Der Dämon eines Mannes von Alexej_Axis (Schatten, die das Mondlicht bringt / Eigene Erzählung mit eigenen Charakteren vor dem Hintergrund des Rollenspiels Cyberpunk2.0.2.0.) ================================================================================ Prolog: Alltag -------------- Struggle man, to stand! With your head in your hands A stoic last stand Of a dying man I wanted to believe As I watched your world crumble in your hand I wanted to believe As you raised your glas to your last stand And I wanted to belive you would win The war in your head that I did not understand But I did not understand - Johnette Napolitano, Suicide Note Kira ließ die breiten, verchromten Schnallen seiner Wildledermotorradstiefel so leise es ging zuschnappen und stand auf. Er schüttelte die Trägheit und Wärme ab, die er unter der sündhaft teuren Seidendecke gespürt hatte und ebenso das schmierige Gefühl von Untreue, das vollkommen unberechtigt war. Leise und trittsicher wie ein Raubtier schlich er durch das dunkle Zimmer und hob seine Nova Citygun mit dem Tarnhalfter vom Boden auf. Er legte es mit geübtem, flinkem Griff an und ließ die kirschrote Kunstlederjacke über seine kräftigen Schultern gleiten. In der Tür sah er sich noch einmal um und warf seinem schlafenden Nachtgefährten einen kurzen Blick zu, dann steckte er sich ein rotes Zimtkaugummi in den Mund und ließ das Papierchen auf den Boden fallen. Nur ein Schatten aus Mondlicht, der sich davonstiehlt. Auf den Straßen herrschte kaum Betrieb hier am Rande der ModerateZone. Es war mitten in der Nacht. Der Vollmond schien, der Wind kam vom Meer bis in die Stadt und es roch nach chemischen Abwässern. Er zippte die Lederjacke zu und stapfte mit den Händen in den Taschen auf das Parkdeck, wo seine kirschrote Shiva auf ihn wartete. Das Appartement hatte sein Bettgefährte sicherlich extra für solche Gelegenheiten gepachtet. Ein junger, gut aussehender Jungkonzerner aus den oberen Etagen von Arasaka. Stockschwul und dazu verdammt der Tradition Rechenschaft zu tragen, also suchte er sich seine Bettgeschichten in kleinen Lokalen in der schlechten ModerateZone. Kira dachte darüber nach, wie einfach es gewesen wäre, ihm eine Kugel zu schenken und dafür sein Leben zu nehmen. Gier. Die Gier nach dem, was man nicht haben konnte machte sie alle Verwundbar, die Sklaven der Maschine. Kira setzte den roten Helm mit dem getönten Visier auf und stieg auf die Shiva. Er ließ den Motor durchstarten und die Scheinwerfer aufblitzen und fuhr aus dem Parkhaus. Auf der Straße drückte er die rechte Hand durch und malte bunte Streifen in die surreale Silhouette der bunten Seelenverkäufermetropole. Ein kleines Zeichen, das mit einem Wimpernschlag verloschen war, wie so viele Leben. In seiner eigenen kleinen Wohnung setzte er sich vor das Deck, bewaffnet mit einer Tüte Lakritz und einem Proteindrink. Er klinkte sich ein und Hel erschien neben ihm. Die junge Frau mit dem überlangen, brünetten Pferdeschwanz erschien lächelnd neben ihm. "Was gibt's?", fragte sie freundlich. Kira checkte seine E-mails. "Nichts bestimmtes. Ich dachte wir suchen das Netz mal wieder sinnlos nach Informationen über mein Projekt ab." Hel schaute kurz in die Lift. Ihr transparentes Lächeln war freundlich, aber ihre grünen Augen sahen wie immer unendlich traurig aus. "In Ordnung, aber du weißt, dass ich mich persönlich an nichts erinnern kann. Ich besitze nur ein Prozent meiner früheren Erinnerungen. Ich weiß nichts mehr, nicht, wer uns den Auftrag gab, dort einzubrechen und nicht, bei wem wir einbrechen sollten um was auch immer zu holen." Sie zuckte die Schultern. "Was soll ich checken?" Kira starrte blind auf den kleinen Vidmonitor des Decks und klappte ihn dann energisch zu. Hel sah ihn fragend an. "Du hast ja recht", sagte er müde und rieb sich die Augen. "Aber ich habe doch gar nichts behauptet", gab sie freundlich wie immer zurück. "Doch, schon." Kira nahm einen Schluck aus dem Proteindrink und strich sich eine rotschwarze Haarsträhne aus dem Gesicht. Er stand auf und ging zum Fenster, lehnte sich dagegen und sah in die Finsternis der Nacht hinaus, die mit tausend kleinen bunten Lichtern gespickt war. Braune Augen. "Wir wissen nicht was wir suchen und so werden wir es niemals finden." Er entfernte den Stecker aus der Chipbuxe an seinem Hinterkopf und nahm das antistatische Tütchen vom Tisch, um ihn zurückzustecken. Hel sah auf den Glastisch und sagte nichts, aber ihr Lächeln war verschwunden. Kira setzte sich wieder, legte den Kopf in die Hände und sah aus dem Fenster ins Leere. "Du bist ein Mädchen ohne Vergangenheit und ich bin ein toter Mann. Allein sind wir verloren, gemeinsam sind wir ohne Zukunft. Wir sind beide Geister, die sich nicht von dieser Welt trennen können und jagen Schatten, die das Mondlicht aus der Vergangenheit wirft." Hel sah zu ihm auf. "Dann sind wir nichts?" Ein Geist / Ein Dämon. Es bleibt nur Yomi. Kira schloss die Augen. Gedämpfte Schreie der Angestellten aus dem Waschsalon, den sie bereits hinter sich gelassen hatten, drangen in die Nacht. Der Rote Teufel rannte mit langen, weiten, schnellen Schritten über den nass glänzenden Asphalt der Seitengasse in Chinatown. Über ihm das Blätterdach aus Wäschestücken, dass den versmogten Himmel verdeckte, unter ihm Totenebel aus den Gullideckeln, hinter ihm ein Gewitter aus Schüssen und Mündungsfeuer und vor ihm die Beute. Marc Cheng floh wie ein Tier. Er hatte seine Sternmeyer Typ 34 nicht weggeworfen, aber er hatte sich dagegen entschieden, weiter auf Kira zu schießen, nachdem er bemerkt hatte, dass seine Kugel den Dämon eines Mannes, der hinter ihm her war, nur verärgert hatten. So sehr verärgert, dass er ihm auf Chinesisch in etwa das gesagt hatte, während er grinsend auf ihn zugekommen war: "Wenn du ein Mensch wärst, dann wär ich ein Gott. Aber du bist kein Mensch, du bist nur ein rasender Affe, der von einem Kobold geritten wird. Und wenn du das bist, mein Freund, und daran besteht kein Zweifel, dann bin ich ein Dämon und ich komme um deine Eingeweide zu ficken, während du dabei zuschaust und dann werde ich dich mit deinem eigenen Kokain ausstopfen und an die Wand der Hölle nageln." Und er hatte die weiße Luft im Hinterzimmer des Waschsalons tief eingesogen, die von dem Schusswechsel mit Chengs nun überwiegend toten Leibwächtern voller Blut- und Kokainnebel gewesen war und hatte gegrinst. Das war abscheulich genug gewesen um Cheng dazu zu bringen in blanke Panik zu verfallen. Es interessierten ihn nicht sein Boss, und nicht dessen Schläger. In diesem Moment und vielleicht bis zum Rest seines Lebens würde dieser rote Teufel seine Nemesis bleiben. In diesem Moment war er sich sicher, ein ganz kleiner Mann zu sein, nein, eher ein rasender Affe, den sein Koboldmut gerade und für alle Ewigkeit verlassen hatte. Und er rannte nicht nur um sein Leben, sondern um seine Seele. Kira holte den schwitzenden, kleinen Mann langsam ein. Er ärgerte sich darüber schon wieder so viele Löcher in seinem Mantel zu haben. Triaden. Triaden und automatische Waffen. Er knurrte und biss die Zähne zusammen. Sein Biomonitor sagte ihm wie immer, dass er längst tot sein sollte, aber langsam schlossen sich die tausend kleinen Löcher und das dumme Ding beruhigte sich wieder. Mr. Hase hatte ihm diesen Auftrag anvertraut, weil sich die Triaden langsam in seinem Gebiet breit machten und Hase hasste Drogen. Cheng war ein viel zu vorlauter, viel zu unwichtiger kleiner Bastard und sollte sich laut seiner Aussage "mal richtig einscheißen". Kira machte seinen Job anscheinend gut. Er hätte niemals gedacht, dass der kleine schwitzende Chinese so verdammt schnell rennen konnte. War seine Drohung so einschüchternd gewesen? Sein Chinesisch schien doch weniger eingerostet, als er geglaubt hatte. Oder hatte ihn die Tatsache umgeworfen, dass Kira wieder aufgestanden war, nachdem ihn Chengs Lackaffen in die Tische geschossen hatten? Der Japaner blickte kurz auf den Biomonitor an seinem Handgelenk. Er hatte eine Menge Blut verloren, aber langsam regenerierte sich sein Körper wieder, so wie er es immer tat. Die Löcher in der leicht gepanzerten Roadrasher schlossen sich leider nicht. Der rote Teufel knurrte leise. Vielleicht bin ich nur wirklich ein Dämon, und der Geruch der Hölle klebt an mir, dachte er, während er mit fachmännischer Zufriedenheit registrierte, dass Cheng gerade in Panik die falsche Abkürzung in die Hölle nahm. Sie kamen vor der Häuserwand an, die diese Straße zu einer Sackgasse machte. Cheng bremste und legte sich lang, während Kira das Tempo runternahm und nun Langsam mit lauten Schritten auf seine Beute zuschritt. Er bemerkte unzufrieden, dass dies die Seitengasse war, in der er sein Motorrad geparkt hatte. Die kirschrote Shiva stand neben einem großem Müllcontainer, aus dem gerade fauchend eine rote Katze verschwand. Der rote Teufel fluchte innerlich, als sich zitternd der Lauf der blutbespritzten Sternmeyer auf ihn richtete. Drei kurze schnelle Schüsse aus der modifizierten, überschweren Pistole warfen ihn kaum zurück. Er lief einfach weiter und rieb sich mit dem Handrücken das Blut aus den strahlend grünen Augen. Durch das dämmrige Licht waren seine Pupillen geweitet, doch in der Gasse flackerte eine defekte Straßenlaterne und sie verengten sich augenblicklich zu Schlitzen, als Kira die LowLightVision ausschaltete. "Das ist dein Ende, kleiner Affe", raunte er und grinste. Cheng schoss auf ihn, obwohl keine Kugel mehr in der Waffe steckte. Der Schlitten war nach hinten gesprungen und es gab ein tragisches Klickern, während er seinen feisten Zeigefinder verzweifelt um den Abzug schloss. Kira stapfte mit wehendem Mantel unerbittlich näher und empfand den Nebel aus den Gullideckeln etwas zu geisterhaft, da sah er wie die Ratte nach dem letzten Hoffnungsschimmer griff. Cheng hechtete erstaunlich behände zu dem stehenden Motorrad herüber und sprang auf. Kira guckte sehr verdutzt, und begriff nicht, was das werden sollte, da zückte der kleine Mann ein winziges Gerät und die Maschine sprang an. Kira rannte los. Was auch immer Cheng da für ein Universalgerät hatte, es hatte so eben seinen Zapper deaktiviert und die Zündung möglich gemacht. Der Wichser würde ihm nicht mit SEINER Shiva entkommen! Der Motor summte auf, das Licht sprang an und blendete Kira ins Gesicht. Er warf sich in den Lenker und drückte mit aller Kraft zu. Cheng drückte Panisch den Gashebel durch, der Motor schrie gequält auf und der Rote Teufel stemmte sich mit all seiner Kraft gegen den Lenker, doch die Shiva hatte zu viel Power und drückte ihn über den rutschigen Asphalt. Er starrte Cheng direkt ins Gesicht, ihre Lippen hätten sich berühren können, so nah waren sie sich. Panik in den Augen des Chinesen und unbändige Wut in denen des Dämons. Durch blutrote Haarsträhnen hindurch starrte Kira vollständig konzentriert in die braunen Augen des Gegners, die Zähne aufeinandergepresst, so dass sie knirschten, dann vielen die ersten Schüsse. Erleichterung und Triumph machten sich in Chengs feistem Schweinegesicht breit, als der Rote Teufel weiter über den Asphalt gedrückt wurde und von hinten der erste Schuss der Schrotflinte in ihn einschlug. Der Dämon zuckte zusammen und die Ratte sah, dass ihr Feind an seine Grenzen gelangt war. Die Leibwächter brüllten irgendetwas auf Chinesisch, aber Kira war zu angestrengt, um es neben dem laut schreienden Motor und den Schüssen zu verstehen, sein Kopf senkte sich gen Boden und er knurrte wütend, als er immer mehr den Halt auf dem rutschigen Boden verlor. Cheng begann zu lachen und Kira hob den Kopf und starrte ihn wild an. Seine Muskeln waren bis zum Zerreißen gespannt, sein Gesicht und sein Gegenüber mit seinem Blut bespritzt. Schritte auf dem Asphalt, die Leibwächter kamen rasch näher, weil die Schrotflinte auf die weite Distanz kaum Schaden angerichtet hatte. "So kommst du mir nicht davon", raunte Kira atemlos und grinste so dreckig und breit, dass Cheng plötzlich wieder von blanker Furcht gepackt wurde. Der Dämon eines Mannes streckte den Kopf vor und steckte dem Opfer die Zunge in den vor Entsetzen geöffneten Mund. Cheng verschluckte sich und verdrehte schockiert die Augen. Er ließ den Gashebel los und der Rote Teufel trennte sich grinsend und mit wahnsinnigem Blick von seiner Beute. Die grünen Augen glühten in der Nacht und sprühten vor Bosheit. "Wir sehn uns in der Hölle wieder!" Die Fäuste in den fingerlosen Handschuhen packten zu und mit all seiner Kraft hebelte Kira die Shiva vom Boden. Das Scheinwerferlicht beschritt einen grazilen Bogen und der Dämon eines Mannes warf die schlanke rote Maschine mitsamt Cheng mit einer fast grazilen Bewegung über seinen Kopf hinweg in die herangenahten Angreifer. Mit lautem Krachen und Scheppern donnerte das Motorrad laut heulend in die Reihe der schwarzgekleideten Triaden. Kira drehte sich in einer fließenden Bewegung um und sein bodenlanger, blutroter Mantel umzüngelte ihn wie Höllenfeuer. Er duckte sich angriffsbereit und begann laut zu lachen. Zwei der drei Angreifer waren von dem Motorrad zu Boden geschmettert worden, Cheng lag hinter seinen Leuten und eine meterlange Blutspur zog sich über den Boden, auf dem die Shiva gerade Funken schlagend zum Stehen kam. Der letzte Angreifer blickte voller blankem Entsetzen auf den Roten Teufel, der sich mit dem Handrücken den Mund abwischte und grinsend auf ihn zukam. "Bereit zu sterben?", flüsterte er und starrte dem Mann in die weit aufgerissenen Augen. Der Chinese warf das Schrotgewehr in hohem Boden von sich und ging rennen. Kira lachte laut und stapfte zu den verbliebenen Kontrahenten hinüber. Das ist Aikido für Fortgeschrittene, grinste er innerlich und war heilfroh, das die Shiva selber für ein Motorrad verflucht leicht war. Er ging zu dem ersten Mann, der stöhnend am Boden lag, nahm sich dessen Schrotflinte und schoss ihm in den Kopf. Der zweite schien bewusstlos zu sein und er ließ ihn liegen. Cheng selbst war neben der Shiva zusammengekrümmt, ein Bein ungesund verwinkelt, die Elle ragte gesplittert aus seinem Arm. "So ein Pech aber auch", spottete der Dämon eines Mannes, als er sich über ihn beugte. Cheng wimmerte, war aber immer noch bei Bewusstsein. "Da hat dich wohl das Koboldglück verlassen, was rasender Affe?" Kira legte den Kopf schief und grinste blutverschmiert. "Du glaubst doch wohl nicht, dass ich ein Mädchen reite, dass ich nicht im Griff habe, oder? Und jetzt habe ich noch ein Rendezvous mit deinen Eingeweiden, mein kleiner Affenfreund." Die Schreie zerrissen kurz die Luft dann herrschte Stille. Ein Zimtkaugummipapierchen fiel auf blutigen Boden. Einige Minuten später fuhr eine ziemlich lädierte Shiva aus der Seitengasse, ohne Licht und auf ihr - nur der Dämon eines Mannes, ein Schatten, den das Mondlicht warf, ein mit Blut gezeichneter Streifen in der surrealen Silhouette dieser Seelenverkäuferstadt. Ein kleines Zeichen seiner Anwesenheit, dass mit einem Wimpernschlag verloschen war, wie so viele Leben. "Hallo?" "Ich bin's." "Wie ist es gelaufen?" "Job done, Mr. Hase." "Und?" "Nun, ich denke ich hätte einen Oskar verdient. Hatte nicht vor es so cineastisch anzupacken, aber... man wird sich Geschichten darüber erzählen, denke ich." "Geschichten?" "Ich habe meine eigene Art mit Problemen umzugehen, Mr. Hase. Ich bin kreativ. Cheng ist tot, die Warnung überdeutlich in jeder Sprache lesbar. Einen seiner Leibwächter hab ich am Leben gelassen, er hat die Sache mit angesehen und wird berichten, was ich getan habe." "Hast du meine Botschaft überbracht?" "Ich kam nicht wirklich zum reden." "Macht nichts, ich hatte schon angedroht, dass ich Maßnahmen ergreifen würde." "Erzählen sie's ihnen noch mal. Ich glaube sie stempeln das jetzt als Strafe der Hölle ab. Vielleicht sollten sie erwähnen, dass sie mich geschickt haben. Vielleicht auch nicht." "Kira?" "Sie nannten mich den "Roten Teufel", den "Dämon eines Mannes"." "..." "Ich habe meinen Stil, Mr. Hase." "So ist es." "Ich hasse Kokain. Das putscht auf, muss man sagen." "Kokain?" "Ich hab es nicht freiwillig genommen. Es hat geschneit, während der Schießerei." "Was hast du gemacht?" "Wenn sie zufrieden sind, schlagen sie tausend drauf, wenn nicht zieh'n sie tausend ab. Mein Motorrad ist Schrott." "Nun gut. Was wirst du jetzt tun?" "Umziehen." Der Wind biss kalt in sein Gesicht, als er sich seinen Weg durch die Straßen der CombatZone bahnte. Der rote Mantel klebte wie ein blutverschmiertes Leichentuch an seinem Körper, während sich das Mondlicht in Pfützen spiegelte, die er mit seinen Schritten zerschlug. In dem ehemals besetzten Haus, in dem schon lange niemand mehr wohnen wollte, weil dort nur die Toten herkamen, um sich den letzten Schuss zu setzen, hielt er endlich inne. Leise und bedächtig legte er die Kirschblütenzweige in das Zimmer mit dem halben Fenster, dessen Scherben überall auf dem Boden verstreut lagen. Jede sah wie ein Spiegel aus, in dem der Mond schien, doch alle schienen Portale in verschiedene Welten zu sein. "Vor langer Zeit hab ich dich verloren", flüsterte der Dämon eines Mannes. "Wieso muss ich also weiterleben, obwohl ich schon längst bei dir sein sollte?" Eine Träne fiel zu Boden und zog Kreise auf der Oberfläche einer Scherbe. Kira sank auf die Knie und starrte in den Himmel. Glasscherben knirschten unter seinen Sohlen. Er schloss die Arme um sich und spürte die Kälte der Nacht und der Einsamkeit. Er rieb seine Wange an seinem Mantel und meinte Aitos Geruch wahrzunehmen, so wie damals. "Den schenk ich dir." "Der ist zu auffällig. Ich bin noch nicht soweit." "Doch, bist du. Den bekommst du von mir. Damit du geschützt bist, wenn die Kugeln kommen und die Versuchung." "Versuchung?" "Ja. Ich hab ihn diese Nacht getragen, hab drin geschlafen und..." "Du...! Das hast du nicht getan." Weißes Grinsen. "Oh doch. Nur für dich. Damit du mich nicht vergisst, wenn du mal gut aussehende Kundschaft hast." "Meine Kundschaft erschieße ich meistens." "Umso besser." "Wie könnte ich dich jemals vergessen...Du bist doch hier. Wir bleiben zusammen, ich lass dich nicht gehen." Und der Kuss. Der Kuss war warm und weich, bei diesem mal. Es war ein junger Kuss, nicht unschuldig, aber jung. Unerfahren und fröhlich. Das Schicksal erlaubt den Dämonen kein Glück. Wer sich von ihnen reiten lässt, den führt der Weg nur in die Hölle. Er erinnerte sich, wie er war. Aito war jung, genau wie er, und mutig, nicht so wie er. Aito war zügellos und wild. Er hatte viel bei ihm gelernt, das Leben geschmeckt und wieder Trost gefunden. So etwas wie Liebe, Wärme und Vertrauen. Doch dann... Schatten, die das Mondlicht bringt. Er erinnerte sich an diesen letzten Kuss. Er war kalt und hart. Er hatte noch geatmet, aber das Leben war aus ihm geflossen. Seine Augen waren schon blind und das golden-weiße Haar glänzte nicht mehr. "Es ist nicht so, als hätte ich jemanden getötet, weißt du? Verzeih mir..." Und dann hatte sein Herz einfach aufgehört zu schlagen. Und Kira hatte geschrieen, genau wie jetzt. Und tausend fremde Augen schauten aus anderen Welten auf den Schatten, den das Mondlicht brachte. Den blutroten Schatten aus der Vergangenheit, der nicht mehr in diese Welt gehört. Nur der Dämon eines Mannes. Der Schuss hallte laut durch die toten Wände und auf den Straßen waren die trügerischen Nachtgestalten zurückgewichen, vor dem Schrei des Roten Teufels, aus dem Haus, in dem nur Tote sind. Blut auf Kirschblüten. Akuma. Kapitel 1: Enter The Game ------------------------- "Du solltest dich beim nächsten mal von Schrotflinten fernhalten. Wenn du dir schon nicht den Gefallen tun willst, tu ihn zur Hölle mir!" Eine weitere kleine schwarze Kugel fand ihren Weg klingelnd in die chromfarbene Nierenschale. "Ich werd mir Mühe geben, Doc." "Das will ich auch meinen. Zur Hölle noch mal ist das eine Scheißarbeit. Und das mit dem Rauchen mag ich immer noch nicht!" "Sorry, aber das ist eine Angewohnheit, die man nicht loswird." "Nicht, während ich dich aufmache, verdammt!" Surren vom Laserskalpell und der Geruch von verbranntem Fleisch. "Die Wunden entzünden sich nicht." "Herrgott ich weiß." Ein weiteres Klingeln, eine weitere Kugel. Van Berge manövrierte den kleinen Röntgenmonitor vor die Brust seines Patienten und rückte die Brille zurecht. "So, fertig." Der junge holländische Arzt schob den Monitor wieder zur Seite und knippste ihn aus. Die Wunden auf Kiras Körper waren schon wieder rückstandslos verheilt. "Danke, Doktor." Der junge Japaner richtete sich auf und sah prüfend auf den Biomonitor, der unter der Haut des rechten Unterarmes grün aufleuchtete und ihm anscheinend strahlend mitteilte, dass alles in Ordnung war. Der Arzt zog die weißen Gummihandschuhe aus und griff nach seiner Zigarettenschachtel. Er wischte sich mit dem Handrücken etwas Schweiß von der Stirn und strich sich eine rotblonde Locke aus den Augen. "Willst du was trinken?", fragte Van Berge mit vorwurfsvollem Gesichtsausdruck und steckte sich die Zigarette an. Kira nahm den Aschenbecher, stand auf und nickte. "Komm ins Wohnzimmer." Der junge Solo setzte sich auf die breite Lederimitatcouch und fischte sich einen Keks aus der Dose auf dem niedrigen Designerglastisch. Neben ihm schwamm ein Hammerhai vorbei und er beobachtete fasziniert, wie das ausgestorbene Tier in der Wand verschwand. Van Berge kam mit zwei Gläsern Gin von der Minibar und dimmte die Helligkeit des Vidscreens, der das Fenster ausfüllte, mit der Fernbedienung. Es wurde Nacht im Riff und Kira schenkte seine Aufmerksamkeit dem synthetischen aber sündhaft teuren Alkohol. "Ich habe das Gefühl, dass du die Vorsicht verlierst." Van Berge setzte sich ihm gegenüber und massierte sich die sorgenvoll in Falten gelegte Stirn. Kira sah ihn mit einem Gesichtsausdruck an, der für den Arzt unergründlich war. Er schätzte den jungen Japaner auf etwa Anfang bis Mitte 20, konnte das aber nicht genau sagen. Wenn man in Europa aufgewachsen war, sah man eine Menge Menschen verschiedener Nationalitäten, aber mit Asiaten kannte er sich nicht aus. Sie sahen für ihn alle gleich aus. Kiras Mimik konnte er nicht deuten, er war für ein Mysterium und Mysterien faszinierten ihn. Kira war ein solches in einer Zeit, die stolz behauptete, dass es keine Geheimnisse gab, die man nicht mit Hilfe der Wissenschaft begreifen könnte - und dem nötigen Kleingeld. Er war zum einen ein wunderschöner Mensch, und das, obwohl keine chirurgischen Veränderungen an ihm durchgeführt worden waren, und zum anderen hatte er einen unglaublich mysteriösen Charakter. Van Berge empfand diesen Mann als faszinierend und war froh seine Bekanntschaft gemacht zu haben. "Ich?" Kira tippte mit dem Zeigefinger auf seine eigene Brust und zog die Augenbrauen zusammen. Van Berge grummelte und interpretierte das als eine Unschuldsmiene sondergleichen. Ein Blick, der Frauen würde schmelzen lassen. Wie ein junger Hund! Man wollte ihm Kekse zuwerfen. Kira lächelte verstohlen und sah dann wieder in seinen Drink. Der Arzt schüttelte den Kopf und nahm einen tiefen Zug aus seinem Ginglas. "Vergiss nicht, wir wissen nicht, ob es nicht einfach irgendwann aufhört!" Kira nickte und nahm den Schluck, ohne seinen Freund anzusehen. Van Berge rieb sich wieder die Augen. Es war spät. "Ich geh mich umziehen." Kira stellte das leere Glas ab und ging aus dem Raum. Er hatte immer ein paar Kleidungstücke bei seinem Arzt deponiert, da er meist mit einer Menge Einschusslöchern hier auflief. Der Rückweg führte durch die gute Moderate Zone, so dass es besser war ein sauberes Erscheinungsbild zu haben, wenn man nicht kontrolliert werden wollte. Thy van Berge ließ den Kopf in den Nacken fallen und trank sein Glas leer. Was war dem Jungen bloß zugestoßen? Der Arzt konnte sich die Nanoviren, die er in seinem Blut gefunden hatte nicht erklären und die Geschichte, die Kira ihm dazu erzählt hatte, war nicht minder beunruhigend als alles andere, was er über die Struktur der Proteinteilchen herausgefunden hatte. Irgendwer hatte den jungen Mann benutzt, um die Viren zu testen. Was auch immer diese Leute mit ihm vorgehabt, und angestellt hatten, er konnte nicht sagen wie sich sein Leben entwickeln würde. Sein Körper wurde von den kleinen, programmierten Arbeitern immer wieder regeneriert. Egal, was er auch anstellte, jede Wunde verheilte innerhalb von wenigen Minuten. Knochenbrüche, Fleischwunden, Blutverlust, selbst beschädigte Organe - Kira war nahezu unsterblich, solange das Rückenmark sein Gehirn mit dem restlichen Körper verband. Die Nanos stellten den Originalzustand innerhalb von wenigen Minuten wieder her, egal, wie schwer die Verletzung bislang gewesen war. Kein Test, den Van Berge gemacht hatte, hatte auch nur irgendeinen Aufschluss darüber gegeben, wie die Viren genau arbeiteten, wo sie herkamen, oder wie sich die Symbiose mit Kiras Körper weiterentwickeln konnte. Sie waren zu komplex und ähnelten nichts, was der Arzt bislang gesehen hatte. Wahrscheinlich hatte irgendein Konzern den jungen Solo als Testobjekt benutzt und Van Berge wollte sich nicht ausmalen, was man mit solcher Technik weltweit anrichten konnte, wenn sie in Serie ginge. Doch so sehr ihn diese kleinen Wundermaschinen auch wissenschaftlich reizten, er musste immer wieder daran denken, was eine Fehlfunktion oder eine Selbstzerstörung der Viren mit Kira anstellen würden. Er kniff die Augen zusammen und stand dann auf, um sich einen weiteren Drink zu nehmen. Kira griff sich ein neues schwarzes T-Shirt aus dem Schrank und streifte es sich über, als er Hels stimme in seinem Kopf hörte. "Du hast einen Anruf, Kira." Wie immer höflich und kühl, mit ein bisschen Vorfreude auf Dinge, die nicht passieren würden. "Wer ist es?" "Unbekannte Nummer." "Durchstellen." Sein rechtes Ohr zuckte kurz, als die Stimme des Anrufers mittels des eingebaute Cellphones durch seinen Kopf schallte. "Kira?" "Einen wunderschönen guten Abend, Mr. Hase." "Ich habe einen Auftrag für dich." "Ich höre." "Es geht um etwas Persönliches." "Oh." "Du musst jemanden wiederbeschaffen. Ein junges Mädchen, ihr Name ist Elizabeth. Meine Nichte. Sie ist sechzehn Jahre alt. Ich habe gestern eine Lösegeldforderung erhalten - sie ist entführt worden. Ich habe aber Grund zu der Annahme, dass diese Forderung nicht von den Leuten stammt, die 'unterschrieben' haben, wenn du verstehst, was ich meine. Es geht nicht ums Geld. Das ist persönlich. Ich denke ich weiß, wer sie entführt hat." "Und wer ist es?" "Marc Hung. Ein junger Triadenboss, der sich zu weit in mein Gebiet gewagt hat. Macht mir mein Geschäft mit seinen billigen Drogen kaputt, denkt er könnte sich alles erlauben. Triaden. Und ihre Drogen. Wie ich sie hasse." "Sind sie sicher, dass es Hung war?" "Ich bin zu ihm gegangen und habe ihm gesagt, dass er sich aus meinen Geschäften raushalten soll. Eine Warnung. Das hat nicht gereicht. Dafür, dass er sich weiter in meine Geschäfte eingemischt hat, habe ich ihm ein Ohr abgeschnitten." "Oh." Kira war etwas schockiert. Junge Triaden waren rasende Affen. Und Hung war jung, rasend und vielversprechend. Er hatte nur einige Geschichten gehört, aber wenn sich Hase auf solche Weise an ihm vergriffen hatte, war das Mädchen vielleicht sogar schon tot und in Stücken zu ihm unterwegs. Hase war weit davon entfernt ein Asiate zu sein. Er war aber auch kein Italiener, kein Russe... Kira hatte keine Ahnung, wo seine Wurzeln lagen, für ihn war er einfach ein Amerikaner. Aber Amerikaner hatten wenig Ahnung von den Asiaten und Hase hatte dauernd Ärger mit der Mafia, besonders den Tongs. Er selbst war hart genug, um keine Mafia zu brauchen, was Kira an sich bewundernswert fand. Mit was für Geschäften er sein Geld genau verdiente, wusste er nicht, aber meistens bekam der junge Solo von Hase Aufträge, bei denen man das Gefühl hatte, die richtigen Leute zu töten. Der Henchman, wie sein Kodename lautete, war sicherlich selbst kein Unschuldslamm, aber Kira bewunderte seine Stärke und er zahlte gut. Außerdem war er der einzige Auftraggeber, dem er nach seiner Rückkehr nach Night City einigermaßen über den Weg traute. Jeder seiner früheren Klienten hätte ihn verraten können, damals, und Henchman war bislang der einzige, der auf ihn erst nach seiner Yomireise aufmerksam geworden war. Und das wichtigste war, er fragte nicht warum. Kira hätte auch keine Antwort gegeben, sondern den Kontakt einfach abgebrochen. Doch Hase war gerissen und hart, er hatte erkannt, dass der Junge anscheinend einige; 'Talente' hatte, die ihn außergewöhnlich machten. Er war ein TopSolo, er wusste was er tat, er arbeitete eigenständig und konzentriert, schnell und effektiv, obwohl er noch jung war. Aber sein größter Vorteil war seine Widerstandsfähigkeit. Wenn er angeschossen wurde, erholte er sich innerhalb weniger Tage. Henchman wusste nichts von Alaska, aber er hatte wohl gemerkt, dass Kira ein paar Asse im Ärmel hatte, die ihn Aufträge in einer Präzision und Schnelligkeit erledigen ließen, die ansonsten mehrere Leute von Nöten gemacht hätten. Also bezahlte der Henker den Roten Teufel gut und nahm seine Dienste meist dann in Anspruch, wenn er jemanden richtig bluten sehen wollte. So wie jetzt. "Ich brauche alle Daten, die sie haben. Wann ist das Mädchen verschwunden?" "Vor drei Tagen. Du hast bereits eine E-mail mit allen Daten erhalten. Tausend im voraus sind Spesen, du hast das Geld schon auf dem Konto, wie immer." "Geht klar, Mr. Hase." "Kira..." "Ja?" "Ich erwarte von dir, dass du sie zurück bringst. Du musst sie finden. Sag mir wo sie ist und ich zahle 20.000. Wenn du sie mir bringst, zahle ich 50.000." "Bin schon dran." "Gut. Hung sollte morgen Abend im 'Goldenen Singvogel' anzutreffen sein. Das Restaurant gehört ihm, es ist seine Zentrale. Bring sie heil zurück, Kira." Kurze Stille. "Ich zähl auf dich." Das Gespräch wurde beendet. Kira sah kurz in die dunkle Leere des Flurs, dann ging er ins Wohnzimmer zurück. "Ich muss gehen, ich hab noch was zu erledigen." Van Berge sah auf. "Arbeit?" Kira nickte nur. "Schon wieder?" "Es muss sein." Der Arzt grummelte, während Kira seinen roten Panzermantel überzog, der einige Einschusslöcher davongetragen hatte. "Ja, sicher." Thy sah ihn scharf an. "Du weißt, das kann jeden Moment zu Ende sein. Wir wissen nicht, wie lange die Nanos arbeiten, und überhaupt, du könntest..." Kira drehte sich zu ihm um und sah ihn mit einem stoischen, asiatischen Blick an, den der junge Arzt hasste. Einen Moment schaute der Killer seinem Vertrauten fest in die Augen, bis dieser zu Boden sah. Dann lächelte der Japaner und Van Berge fühlte sich ein wenig unbehaglich bei dem verstörenden Anblick des androgynen Gesichtes ohne Lidfalte. "Keine Panik, Doc." Kira ließ die sieben verchromten Schnallen geräuschvoll zuschnappen und wandte sich zum Gehen. "Wenn ich draufgehe, hast du immer noch Gewebeproben von mir." "Ja", knirschte Van Berge, "damit kann ich nur nichts anfangen." Kira hielt kurz inne, nickte nur und stapfte aus der Tür. Der Arzt blieb im Wohnzimmer zurück. Qualm hing in der Luft. Kapitel 2: Short Cut Thoughts ----------------------------- Die Nacht war ähnlich wie der Tag hier in Night City - Dunkel und trübe. Kira jagte mit seiner kirschroten Shiva durch die breiten Straßen der Moderate Zone und malte leuchtende Steifen in die Atmosphäre, die sich in Neonreklamen auflösten. Er war ein toter Mann in einer toten Stadt voller Leben und das Sterben gehörte nun einmal auch dazu. 14 Millionen Menschen in dieser Stadt, 10 Millionen registrierte, 4 bis 5 Millionen Schattenbürger und jeder einzelne davon wollte Leben. Das Desaster war vorprogrammiert. Wer lebte, kam schnell anderen in die Quere, und wenn das geschah, dann kam es vor, dass einer Sterben musste. Kira war ein Mann, der keine Vergangenheit besaß. Er hatte ein Leben gehabt, er hatte eine Geschichte. Aber der Junge, der als Shikkaido Akira geboren wurde, hier irgendwo in dieser beschissenen, schmutzigen Stadt, und das Japan, das ihm seine Eltern vorgelebt hatten, nie gesehen hatte, existierte längst nicht mehr. Er war ihm in die Quere gekommen und er hatte ihn erstickt und doch hatte er das Gefühl, ein Kind atmete in seiner Brust von Zeit zu Zeit. Wie war es sonst möglich, dass er immer wieder über richtig und falsch nachdachte, und nicht nur über das Geld, dass er bekam? Wie kam es, dass er Amerika hasste und dessen dreckigen Abschaum, seine Kulturlosigkeit verdammte, obwohl er Japan niemals gesehen hatte? Wie kam es, dass er sie nicht verstand, diese schamlosen und ehrlosen Bastarde in den Straßen dieser Stadt, obwohl er selbst nur ein Verlierer war, der den Weg der Gewalt gegangen war? Die Shiva raste an einer unbewachten Stelle in die Kampfzone, wo ihre Lichter das einzige zu sein schienen, was die Dunkelheit vertrieb. Die Gedanken des Killers blieben finster. Kapitel 3: Virtual Fighter - Ryu -------------------------------- Es klopfte dreimal an der dicken Sicherheitstür. Ryu ignorierte es geflissentlich. Glasige, braunen Augen starrten auf den gigantischen Bildschirm, der pulsierende, kleine, grüne Punkte zeigte, die immer wieder wie Pilzsporen in einem altmodischen Computerspiel zerplatzten. Es klingelte dreimal. Ryus Iris bewegte sich schnell und zitternd, sein Mund stand ein wenig offen und die Zigarette im Aschenbecher war längst zu Asche zerfallen. Er bewegte einen Finger blitzschnell zur Tastatur und gab das Kürzel ein, dass ihm die Kameraansicht der Linse vor der Haustür auf den linken kleinen Bildschirm warf. Die Schwarzweißaufnahme zeigte ihm ein bekanntes Gesicht, dass er nur zur Hälfte wahrnahm. Der andere Zeigefinger betätigte den Knopf für den selbstgebauten Lautsprecher. "Passwort?" "Schneegestöber." Er öffnete die Tür mit einem anderen Schalter und seine Iris kam zum Stillstand. Er verabschiedete sich von seiner Spielgefährtin im virtuellen Bordell und seine Lippen formten ein "Sayonara, Miriu-chan", dann tasteten seine Finger nach dem Stecker an seiner Schläfe und er steckte aus. Neben dem schmächtigen Jungen mit dem gelben T-Shirt viel eine milchig weiße Plastiktüte auf den Tisch. "Hast du Hunger?" "Immer", sagte Ryu langsam und rieb sich die Augen, während sein Geist allmählich wieder in seinen Körper kroch und sich wie Alkohol in einem Wasserglas darin verteilte, um die Kontrolle wiederzuerlangen. "Nani?", "Was ist los", fragte er und grabschte sich einen weißen Styroporeimer aus der Tüte, brach die Stäbchen aus pinkem Plastik in der Mitte durch und drehte sich mit seiner Mahlzeit auf dem Schoß in dem gigantischen und abgefetzten Bürostuhl aus schwarzem Kunstleder zu seinem einzigen Freund um. Kira stand vor ihm, mit vor dem Körper gekreuzten Armen und schief gelegtem Kopf, wie fast immer, wenn er ihn besuchte trug er eine schwarze Gibson-Jeans, die leicht gepanzert war und hauteng an seinen muskulösen, langen Beinen saß. Dazu hohe, feste Keramikstiefel, ein weißes, ärmelloses Kevlar-T-Shirt und eine kurze, leicht gepanzerte, schwarze Motorradlederjacke mit weißem Fellkragen. Der Killer setzte sein schüchternes Lächeln auf, dass Ryu so faszinierte. Ein Lächeln, dass er selten Fremden zeigte, und dass einen zum Nachdenken brachte. "Ich habe Arbeit für dich", sagte Kira und drehte sich einen schwarzen Plastikstuhl um, um sich neben den siebzehnjährigen Netrunner zu setzen. "Was kann der Technomancer für dich tun?" Ryu grinste. Er war ein hübscher Junge, doch wie alle Netrunner verlor er seinen Sinn für die Realität. Sein Leben spielte sich hauptsächlich im Netz ab, und so kam es, dass er selten vor die Tür ging und kaum auf seinen Körper achtete. Die mandelförmigen Augen lagen tief in den Höhlen, Augenringe untermalten seine schwachen Kieferknochen und seine kinnlangen Haare, die ein bisschen verfilzt waren trugen ein ausgewaschenes Rot. In dicken Socken und einer viel zu großen Jeans, die letzten Monat noch nicht so weit auf seinen Hüften gehangen hatte, saß er in dem viel zu großen Chefsessel, und wirkte auf Kira viel jünger als er war, und erschreckend verbaucht. "Ich denke ich brauche heute nicht die Hilfe des Technomancers, sondern die von Itto Ryu." Der Killer neigte den Kopf auf die andere Seite und eine rot-schwarze, feine Haarsträhne viel ihm ins Gesicht und verdeckte das linke Auge. Er griff sich ebenfalls einen Becher kantonesischen Fast Foods und brach die Stäbchen um mit seinem Freund zu essen. "Was liegt an?" Ryu stopfte grüne Nudeln in sich hinein und grinste den Solo verschmitzt an. "Hast du dich wieder zerschießen lassen?" Kira sah geschäftig in seinen Reis und gab erst keine Antwort. Dann nickte er langsam, und ohne aufzusehen, steckte sich den Bissen in den Mund, und wies mit den Stäbchen auf eine Plastiktüte, die auf dem langen, verchromten Arbeitstisch hinter dem gigantischen Monitoraufbau stand. Ryu klemmte sich die Stäbchen zwischen die Zähne und hievte sich mit einer Hand aus dem Sessel. Er tapste zum Tisch herüber und fummelte an der Tasche herum. Kiras kirschroter Sicherheitsmantel lag sauber darin zusammengefaltet und daneben entdeckte Ryu nun auch den Hartplastikschalenkoffer mit den runden Ecken, auf dem abgekratzt und in Mitleidenschaft gezogen das Arasaka-Logo prangte. Der Junge zog eine Augenbraue hoch. "Was hastn mit der Rapid Ass gemacht, Kira?" Die Haare vielen ihm strähnig ins Gesicht als er seine Hand wie ein schiefes Fragezeichen in die Hüfte stemmte und den Oberkörper zu dem Solo umdrehte. "Ist mir vom Motorrad gefallen, während der Fahrt", sagte dieser ohne aufzusehen. "Vom Motorrad gefallen?" Ryu betrachtete den verkratzten Koffer ungläubig. "Wieso das? In dem Koffer?" "Nein", erwiderte Kira. "Ich habe damit geschossen und bin dann mit der Shiva ausgerutscht -in voller Fahrt." "Hat das nicht wehgetan?" Ryu hob spöttisch eine Augenbraue und kicherte erstickt. "Sorry, aber... na ja das sollte die Flinte aushalten, die ist sehr zuverlässig." Kira hielt inne und starrte in die Luft. "Ja, aber es ist auch ein Auto drübergefahren", sagte er vorsichtig und machte sich daran weiterzuessen. "Äh..." Ryu kratzte sich am Kopf und stellte den halbvollen Becher beiseite um mit flinken, etwas schmutzigen Fingern den Koffer zu öffnen und das Arasaka Rapid Assault Rifle herauszunehmen. "Na gut, DAFÜR ist sie nicht gedacht. Das ist nicht gut." "Sie sind wenigstens auch über mich gefahren", meinte Kira gedankenverloren nach einer kurzen Pause. "Oh." Ryu kicherte wieder, als er die halbautomatische Schrotflinte auf dem Tisch mit dem Inhalt seines Wekzeugtäschchens zerlegte. "Und, wie hat es sich angefühlt? Das wollte ich immer schon mal fragen..." "Es war nicht angenehm." Kira stand geschmeidig auf und ging mit verschränkten Armen zu dem Jungen herüber, der den Lauf auf eine unnatürliche Krümmung untersuchte. Es überraschte den Solo jedes mal, wie Ryu, der fast fünf Jahre jünger war, als er, es verstand mit technischem Gerät umzugehen. Er hatte diesbezüglich eine erkennbare Begabung. Vor einem Jahr hatte Kira dem Halbjapaner das Leben gerettet, als sich dieser mit einem seiner illegalen Geschäfte verkalkuliert hatte. Die andere Hälfte mochte nach Kiras Schätzung koreanisch sein, aber sie beide unterhielten sich nicht darüber. Es war ein Zufall gewesen, dass der Solo vor Ort gewesen war, doch Ryu erinnerte ihn an seinen Bruder Toji. Er mochte den Jungen. Seit dieser Sache waren sie so etwas wie Freunde geworden und Kira hatte wenige Vertrauenspersonen, nachdem er der Hölle in Alaska entkommen war. Kaum jemand wusste von seiner Regenerationsfähigkeit. Auf der Straße kannten ihn wenige, aber die erzählten sich Geschichten über den Roten Teufel, der kein Mann war, sondern ein Dämon, den man nicht töten konnte. Ryu und Van Berge waren seine einzigen Freunde. Der Junge half ihm bei allen technischen Problemen mit seinen Waffen, und seiner Ausrüstung, beschaffte ihm hin und wieder Dinge und Informationen übers Netz und im Gegenzug dazu leistete ihm Kira hin und wieder Gesellschaft in seiner einsamen Kellerwohnung in der Kampfzone, die eine kalte Werkstatt war. Kira konnte nicht nachvollziehen, wie man seinen Körper und sein Leben so vernachlässigen und nur noch im Netz zu Hause sein konnte, aber Ryu hatte keine Eltern mehr, und er war ein talentierter Netrunner und Techniker. Er hielt sich mit zwielichtigen Geschäften übers Netz über Wasser und verkehrte kaum mit Kunden. Die waren ihm zu gefährlich, genauso wie die ganze Welt dort draußen vor seiner Sicherheitstür, die er nur selten betrat. Er war, wie gesagt, ein schmächtiger Junge, der sich in der fleischlichen Wirklichkeit nicht zur Wehr setzen konnte - im Netz aber, war er der Technomancer, ein inzwischen ernstzunehmender, aufgehender Stern unter den Konsolenjockeys. Kira fragte sich, wie vielen Teenagern er schon die Weihnachtsgeschenke zerschrotet hatte, die es gewagt hatten, sich "Technomancer" zu nennen, wenn sie im Netz unterwegs waren. Ryu baschte sie gnadenlos vom Platz, zerschredderte ihnen die Programme, versaute ihnen den Netzzugang und schmorte ihnen manchmal sogar das Deck, also die Hardware, weg. "So, jetzt dürfte es wieder gehen." Ryu legte die Schrotflinte an, er hielt sie zittrig in beiden Händen. Kira nahm sie ihm weg und strubbelte ihm durch die Haare. "Ey!" Der Junge beschwerte sich. "Ich bin kein Kind, okay?" "Sorry, Macht der Gewohnheit", murmelte Kira und legte an, um sich zu vergewissern, das alles wieder in Ordnung war. Ryu wusste nichts von seiner Familie. Niemand wusste etwas davon. "Sonst noch was?", maulte der Junge und griff wieder nach seinem kalten Essen. "Der Mantel..." Ryu seufzte. "Kira, diesen Mantel habe ich innerhalb eines Jahres so oft geflickt, dass es jetzt schon nicht mehr derselbe ist, den du mir beim ersten mal gebracht hast. Willst du dir nicht einfach einen neuen kaufen?" Kira nahm das Gewehr herunter und starrte weiter auf einen imaginären Feind in der anderen, dunklen Hälfte des Lagerraums. "Nein. Bitte reparier ihn einfach." "Na gut, aber das mache ich nicht jetzt, da brauche ich Zeit für. Komm in zwei Tagen wieder." Der Junge tapste zu seinem Sessel herüber und schlürfte die Nudelsuppe aus dem Styroporbecher. "In Ordnung," erwiderte der Solo und packte das Gewehr wieder in die Schaumstoffschablone des Koffers. "Hast du heut Abend noch was vor?" Ryu hatte den Monitor schon wieder angeworfen und legte die Beine auf den Tisch. "Ich habe noch eine Verabredung." Kira ließ die Hartplastikschnallen an dem Gewehrkoffer zuschnappen und machte sich auf zur Tür. "Oh, viel Glück." Kira zögerte auf seinem Weg zur Tür. Er warf dem Netrunner einen Blick über die Schulter zu. "Nur mit einem Mädchen." "Na wenn das so ist..." "Bis dann. Vielleicht schau ich danach noch mal rein." "Man sieht sich." Der Solo verließ den Raum und schloss leise die Sicherheitsstahltüre. Der Technomancer war schon wieder eingechippt, als das elektronische Schloss zuschnappte. Kapitel 4: 11001-DeadGirl Welcomes You -------------------------------------- Kira wohnte in einer kleinen Arcologie am Rande der Moderate Zone. Er parkte die Shiva im angebundenen Parkhaus und nahm den Fahrstuhl in den zwölften Stock. Als er den dunklen Raum betrat, kamen ihm leuchtend grüne Lichter entgegen, die sich vom einfallenden Licht aus dem Flur nicht davon abhalten ließen, ihrer Programmierung zu folgen. "Hallo Manx." Kira betrat die Wohnung und seine Katze begrüßte ihn stürmisch, indem sie laut schnurrend um seine Beine strich. Der Killer schloss die Türe hinter sich und nahm das Tier auf den Arm. Es war ein älteres Modell, aber es war gut überarbeitet worden. Kira hatte es gebraucht in einem PetMinders Laden an der 45. gekauft. Das arme Ding hatte im Fenster gesessen und aus zwei grünen Augen leblos durch die Scheibe gestarrt. Sie war eine typische, japanische Glückskatze. Dreifarbiges Fell, ein wenig struppig, weil der Vorbesitzer Wasserstoffperoxidlösung darüber verschüttet hatte, doch dafür sehr weich. Kira hatte es nicht auswechseln lassen. Manx hatte nur einen halben Schwanz, aber so musste das sein, bei einer japanischen Glückskatze. Ihre großen grünen Augen sahen immer etwas traurig aus, und das Fell an den Ohren war ein bisschen fleckig. Der Solo konnte sich keinen besseren Gefährten für einsame Stunden vorstellen. Sein Leid konnte er mit keiner Menschenseele teilen, also blieb ihm dieses kleine, vom Pech verfolgte und doch fröhliche Ding. Auch Stahl hat eine Seele ... und seine Dämonen. Als er das Licht anschaltete erschien Hel auf der dunkelbraunen Couch. "Willkommen zurück." Sie lächelte. Kira hob eine Augenbraue und lächelte, stellte dann erst einmal den Gewehrkoffer ab und warf die Jacke in die Ecke, um sich mit der Katze auf dem Arm auf die Couch zu werfen. "Du warst doch mit mir weg", sagte Kira vorsichtig. Er war sich Hels Geisteszustandes manchmal nicht sicher. "Ja schon, aber du magst es, wenn dich jemand Willkommen heißt." Dieses ermutigende Lächeln. Kira setzte sich neben Hels flimmernde Gestalt und lehnte sich zurück, um die Katze auf die Stirn zu küssen, die leise miaute. Die Frau mit dem langen hellbraunen Pferdeschwanz und den warmen wallnussbraunen Augen betrachtete ihn distanziert, jedoch gerührt. Sie trug eine grün-gelbe Kombination aus einer GibsonNetSuit und einer Roadrasher, die mit einem flackernden Netzgitter untermalt war. Wie immer. Ihr Icon, mit dem sie sich Kira visualisierte, konnte außerhalb des Netzes niemand sehen. Doch der Solo bemühte sich, sie wie ein menschliches Wesen zu behandeln. "Danke, Hel." Er griff nach dem kleinen schlanken, schwarzen Deck und schaltete es an. "Wolln wir doch mal sehn, was uns der Henchman geschickt hat." Seine Finger wanderten zu seinem Hinterkopf. Er zog die Schutzklappe aus Kunsthaut zurück und holte die Funktroden aus dem antistatischen Tütchen, um sie einzustecken. "Danke." Hel verschwand neben ihm und er lächelte. Er fischte sich eine Lakritzstange aus der schwarzen Plastikschale auf dem Tisch und klappte den Monitor des Decks hoch, um auf Benutzerebene einzuloggen, während seine bessere Hälfte direkt ins Netz einchippte. In letzter Zeit machte er sich Sorgen um Hel und er wusste nicht, wie er ihr helfen sollte. Er bezweifelte inzwischen auch, dass er selbst jemals einen Weg finden würde. Vielleicht war es nicht gut, dass er ihre Existenz vor absolut jedem geheim hielt, aber es erschien ihm einfach zu gefährlich, jemandem mitzuteilen, dass er einen extrem leistungsstarken Biochip an seiner Kortex hatte, auf der sich das Backup eines Netrunners befand, dessen eigenes Gehirn nicht mehr existierte. Hel hatte ihren Körper verloren, als ihr Team - welches auch immer - versucht hatte, die Laboreinheit zu stürmen, in der Kira gefangengehalten worden war. Ein anderer Netrunner oder ein Programm der KI des Labors mussten sie getötet haben, so dass von ihrem Gehirn nur noch milchiger Matsch übrig geblieben war. Sie hatte es allerdings geschafft, Kira von der virtuellen Kontrolle der Wissenschaftler zu trennen und ein Backup File von ihrer eigenen Persönlichkeit auf den Biochip in seinem Kopf geladen, nur - dieses war nur zu 78% vollständig. Sie besaß kaum mehr als 1% ihrer gesamten Erinnerungen als Mensch. Kira erschauerte jedes mal bei diesem Gedanken. Sie tat ihm so leid. Sie war kein Mensch mehr, sie war entkörpert worden, doch für ihn war sie eine Person. Was auch immer ihr Auftrag gewesen war, ohne sie wäre er niemals lebendig dort herausgekommen und er wünschte sich nichts mehr, als ihr eine neue Chance zu geben, einen Körper für sie zu finden. Doch das würde ein fast unmögliches Unterfangen werden. Ein Dämon, der dem Geist eines Mädchens verpflichtet ist. Kapitel 5: Keep A Promise Tonight --------------------------------- "Du hast eine neue E-mail", merkte Hel freundlich an. Kira checkte seinen Posteingang und las die Nachricht von Henchman. Die leicht verschlüsselte Botschaft teilte dem Solo mit, dass das Mädchen vor drei Tagen auf dem Heimweg von der Schule verschwand. Einige weitere Informationen, über den Goldenen Singvogel, Marc Hung, ein junger, aufstrebender Anführer einer mit den gleichen Adjektiven zu beschreibenden Triadenfamilie. Mitte 20, dreist, brutal, gewalttätig und gerissen. Doch Der Henker schien nicht viel über seinen Folterer zu wissen, er fasste sich kurz. Kira berücksichtigte die aufgewühlte Lage seines Auftraggebers und gab Hel die Aufgabe sich im Netz umzusehen. Eine halbe Stunde später wusste der Solo wenig mehr. Er checkte mit Hilfe seiner Freundin weitere Orte, Locations, die mit Hungs Geschäften in Verbindung stehen konnten und erarbeitete sich, während er eine Portion aufgewärmte Miso-Suppe aß, einen besseren Überblick über Hungs letzte Investitionen. Anscheinend hatte er einiges Geld in verschiedene Einrichtungen gesteckt, einige Lagerhallen gemietet, sich in Betriebe eingekauft, besaß eine Fischfabrik am Hafen. Kira steckte aus und betrachtete die Ordner mit den Stadtplänen und den markierten Orten auf dem kleinen Monitor des Decks. Seine Finger hechteten über die auf dem Glastisch ausgerollte Schaumstofftastatur, während er die Nummer wählte. "Fields?" "Hallo Sally." Stille. "Du bist zu Hause. Heißt das etwa, dass du heute frei hast?" "Ja verdammt. Es ist das erste mal seit drei Wochen, dass ich einen Freitag Abend frei habe und ich sitze im Bademantel vor der Glotze und hatte grad den Prospekt vom Pizzataxi in die Hand genommen." "Nun, ich hoffe, das ist nicht das, was du dir für heute Abend unbedingt gewünscht hast." "Verrat mir wieso." Der Japaner lächelte sein Spiegelbild im Flatscreen an. "Nun, weil ich dich einladen möchte." "Du? Mich? Wieso?" "Ich lade dich zum Essen ein. Magst du Chinesisch?" "Wer in Night City mag KEIN Chinesisch?" "Gut. Ich bestelle einen Tisch, mal sehn ob es klappt, das Lokal ist gut besucht um diese Zeit." "Was hast du vor?" "Dich einladen, wie ich gesagt habe." "Für wie blöd hältst du mich?" "Sally, Sally... Ich würde einer guten Freundin doch keinen Ärger machen. Ich möchte nur verhindern, dass du deinen Freitag Abend allein zu Hause auf der Couch verbringst und auf den Pager starrst." "Na gut. Wo treffen wir uns?" "Mason Ecke 30. Am Parkhaus, in Ordnung? Du weißt wo das ist?" "Klingt gut, es liegt nicht in meinem Revier." "Sei gegen Halbelf da, und zieh dir was nettes an. Es ist ein gutes Lokal." "Ich werde KEIN Kleid anziehen, verstanden?!" "Ich sagte; etwas nettes. Nicht "ein Kleid"." "Gut. Ich werd da sein." "Bis gleich Sally." Sie legte auf. Kira checkte die Internetseite des "Goldenen Singvogels". Es war nicht möglich online einen Tisch zu bestellen, also rief er an. Auf dem Bildschirm hatte er Polizeifotots von dem Lokal aufgerufen. Sie observierten Hung, konnten ihm aber wahrscheinlich - wie immer - nichts anhaben. Der Solo überredete den viel zu freundlichen Chinesen mit kühler, aber schmeichelnder Stimme zu einem Doppeltisch in der Nähe der Küche für 10:30 pm. Dann ging er duschen und zog sich um. Schwarze Motorradlederhose, hohe Keramikstiefel und ein schwarzes T-Shirt - dazu die Kirschrote Lederjacke mit dem großen Wollkragen. Er steckte die Waffen ein, doch er würde sie nicht mit in das Lokal nehmen. Er machte seiner Freundin keinen Ärger. Er würde sein Versprechen halten. Kapitel 6: Business Dinner -------------------------- Pünktlich um halb elf marschierte Sally Fields über den Bürgersteig auf das Parkhaus zu. Sie trug Jeans und Turnschuhe, einen schwarzen Rollkragenpullover und eine dunkelbraune, etwas abgetragene Lederjacke. Jeder verfluchte Dealer in den Straßenecken musste sich sicher sein, dass sie ein Bulle war. Ihr war das ziemlich gleich. Die leichte Ausbeulung an ihrer rechten Unterschenkelseite verriet die kleine Handfeuerwaffe, ihre roten, lockigen Haare trug sie ungeschickt hochgesteckt. Einige krause Strähnen vielen ihr unordentlich ins Gesicht. Mit einem Gang, der ihre muskulöse Statur verriet, und der keinesfalls von weiblicher Eleganz zeugte, stapfte sie mit geballten Fäusten auf die glimmende Zigarette unter der defekten Straßenlaterne zu. „Okay, ich bin hier!“, brüllte sie schon auf Entfernung. Kira trat aus dem Schatten und lächelte sie warmherzig und etwas verstohlen an. Der Taxifahrer, der unten an der Ecke Zeitung las, und nur die Silhouetten sah, vermutete eine Frau und einen Mann. Er lag dennoch falsch. „Freut mich, dass du es einrichten konntest.“ „Gehen wir“, grummelte Sally. Er bot ihr den Arm an und sie hakte sich spöttischen Blickes ein. „Wo schleppst du mich hin und was hast du vor?“ „Das habe ich dir doch schon gesagt. Ich lade dich zum Essen ein.“ Sally schnaubte. Ihr starkes, muskulöses Gesicht mit der fliehenden Stirn und den Sommersprossen verriet, dass sie ernsthaft verwirrt war. Sie traute von Berufs wegen niemandem. Doch Kira hatte ihr das Leben und ihre Würde als Frau gerettet, als sie noch ein junges Ding gewesen war. Das hatte ihm einige goldene Sterne in ihrem Buch der braven Kinder eingebracht. Sie glaubte fest daran, dass Kira die Leute bluten ließ, bei denen ihr der Staat die Hände band, und dafür liebte sie ihn. Er war kein schlechter Kerl und auch kein guter. Aber sie wäre für ihn barfuss durchs Feuer gegangen, das gebot ihr ihre irische Mentalität. Der italienische Teil in ihr sagte ihr, dass er ein Bastard war, aber einer dieser streunenden Hunde, die man einfach hin und wieder zu sich reinholen musste, damit sie ihr nasses Fell am Feuer trocknen konnten. „In den Singvogel? Ausgerechnet?“ Kira lächelte geheimnisvoll. „Ich habe dir nicht gesagt in welches Restaurant wir gehen.“ „Es ist das einzige in diesem Distrikt.“ „Schon in Ordnung Sally.“ Er strahlte sie an und ihre Nasenflügel weiteten sich abermals vor Wut. „Ich verspreche dir, ich werde dir keinen Ärger machen. Genieß einfach den Abend. Vergiss für ein paar Stunden deine Arbeit, ok?“ „Das kann ich nicht. Ich bin Polizistin. Ich bin immer im Dienst.“ Ein gehässiges Lächeln huschte über Kiras Lippen. „Allein die Tatsache, dass du mit mir ausgehst, bedeutet, dass du gerade vergisst, dass du Polizistin bist.“ „Na gut. Jetzt hast du mich. Du hast recht. Ich werds versuchen. Aber ich trau dir nicht, verstanden?“ „Natürlich.“ Er grinste wieder und sie ließ die Schultern hängen und gab auf. Gemeinsam schritten sie um die Ecke und erreichten den ‚Goldenen Singvogel’ mit zehn Minuten Höflichkeitsverspätung. Ein freundlicher Chinese mit einem viel zu westlichen Lächeln und strahlend weißen, prägnanten Schneidezähnen begrüßte sie und führte sie zu ihrem Tisch, als Kira den Namen seiner falschen SIN angab, unter der er bestellt hatte. Sie nahmen Platz in einer gemütlichen Nische, die Kira verteufelt hätte, wenn er vorgehabt hätte, heute Abend Ärger zu machen. So aber, genoss er den Ausblick, den er in der oberen Etage auf die ganzen Anzugträger hatte, von denen einige sicherlich nicht nur zum Zeitvertreib hier waren. Chinesen machten gern Geschäfte beim Essen. „Darf ich ihnen die Jacke abnehmen, wehrte Lady?“, fragte der Kellner. „Nein. Ich lege sie einfach über die Lehne“, sagte Sally in einem Ton, der keine Widerworte duldete, und einem Gesichtsausdruck, der ‚Lackaffe’ ausdrückte. Kira lachte leise und stützte das Gesicht in beide Hände. Der Kellner ging verwirrt, aber lächelnd und Sally setzte sich breitbeinig auf den sehr schön gestalteten Holzimitatstuhl mit der hohen Lehne. Asozial. Aber so liebenswert, das ich es einfach charmant finden muss, dachte Kira. Man brachte ihnen die Karte und der Solo krempelte die Ärmel seiner kirschroten Motorradlederjacke hoch. „Wollen die Herrschaften etwas trinken?“ „N’ Bier“, orderte Sally, ohne den freundlich lächelnden Mann anzusehen, der in Weste und Hemd ordentlich dastand. Er hatte einen dreiecksförmigen Keil seines Haars über der Stirn platinblond gefärbt, der Rest war kurz und schwarz. Kira erinnerte er in diesem Aufzug und mit dem scheuen Lächeln an ein Kappuzineräffchen, das er einmal in einem Tierbuch gesehen hatte, das ihm sein Vater geschenkt hatte, als er noch klein war. „Eine große Coke“, lächelte er ebenso scheu zurück und der Kellner nickte und notierte eifrig. Als Japaner wusste Kira, dass übertrieben selbstsicheres Lächeln unter Asiaten eine Provokation war. Sally hatte von so etwas keine Ahnung, aber sie lächelte auch nicht, sie behandelte den Kellner so wie alle Amerikaner Dienstleistende behandelten – wie Maschinen. Sie hatten zu funktionieren. Kein Wunder, dass es um den Arbeitsmarkt so schlecht bestellt ist, wenn die Mentalität dieses Landes vorschreibt am besten mit Maschinen zusammenzuarbeiten, dachte Kira. In Japan schätzt man an Menschen, dass sie im Stande sind mehr zu leisten, als die aufgedruckte Herzzahl angibt, sie sind über ihre Grenzen hinaus belastbar. „Empfiehl mir was“, kommandierte Sally, als der Kellner ging. „Nun, Reisnudeln sind nicht schlecht und Ente kann man eigentlich immer essen. Oder wie währe es mit gebackenem Hühnchen?“ „Hm.“ Sally blätterte in der Karte herum. „Steht das hier auch auf Englisch?!“ Kira sank ein bisschen im Stuhl zusammen, weil sie so laut brüllte. Ein paar chinesische Geschäftsleute guckten pikiert herüber, der japanische Schlips am Tisch nebenan trank unbeirrt seinen Pflaumenwein. Es könnte jemand blutend in den Laden stolpern, solange für ihn keine unmittelbare Lebensgefahr bestünde, würde er den Ereignissen um ihn herum zumindest rein äußerlich keine Beachtung schenken. Was hinter fremden Reiswänden oder am Tisch nebenan geschah, ging ihn nichts an. Kira war auch so erzogen worden. Es war eine urjapanische Einstellung, die er als Kind gehasst hatte. „Ah. Da.“ Sallys Kopf verschwand hinter der großen Plastikkarte. „Du bezahlst, oder?“, fragte sie in beiläufigem Tonfall. „Natürlich,“ antwortete Kira vorsichtig. „Bitte hab Nachsicht, du weißt, ich habe kein geregeltes Einkommen“, schob er schnell hinterher und grinste beschämt, als Sallys zu Schlitzen verengte Augen hinter dem Rand der Karte auftauchten. „Die haben hier auch echtes Fleisch. Ente und Huhn.“ Sie stieß einen Pfiff aus, als sie die Preise sah. Kira hatte sie sich auf seiner Karte ebenfalls angesehen und die Lippen aufeinandergepresst. „Das tust du mir nicht an, oder?“ Kurze Stille. Dann schlug Sally die Karte auf den Tisch und verschränkte die Arme. „Nein, tue ich nicht. Bestell du für mich.“ Kira seufzte. „Was möchtest du denn?“ „Irgendwas mit Huhn. Was ist da eigentlich ‚gebacken’ dran?“ Er zog eine Augenbraue hoch. „Nun, gebacken heißt meistens in Teig frittiert.“ „Und warum heißt es gebacken?“ patzte sie verständnislos zurück. „Sind Fritten dann hier auch ‚gebackene Kartoffelstreifen’?“ „Wenn du so willst ja. Aber die sind ja nicht in Teig und außerdem sind Kartoffeln kein sehr asiatisches Gericht. Süßkartoffeln schon eher. Aber wir essen hier ja auch kantonesisch, da gibt es Unterschiede.“ Er sah Sallys verständnislosen Blick. „Einmal das gebackene Hühnerfrittierdings und dazu? Was soll ich dazu essen?“ „Nudeln?“ „Fein, Reis schmeckt eh nach nix.“ Nun war Kira an der Reihe verständnislos dreinzuschauen. Er suchte auf der Karte. „Ach komm schon, was soll das denn? Sieh mal, die haben hier viele schöne Reissorten, das ist ein gutes Lokal!“ „Nudeln, bitte.“ Er seufzte. „Na gut, dann gebratene Nudeln.“ Der Kellner kam zurück und brachte die Getränke. Kira bestellte für Sally Hünchen in süß-saurer Soße, gebacken, mit gebratenen Nudeln dazu und für sich gebratene Reißnudeln mit Geflügelstreifen. Er mochte kein rotes Fleisch essen, auch wenn die Zeiten, aus denen so ein Brauch stammte auch in Japan längst vorbei waren, war er nicht scharf auf die chinesische Art der Zubereitung von Rindsinnereien. Ist ja eh kein echtes Rind, beruhigte er sich, während der Kellner lächelnd sein unechtes Chinesisch zur Kenntnis nahm und notierte. Es war nicht so, als würde er die Sprache schlecht sprechen, aber jeder Chinese merkte ihm sofort an, das es nicht seine Muttersprache war. Das das Lokal gut und traditionell war, erkannte man daran, dass der Kellner besser chinesisch sprach, als Kira. Er nahm einen tiefen Zug aus seinem Glas und Sally beobachtete ihn scharf, weil er es fast zur Hälfte leerte. „Du und deine komische Diabetes“, meckerte sie und trank einen Schluck Bier. „Du hast dir doch nicht irgendeine verkorkste Drüse einbauen lassen, oder?“ Kira zuckte kühl die Schultern. Er sagte dazu nichts. Wie konnte er ihr erklären, warum er so viel Zucker zu sich nahm? Die Naniten in seinem Körper hatten einen enorm hohen Energieverbrauch, den sie aus allerlei Zuckersorten deckten. Van Berge hatte das herausgefunden und Kira erklärt, das sein neues Verlangen nach Lakritz keine Folge von einem Braindanceschaden aus dem Labor war, sondern der Bedarf der Nanos. Wenn sie richtig zu arbeiten hatten, also Verletzungen heilten, wurde es schlimmer. Dann musste er enorm viele zusätzliche Nährstoffe und Unmengen Zucker zu sich nehmen, um bei Bewusstsein zu bleiben, denn die kleinen Bots verbrauchten gnadenlos alles, was in seinem Blutkreislauf zu finden war, um ihre Arbeit zu tun. Das konnte ihn ins Koma bringen und somit achtete er darauf, immer regelmäßig mehrmals am Tag zu essen und zwischendurch immer etwas Süßes im Mund zu haben. Kira nahm den Kopf aus den Händen, gab seine schmollende Position auf und winkte den Kellner herüber, als er den texanischen Geschäftsmann essen sah. „Sie bringen uns noch Stäbchen dazu, ja?“ „Ohne mich!“ protestierte Sally. Kira sah sie verständnislos an, während sie den Kellner wegscheuchte. „Stäbchen. Einmal. Messer. Gabel. Einmal. Basta.“ „Sally, ich glaube du...“ „WAS glaubst du? Ich esse nicht mit Stäbchen, zur Hölle noch mal! Ich wollte essen, nicht hungrig dasitzen, bis mir was in den Mund fällt!“ „Du bist wohl die einzigste Person in ganz Night City, die nicht mit Stäbchen isst!“, fauchte Kira leise, aber gekränkt zu ihr herüber. „Das kannst du nicht machen, das ist hier ein schöner und feiner Laden. Willst du mich in Verlegenheit bringen?“ Er sah ein bisschen angewidert zu dem Texaner rüber, der ein Menü für zwei Personen mit Messer und Gabel für sich allein vertilgte. Es hatte keine Ruhe, keine Würde und keinerlei Ästhetik. „Und ob ich das kann. Ich esse mit ner Gabel und basta.“ Kira ließ den Kopf auf die Hände fallen, die er in der Tischkante verkrallt hatte und schickte ein Gebet an den Gott, welcher sich für eine solche Situation auch immer Zuständig fühlen mochte und schwor sich heute Abend ein Räucherstäbchen in seinem nicht vorhandenen Hausaltar anzuzünden. „Ich geh für kleine Königstiger“, sagte er und stand auf. Er trank demonstrativ seinen Rest Cola aus und strich um Sallys Stuhl wie eine Katze um einen geknebelten Hund. „Bestellst du mir eine nach?“ flüsterte er ihr von hinten ins Ohr und ihre Nackenhaare stellten sich ganz leicht auf. Sie knurrte, wie der Hund, der sich gleich von der Kette losreißt, um der Katze das Genick zu brechen und Kira verschwand mit weiten Schritten in dem Gang hinten links am Ende der oberen Etage des Lokals. Zeit mit der Arbeit anzufangen, sagte er sich. Er tigerte zu den Toiletten herüber und checkte die anderen Türen. Er war sich sicher, dass der Raum, in dem sich Hung mit seinen Geschäftspartnern traf, im oberen Teil des Gebäudes lag. Hier oben saßen weniger Gäste, und diese waren wiederum wichtiger. Die Küche war direkt hinter dem Treppenaufgang nach unten und die Bar im Erdgeschoss dazu ließen im unteren Teil des Gebäudes eigentlich nur Lagerräume zu. Er fand die Toilette für die weiblichen Gäste an der linken Wand als erste, dann die für die männlichen Besucher und einen Raum, der anscheinend benutzt wurde, um Reinigungsmittel und –gerät zu lagern. Die Tür am Ende des Ganges sah wie der Jackpott aus, oder der Zonk, je nachdem. Kira lehnte sich mit dem Rücken an die Toilettentür und fiel geschmeidig hinein, so dass sie nicht quietschte. Er wusste, dass noch der Abstellraum dazwischen war, aber er hoffte auf das Belüftungssystem. Die letzte Kabine an der rechten Seite war perfekt und er drehte den Knauf, stellte sich, ohne auf den VidScreen in der Tür zu achten, der Landschaftsbilder zeigte, auf die Schüssel und hielt sein Ohr ganz nah an den kleinen, runden Lüftungsausgang. Er schloss die Augen und seine auditive Reise begann, vorbei an dem rhythmischen Geräusch der Belüftungsanlage, durch das leise Klirren von Küchengerät bis hin zu schweren Gesprächsfetzen. Er justierte etwas und filterte die störenden Nebengeräusche heraus, bis er die Tongs relativ klar und deutlich schnattern hörte. Sie schienen dabei zu essen, wie das Klirren und Schlürfen verriet. Typisch. „Die Mantis werden immer aufmüpfiger.“ „Ja, du hast recht, wenn du mich fragst, dann sollten wir uns nicht mit ihnen abgeben! Wir sollten sie vielmehr vernichten. Sonst werden uns ihre unkoordinierten Aktionen noch ein Dorn im Auge!“ „Warum lassen wir nicht die Wildschweine gegen die Mantis rennen?“ Eine dritte Stimme, etwas rauer, als die beiden vorherigen, die von jungen Leuten stammen mussten und ein wenig aufschneiderisch klangen. Diese war gefestigter, wenn auch nicht unbedingt älter. „Wir verkaufen den Wildschweinen Waffen und stacheln sie ein bisschen an, dann scheuchen wir die Mantis ein wenig, so dass sie die Stachelschweine nervös machen. Mit ihrem durch Blei gestärkten Ego werden sie wie die Hunde aufjaulen und die Manits in Stücke schießen. Was von ihnen übrig ist, knallen wir ab, oder es verteilt sich in alle Winde. Dann sind wir beide lästige Zecken los und können uns endlich unserem Bund mit dem Orkan zuwenden.“ Die Beiden anderen stimmten zu. Klirren von Porzellanschalen. ... „Gut. Dann kommen wir jetzt mal zu was anderem...“ Plötzlich bemerkte Kira das Quietschen der Tür mit dem anderen Ohr. Er öffnete die Augen und rutschte mit den Keramikstiefeln leise von der Plastikschüssel herunter. Die Kabine neben ihm wurde belegt. Rascheln, klimpern. Da bereitet sich jemand auf eine längere Sitzung vor, Zeitung und Zigarre. Kira fluchte innerlich und verließ leise schmollend die Kabine. Er wusch sich die Hände und ging langsam zurück zum Tisch. Da kann man nichts machen. Dabei wollten sie vielleicht gerade zum Punkt kommen, der mich auch interessiert hätte... Sally saß geduldig am Tisch, wo gerade das dampfende Essen aufgetragen wurde. Sie zog misstrauisch eine Augenbraue hoch, als Kira sich setzte. „Perfekt“, grinste er und drehte behände die schwarzen Plastikstäbchen. „So, so.“ Sally grabschte sich ihre Gabel und begann sich Nudeln auf den Teller zu schaufeln. Kira blieb stumm und setzte eine ich-freu-mich-doch-nur-übers-Essen-Miene auf. Ein neues Glas Cola stand auf dem Tisch. Während Sally weiterhin über den Unterschied zwischen gebacken und frittiert philosophierte, oder sich vielmehr aufregte, bemerkte Kira , wie jemand wichtiges die Bühne betrat. Während die Polizeiinstinkte seiner Freundin gerade durch das gute Essen abgelenkt wahren, klingelte in seinem Hinterkopf eine Alarmsirene, als der ältere, chinesisch aussehende Herr die Stufen hinaufstapfte. Die sauber polierten Herrenschuhe und der leicht knittrige, etwas verschwitzte, anthrazitfarbene Anzug, die dicke Hornbrille und der glänzende Seitenscheitel – der japanische Killer beobachtete unauffällig und mit wachsendem Missfallen, was sich über den Rand der ersten Etage erhob - Mitte fünfzig, mit strengen aber wachsamen, hinterlistigen, kleinen Augen, dunkle Haut, wie mit Walnussöl eingerieben, umringt von Sekretären in Anzügen, einer trug seinen Stoffmantel, der andere redete leise und schmeichelnd. Und der große schwarze Koffer, den der Herr mit festen, dicken, beringten, schwitzenden Fingern im Griff hatte, als wäre er eine Waffe, war das letzte Indiz dafür, dass dieser Mann aus dem alten Land, aus welcher chinesischen Provinz auch immer, hier war, um Geschäfte zu machen. Hinter der Fassade schärfte das Raubtier den Blick.. Wer mochte das wohl sein? Hoher Besuch, dunkle Haut, aber eher klein... Ein Chinese, aber aus welchem Teil dieses gigantischen Landes? Alte Schule, zweifelsohne. Was machte so ein mächtiger Mann in der Höhle eines rasenden Affen, wie Hung einer zu sein schien? Hatte der kleine, aufstrebende Tongboss seine Finger vielleicht doch in heißeren Töpfen? Das gefiel dem Killer gar nicht. Der Tross stapfte vorbei und Sally blieb in ihre Nudeln vertieft. Nur Sekunden und der Lord und seine Bücklinge verschwanden im Toilettengang und Kira wusste genau, wo sie hinwollten. Hinter der Maske des Mannes verengte der Dämon die Augen zu Schlitzen. Er lauerte auf seine Chance und aß ruhig weiter. Er hatte aufgegessen, da war sie schon satt und noch lange nicht fertig. Er nahm ihr den Rest lächelnd ab und freute sich über das gute, nährstoffreiche Essen. Hinter der Fassade war der Killerinstinkt hellwach und die Nanos sangen in seinem Blut. Nur Geduld, Freunde. Bald ist wieder Zeit den Dämon zu entfesseln. „Bestellst du mir ein Dessert? Ich geh noch mal für kleine Jungs.“ Er legte die leeren Schalen ineinander und stand auf. „Was möchtest du?“, fragte Sally und sah fassungslos auf das zweite 0,5l Glas Cola, dass er geleert hatte. „Hm... Kirscheis“, grinste er und tigerte mit festem Schritt in Richtung Toiletten. Er hatte freie Bahn, doch musste den Versuch zu lauschen bald aufgeben. Knurrend stieg er von der Schüssel herunter. Sie sprechen irgendeinen Scheißdialekt... Ich hasse es wenn sie das tun.! Er muss wirklich wichtig sein. Ich versteh kein Wort. Was hat Hung vor? Als er um die Ecke bog erstrahlte sein Lächeln und Sally zog eine Augenbraue hoch. „Keine Erregung öffentlichen Ärgernisses“, raunte sie und stocherte in ihrer gebackenen Banane herum. Kira strahlte sie an und freute sich quietschend über das Eis. Sie rollte mit den Augen. Warum müssen Japaner immer so übertrieben ihre Gefühle äußern?, dachte sie. Der Schlips in der Ecke sah sich kurz um. Kiras offenes Lachen hatte ihn wohl erschauern lassen. Und der Killer war tatsächlich wütend. Der Dämon knurrte. Kapitel 7: Police-Girl 2020 --------------------------- Als sie das Lokal verließen, dachte Kira schon darüber nach, wie er das Mädchen finden konnte. Sally grübelte über den Spruch in ihrem Glückskeks und hing in seinem Arm. "Na gut. In Ordnung. Du hast mich heute ausgeführt, wie ein Gentleman. Du hast bezahlt, warst zurückhaltend und freundlich, geleitest mich am Arm zum Wagen," sie drehte sich vor dem Parkhaus um und verschränkte die Arme, "aber du hast mir kein einziges Kompliment gemacht, diesen Abend. Versteh mich nicht falsch, ich bin froh mal als eine Frau behandelt zu werden, weißt du? Und nicht wie ein Cop. Die meisten Männer, die ich kenne, sind Cops. Und die behandeln mich eben wie einen von ihnen." Kira sah ihr in die Augen. "Du bist ein starkes Mädchen." Er lächelte. "Du beeindruckst mich. Ich wünschte ich wäre in der Lage, das richtige zu tun, jeden Tag, so wie du, aber das kann ich nicht, weil ich viel Schwächer bin als du. Es ist gut, dass es Menschen wie dich gibt. Deswegen," er fasste sie am Kinn und sein Lächeln war von einer Traurigkeit, die sie erschütterte, "habe ich die Welt noch nicht aufgegeben." "Das...," sie schluckte trocken. Sie war schlecht im Umgang mit Menschen und auf eine seltsame Art und Weise wusste sie, dass er gerade offener zu ihr gewesen war, als je zuvor. Sie bemerkte, dass sie ihn nicht kannte, und dass er ein gefährlicher Mann war, der wenig zu verlieren hatte. Trotzdem hatte er Gewissen. Sie strauchelte innerlich. Sie drückte die Fäuste im schmutzigen Regen zusammen, als sie versuchte eine Möglichkeit zu finden, die Situation zu entschärfen. Oder sich davonzustehlen, wie eine verängstigte Katze, die vor dem ehrlichen Lächelnt eines Tigers davonläuft. "Das ist nett von dir, Kira..." Ihr viel auf, dass sie keinen Nachnamen von ihm hatte, nicht einmal wusste, ob es sein echter Name war. "Aber das habe ich nicht gemeint!" Sie wandte sich zickig ab, um nicht mehr in seine braunen Augen sehen zu müssen. Seiner sanften Berührung zu entfliehen. "Ich meinte, im Büro kriege ich wenigstens gesagt, dass... dass ich nen geilen Arsch habe, okay?" Sie verschränkte die Arme und grinste dreckig. Toll gemacht, Salamander-Maria. Du bist eine traurige Vollidiotin, dachte sie. Er lehnte sich zurück und blinzelte. Dann lachte er leise und strahlte sie an. "An deinen sekundären Geschlechtsmerkmalen gibt es nichts auszusetzen. Glaub mir das, aber..." Er lachte wirklich erheitert. Sally stutzte und ballte die Fäuste. "Was gibt's da zu lachen?" "Nichts. Ich gebe keine Kommentare über deinen Hintern ab, weil ich nicht qualifiziert bin, aber... wenn du mich so fragst, dein Hintern ist sehr schön." Ihre Wut verflog, als sie ihn lachen sah, wie einen kleinen jungen, den stahlharten Killer in rot, der ihr ihre Würde gerettet hatte, als sie dieser Wichser damals auf der Straße vergewaltigen wollte... Sie wusste nicht, wie er es meinte, aber seine Freude über diese Kleinigkeit war wie ein Blatt im Wind. Sie wusste nicht, wie sie es geschafft hatte, ihn so ehrlich zum Lachen zu bringen, vielleicht mit ihrer Tollpatschigkeit, aber es brachte sie in Verlegenheit. Lächeln musste sie trotzdem. "Sicher, dass ich dich nicht zum Auto bringen soll?", fragte er plötzlich wieder beherrscht. "Kein Problem. Ich nehm die Bahn und ich bin ein großes Mädchen. Das ist nicht die Kampfzone." "Hm." Er nickte und ging zwei Schritte rückwärts. Dann hob er die Hand und deutete eine Verbeugung an, was sie nicht verstand, dann ging er davon. "Bis bald, Sally." Und er war wieder der Tiger, der durch die Straßen seines Reviers streifte. Sie erschauerte kurz vor seiner Eleganz und Unnahbarkeit, dann ging sie davon, zog die Jacke enger um sich im schmierigen Regen, der zu 80% aus Kondenswasser bestand. Der Atem der Stadt... bereit die Parasiten zu ersticken. Kapitel 8: Running Out Of Time ------------------------------ Kira fuhr nach Hause in seine kleine Ein-Zimmer-Wohnung. Das Appartement in einem billigen - nicht schmierigen - Teil der Moderate Zone war einsam und verlassen bis auf Manx. Er warf sich auf die Couch und verfasste eine E-mail an den Henchman, in der er ihm die Neuigkeiten über Hungs Liaison mit dem Alten Land mitteilte. Er ging die Orte und Möglichkeiten durch, die Hung hatte, um das Mädchen sicher zu verstecken und hoffte inständig, dass er die Sache persönlich genug nahm, um sie nicht einfach zu zerstückeln und dem Henchman zuzuschicken. Hoffentlich ließ er sich mehr Zeit, den alten Widersacher zu quälen und hoffentlich rettete das dem Mädchen das Leben. Es war keine Zeit zu verlieren. "Wo sollen wir noch suchen, Hel?" Er lehnte sich zurück und nagte lustlos an einem Schokoriegel. "Hm." Die schlanke Gestalt der Netrunnerin erschien im Sessel gegenüber - ihrem Sesse - und stützte das Kinn in die Hände. "Kira, du weißt, ich bin gut. Ich bin eine der besten in ganz Night City, vor allem, weil ich keine Angst verspüre..." Ist ja auch nur meine Kortex, die dieses mal draufgeht, dachte er sich und seufzte enerviert. "Aber es gibt etwas, dass mich menschlichen Konsolencowboys unterlegen macht." "Und was?" Kira horchte auf. "Hm." Sie schlug für einen Moment die Augen nieder. "Die Kreativität. Du hast einen verdammt guten Netrunner. Es wäre Verschwendung, sein Talent nicht auszunutzen." "Ach komm schon, Hel! Was wenn er sich in Schwierigkeiten bringt? Das würde ich mir nicht verzeihen, ich will den Jungen da nicht mit reinziehen." "Er bringt sich jeden Tag in Schwierigkeiten, Schwierigkeiten sind sein Geschäft. Er hat sich dazu entschieden und du wirst ihn nicht aufhalten." Kira grummelte unzufrieden und steckte sich eine Zigarette an. Er lehnte sich an die Balkontür und sein warmer Atem ließ die kalte Glasscheibe beschlagen. Night City lag matschig und diesig im Nebel der Abgase, beleuchtet von Werbetafeln und Neonlichtern. Hel legte den Kopf schief. "In Ordnung," raunte der Solo. "Gehen wir zu Ryu. Es ist schon spät und die Zeit läuft uns davon." Kapitel 9: Neon Dragon's Quest ------------------------------ „Passwort?“ „Schneegestöber.“ Die Tür ließ sich surrend aufdrücken und Kira stapfte in die Werkstadt. Um diese Uhrzeit war die Kampfzone kein besonders kuscheliger Ort, also hatte er sich in dunkle GibsonWear geschmissen. Mit besorgtem Blick kam er auf den Stuhl zu. „Was gibt’s?“, fragte Ryu, der gerade mit einer grotesken Vergrößerungsbrille an einem winzigen, elektronischen Teil schweißte, das auf dem großen Arbeitstisch aus Stahl lag. „Sollte man beim Schweißen nicht eine Schutzbrille tragen?“, grummelte Kira und hielt sich die Hand vor das Gesicht. „Tu ich doch,“ gab Ryu konzentriert zurück. „Ja, aber ich nicht.“ „Mecker nicht, deine Augen sind doch eh nicht echt.“ Der Killer knurrte und der Junge beendete seine Arbeit an dem was-auch-immer. „Du musst mir helfen.“ „Der Mantel is' fertig.“ „Das habe ich nicht gemeint,“ Kira erinnerte sich an Ryus Worte vor einigen Stunden, 'ich repariere den Mantel nicht vor morgen, schmink' dir das ab!', „aber trotzdem danke. Ich brauche die Hilfe des Technomancers.“ „Was echt?“ Ryu sprang auf und rieb sich die Hände. „Oh, wunderbar, setz' dich komm. N' Schluck Cola?“ Er zerrte seinen Freund euphorisch zum großen VidMonitor herüber und pflanzte ihn auf einen gelblichen Plastikstuhl neben dem Chefsessel. „Was kann der Technomancer für dich tun?“ Der Junge knackte mit den Fingern und grinste seinen einstigen Schutzengel an, der gar nicht glücklich darüber war, seinen Freund nun an den einzigen Ort zu schicken, an dem er ihm nicht helfen konnte. „Ich brauche Informationen über die Investitionen Marc Hungs. Alles, was neueren Datums ist, könnte wichtig sein. Vor drei Tagen ist meine Zielperson verschwunden. Hung ist der mutmaßliche Entführer. Ich will wissen, was der Bastard plant, und wo er das Mädchen versteckt halten könnte.“ „Ohoho, du jagst neuerdings wieder Triaden? Das find ich gut.“ Ryu chippte ein. Seine Augen wurden augenblicklich glasig, und er lehnte sich in den Sessel zurück. „Hast du bereits Daten?“ „Ja. Hier hast du den Chip.“ Er legte das kleine, pinkfarbene Plastikstäbchen in die unkoordiniert tastenden Hände des Jungen. „Die Firma dankt. Woll’n wir doch mal sehen, was da rauszubekommen ist.“ Der Solo verschränkte unruhig die Arme, während der NETrunner seinen Teil der Arbeit erledigte. Kira hasste es, nichts tun zu können. Doch das NET war nicht seine Welt, das wusste er. Physische Stärke bedeutete dort nichts – nur der Geist eines Menschen gegen die Rechnerleistung von Maschinen – in der unendlichen Vernetzung der Daten des Universums. *** Das grüne Gitternetz des NET trat vor Ryus geistiges Auge und füllte seine Synapsen mit neuen Informationen und diffusen Entsprechungen von surrealen Sinnesseindrücken. Sein Geist nahm die Gestalt eines Kubus an, der schimmernd Richtung und Form wechselte, ohne sich zu bewegen. Dennoch erweckte die geometrische Figur den Eindruck, eine humanoide Gestalt zu verbergen, die sich ab und an schüchtern und schemenhaft hinter den rotierenden Wellenlinien, aus denen das Icon bestand, zeigte. Er brauchte keine Form zu wählen, jedoch konnte der menschliche Geist viel leichter begreifen, was vor sich ging, wenn er auch hier im NET eine Gestalt hatte. Unerfahrene NETrunner wählten meist humanoide Formen, die ihnen ähnliche Sinneseindrücke vermittelten, wie die Realität in der sie aufgewachsen waren. Doch über diesen Punkt war Ryu längst hinaus, er war auf dem Weg, ein Profi zu werden. Er floss geschmeidig mit dem Strom der Informationen fort, klinkte sich mit einem blitzenden, überdimensionalen Haken an den vorbei rauschenden Fluss aus Einsen und Nullen, und wurde fortgerissen. Er verlor seine Form, ging in Daten und Strömen auf, ohne sich selbst zu verlieren, blieb ganz und zerteilte sich doch, um überall gleichzeitig zu sein. Menschliche Synapsen, der Geist, dem Strom der Daten ebenbürtig. Er ritt den schwingenden Drachen aus grünem Licht und ließ sich von ihm durch das Meer von Informationen tragen, dass die Welt miteinander verband. Das Gitternetz breitete sich immer weiter aus, man sagte es würde sich selbstständig vergrößern, seine wissensdurstigen Fühler überall hin ausstrecken, wo es Nahrung gab; bis zum Mond, zur Raumstation des Kristallpalastes und in die Weiten des Alls. Und er war in diesem Moment ein Teil davon. Informationsfetzen rauschten an ihm vorbei, Gespräche verhallten wie alte Liebesschwüre und geheime Botschaften streiften seine Gestalt, ohne dass ihre Sender oder Empfänger etwas davon ahnten. Ryu breitete die Arme aus wie Flügel und sammelte die Bruchstücke auf wie eine Arbeitsdrohne die Pollen. Er versteckte sie in seinen virtuellen Gleidmaßen um sie später daheim im Königsbau genauer unter die Lupe nehmen. Er ritt den Drachen nach Tokio, Istanbul, Rio de Janeiro, Exmoore... und sprang über Barcelona zurück nach Night City. Er verwischte seine Spuren mit dem kleinen, dunkelblauen Handfeger, der sein Trace-Programm darstellte. Fein säuberlich umprogrammiert, modifiziert und unnahbar. Er surfte auf den Wellen der Megakonzernstruktur zurück in seine Heimatstadt und klinkte den Haken aus der Schuppe des Drachens. Nun begann die eigentliche Suche nach Informationen in dem Durcheinander von schwirrenden und wirrenden Daten. Die grüne Silhouette der Datengitter, die Night Citys Konzerne und andere wichtige Zweigstellen im Netz – von Piratensendern bis zur Polizeistation – darstellten, bauten sich vor ihm auf. Er straffte den Rücken, ein flimmerndes Zucken durchfuhr den Kubus. Und da bin ich wieder, dachte er bei sich, ich tauche ein in die Stadt. Die Götter des Techniktempels kümmern sich nicht um uns. Tausende Seelen, Millionen von Körpern. Fast Food Generation in einer neuen Dimension. Er sprang behände vom Dach des Kingsley-Towers ab und landete, eingehakt in eine als Geschäfts-Email getarnte Cybersexbotschaft, direkt im Hinterhof des Polizeipräsidums. Um ihn herum wallten die Ströme von Informationen und Schicksalen, er jedoch, blieb unbemerkt. Direkt vor ihm flackerte eine leicht defekte World of Warcraft Werbetafel, die ihm mit dem Bild eines Orks, der einem Cybertaurenkrieger den Schädel spaltete, dazu überreden wollte, das MassiveMultiplayerOnlineRolePlayingGame zu abbonieren. Platinen spachteln; Kabel kauen. Fremde Welten ganz nah, niemals enden wollend – und könnend. Und dann verhungerst du vor der Denkmaschine. Er merkte nichtmal, dass sein Magen vor dem Monitor schon längst aufgegeben hatte, sich über fehlende Nahrung zu beschweren – Energie- und Proteindrinks mussten reichen. Wo sollte er nun mit der Suche beginnen? Akira hatte ihm einen Auftrag erteilt, und Ryu kümmerte es nicht wieso Mark Hung sterben sollte. Hauptsache er war derjenige, der die Informationen über dieses chinesischen Bastard gewinnbringend verkaufen konnte. Er überlegte noch eine Millisekunde, als ihm eine pinkfarbene Hacke auf den Kopf viel. Blitzschnell fuhr Ryu das Wabennetz aus violettem Goldflitter hoch, riss an den Datenmengen – warf die nicht vorhandenen Arme des Kubus in die Luft. Der Aufprall des DataCrash-Programms war heftig – jedoch merkte Ryu schnell, dass es kein ernst gemeinter Angriff war. Das violette Wabennetz zitterte laut spratzelnd, als es durch die Wucht des mafentafarbenen Kaninchenregens zerplatzte. Ryu schlitterte einige Meter über den Boden und knallte in die Holoprojektion der kämpfenden Fantasiekreaturen. Kaninchen hoppelten über den Boden, eins hinterließ zwei andere, als es verging. 'Gnadenlos ausgeschaltet,' zischte die pinkfarbene Hacke höhnisch und mit Blechtrommelcharme. 'Mensch – Maschine; das neue Traumpaar feiert Silberhochzeit! 2020! Das neue Jahr des Schweins! Wer weiß schon, wann die Scheidung kommt. Ich weiß jedenfalls, wer übrig bleibt!' Das Icon bäumte sich auf und die Kaninchen, die sich nun um das zehnfache vermehrt hatten, blinkten in immer kürzer werdenden Intervallen auf. Der Kubus, der von den kleinen 'Tieren' immer stärker bedrängt wurde, blähte sich auf, Ryu zog alle Register um den Bunny-Wurm abzuwehren, der bereits einen Großteil seines LaptopDecks infiziert hatte – gleich würde sein Gegner den echten Virus, den Dämon durchschicken und sein Gerät wäre Geschichte... Der Kubus platzte in tausend regenbogenfarbene Strahlen und die Hacke wurde fort geschleudert. Ein Feuerwerk aus Sinneseindrücken und Informationen pustete die Kaninchen wie trockenes Laub aus dem Hinterhof, gut, dass Ryu sich immer ein oder zwei Datengranaten aufhob, für den Notfall. Overload beim Gegner, die Kaninchen verschwanden, ohne sich weiter zu reproduzieren. Ha! 'Wir sind die Orientierungslose Generation,' begann der neongelbe Drache, der aus dem zerplatzten Kubus auferstanden war mit vor Energie schwingender Stimme, 'und mit den Alimenten kommen wir bestens zurecht.' Die Hacke erhob sich schwebend einige Meter über den holographischen Boden – dass Werbeplakat war nur noch ein Haufen Datenmüll, welcher sinnlos blinkend nach Wartung schrie. 'Aber für die Schulden... reicht es nicht,' beendete die Stimme hinter dem pinkfarbenen Icon nun deutlich menschlicher und weiblich den von Ryu fortgeführten Satz. Beide Icons verharrten für eine Milisekunde, die im NET, wo die modernsten und schnellsten Rechner die Regeln machten, eine Ewigkeit war. Dann lösten sie sich in Luft auf. Das Watch-Programm der Polizeibehörde, welches um diese Uhrzeit routinemäßig seinen Wachgang absolvierte, bemerkte nichts, außer dem Umstand, dass dieses uralte Werbeplakat nun endgültig den Geist aufgegeben hatte. Es nahm einen Eintrag in die Notepad-Datei seines Berichtordners vor und patrouillierte weiter... das winzige magentafarbene Kaninchen nahm es unbemerkt mit in die Datenbank auf. 'Astrein, sauber!' Ryu freute sich als er das Trace-Signal des Bunnys zurück verfolgte. 'Ich dank dir Pink!' 'Nichtsss z-ssu danken,' gab die NETrunnerin surrend zurück. 'Musssste nur ersssstmal s-sichergehen, dass du es b-bist.' 'Probleme mit der Sprachausgabe' 'Sss....-hit.' Ryu fuhr sein Diagnoseprogramm hoch – der kleine Dämon mit dem riesigen Tentakelarm tauchte vor ihm auf und gab ein 'Fick dich, Meister! Lass uns Doktor spiel'n.' von sich. 'Iiiihhhhhhhhh- d-du ssschaust z-sssu viel H-hentais. G-Geh weg mit-tt-t-t dem D-ding. I-iiich mach dassss sel-selber.' 'Wie du meinst.' Ryu kicherte. Pink war eine stadtbekannte NETrunnerin. In wenigen Milisekunden war ihr eigenes Diagnoseprogramm am Start und hatte ihre Database gecheckt. Danach fuhr die Cure, eine kleine grüne Kugel durch ihr Icon und korrigierte die Fehler im System, die Ryus Angriff mit der Datenbombe bei ihr angerichtet hatten. 'Die Losung,' begann sie mit intaktem Blechtrommelcharme, 'sollten wir bald wieder ändern.' Ryu nickte knapp, sein schimmerndes Schuppenkleid erweckte den Eindruck als habe er einen beständig pulsierenden Lavastrom unter der Haut. 'Und was suchst du genau? Muss ja wichtig sein, wenn du dich hinterm Night City Police Department herumtreibst.' 'Hmm... Ich teile, was ich hab, wenn ich es hab,' grinste der Neondrache. 'Vielleicht interessiert mich nicht, was du willst.' 'Gut, dann kratze ich Schimmel von den Wänden und überlass ihn dir.' 'Einverstanden, aber ja keine alten Infos, das suckt, damit kann ich nichts tun.' 'Kein Problem, ich geh auf Risiko, wenn du willst.' 'Deal. Und wehe du versuchst mein Bunny zu kopieren, ich hab monate dran gesessen den zu programmieren.' 'Overload durch Massenduplikation – nichts neues, aber tadellos umgesetzt. Fett. Neid.' Der Drache grinste und entblößte eine Reihe nadelspitzer Zähne. Das Diagnoseprogramm materialisierte sich zwischen den beiden Icons, die auf dem ehemaligen Wasserturm der Stadt verharrten. 'Fuck You, Meister! Lass uns Doktor spielen!' Es wackelte mit seinen grotesk großen Schwengel. Pink rollte die Augen, was man einer Hacke aus Plastik kaum ansah. Doch Ryu spürte dieses Kribbeln. Natürlich war das nur ein Scherz. Wozu brauchte man ein echtes Mädchen, wenn man die besten Cybersexprogramme haben konnte, die die Welt zu bieten hatte? Die beiden warteten eine Weile schweigend auf der virtuellen Sehenswürdigkeit, die in Wahrheit längst dem Fortschritt gewichen war. Dann empfing Ryu Input und teilte seine Informationen mit Pink. 'Hasta luego, die Firma dankt.' Der Drache verschwand, eingeklingt in einen geradewegs gestarteten Datentransfer nach Vancouver. Noch eine Runde drehen, ein paar Datensprünge machen, um die Spuren zu verwischen, die dieser kleine Einbruch hinterlassen haben könnte. Der Technomancer kehrte zurück in eine fremde Wirklichkeit. Die Informationen waren gut – heute Abend würde jemand sterben - einer von Tausenden in dieser Welt, an diesem Abend. Und so wie er Kira kannte, diesen Dämon eines Mannes, würde es jemand sein, der es verdient hatte. Was für eine nette Abwechslung. Chip out. Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)