund des mit dem Blutverlust einhergehenden, hohen Fiebers Takeo Wadenwickel angelegt und Salben aufgetragen. Er hatte Verbände buchstäblich so schnell wechseln müssen, wie er sie angelegt hatte und er hatte alles versucht, ihm mit blut- und schmerzstillenden Medikamenten die Ruhe zu verschaffen, die sein geschundener Körper so dringend brauchte. Schon als Madoka in den Gang hineinbog, in dem Takeos Kammer lag, schlug ihr der Geruch von Heilkräutern und Öl-Essenzen entgegen. Sie alle hatten gewartet. Viele Stunden gewartet und in banger Erwartung gehofft, gewünscht und gebetet. Dann war der Arzt herausgekommen. Mit vollkommen erschöpfter Miene hatte er ihnen mitgeteilt, das Takeo zwar genesen würde, aber niemals - und er betonte dies mehrfach und sehr eindringlich - NIEMALS wieder mit dem Schwert (oder überhaupt) kämpfen dürfe. Es wäre sein unabwendbares Ende, wenn er je wieder zum Schwert greifen sollte. Sein Körper habe nicht mehr die Kraft die dafür nötig sei, hatte der Arzt gesagt. Niemals wieder kämpfen? Würde dies ein Mann, dessen Leben praktisch aus dem Kampf mit dem Schwert bestand, einfach so hinnehmen können? Madoka und wohl auch alle anderen konnten es sich nicht vorstellen und ihr Herz zog sich schon wieder schmerzhaft zusammen, wenn sie an Takeo dachte. Takeo... Bislang war er nur ein paar Mal aus seiner tiefen Bewusstlosigkeit erwacht - jedes Mal dann, wenn Madoka gerade NICHT anwesend war. Und sie spürte mit Erschrecken, dass ihr das auch nur Recht war. Die junge Frau blieb kurz stehen, um ihren Atem zu beruhigen. Die Kerze zitterte in ihrer Hand. Shido, der ein paar Mal bei ihm gewesen war als sein Freund bei Bewusstsein war, hatte ihr erzählt, dass er nicht mehr vom Attentäter besessen und wieder der Takeo gewesen sei, den sie kennen gelernt hatte - aber Madoka hatte dennoch Angst. Eine tief in ihr verwurzelte, schleichende und hässliche Angst, die ihre Gedanken umwölkte und sie blind für die Tatsachen werden ließ. Sie hatte Angst vor Takeo. Nie hatte sie ein schlimmeres Gefühl erfahren als dieses. Nie war sie innerlich derart zerrissen gewesen wie jetzt und nie hatte ihr etwas so sehr weh getan. Sie wusste, dass sie ihn liebte - mehr als sich selbst, mehr als alles andere, beinahe bis zur Besessenheit. Noch immer war ihr ein Rätsel, wie das hatte passieren können - und vor allem wie schnell. Die war sonst einfach nicht solch ein Mensch, der sich leicht verliebte. Aber Liebe auf den ersten Blick schien es WIRKLICH zu geben. Sie hatte sie erfahren. Sie WUSSTE nun, dass es sie gab. Und Leugnen hatte überhaupt keinen Sinn mehr. Es war möglich und sie war ihr eigener, lebender Beweis dafür. Sie liebte ihn. Es war, als wäre es niemals anders gewesen und es war auch nicht wichtig, was er zuvor in seinem Leben getan oder nicht getan hatte. Die Liebe hinterfragte nichts. Sie war einfach nur da, tief in ihr. Doch zugleich sah sie wieder diese kalten, dunkelblauen Augen in einem von Hass verzerrten Gesicht vor sich, und die Hand, die auf sie herabfuhr, sie niederschlug und damit tiefer verletzte, als es je ein Schwert, ein Gewehr oder irgendeine andere Waffe hätte tun können. Und dass dies sie so schwer erschütterte war ja überhaupt erst möglich, WEIL sie ihn liebte... Ein kleiner Teil von ihr wusste sehr wohl, dass ihm nicht klar war was er tat, dass er einfach nur besessen gewesen war - vielleicht von der Angst um sie, vielleicht aber auch von einem älteren, sehr viel tiefgreifenderen Hass auf seinen Bruder, der ihn alles hatte vergessen und wieder zum Attentäter hatte werden lassen. Sie wusste es nicht. Es war auch gleich, denn es war nun einmal geschehen. Und sie hatte Angst vor ihm. Sie liebte ihn - und hatte Angst vor ihm. Sie wollte es nicht, aber sie hatte Angst, wieder in diese Augen zu sehen und womöglich wieder diese furchtbare Kälte, diesen zugleich auch flammenden Zorn darin zu erkennen und daran innerlich zu verbrennen. Sie würde nicht mehr sie selbst sein. Aber sie hatte auch Angst UM ihn - eben weil sie ihn auch so verzweifelt liebte. Deshalb war sie nun auf dem Weg zu ihm, um sich so wie die Nächte zuvor davon zu überzeugen, dass es ihm gut ging. Es beruhigte ihr jagendes Herz und ihre verwirrten Gedanken ihn schlafend zu sehen, einfach nur zu betrachten wie er atmete, wie sich das Licht der Kerze in seinem dunkelroten, seidigen Haar fing und sanfte Schatten in sein schönes, schmales Gesicht zeichnete. Einmal hatte er sich schwitzend von seiner Decke befreit und lag beinahe nackt auf dem Futon. Nachdem Madoka anfangs gebührend errötet war, war sie dennoch näher getreten um ihn auch jetzt wieder zu betrachten. Ihr Blick war über Verbände und dunkles Blut geglitten, über den sanften Schwung seiner Muskeln und die perlenden Schweißtropfen überall auf seiner Haut, die im Schein ihrer Kerze schimmerten wie winzige Diamanten. Er schlief jetzt ruhiger als in den ersten Nächten. Auch das beruhigte sie. Und sie hatte sich immer wieder fortgeschlichen, bevor der Morgen graute und er womöglich erwachte. Madoka war einfach noch nicht bereit ihm unter die Augen zu treten. Sie wusste nicht einmal, ob sie dazu je wieder den Mut finden würde. Shido-san war ein echter Gentleman gewesen. Sie konnte spüren, dass er zum Teil recht wütend war - auf sie, auf die ganzen äußeren Umstände, die seinen Freund wieder zu jenem gefürchteten Attentäter hatten werden lassen. Aber er behielt sämtliche Vorwürfe, die er auch ihr hätte machen können, für sich und versuchte sogar nicht nur Takeo, sondern auch Madoka tröstend und als Freund zur Seite zu stehen. Das rechnete sie ihm hoch an. Als sie nun zu Takeos Zimmertür trat und die zusammengesunkene, schlafende Gestalt davor gewahrte musste sie unwillkürlich lächeln. Yasha war trotz seiner Menschlichkeit in jener Nacht nicht halb so furchtbar verletzt gewesen wie Takeo. Allerdings mussten auch seine Wunden zunächst versorgt werden. Doch als er bei Sonnenaufgang wieder zu dem weißhaarigen Halbdämon wurde, den Madoka kannte, da dauerte es auch nicht mehr allzu lange, bis seine Wunden heilten - und zwar sehr viel schneller, als das bei einem Menschen der Fall gewesen wäre. Und er hatte getobt. Er hatte geschrieen und wollte nichts anderes, als sofort losstürmen um seine Aurinia zu befreien. Madoka verstand ihn. Er liebte sie. So wie sie Takeo liebte. Dennoch hatten Shido und auch sie selbst auf ihn eingeredet, dass sie ein paar Tage abwarten und auf Takeos Genesung hoffen sollten. Doch Yasha war nicht zu beruhigen gewesen. Er hatte Angst um die junge Yosei, genauso wie Madoka es um ihre neu gewonnene Freundin auch hatte. Natürlich wollte auch sie nicht, dass ihr etwas geschah. Und sie hatte die Worte Mamorus noch im Ohr, wie er zu Aurinia sagte sie sei für ihn nicht wichtig... Hätte sie dies Yasha gesagt, wäre er genauso besinnungslos in den Kampf gestürmt wie Takeo es getan hatte. Denn womöglich - und Madoka HASSTE sich für diesen Gedanken - war die Yosei bereits tot. Aus welchem Grund, wenn sie denn so unwichtig für Mamoru war, sollten sie sie leben lassen? Die Antwort hierauf gefiel Madoka noch weniger als die Vorstellung, dass sie tot sei. Es gab bei weitem noch andere, schlimmere Dinge, die ein Mann einer Frau antun konnte. Sie hätte es beinahe am eigenen Leib erfahren. Yasha war erst zur - zumindest äußeren - Ruhe gekommen, als er mit Takeo ein Gespräch unter vier Augen geführt hatte, als dieser für kurze Zeit wach gewesen war. Danach war er äußerst grimmig, jedoch um einiges besänftigter aus dem Krankenzimmer gekommen und hatte mitgeteilt, dass er bereit war noch weitere zwei Tage - nicht länger und nicht kürzer - zu warten, bis er etwas unternahm. Er hatte Shido um seine Mithilfe gebeten. Und dieser hatte zugesagt. Shido hatte das "Aka-Chochin" verlassen, um die übriggebliebenen Männer zusammenzurufen und Sendboten in alle Teile des Landes zu schicken, die Anhänger der Reformatoren ausfindig zu machen und nach Kyoto zu beordern. Es ging hier nicht nur um die Befreiung Aurinias oder Sayan-samas (wenn sie denn noch lebten), es ging um die Existenz der einzigen Bewegung, die gegen die Anhänger des Shogunats etwas auszurichten vermochte. Die Polizei hatte der Shinsengumi leider nicht viel entgegenzusetzen - es gab Spione an allen Ecken und Enden und die ständig wachsende Gruppe der mit der neuen Regierung Unzufriedenen wartete nur darauf, die Kaisertreuen endgültig zu vernichten und die wahre Herrschaft über die Distrikte zurückzugewinnen. Sie wollten warten, bis die Männer, die Shido-san vor allem in Osaka vermutete, nach Kyoto gekommen waren und dann gemeinsam einen Plan für den Angriff auf das Hauptquartier der Shinsengumi ausarbeiten. Doch sie alle wussten, dass ohne Takeo - Halbdämon Yasha hin oder her - ihre Chancen um einiges schlechter standen die Shinsengumi zu besiegen, als mit ihm. Denn er kannte einen ihrer Anführer - seinen Bruder. Doch Takeo durfte nie mehr kämpfen. Nie mehr. Madoka sah hinunter zu der Gestalt des Halbdämons. Yasha schlief. Er saß mit dem Rücken zur Wand, sein Kopf war nach vorn gefallen. Madoka lächelte wieder. Er war zwar ein Sturkopf und in letzter Zeit wirklich ungenießbar - was sie jedoch vollkommen verstehen konnte - aber er ließ es sich nicht nehmen, Nacht für Nacht vor dem Zimmer seines neuen Freundes Wache zu halten. Oder es zumindest vorzugeben. Denn nun schnarchte er ganz leise und schien tief und fest zu schlafen. Madoka hob die Hand und schob die Tür zu Takeos Zimmer auf. Sie trat ein und schloss die Tür sofort wieder hinter sich. Als sie zum Bett hinüberging drangen eine Vielzahl von Gerüchen an ihre Nase: Lavendel, etwas, das wie Pfefferminz roch und ein seltsam süßlicher Duft, wie von einem betörenden Moschus-Parfüm waren darunter. Es gab nur eine einzige Person in diesem Haus, die ein derart aufdringliches Parfum benutzte. Sie war also hier gewesen. Sie. Madoka fühlte, wie sich ihre freie Hand zur Faust ballte. SIE war die gefragteste und teuerste der Edel-Kurtisanen dieses Etablissements. Ihr Name war Kanoe. Hirosaki Kanoe. Sie war schön, keine Frage. Womöglich die schönste Frau, die Madoka je gesehen hatte. Schlank, hoch gewachsen mit einer Haut wie aus Elfenbein und rabenschwarzem Haar, das beinahe bläulich schimmerte wenn Licht darauf fiel. Sie trug nur die prächtigsten Kimonos und ihr Haar war stets mit Edelstein besetzten Kämmen hochgesteckt. Sie war älter als Madoka, wenn auch durch ihr immerwährend geschminktes Konterfei kaum festzustellen war, wie alt sie nun wirklich sein mochte. Es war Madoka auch gleich. Schon als sie Kanoe am Tag ihrer Ankunft hier begrüßt hatte - sie hatte zugleich eine Art leitende Stellung in diesem Haus inne - gemahnte sich Madoka zur Vorsicht. Sie war schön, ja. Aber auch eiskalt. Die Männer hatte sie wohlwollend aufgenommen, Yasha sogar mit mehr als nur mäßigem Interesse, aber Madoka gegenüber war sie unterkühlt bis an die Grenze zur Unfreundlichkeit, wann immer sie miteinander zu tun hatten. Sie war äußerst bestürzt über Takeos Zustand gewesen - jedenfalls schien es so auszusehen. Madoka begann sich bald zu fragen, ob die Dame sich wirklich ernsthaft um Takeo sorgte - und nicht nur das. Es schien beinahe so, als ob sie außerdem ein engeres Verhältnis zu dem jungen Samurai hatte als Madoka lieb war. Eines Tages, Takeo lag schlafend auf seinem Futon, hatte Madoka in einem Waschzuber, der im Zimmer eigens dafür bereit stand, Verbände ausgewaschen, als Kanoe hereinkam. Sie trug ein Tablett mit frisch aufgebrühtem Tee für den jungen Mann. Die Kurtisane maß Madoka mit einem mehr als unfreundlichen Blick und stellte das Tablett neben Takeos Liegestatt auf dem Boden ab. Madoka, die es sehr ungehörig fand, dass sie nicht einmal gegrüßt hatte, tat es nun mit einem Hauch von Trotz in der Stimme ihrerseits: "Guten Morgen, Hirosaki-san." Kanoe drehte sich nicht einmal zu ihr herum. "Für dich immer noch -SAMA, verstanden?" Madoka war zusammengezuckt. Zuvor war Kanoe auch schon unfreundlich zu ihr gewesen – aber jetzt, wo sie das erste Mal allein aufeinander trafen, schien sie ihrer Maske überdrüssig und zeigte anscheinend ihre wahren Gefühle Madoka gegenüber. Das, was Madoka insgeheim immer schon gespürt hatte, trat nun hervor. "Verlasse bitte das Zimmer. Ich will die Verbände wechseln." Der Ton ihrer Stimme war kalt und entsprach eindeutig NICHT ihrer Wortwahl. Madoka war sprachlos. Bisher hatte die Verbände immer nur der Arzt gewechselt und sie sagte: "Der Arzt hat gesagt, dass..." "Es interessiert mich nicht, was der Arzt gesagt hat. Ich möchte, das du auf der Stelle gehst." Madoka begann innerlich zu kochen. "Ich werde NICHT gehen. Wieso reden Sie so mit mir? Sie haben gar nicht das Recht..." "So, habe ich nicht?" Katzengleich hatte sich Kanoe nun doch zu Madoka umgedreht. "Ich denke doch, Kleines." Ihre Stimme klang mit einem Mal gefährlich sanft. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Takeo zu, der unerschütterlich weiterschlief und von all dem nichts mitbekam - oder auch wieder bewusstlos war. ‚Der Glückliche…‘, dachte Madoka bitter. Kanoe sprach nun weiter an Madoka gewand, allerdings in die Betrachtung von Takeos Körper versunken, den sie nun der Decke entledigte. "Du scheinst noch Jungfrau zu sein, ist das so?" Einmal mehr fuhr Madoka zusammen. Was hatte das nun damit zu tun? "Du bist doch schon so alt, mh? Hast du bislang einfach nicht den richtigen Mann kennengelernt?" Madoka war so perplex, dass sie einfach nur da stand und Kanoes Rücken mit wachsender Verwirrung anstarrte. Diese strich nun zärtlich über Takeos Wange. In Madoka entstand ein Gefühl, das sie noch nie zuvor empfunden hatte. Es brannte. Und es tat weh. War das Eifersucht? Sie hatte keine Zeit darüber nachzudenken, denn nun sagte Kanoe etwas, dass in Madoka ein Gefühl weit jenseits dieses Schmerzes hervorrief - etwas, das so unendlich tief ging, dass sie dachte nun selbst jeden Moment zur Mörderin werden zu können. "Mein armer, süßer Schatz.", sage sie und ihre schlanken, weißen Finger glitten weiter, hinab und über Takeos lädierte Brust. Sie kicherte unangemessen und umspielte mit den Fingern ihrer Rechten eine seiner Brustwarzen. "Weiß sie denn nicht, dass du mir gehörst? Dass ICH die erste Frau war, die du hattest?" Madoka begann zu zittern. Ihre Gefühle waren ein Mahlstrom zwischen den Mühlsteinen ihrer unendlich langsam kreisenden Gedanken und hörten nicht auf in alle Richtungen zu fließen. Es war ihr unmöglich ein klares Gefühl zu empfinden. Chaos. Das beschrieb ihren inneren Zustand wohl noch am Treffendsten. Kanoe drehte sich um und lachte ihr ins Gesicht. "Hast du gedacht, er hätte keusch einfach so vor sich hingelebt, Schätzchen? Wach auf, Süße! Er ist ein MANN! Und er ist gut darin!" Jedes einzelne Wort war wie ein Peitschenhieb, der seine Wirkung nicht verfehlte. Madoka taumelte beinahe. Aber... Hatte sie nicht Recht? Ein kleine, äußerst grausame Stimme flüsterte in ihrem Inneren: Hat sie nicht Recht? Warum hätte er noch nie eine Frau haben sollen? Aber sicher hatte er das. Es war nur natürlich. Aber warum tat es dann so weh? Sie sah in Kanoes wunderschönes, kaltes Gesicht und eine plötzliche, innere Ruhe, an der Grenze zur Betäubung, breitete sich in ihr aus. Ja, es tat weh. Aber wenn es denn so war wie sie sagte, dann konnte sie sowieso nichts mehr daran ändern. Stattdessen wuchs eine reine, säubernde Wut in ihr heran, die alles Andere in ihr verdrängte. Wut über die Art, wie Kanoe über etwas so Intimes, Persönliches sprach und darüber, wie sie es zur Schau stellte, als wäre Takeo nichts anderes als eine eroberte Trophäe. Ebenso kühl wie Kanoe zuvor erwiderte sie: "Schön für Sie, wenn es so war. Ich denke, er war überhaupt der einzige Mann in dem Haufen Gesindel, den Sie sonst so zwischen Ihre Beine lassen. Und ich denke, er hat nicht mehr empfunden für Sie, als momentane Lust beim Anblick eines weiblichen Körpers, den Sie ja nun mal genau zu diesem Zweck jedem zur Verfügung zu stellen haben. Im Grunde sind Sie ziemlich arm dran, wissen Sie? Sie schlafen mit so vielen Männern - und keiner von ihnen liebt Sie wirklich. Sie sind nur eine Hure. Warum sollte ich auf das hören, was Sie sagen?" Und sie hatte den Raum verlassen und schnell die Tür hinter sich zugezogen. Sie wusste im Nachhinein selbst nicht mehr, was sie da geritten hatte SOLCHE Worte zu sagen. Sie war einmal mehr über sich selbst erstaunt. Kanoe schäumte vor Zorn und brüllte so laut, dass selbst schlafende Götter davon erwacht wären. Sie brüllte, schrie und machte sich auch daran Madoka zu verfolgen - allerdings hatte diese das einzig Richtige getan und war zu Yasha geflüchtet, dem einzigen unter den momentanen Gästen des Hauses, bei dem Kanoe absolut handzahm wurde, wenn er auftauchte. Anscheinend hatte sie Gefallen an ihm gefunden. Sie konnte nicht wissen, dass auch sein Herz bereits vergeben war. 'Die Arme…', dachte Madoka voller Schadenfreude. Yasha hatte Kanoe tatsächlich beruhigen und daran hindern können, Madoka etwas anzutun. Allerdings hatte er auch Madoka eine kleine Standpauke gehalten, da sie auf Kanoe als Gastgeberin durchaus angewiesen seien und sie nicht vollkommen verärgern durften. Madoka und Kanoe waren sich fortan aus dem Wege gegangen. Das war auch besser so - sonst wäre am Ende wirklich noch etwas passiert, was beide (oder zumindest Madoka) bereut hätten. Madoka lächelte noch breiter, als sie nun auf den schlafenden Takeo hinabsah. Sie war sich vollkommen sicher: Er mochte mit Kanoe getan haben, was auch immer er wollte - aber er liebte die Kurtisane nicht. Ganz sicher nicht. Oder redete sie sich das nur ein? Wenn er und Kanoe... Nein. Schluss. Sie durfte diesen Gedanken nicht zu Ende führen. In logischer Konsequenz hätte dies nämlich bedeutet, dass die aufkeimenden Gefühle für sie selbst, die sie in Aurinias Höhle bei ihrem Abschied in Takeos Augen gesehen hatte, nichts als eine Lüge gewesen wären. Sie wollte nicht darüber nachdenken. Über gar nichts mehr. Sie wollte nur hier stehen und den Mann ansehen, den sie liebte. Was auch immer geschah, gewesen war oder noch kommen würde: Sie liebte ihn. Ein reines, unerschütterliches Gefühl. Sie dachte nicht an ihr Zuhause, nicht daran, dass sie irgendwann zurückkehren würde, sie dachte nicht an Kanoe, sie dachte auch nicht an den Hitokiri in ihm. Auch die leise Angst vor dem Attentäter, die nach wie vor in ihr nagte, konnte diesem Gefühl nicht wirklich etwas entgegensetzen. Das alles war nebensächlich. Hier und jetzt und für alle Zeit würde sie ihn lieben. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)