Lost in a Nightmare von SoraNoRyu (YamiXYugi) ================================================================================ Kapitel 10: Höllenritt ---------------------- Kapitel 10: Höllenritt Die zweite Nacht mit Dia verlief genauso angenehm wie die erste. Eine weiter kleine Schatznische hat das Vertrauen der Entführer in ihn gefestigt; der verschwundene Stab ist niemandem aufgefallen. Jetzt liegen wir hier auf dem offenen Gang, unter den schützenden Schwingen des Harpyien Spieldrachen. Ein Springbrunnen mit den drei Harpyienschwestern steht ein Stück weiter inmitten einer Kreuzung. Ich frage mich, warum der Spieldrache mitten auf dem Gang steht; würden wir hier nicht zum Schlafen liegen hätten wir gebückt unter ihm durchkriechen müssen. Selbst Anzu, die kleinste von uns, muss hier unten den Kopf einziehen. Für uns ist das natürlich ein Vorteil; unsere Entführer campen lieber ein Stück weiter im offenen Gang, näher am Brunnen. Dia kommt zu uns. Die Reise mit unserer Gruppe scheint auch ihm gut zu tun. Er wirkt langsam um einiges jünger, sein Gesicht ist voller geworden. Auch der Rest seines Körpers ist, wenngleich immer noch sehr schlank, zumindest nicht mehr so dürr wie vorher. „Alles klar bei euch Kids?“ Wir nicken. Selbst Marik geht es wieder etwas besser. Da seine Familie nicht erpresst wird, kann er sogar reden; er unterhält sich leise mit Dia auf Ägyptisch. Ich vermute, er erklärt ihm auch, warum wir nicht reden können; unsere Namen sind das Einzige im ganzen Gespräch, das ich verstehen kann. Zu meiner Überraschung zeigt Dia ihm sogar kurz den Millenniumsstab, den er hat mitgehen lassen. Marik bleibt erst mal der Mund offen stehen. Dia überredet ihn, einen Schluck von dem Schnaps zu nehmen, bevor er ein neues Tuch damit tränkt. Er scheint bei einem der Männer tatsächlich einen kleinen Verbandskasten gefunden zu haben; vernünftiges Desinfektionsmittel war wieder nicht dabei, dafür ein paar frische Tücher und Mullbinden. Das alte Verbandszeug kommt diesmal endgültig weg, wir versenken es in einer der Toilettenecken. Die Entführer halten Wachen für überflüssig; die Mumie ist so lange nicht mehr aufgetaucht, dass sie vermutlich längst wieder in ihrem Sarg schläft. Eine Weile amüsieren sie sich noch mit Horrorgeschichten von blutsaugenden Zombie-Mumien, dann fängt einer nach dem anderen sein Schnarchkonzert an. Der Lärm ist unerträglich, aber man gewöhnt sich an alles. Immerhin schnarchen ein paar von uns auch, wenngleich nicht so laut. Marik nutzt die Gunst der Stunde, um seinen Stab einzufordern. Er hält ihn eine Weile lang konzentriert in der Hand, dann reicht er ihn Dia zurück. „Er kann ihn besser verstecken.“, erklärt er auf meinen fragenden Blick hin, „Keine Angst. Wir können ihm schon vertrauen.“ Ich nicke. Marik hat Recht, Dia scheint auf unserer Seite zu sein. Und hier drin sind wir auf ihn angewiesen. Misstrauen macht es uns hier nur schwerer. „Was hast du mit dem Stab gemacht?“, frage ich leise, als Dia sich ebenfalls zum Schlafen hinlegt. „Wirst du sehen, wenn es geklappt hat.“, antwortet Marik, „Morgen vielleicht.“ Es tut gut, ihn wieder normal sprechen zu hören. Er hat immer noch hohes Fieber, aber zumindest ist er jetzt die meiste Zeit bei Bewusstsein. Ich würde gerne noch länger mit ihm reden, jetzt, wo alle schlafen und wir außer Reichweite möglicher Diktiergeräte sind, aber die Hitze macht mich schläfrig. Mein Rücken tut ziemlich weh, als ich mich auf den harten Boden legen will. Vielleicht schlafe ich heute mal lieber im Sitzen… Vage bekomme ich noch mit, wie Marik mir mit der unverletzten Hand sacht über die Schultern streicht. Die Berührung tut meinen verkrampften Muskeln gut. Gerade, als der Tag seinen heißesten Punkt erreicht, reißt mich ein fürchterliches Fauchen aus dem Schlaf. Erschrocken rappele ich mich hoch, und ich bin nicht der Einzige. Kaiba flucht fürchterlich, als er sich den Kopf am Harpyiendrachen anstößt, und Jonouchi legt nochmal ein paar ausgewählte Wörter nach, als er den gleichen Fehler macht. Ich selbst lag zum Glück am Rand, ich muss das Bein des Drachen beim Aufstehen knapp verpasst haben. Die Flüche meiner Freunde sind jedoch nicht der einzige Lärm. Im Vergleich zu den Schreien unserer Entführer sind sie sogar kaum zu hören. Er dauert eine Weile, bis mir der Grund klar wird. Das flackernde Licht brennt ungewohnt in meinen Augen, ich kann seinen Ursprung erst nicht ausmachen. Bis mir klar wird, woher das laute Zischen kam. Und dass die Hitze nicht nur von der Wüstensonne kommt. Der Spieldrache der Harpyien hat Feuer gespien. Genau auf die Stelle, wo unsere Entführer geschlafen haben. Deswegen ist Dia zu uns gekommen; er wusste Bescheid. Tatsächlich ist Dia auch der Einzige, der trotz des Lärms selig weiterschläft. Der Rest von uns sitzt schreckgebannt unter dem Bauch der Bestie, während die Männer verzweifelt über den Boden rollen, um die Flammen abzuschütteln. Für drei von ihnen kommt jede Hilfe zu spät, und ein Großteil der gestohlenen Schätze ist zu einem unförmigen Klumpen verschmolzen. Es tut mir Leid um die kunstvoll gefertigten Reichtümer, aber… „Sie hätten das Gold nicht mitnehmen dürfen.“, erklärt Marik leise, „Das hat die Falle ausgelöst.“ Ich sehe auf die Stelle, die der Drache getroffen hat, und verstehe. Um diese Zeit müsste die Sonne im Zenit stehen, sie scheint direkt auf den Brunnen in der Mitte. Die glänzenden Schätze müssen das Licht auf den Drachen geworfen haben, und der hat mit einem Feuerschwall reagiert. Noch bis Einbruch der Nacht sind die verbleibenden Männer damit beschäftigt, ihre zahlreichen Verbrennungen zu verarzten. Ich gebe mir Mühe, so verschüchtert und unschuldig wie möglich zu wirken. Es fällt mir offen gestanden nicht schwer, der Schock sitzt mir noch in den Knochen. Den anderen scheint es nicht viel anders zu gehen. Dia zeigt sich mäßig überrascht über die Falle. Er habe gewusst, dass der Drache Feuer speien könne, die Vorrichtung sei aber schon seit Langem kaputt gewesen. Er habe den Rastplatzt für sicher gehalten; Fallen gäbe es überall, und die meisten davon lösten wesentlich zuverlässiger aus als diese. Mit ungutem Gefühl im Bauch und deutlich weniger Gold im Gepäck machen wir uns wieder auf den Weg. Die nächste große Schatzkammer ist nur ein paar Gänge weiter; das frische Gold besänftigt die Gemüter der Überlebenden. Anscheinend nimmt es ihnen auch allen Sinn für Vorsicht. Dias Warnungen zum Trotz lässt sich einer der Kerle nicht davon abhalten, eine lebensgroße Statue der kleinen Sündenböcke einstecken zu wollen. Ich erinnere mich noch fast zu gut an die Falle unter dem goldenen Kuriboh – nur zu gerne lasse ich mich von Dia aus dem Raum schieben, während der Trottel weiter an der Statue herumfingert. Kaum, dass er sie erfolgreich von ihrem Sockel gewuchtet hat, klappt auch schon der Boden auf. Fünf der Männer schaffen es noch, rechtzeitig herauszuspringen, einer fällt mit einem dumpfen Platschen herunter. Der Mann, der die Statue hält, wankt noch eine Weile auf den dünnen Rand; fast sieht es so aus, als könne er die Statue wieder zurückstellen, dann verliert er doch das Gleichgewicht. Diesmal bemüht sich keiner, die Statue wieder zurückzustellen. Nicht mal Marik ist so pflichtbewusst, dass er zu den Krokodilen herunterspringen und die Statue hochtauchen würde. Die Männer haben tatsächlich geschafft, was ich nicht für möglich gehalten hätte: Sie sind zweimal auf denselben Trick hereingefallen. „Ich hab euch gewarnt.“, gibt Dia zu Protokoll, und niemand widerspricht ihm. Obwohl fast der gesamte Inhalt der Schatzkammer jetzt mit den Krokodilen schwimmt. „Wir dürften jetzt schon auf der tiefsten Ebene angekommen sein.“, erklärt er, während er uns voraus weiterläuft. „Ist das gut?“, fragt der Anführer der nun recht kleinen Gruppe. „Es heißt: Wir sind fast am Ziel.“ Die Nachricht scheint die Entführer zu freuen. Sie haben nicht mehr Gold bei sich, als sie an Ketten und Armreifen überstreifen oder in ihre Taschen stopfen konnten, aber die Aussicht auf Rettung scheint auch ihnen inzwischen mehr Wert zu sein als Gold oder Geld. Die Falle in der Schatzkammer scheint ein heilsamer Schock gewesen zu sein. Wie gut das für uns ist, muss sich erst noch herausstellen. Sicher werden die Entführer uns nicht einfach heimgehen lassen, nur weil sie jetzt ein paar glitzernde Armreifen tragen. Und dann bleibt Dia plötzlich stehen. „Was ist jetzt los?“, keift einer der Entführer. Vermutlich will er befehlsgewohnt und erzürnt klingen, schafft aber nur ein ängstliches Piepen. „Sieht aus, als müssten wir einen Umweg nehmen.“, erklärt Dia gelassen. Er wirkt wie ein Reiseleiter, dessen Bus sich plötzlich mit einem Umleitungsschild konfrontiert sieht, aber der Grund für sein Halten ist viel beunruhigender. Die Mumie ist zurück. Wie ein Mahnmal steht sie da, mitten auf dem Gang. Mir jagen kalte Schauer über den Rücken. Ich bin froh, dass es heute wieder Honda ist, der Marik trägt; ich min mir nicht sicher, ob ich ihn noch hätte halten können. Jonouchi sieht aus, als würde er bald wieder in Ohnmacht fallen. Die Mumie scheint sich verändert zu haben. Sie wirkt gesünder, lebendiger. Irgendjemand hat sich außerdem die Mühe gemacht, ihr mit den Bandagen zu helfen. Sie ist jetzt ordentlich gewickelt, aber so, dass sie sich noch bewegen kann. Die Bandagen sind an den Gelenken lockerer, das Gesicht hat einen freien Streifen genau über den Augen. Diesen grässlichen, blutroten Augen, die durch alles hindurchsehen können. Sie bewegt sich nicht, nur ihre Augen fixieren uns, einen nach dem anderen, wie sie es im Raum mit den Teppichen gemacht haben. Ich konnte damals nichts sehen, aber ich konnte den Blick spüren, der mich durch den Teppich hindurch fixiert hat. Mein Rücken schmerzt bei der Erinnerung. „Gehen wir eben wo anders lang.“, meint Dia gleichgültig und scheucht uns den Gang zurück, durch den wir gekommen sind. Meine Beine zittern wie verrückt, ich bin erstaunt, dass ich laufen kann. Mir ist nicht wohl dabei, der Mumie den Rücken zu kehren, ich kann ihren brennenden Blick noch immer in meinem Rücken spüren. Den anderen scheint es nicht besser zu gehen, und doch widersetzt sich niemand Dias Anweisungen. Die unglaubliche Coolness, mit der er vom ersten Moment an unseren Respekt verdient hat, bringt ihm jetzt auch unser Vertrauen. Er hat keine Angst vor der Mumie. Das allein ist Grund zur Hoffnung, dass diesmal niemand sterben muss. Tatsächlich scheint die Mumie uns in Ruhe zu lassen. Dummerweise scheint sie aber auch eine Abkürzung zu kennen, denn nur einige Stunden später verstellt sie uns wieder den Weg. Obwohl Abkürzung vielleicht das falsche Wort ist; immerhin sind wir einen Umweg gelaufen, sie musste als nur eine Kreuzung weiter wieder auf uns lauern. Es ist schon erstaunlich, wie viel Angst man vor etwas haben kann, was sich eigentlich nicht bewegt. Aber die Mumie bewegt sich zumindest von einem Ort zum anderen, und das ist für einen Toten eigentlich schon genug Bewegung, um Angst zu schüren. Der Rest ist Charisma. Mir hat noch nie jemand erklären können, was Charisma eigentlich genau ist; es ist jedenfalls nichts Greifbares. Und auch wenn es einem niemand so recht erklären kann oder will, weiß man doch, was es bedeutet. Charisma ist eine Art Ausstrahlung. Nichts Mystisches, das man mit dem sechsten Sinn sehen könnte, also keine Aura; es ist nur der Eindruck, den eine Person durch ihr Auftreten erweckt. Mimik, Gestik, alles, was ein Mensch sagt oder nicht sagt, wie er es sagt oder nicht sagt. Ein Mensch, der andere Menschen mit seinem Auftreten mühelos beeindrucken und beeinflussen kann, ist charismatisch. Die Mumie ist einer von diesen begabten Menschen. Sie muss nur dort stehen, ganz ruhig, und wir brechen in Panik aus. Sie macht uns Angst. Sie weiß, dass sie uns Angst macht. Sie nutzt diese Angst. Und das macht sie so mächtig. Weil Angst eine Waffe ist, die stärker ist als jedes Maschinengewehr. Weil Angst zwar nicht tötet, aber lähmt. Weil Angst einen kaputt macht, wie es Verletzungen gar nicht können. Ich weiß das alles. Und trotzdem bin ich machtlos. Unsere zweite Flucht vor der Mumie bringt uns weiter vom Weg ab als die erste. Dia besteht darauf, einen größeren Umweg zu machen, um die Mumie zu verwirren, und die Nacht neigt sich dem Ende zu. Er sucht uns ein Quartier, das wir von innen verschließen können. In dem kleinen Raum ist es so dunkel, dass man kaum etwas sehen kann. Dieses Mal haben wir kein Wasser, und der Platz reicht gerade mal so, dass wir alle den nötigen Abstand zueinander halten können. Mit dem unguten Gefühl, dass mir der heißeste Tag meines Lebens bevorsteht, schließe ich die Augen. Die Angst hält mich noch wach, und ich bin nicht der Einzige. Ich kann die Männer im Dunkeln miteinander flüstern hören wie verschreckte Schulmädchen. Die Mumie macht ihnen genauso Angst wie uns allen, vielleicht sogar noch mehr; wir können uns ja wenigstens noch einreden, dass sie uns bisher mit Absicht verschont hat, weil wir nicht aus eigenem Willen hier sind. Ein schwacher Trost, aber immerhin. Ich rücke näher an meine Freunde heran und ich weiß, dass die andern dasselbe tun. Trotz der Hitze brauchen wir die Nähe der anderen – Kaiba ist diesmal der Einzige von uns, der sich nicht mit in die Sicherheit des Schlafhügels kuschelt. Ich beneide ihn für diese Willensstärke. Es wird schnell immer wärmer in dem kleinen Raum, die körperliche Nähe macht es nur schlimmer. Unser Kuschelhaufen ist ein Kompromiss zwischen Sicherheit und Komfort, und im Moment hat die Sicherheit den Vorrang. Die Mumie ist zurück. Und wir waren so kurz vorm Ziel… Vielleicht hätten wir es heute sogar bis zum Ausgang geschafft, wenn wir nicht hätten umdrehen müssen. Wir hätten jetzt schon draußen sein können… Ich kämpfe mit den Tränen. Jetzt zu weinen bringt uns genauso wenig weiter wie das Jammern der einst so starken Männer. Einer von ihnen scheint mit der Situation komplett überfordert zu sein; er fühlt sich eingesperrt in dem engen Raum, ist überzeugt, die Wände kämen näher. Dia widerspricht ihm, die Wände sind okay. Würden sie sich bewegen, würde man das ja auch hören, und außer dem stetigen Gewinsel ist alles still. Die Wände bewegen sich kein Stück, schon gar nicht auf uns zu. Trotzdem lässt sich der Mann nicht von seinem Wahn abbringen; er hat schreckliche Angst in dem kleinen Raum, vermutlich leidet er an Klaustrophobie, der Angst vor geschlossenen Räumen. Letztendlich bricht er unter der Angst zusammen. Er reißt den Durchgang auf, durch den wir gekommen sind, und rennt schreiend nach draußen. Es gibt einen lauten Rumms und ein leises Zischen, dann ist alles still. Dia zieht die Wand wieder zu. „Will noch jemand raus?“ Nein. Jetzt ganz bestimmt nicht mehr. Die Luft ist verdammt dick, als Dia uns wachrüttelt. Ich verstehe gar nicht wieso, es ist immer noch drückend warm. Erst als ich benommen wieder auf den Gang raus stolpere, ist die Luft wieder klar und kühl. Es ist Nacht geworden, ohne dass wir es in dem kleinen, dunklen Raum gemerkt hätten. Dia führt uns wieder tiefer in das Labyrinth hinein, er will die Mumie verwirren. „Solange wir tendenziell Richtung Ausgang gehen, weiß er, wo er uns auflauern muss. So können wir ihn vielleicht umgehen.“ Es sei denn natürlich, sie wartet beharrlich weiter am Ausgang auf uns. Aber das will keiner laut aussprechen… Nicht, dass (konnte keine Kommainfo hierfür finden) sie es am Ende tatsächlich noch tut. Es ist deprimierend, so kurz vor dem Ziel wieder kehrtmachen zu müssen. Mariks Zustand ist einigermaßen stabil, aber nur, weil Honda ihn trägt; ohne Krankenhaus wird sich sein Zustand nicht bessern. Ich bin wütend auf die Mumie. Wie kann sie ihm das antun, nachdem sich seine Familie so lange um ihr Grab gekümmert hat? „Das ist meine Strafe dafür, dass ich versagt habe.“ Kein Wunder, dass Marik den Pharao gehasst hat. Der Job eines Grabwächters muss der undankbarste der Welt sein. Keine Aussicht auf Belohnung oder Urlaub, aber harte Strafen für jeden Fehler. Zumindest schrumpft die Zahl unserer Entführer inzwischen beständig. Von den zehn, die uns wieder aufgegriffen hatten, sind nur noch vier geblieben. Wenn mich nicht alles täuscht, ist auch die Funkausrüstung weg; sie ist entweder verbrannt oder baden gegangen. Aber unter Dias Aufsicht haben sie es ohnehin nicht gewagt zu telefonieren. Zu groß war die Gefahr, er könnte dazwischenreden und unseren Aufenthaltsort verraten… Und wenn unsere Eltern hören, dass wir uns in einem Labyrinth verlaufen haben, zahlen sie erst recht nicht. Vater macht sich bestimmt immer noch Sorgen. Und die anderen auch. Ich will nach Hause. Bevor ich die Stimme meines Vaters gehört habe, hat sich mein Heimweh noch in Grenzen gehalten; zu Hause wartet ja nur die leere Wohnung auf mich. Meine Freunde sind fast alle hier. Aber jetzt, wo Vater wieder in Japan ist, will ich zu ihm. Bestimmt sitzt er ganz allein in meiner Wohnung und fragt sich, wie es mir geht… Mir fällt Yugis Großvater in seinem kleinen Spieleladen ein, der seinen Enkel nie wieder sehen wird. Wie sollen wir ihm das nur beibringen? Was wird Yugis Mutter sagen, wenn ihr Sohn nicht mit uns zurückkommt? Bei dem Gedanken kommen mir wieder die Tränen. Anzu hat im Schlaf geweint. Ob sie wohl auch an Yugi gedacht hat dabei? Sie kannte ihn von uns allen am längsten… Ich versuche, mich abzulenken und konzentriere mich auf die Bilder an den Wänden. Die Hieroglyphen sind ganz verschwommen hinter den Tränen, ich blinzle, bis ich sie wieder besser sehen kann. Ironischerweise zeigt das Bild gerade Anubis, der das Herz eines verstorbenen gegen eine Feder aufwiegt. „Yugi würde die Prüfung sicher bestehen, er war ein guter Mensch.“, flüstert Anzu. „Ja, das war er.“, stimme ich ihr zu. Jonouchi sieht aus, als wollte er entweder heulen oder die Wand einschlagen. Er entscheidet sich für letzteres und trägt eine blutende Hand davon. Die Ablenkung hat ja toll geholfen. Auf den Schlag hin dreht sich alles nach uns um. Jonouchi hängt schluchzend an der Wand, eine dünne Blutspur verbindet seine Hand mit dem schakalartigen Kopf des Totengottes. „Gib ihn zurück…“ Mir schnürt es die Eingeweide zusammen. Anubis' Gesicht auf der Wand wirkt teilnahmslos und kalt, aber ein dünner Tropfen Blut rinnt einer Träne gleich von seinem Auge. Die Symbolik liegt mir schwer im Magen. Selbst Kaiba schweigt betreten, obwohl Jonouchis leises Flehen gutes Futter für die üblichen verbalen Angriffe bietet. Wie ein Hund vor dem Grab seines Herrchens… Aber Kaiba sagt nichts. Sicher hat auch ihn Yugis Tod nicht ganz kalt gelassen. „Erbärmlich.“, kläfft stattdessen einer unserer Entführer. Mir fällt ein, dass gerade seine Gruppe große Verluste gemacht hat, aber falls die Männer das berührt, zeigen sie es nicht. Solange das Gold sie noch über den Schmerz hinwegtrösten kann… Der Mann scheint von der Unterbrechung nicht besonders angetan. Er beschwert sich lautstark, dass er heute noch nach Hause wolle und marschiert weiter. Keiner sagt etwas. Keiner hält ihn auf. Und plötzlich gibt unter ihm der Boden nach. Ein weiterer Kandidat vor Anubis. „Ich würde vorschlagen, wir gehen da lang.“, meint Dia und öffnet einen versteckten Gang nach links. Diesmal scheint keiner irgendwelche Einwände zu haben. Jonouchi schluchzt noch immer leise vor sich hin. Ich nehme mir vor, Yugis Namen in seiner Anwesenheit erst mal nicht mehr laut auszusprechen. Zumindest, bis Jonouchi von sich aus das Thema anfängt. Anzu scheint im Stillen denselben Entschluss gefasst zu haben. Mich wundert, dass Honda nichts gesagt hat, aber ein Blick in sein nasses Gesicht räumt auch da jede Frage aus dem Weg. Mit Marik auf dem Rücken konnte er sich nicht mal die Tränen abwischen. Lass uns nur hier rauskommen, bevor noch jemand stirbt. Die letzten drei Männer sind jetzt lammfromm, keiner scheint mehr auf eigene Faust irgendwohin zu wollen. Die Fallen sind überall… jede Unachtsamkeit kann den schnellen Tod bedeuten. Ich bin mir fast sicher, dass diese drei ihre Lektion gelernt haben, aber nach einer weiteren Nacht ohne Wasser bricht doch der nächste ein. Das Vertrauen in Dia ist aufgebraucht. Auch er kann nicht jede Falle vermeiden, er warnt nicht früh genug und er wolle doch nur die Schätze für sich allein haben. Die Männer rebellieren gegen seine Führung. Ich denke, ich weiß auch, warum. Der Mann, der die letzte Falle ausgelöst hat, ist ihr Anführer gewesen. Ohne ihn fehlt der Gruppe die Richtung, das Ziel ist nicht mehr klar. Dia hat sie hauptsächlich mit der Aussicht auf Gold gelockt, aber Gold ist nicht mehr wichtig. Mit Gold kann man sich nicht freikaufen, Gold kann man nicht trinken. Diese verbleibenden drei scheinen verstanden zu haben, was uns schon die ganze Zeit klar war. Dass dieses Labyrinth eine tödliche Falle ist. Dass sie hier drin gefangen sind. Dass sie nicht jederzeit mit den erbeuteten Schätzen fliehen können. Dass auch sie nicht aus freiem Willen hier drin sind. Die drei setzen sich ab, wollen den Weg nach draußen alleine finden. Niemand hält sie zurück, aber wir hören auch keine Schreie. Zitternd vor Angst und Erschöpfung rolle ich mich zusammen für einen weiteren Tag Schlaf. Noch einmal gelingt es mir, für ein paar Stunden die Augen zu schließen, dann weckt mich etwas auf. Ich kann das Gefühl erst nicht einordnen. Es ist irgendwo zwischen vertraut und ungewöhnlich, wie eine eiskalte, zitternde Hand, die über meine Brust streichelt. Ich taste verwirrt danach, bekomme aber nur meinen Ring zu fassen. Das Zittern hört nicht auf. Es dauert eine Weile, bis mir dämmert, dass der Ring selbst zittert. Ich öffne die Augen. Der Ring ist in Aufruhr, die Pendel schlagen aus wie von Sinnen. Ich sehe mich um, die anderen schlafen alle noch. Ob ich jemanden wecken sollte? Ich halte den Ring probehalber in ein paar verschiedene Richtungen, und tatsächlich bleiben die Pendel stehen. Sie weisen zurück auf den Gang, aus dem wir gekommen sind. Ich zögere noch einen Moment, dann mache ich mich wider besseren Wissens auf den Weg in die angewiesene Richtung. Neugier ist es, was mich hauptsächlich treibt. Bisher hat es sich auch immer ausgezahlt, dem Ring zu folgen; er war es auch, der mich damals zu Yugi geführt hat. Die Aufregung, die der Millenniumsgegenstand in mir auslöst, ist stärker als die Hitze und das Ziehen in meinem Rücken. Ich weiß nicht wieso, ich muss ihm einfach folgen. Mehr aus schlechtem Gewissen heraus bemühe ich mich, mir den Weg zu merken, der mich letztlich vor eine weitere Statue führt. Der Magier der Schwarzen Chaos. Der Ring zeigt direkt auf ihn. Nachdenklich betrachte ich die Statue. Der Stab des Magiers ist erhoben, die Geste kommt mir seltsam vertraut vor. Hat nicht auch sie… Mehr meinem Instinkt folgend greife ich nach dem Stab. Spätestens jetzt sollte ich eigentlich die anderen holen; was ich hier mache ist sicher verdammt gefährlich. Ich bin mir nicht sicher, ob ich das hier als Spiel werten kann. Der Stab lässt sich bewegen. Mit aller Kraft drücke ich ihn nach unten, in dieselbe Position, in der wir das Schwarze Magier Mädchen vorgefunden haben. Der Mechanismus rastet ein. Ich blicke hoch in das Gesicht des Magiers, wie es Yugi bei fast jeder Statue getan hat. Im Zwielicht sieht es so aus, als würde er grinsen. Mir ist nicht ganz wohl bei der Sache, aber der Ring zeigt vehement in den neu geöffneten Raum. Erst sehe ich nichts außer Teppichen. Dann wird mir klar, worauf der Ring zeigt. Keuchend und völlig außer Atem komme ich vor den anderen zum Stehen. Dass ich bei meinem Tempo keine versteckten Fallen mitgenommen habe, grenzt fast an ein Wunder. Die anderen sehen mich mit einer Mischung aus Entsetzen und Besorgnis an, Kaiba scheint an meinem Geisteszustand zu zweifeln. Ich kann es ihm nicht verdenken. Mit aller Kraft versuche ich, genug von der heißen, trockenen Luft in meine schmerzenden Lungen zu pumpen, um wieder sprechen zu können. Fragen und Vorwürfe prasseln auf mich ein, wo ich war, was ich mir dabei gedacht hätte, was denn passiert sei. Ich deute in die Richtung, aus der ich gekommen bin, und überzeuge die anderen, mir zu folgen. Zu meinem Erstaunen ist es Marik, der mir die meiste Arbeit abnimmt. Er will wissen, was ich gefunden habe, und bietet sogar an, selbst zu laufen. Letztlich nimmt ihn dann aber doch Dia auf die Schultern. Es widerstrebt den anderen, ohne sichtbare Not tagsüber zu laufen, aber es ist ja nicht weit zu der Statue des Chaosmagiers, und der Ring weist nach wie vor stur den Weg. Der Magier des Schwarzen Chaos steht noch genau so, wie ich ihn zurückgelassen habe, stolz und mit gesenktem Stab. Und im Raum hinter ihm glitzern die goldenen Teile des Millenniumspuzzles. Von einer Leiche ist keine Spur zu sehen, aber in einem der gebrochenen Kettenstücke klemmt eine Kugel. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)