Equinox von YourBucky ================================================================================ Kapitel 10: Kapitel X - Der Preis der Wahrheit ---------------------------------------------- Long time no see. Ja, aber jetzt kommt endlich ein neues Kapitel von Equinox, und zwar ein besonders langes. Damit sind wir schon fast bei der Hälfte angelangt. Und an einem meiner liebsten Schauplätze in Equinox. Also, Zeit für ein bisschen Heldenhaftigkeit, ein bisschen Horror und einen kleinen Zaubergarten. Viel Spaß damit! Es war, als ob die Zeit in diesem Augenblick ganz einfach angehalten hätte, als ob die Zeiger der Weltenuhr genau in jenem Moment zum endgültigen Stillstand gekommen wären, als Rayos Füße ihren Kontakt zu den schwarzen Planken des Schiffes verloren. Er wusste nichts mehr. Er dachte nicht mehr. Er fühlte nicht mehr. Wie aus einem inneren Instinkt heraus spannte er jeden Muskel in seinem Leib, drückte Noctans Körper so fest an sich, wie er nur irgendwie konnte, und hielt den Atem an, während er wie erstarrt in der Luft zu schweben schien. Dann prallte er auf. Und begriff noch in derselben Sekunde, da er das leicht feuchte und warme Holz unter seiner Schulter spürte, das immer noch stets von einem schwachen Puls durchzuckt wurde, dass er es nicht geschafft hatte. Es war zu spät, um sich noch retten zu können. Er hatte alles auf eine Karte gesetzt – und verloren. Wenn es doch wenigstens nur sein eigenes Leben gewesen wäre, das er dabei verspielt hatte… All die Kraft und konzentrierte Anspannung in seinem Körper machte einer tiefen, endgültigen Verzweiflung Platz. Eine seltsame Lähmung hatte von ihm Besitz ergriffen, die es ihm noch nicht einmal erlaubte, seine Augen zu öffnen und ein letztes Mal in die Gesichter seiner Freunde zu sehen. Aber vielleicht war es auch besser so? Wie sollte er den sicheren Vorwurf in ihren Blicken verkraften, wie sollte er mit der ohnehin schon so schweren Last dieser Schuld in das Totenreich hinübergleiten? Und Noctan… Schon spürte Rayo eine rhythmisch zuckende Wärme an seinem Fuß, das grausame, abstoßende Leben einer verfluchten Existenz, die es eigentlich gar nicht geben durfte. Doch obwohl er wusste, dass dies sein sicherer Tod sein würde – er hatte nicht mehr länger die Kraft, dagegen anzukämpfen. Was konnte er schon tun? Es war ja ohnehin sinnlos! Sie hatten sich den klaren Anweisungen der Hellseherin widersetzt, und so war alles, was geschah und geschehen würde ja im Grunde genommen ausnahmslos ihre eigene Schuld. Und das war vielleicht das Schlimmste an der ganzen traurigen Geschichte. „Es tut mir Leid…“ Rayo sprach seine letzten Worte mehr zu sich selbst als zu irgendjemand anderem – er dachte auch gar nicht mehr darüber nach, dass ihn möglicherweise noch jemand hören konnte –, und versuchte so den wütenden, rasenden Dämon in seinem Inneren zu beschwören, ihm doch wenigstens jetzt noch zu vergeben, aber sein verzweifeltes Flehen wurde nicht erhört. Der junge Adlige presste seine Augen noch ein klein wenig fester zusammen und schlang seine Arme um Noctans Körper. So würde es also mit ihnen zuende gehen… Dann fühlte er plötzlich eine Hand an seinem Arm, fühlte, wie er unsanft über die glitschigen Planken auf kaltes, glattes Pflaster gezogen wurde und dort endlich zum Liegen kam. Rayo hob ruckartig seinen Kopf – und blickte direkt in Shinyas Gesicht. Die Lippen des Katzenjungen zitterten und in seinen grünen Augen lag ein merkwürdiges Flackern, wie es der Blondschopf dort noch niemals zuvor gesehen hatte. „Nicht einmal springen kannst du, verdammter Idiot!“, stieß der Halbdämon leise grollend hervor. Dann zog er den jungen Adligen mit einem Ruck an sich und schloss ihn so fest in seine Arme, dass diesem fast die Luft wegblieb und er ein leises, ersticktes Keuchen von sich gab. „Mann, warum musst du immer so einen Mist machen, Rayo? Du bist so blöd, weißt du das eigentlich?!“ Rayo blickte nicht auf. Er fühlte sich unendlich erschöpft, und nun, da das Festland ihn wiederhatte und er sich endlich in Sicherheit wähnen konnte, begriff er selber nicht mehr, was da gerade geschehen war. Am wenigsten jedoch verstand er, was in ihm vorgegangen war… diese vollkommene, unerschütterliche Sicherheit, diese absolute Gewissheit, das Richtige zu tun und nichts anderes… woher nur waren diese seltsamen Gefühle gekommen? Und… wohin waren sie nun ebenso schnell wieder entschwunden? Der junge Adlige schüttelte seinen Kopf. Trotz allem, trotz der Gefahr und trotz seiner müden Verwirrung wusste er immer noch, dass er richtig gehandelt hatte. In diesen wenigen schicksalhaften Sekunden war ihm schlicht und ergreifend keine Wahl geblieben. Er hatte doch Noctan retten müssen! Er… „Noctan!“ Kaum war dieser letzte Gedanke durch sein dumpf umnebeltes Bewusstsein gekreist, durchfuhr ein eisig kalter Schrecken seinen Körper. Wie hatte er denn überhaupt an irgendetwas anderes denken können? Nachdem er sein Leben riskiert hatte, um den sicher Verlorengeglaubten zu retten… nach all dem, was in dieser Nacht geschehen war… Erschrocken wandte Rayo seinen Blick der in sich zusammengesunkenen Gestalt zu, die reglos neben ihm auf dem Bootssteg lag. Vorsichtig löste er sich aus Shinyas Umarmung, sammelte seinen Atem, um überhaupt noch ein Wort über die Lippen zu bringen, und sah dem Halbdämon ängstlich in die merkwürdig feucht schimmernden Augen. „Shinya… was… was ist mit Noctan, ich… ich konnte nicht…“ „Schon okay…“, murmelte der, schluckte einige Male und drehte den Weißhaarigen dann langsam auf den Rücken. „Nein!!“ Hoshi, die bis eben noch Misty tröstend im Arm gehalten hatte, schlug nun entsetzt die Hände vor ihrem Mund zusammen, und das kleine Mädchen stieß einen schrillen Schrei aus, der die ruhige Stille der Nacht brutal zerriss. Rayo aber konnte nicht schreien – ihm war, als ob in diesem einen Augenblick die Welt um ihn herum in tausend kleine Glassplitterchen zerspringen würde, die sich allesamt direkt in sein Herz bohrten. Noctan lag da, die Augen weit aufgerissen und beinahe gänzlich von einem trüben, milchig weißen Film überzogen. Einige Blutstropfen rannen ihm immer noch wie Tränen über die Wangen, doch langsam begannen auch sie zu versiegen. Die bläulich transparente Haut war überzogen mit einem Muster aus tiefroten Striemen. Die weißen Lippen des Jungen waren zu einem verzweifelten Lächeln erstarrt und bis auf ein gelegentliches schwaches Zucken war sein Körper vollkommen regungslos. Erst in diesem Augenblick begriff Rayo, dass sie ihren Freund für immer verloren hatten. „Noctan… Noctan!!“ Er stürzte zu ihm hin, packte ihn bei den Schultern und schüttelte den Weißhaarigen, dessen Leib wie eine leblose Puppe in seinem Griff zusammensackte. „Nein, nein, nein!!“ Die Stimme des jungen Adligen verlor sich in ein leises, bebendes Schluchzen. Er presste Noctans eisig kalten Körper fest an sich, immer noch in der schmerzenden Hoffnung, doch wenigstens eine flüchtige Bewegung seiner Finger, einen letzten Hauch lebendiger Wärme, einen tiefen, erlösenden Atemzug zu spüren. Doch das erwartete Lebenszeichen blieb aus und mit jeder Sekunde sah Rayo den letzten Silberstreifen an seinem pechschwarzen Horizont ein wenig mehr verblassen. „Noctan, nein! Noctan!!“ Der Blondschopf spürte kaum, wie sich zwei Hände fest um seine Oberarme schlossen. „Rayo! Verdammt noch mal, Rayo, wir müssen weiter!“ Shinyas Stimme drang kaum noch zu ihm durch. „Wir müssen weiter, nach Lluvia, hörst du? Vielleicht ist da ja wirklich noch jemand! Vielleicht kann der ihm auch helfen, Rayo! Er ist nicht tot, verstehst du das? Er ist nicht tot, und deshalb dürfen wir jetzt auch nich einfach aufgeben!!“ Langsam, sehr langsam, hob der junge Adlige den Kopf. In seine tiefblauen Augen war eine merkwürdige Leere getreten, die geradewegs aus seinem Inneren zu kommen schien. Eigentlich konnte er nicht an das glauben, was der Katzenjunge ihm da gerade weiszumachen versuchte. Er sah in dessen Gesicht, hörte in dessen Stimme, dass er mit seinen Worten am allermeisten sich selbst beruhigen wollte. Und trotzdem… so schwer es Rayo auch fallen mochte, er musste Shinya wenigstens dieses eine Mal vertrauen, wenn er nicht den Verstand verlieren wollte. Noctan konnte und durfte nicht so einfach umgekommen sein! So sinnlos… In diesem Moment zählte lediglich, dass der Weißhaarige noch am Leben war, so schwach das vergiftete Herz in seiner Brust auch schlagen mochte. Und wenn die Legenden von Lluvia sich wirklich erfüllen sollten, wenn in dieser sagenumwobenen Stadt tatsächlich noch jene Magier mit den reinsten Herzen lebten… dann blieb vielleicht doch noch eine letzte Chance. Anders konnte und durfte es einfach nicht sein! Sie mussten nicht lange suchen, um den Weg nach Lluvia zu finden – es gab nämlich nur genau eine einzige breite, gepflasterte Straße, die sie aus dem geisterhaften und vollkommen verlassenen Hafen hinausführte. Die kahlen, steinernen Docks lagen stumm in der wogenden Finsternis, nur hier und dort ragten weiße Banner wie Nadeln in Nachthimmel empor, tot und glanzlos in der vollkommenen Windstille. Shinya ließ die düstere Melancholie dieses tristen, gespenstischen Ortes ohne größeres Bedauern hinter sich zurück. Noch immer lag ein feiner, bläulicher Nebel in der Luft, bedeckte die blaugrünen Wiesen und die weiß glänzenden Steine unter seinen Füßen, die im Licht der Nacht wie kostbarer Marmor schimmerten. Wieder einmal war er es, der an vorderster Stelle ging, unmittelbar gefolgt von Hoshi. Rayo bildete das Schlusslicht, Noctans leblosen Körper auf den Armen, während Misty rastlos wie ein überzogenes Spielzeug ein ums andere Mal ihre Freunde umrundete, eilig vorauslief, nur um dann abrupt wieder stehen zu bleiben und ihren Blick suchend über die hügelige Graslandschaft schweifen zu lassen. Die jungen Estrella schwiegen – zumindest einige Minuten lang, bis Misty einmal mehr nach vorne stürmte und eine kleine Anhöhe erklomm. Dann schrie sie. „Oooh, ihr… ihr müsst kommen, ihr müsst alle, alle kommen!!“ Shinya hob alarmiert den Blick. Die Schrecknisse der zurückliegenden Stunden hatten seine Sinne geschärft und gleichermaßen an seinen Nerven gezehrt. Ohne auch nur eine einzige Sekunde lang zu zögern stürzte er zu dem blauhaarigen Mädchen hin. Und was er dort sah, überwältigte ihn derart, dass es ihm für einige Augenblicke buchstäblich die Sprache verschlug. In der Talsenke unter ihnen breitete sich eine Stadt von nahezu gigantischen Ausmaßen aus. Zuerst stach ihm unweigerlich ein riesenhafter Tempel aus funkelndem, schneeweißem Gestein ins Auge, der sich exakt in ihrer Mitte befand. Die unzähligen, wie Schneckenhäuschen in sich gedrehten Türme und ihre Kuppeln waren über und über mit Edelsteinen verziert, die in allen nur erdenklichen Blautönen leuchteten und blitzten. Aus der Spitze des großen Hauptturmes entsprang eine Fontäne türkisfarbenen Wassers, das über Hunderte von Treppchen und Bögen das Dach des prachtvollen Gebäudes hinabrann, die Fassade des gewaltigen Baus wie ein zarter Teppich kostbarsten Stoffes überzog und schließlich in ein rechteckiges Becken plätscherte, das den Tempel gänzlich umrundete. Von dort aus verliefen sternförmig angeordnet fünf Flüsschen, die sich bis zu der mächtigen gläsernen Stadtmauer zogen, in der sich die Lichter der Stadt wie tausend glitzernde Sterne widerspiegelten. Die Häuser erstrahlten allesamt in demselben makellosen Weiß wie auch der Tempel und sogar das Pflaster der Straßen. Entlang der Wege wurde die Nacht von blauen und weißen Flämmchen erhellt und vor dem großen Tempel schimmerte ein riesiger, kreisrunder Marktplatz in besonders hellem Licht. Sein ganzer Boden bestand aus einer einzigen Glasplatte, in der sich das blaue Leuchten der Flammen, des Wassers und der Edelsteine brach, was sie in einen unwirklichen Glanz tauchte. Shinya stockte der Atem. Noch nie in seinem Leben hatte er eine derartig schöne Stadt, wenn überhaupt vergleichbare Schönheit gesehen. All der kostbare Prunk von Silvanias Hauptstadt Gharith verblasste angesichts der unfassbaren traumhaften Pracht dieser magischen Szenerie. Nur widerwillig wandte er seinen Blick von dem nächtlichen Stillleben ab, das ihm das schlafende Lluvia bot, und sah stattdessen seine Freunde an. „Ich glaube… wir sind da.“ Hoshi nickte stumm. Ihre Augen ruhten immer noch wie gebannt auf der Stadt in der Talsenke. „Das ist… unglaublich schön…“, flüsterte sie. „Das kannst du laut sagen! Aber wir müssen trotzdem weiter, immerhin haben wir’s eilig, schon vergessen?“ Shinya holte tief Luft und begann wie in Trance den weißen Weg hinabzuschreiten. Für einen Moment schien es ihm vollkommen belanglos, aus welchen Gründen sie diesen märchenhaften Ort tatsächlich aufgesucht hatten – die magische Stadt übte einen regelrechten Sog auf ihn aus und er wünschte sich nichts mehr, als sie von Nahem zu betrachten und vollkommen in sie einzutauchen, nur um sie niemals wieder verlassen zu müssen. „Ich… ich dachte, Lluvia wäre verflucht und… man sagt, es sei eine Geisterstadt, oder nicht?“, drängte sich Rayo vorsichtig in sein berauschendes Hochgefühl, und in seiner Stimme lag ein derart kritischer Zweifel, dass sich Shinya aus irgendeinem Grund fast persönlich davon beleidigt fühlte. „So erzählt man sich, ja“, nickte Hoshi, ein stetes Lächeln auf ihren Lippen. „Aber vielleicht ist das ja auch nur eine Legende, um unerwünschte Besucher, Reisende und Abenteurer und so weiter von hier fernzuhalten?“ „Stadt! Stadt, Stadt, Stadt! Misty will endlich die Stadt sehen!“ Die Augen des Mädchens glühten vor Begeisterung und Vorfreude. Die Angst der zurückliegenden Stunden und das Grauen des Todesschiffes, all das schien längst in Vergessenheit geraten zu sein. Mit einem leisen Erschrecken musste Shinya feststellen, dass es ihm nicht anders ging. „Misty will zu dem Tempel und zum Wasser und überhaupt zu allem!“ Sie stieß ein übermütiges Jauchzen aus und hüpfte dann mit federnden, leichtfüßigen Schritten auf das gigantische gläserne Stadttor zu. Shinya riss überrascht seine grünen Augen auf, als sich dieses daraufhin wie von Geisterhand auftat, sich langsam und bedächtig herabsenkte, bis es schließlich genau in jenem Moment den Boden berührte, als Misty bei dem überdimensionalen, schimmernden Portal angelangt war und ohne mit der Wimper zu zucken einen ihrer kleinen Füße darauf setzen konnte. „Was… was geht hier eigentlich vor sich, Leute?“, raunte der Katzenjunge leise, doch keiner seiner Freunde schien imstande oder auch nur gewillt dazu, ihm diese Frage zu beantworten. Stattdessen traten sie allesamt langsam, nahezu andächtig auf das massive Glas des Tores. Shinya blickte nach unten und sah, dass sich das Wasser aus dem höchsten Turm des Tempel hier in einem tiefen Graben sammelte und durch den gläsernen Boden hindurch glitzerte und funkelte wie ein Meer türkisblauer Edelsteine. Der Halbdämon fühlte sich wie inmitten eines unbegreiflich schönen Traumes gefangen, als er schließlich das Tor und mit ihm die Mauern Lluvias durchschritt und auf eine lange, in weißes und blaues Licht getauchte Straße hinaustrat. Zu beiden Seiten rahmten weiße Häuschen den schnurgeraden Weg ein, hier und dort drang sogar noch weiches, gedämpftes Licht durch deren Vorhänge, obwohl es bereits sehr spät sein musste. Zwischen Fackeln, Gässchen und Kanälen war keine Menschenseele mehr zu sehen, nicht einmal auf dem Marktplatz, der in weiter Ferne zwischen den scheinbar endlosen Reihen der Behausungen hervorblitzte. „Was haltet ihr von der Idee, einfach mal dorthin zu gehen?“, schlug Shinya wenig originell vor und deutete mit einem Kopfnicken in Richtung des gläsernen Rundes, während er ausnahmsweise einmal als Letzter der Gruppe auf die Straße hinaustrat. Hoshi wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, stockte dann aber, als sich das Stadttor langsam und vollkommen lautlos wieder hinter ihnen schloss. Für den Bruchteil einer Sekunde stieg ein ungutes Gefühl in Shinya auf, rumorte in seiner Magengrube und trieb einen kalten Windstoß über seinen Körper, der sich jedoch augenblicklich wieder legte, als seine Augen über die friedlich schlafende Magierstadt glitten. „Ja… ja, du hast Recht“, nickte Hoshi. „Dort finden wir ganz bestimmt eine Unterkunft und vielleicht sogar einen Heiler… für Noctan…“ „Eine Unterkunft? Misty ist aber gaaaaar kein bisschen müde!“, rief das Mädchen und hüpfte demonstrativ einige Male ausgelassen auf und ab. „Das ist seltsam…“ Rayo wandte seinen Blick dem tiefblauen Nachthimmel zu. „Nachdem wir das Schiff verlassen hatten, war ich so… so unglaublich erschöpft. Und nun? Ich fühle nicht einmal mehr einen Hauch von Müdigkeit, und ihr?“ Shinya stellte mit einem Mal fest, dass der junge Adelige sogar in jedem Punkt Recht hatte – er fühlte sich so ausgeruht wie schon lange nicht mehr, obwohl er noch vor wenigen Minuten nur mit sehr viel Mühe und einigen mahnenden Blicken auf ihren sterbenden Freund der Verlockung hatte widerstehen können, sich schlicht und einfach am wundervoll gemütlich dreinblickenden Wegesrand niederzulassen, einzuschlafen und nie mehr wieder aufzustehen. Nun erschien ihm der Gedanke, sich hinzulegen und schlafen zu müssen nicht weniger absurd als an einem warmen, sonnigen Hochsommermittag. Trotzdem schritt er schon ganz automatisch immer weiter die schnurgerade Straße hinab, dem gläsernen Platz entgegen, und noch während er diesen sanft beleuchteten Weg durchquerte, schob sich plötzlich der helle, runde Ball der Morgensonne den Horizont hinauf und färbte den Himmel in ein zartes Blau. Der Sonnenaufgang vollzog sich in einem absurden Zeitraffertempo, beinahe schien es so, als ob mit jedem seiner Schritte ein bisschen mehr Licht zwischen den Wolken hervordringen und der Sonnenball noch ein kleines Stückchen höher klettern würde. Fast gleichzeitig erloschen auch die Fackeln der Stadt, und stattdessen wurden die weißen Häuser und die Straße zu ihren Füßen in ein sanftes, warmes Leuchten getaucht und die ganze Stadt erstrahlte. Shinya wandte sich um und sah, dass sich das Sonnenlicht in der gläsernen Stadtmauer in allen nur erdenklichen Farben widerspiegelte, wie ein transparenter Himmel, der über und über mit Regenbögen bedeckt war. Und dann erwachte das Leben in Lluvia. Zunächst wurde nur eine einzige Türe geöffnet, langsam, fast schon zögerlich. Eine alte Frau trat daraus hervor und blieb abrupt stehen, als sie Shinya und seine Freunde erblickte. Eine Mischung aus Misstrauen und Neugierde lag in ihren blassen Augen; dann jedoch lächelte sie, und schon flog der Eingang des Nachbarhauses auf und zwei Kinder, ein Junge und ein kleineres Mädchen, stürmten jauchzend in das weiche Licht der Morgensonne hinaus. Und ehe die Freunde sich versahen, wimmelte die Straße auch schon von Leben, von lachenden und schwatzenden Menschen aller Nationalitäten und Hautfarben, die meisten von ihnen in bunten Magier- oder Priestergewändern. Dem Katzendämon blieb vor Staunen der Mund offen stehen. „Wo um alles in der Welt sind wir hier eigentlich gelandet? Was… was ist das für eine Stadt?!“ Genau genommen verstand er nichts von all dem, was in den vergangenen Augenblicken geschehen war – ab jenem schicksalhaften, wundervollen Moment, als sie die glitzernde Stadt in der Talsenke unter sich erblickt hatten. Aber wie hätte er sich auch all die wundersamen, unbegreiflichen Vorgänge dieses märchenhaften Ortes erklären können? Eben noch waren sie in tiefster Nacht durch eine schlummernde, menschenleere Stadt geschritten und jetzt, nur wenige Minuten später, war ein sonniger Morgen angebrochen und sie fanden sich inmitten geschäftigen Treibens wieder, bunt, laut, aber doch ohne jene Spur von Hektik, wie sie eigentlich jeder großen Stadt eigen war. „Hm… vielleicht ist die Zeit auf diesem Geisterschiff ja irgendwie anders verlaufen und es war in Wirklichkeit schon längst wieder Morgen?“, meinte Hoshi mit einem Schulterzucken. Die Stimme des Mädchens klang nicht so, als ob sie von ihren eigenen Worten sonderlich viel halten würde, allerdings fiel Shinya in diesem Moment auch keine andere Lösung ein. Er hob ebenfalls kurz seine Schultern, dann wandte er seinen Blick wieder den weißen Türmen des Tempels zu, die alle Häuser und Menschenmassen strahlend hell überragten. „Ist ja jetzt auch irgendwie egal. Wir sollten lieber schleunigst mal einen Heiler finden, als uns über irgendwelche komischen Städte den Kopf zu zerbrechen. Autsch.“ „Einen Heiler? Ihr sucht einen Heiler?“ Shinya fuhr herum. Eine junge Frau war lautlos hinter sie getreten – was angesichts des allgegenwärtigen Lärmpegels allerdings auch keine große Kunst war – und lächelte sie mit wachen Augen an. Sie trug ihr langes, dunkelblondes Haar zu einem Zopf geflochten und war in einen kurzen, roten Umhang gehüllt. Der Katzenjunge blinzelte sie immer noch ein wenig oder eigentlich sogar reichlich überrascht an. Natürlich war er auf seinem Weg zum Tempel hin bereits von zahlreichen Menschen gestreift und angestoßen worden, aber erst in diesem Moment, da er die Stimme der Fremden hörte, wurde ihm wirklich und wahrhaftig bewusst, dass alles um ihn herum real war. „Ähm… ja, genau, wir brauchen einen Heiler für unseren Freund!“ Er deutete mit dem Kopf auf Noctan, und noch im selben Moment fiel ihm auf, was ihn eigentlich schon längst hätte stören oder zumindest wundern müssen. Wie war es möglich, dass sie mit dem scheinbar toten Jungen im Schlepptau noch niemandem nennenswert aufgefallen waren? „Ah, ich sehe schon.“ Die Fremde lächelte sanft, doch in diese warmherzige Milde trat eine Spur von Trauer, die nicht zu dem Leuchten in ihren blauen Augen passen wollte. „Da solltet ihr am Besten in den Attaiah-Tempel gehen. Die Priester dort können euch sicher helfen!“ „Attaiah? Ich nehme an, das ist jener große Tempel inmitten der Stadt, nicht wahr?“ Die blonde Frau nickte Rayo kurz zu, bevor sie sich wieder zum Gehen wandte. „Ich bezweifle, dass ihr ihn übersehen könnt. Und jetzt entschuldigt mich – ich muss mich beeilen, bevor Ranyas Laden kein Ty’elakraut mehr hat. Alle Welt scheint Ty’elakraut zu brauchen – ich verstehe einfach nicht, warum die alte Ranya nicht ein einziges Mal mehr davon beschaffen kann!“ „Oh, das Problem kenne ich!“, lachte Hoshi und verneigte sich leicht. „Dann danken wir Euch vielmals für Eure Hilfe!“ „Ach was, nichts zu danken!“ Die junge Frau nickte den Freunden noch ein letztes Mal lächelnd zu, bevor sie sich endgültig umdrehte und eilig in einer schmalen Gasse zwischen zwei besonders weißen Häusern mit bunten, glitzernden Vorgärten verschwand. „Na, was sagt ihr jetzt?“ Shinya blickte seine Freunde aufmunternd an. „Ich hab’s doch gleich gesagt, wir haben noch eine Chance, wenn wir erst mal hier sind!“ „Aber wir wissen noch nicht, ob diese Priester ihn wirklich heilen können, oder?“, entgegnete Rayo in deutlich leiserem Tonfall, den Blick auf die hellen Pflastersteine zu seinen Füßen gerichtet. Shinya musterte den jungen Adligen kurz und ärgerlich. Natürlich verstand selbst er, dass Noctans Zustand ihm sogar ganz besonders nahe ging (er verstand nur nicht, warum), aber das ständige Misstrauen, dieser Pessimismus und diese… ja, diese Feindseligkeit gegenüber diesem wunderschönen Ort begannen ihm langsam aber sicher gewaltig auf den Geist zu gehen. „Also, wenn diese Frau das sagt, dann glaubt Misty ihr auch!“, mischte sich das kleine Mädchen in dem eifrigsten Tonfall ein, den sie nur irgendwie zustande bringen konnte. „Mistys Großmutter hat nämlich immer gesagt, dass die Menschen hier Misty helfen können, genau, das hat sie immer gesagt! Und wisst ihr was? Wenn sie Misty helfen können, dann können sie doch ganz bestimmt auch Noctan helfen!“ Sie nickte bekräftigend. „Ja, und außerdem, vielleicht hat Mistys Großmutter ja immer ganz genau gewusst, dass es hier so schön ist und dass es hier soooo viele nette Menschen gibt, nicht so wie Hoshis blöde Lehrer und Dorfälteste und so. Sie wusste eine ganze Menge und sie hat auch immer Recht damit!“ Auf dem Gesicht der kleinen Blauhaarigen lag ein entschlossener Ausdruck, der von dem stolzen Funkeln in ihren großen blauen Augen noch unterstrichen wurde. Hoshi lachte und wuschelte dem Mädchen über die Haare. „Merkt ihr was? Von Misty können wir alle noch was lernen! Ich zumindest bin der Meinung, wir sollten auf sie hören und es wenigstens einmal versuchen.“ Sie nickte, und wieder einmal war Shinya zutiefst davon beeindruckt, wie schnell das Mädchen ihren ehrlichen, ansteckenden Optimismus zurückgewinnen konnte. „Ich meine, ich weiß ja auch nicht, was wir in diesem Tempel finden werden, aber… haben wir denn überhaupt etwas zu verlieren?“ Als Shinya endlich auf den Marktplatz trat, war er trotz allem, was er bislang schon von Lluvia gesehen hatte, immer noch voll und ganz überwältigt. Der gläserne Boden leuchtete sogar noch ungleich schöner und bunter als die Stadtmauer und auch die Häuser schienen hier noch ein bisschen weißer und freundlicher zu strahlen als in den Prachtstraßen, obwohl einige ihrer Fassaden von kunstvollen Fachwerkmustern geschmückt wurden. Unzählige Menschen in prächtigen Gewändern, wie sie die Magier auf sehr alten und wertvollen Gemälden trugen, tummelten sich fröhlich lachend und schwatzend zwischen den kleinen Geschäften, die sich eng aneinander drängten und jeden Passanten auf einen Besuch einluden. Da gab es Süßigkeitenläden mit goldgerahmten Schaufenstern, hinter deren Glasscheiben Bonbons, kandierte Früchte und andere Leckereien in allen nur erdenklichen Farben leuchteten wie bunte Edelsteine. Eine Tierhandlung, in der prächtige Vögel mit farbenfrohen Federkleidern durch ihre goldenen Käfige flatterten und vor deren Türe ein von Kindern umringtes schneeweißes Pony angebunden war. Zahllose Zaubergeschäfte mit geheimnisvoll silberglänzenden Pülverchen und funkelnden Kristallen in den Schaufenstern, hinter denen alte, in violette und rote und grüne Stoffe gehüllte Frauen mit ihren blitzenden Augen auf den Platz hinausblickten. Und inmitten dieses fröhlichen und fantastischen Treibens ragte der von türkisfarbenem, glitzerndem Wasser umringte und überströmte Tempel in den wolkenlos blauen Himmel empor. Die zahllosen in sich gedrehten weißen Türmchen funkelten mit den blauen Edelsteinen und dem Wasservorhang um die Wette, und dieser ganze Anblick war so unvorstellbar prächtig und schön, dass Shinya einmal mehr für einen ganz kurzen Augenblick vergaß, warum er diesen Ort eigentlich aufgesucht hatte. Einige Minuten lang stand er einfach nur wie gebannt in der lebhaften Menge und starrte auf diesen märchenhaften, wunderschönen Platz, auf die verzauberte kleine Welt, die sich da vor ihm ausbreitete. „Wir… wir wollten… wir wollten zu einem Heiler, nicht wahr?“ Rayo war der Erste, der das andächtige Schweigen der jungen Estrella brach. „Ja… natürlich… du hast Recht!“, nickte Hoshi rasch, immer noch ein vollkommen verzücktes Strahlen auf ihrem Gesicht, und setzte sich auf eine fast schon ehrfurchtsvolle Weise in Bewegung. Shinya folgte ihr vorsichtig und mit angehaltenem Atem. Beinahe fürchtete er, dass sich das Bild vor seinen Augen im nächsten Moment einfach auflösen würde wie ein unfassbar schöner Traum, so unwirklich erschien es ihm auch jetzt noch. Selbst als er den gläsernen, aber dennoch nicht rutschigen Boden unter seinen Füßen spürte, als ihn die geschäftig umhereilenden Magier dann und wann auch mal etwas rüder zur Seite drängten, mit ihm zusammenstießen und dann mit einer kurzen Entschuldigung weiterzogen, selbst da konnte er noch nicht oder eigentlich schon wieder nicht glauben, dass all diese Wunder um ihn herum auch tatsächlich wahr sein sollten. Über eine kleine elfenbeinfarbene Brücke überquerte er den See, der den Tempel glitzernd umrahmte. Von dort aus führte eine prachtvolle breite Treppe auf den weit offen stehenden Eingang des Tempels zu. Hinter diesem einladenden Portal lag ein kleiner Vorraum, dessen Boden und Decke weiß gekachelt waren. Die Wände waren mit türkisblauen, transparenten Seidentüchern verhängt. Als Shinya unschlüssig vor einem großen, aus reinem Silber gegossenen und mit dunkelblauen Edelsteinen besetzten Tor zum Stehen kam, hörte er plötzlich Schritte hinter sich. „Nun, meine jungen Freunde, ihr seid aber schon früh hier!“ Ein älterer Priester mit freundlichen, weichen Gesichtszügen, gehüllt in eine bodenlange weiße Kutte, war beinahe lautlos zu ihnen getreten – eine Kunst, die offenbar jeder Einwohner dieser Stadt zu beherrschen schien. Die goldenen Stickereien seines Gewandes glänzten im Licht der Morgensonne. „Na so was, euch habe ich hier ja noch nie gesehen!“ „Wir kommen von weit her!“ Shinya trat mit möglichst wichtiger Miene nach vorne. „Und wir brauchen dringend Hilfe für unseren Freund hier. Er ist… ähm… verflucht worden oder so, und wir fürchten, dass… dass er im Sterben liegt.“ Der weißhaarige Priester ging auf Rayo zu, beugte sich über Noctan und strich ihm behutsam die Haare aus der Stirn. Ein sorgenvoller Ausdruck trat in seine Augen und überschattete die gütige Wärme auf seinem Gesicht. „Was… was ist denn? Bitte, sagen sie nicht, dass sie ihm nicht helfen können!“ Rayos Stimme klang ängstlich und ein stetes leises Zittern schwang in den Worten des jungen Adligen mit. Dem Priester entging die Besorgnis des Blondschopfes keineswegs – er blickt rasch wieder auf und legte ein beruhigendes Lächeln auf seine Lippen. „Aber natürlich können wir das, mein Junge! Ich selber beherrsche die uralte Kunst der Seelenheilung, und gemeinsam mit den anderen Magiern werden wir ihn ganz sicher von seinem Fluch befreien können.“ Er nickte, nun schon viel zuversichtlicher als noch vor wenigen Augenblicken. „Es war sehr gut von euch, dass ihr so rasch hierher gekommen seid. Es ist noch nicht zu spät für ihn.“ „Oh… tatsächlich?“ Zum ersten Mal seit ihrer Ankunft konnte Shinya wenigstens einen Anflug von Hoffnung auf Rayos blassem Gesicht erkennen. Der Heiler gab ein freundliches, herzliches Lachen von sich. „Zweifelst du etwa an unserem Können, mein Junge?“ Ein warmer Ausdruck trat in seine Augen. „Du musst keine Angst haben. Die Priester hier zählen mit Verlaub zu den besten Heilern unseres Erdenrundes und sind auch ebenso weithin bekannt! Lasst ihn einfach hier bei uns, wir kümmern uns um ihn und wir werden ihm helfen, das verspreche ich dir. In einer Woche könnt ihr wieder kommen und alles wird gut sein.“ „Eine Woche?“ Shinya sah den Priester irritiert an, und aus irgendeinem Grund erschreckte ihn die Länge dieser Zeitspanne sogar noch weitaus mehr, als er überhaupt begreifen konnte. „Ich weiß nicht… das ist ein bisschen – lang.“ „Keine Sorge, ihm geschieht doch nichts! Wir helfen ihm, ganz sicher!“ Er streckte Rayo auffordernd die Arme entgegen. „Nur solltet ihr nicht zu lange zögern. Je früher wir mit dem Ritual beginnen, desto sicherer ist auch sein Gelingen.“ „Ich… bin mir immer noch nicht ganz sicher, ob…“ Rayo sah zu Boden. „Wird… wird es ihm auch sicher gut gehen? Ich meine, wird es ein schmerzhaftes Ritual sein? Was, wenn… wenn er doch stirbt… und wir sind nicht – nicht bei ihm… ich meine…“ „Ich verstehe deine Zweifel. Aber sei unbesorgt, er wird schlafen und von all den Geschehnissen nichts mitbekommen. In einer Woche werdet ihr ihn wiederhaben, als ob nichts geschehen wäre. Und falls es ihm wider Erwarten doch einmal schlechter gehen sollte, werden wir euch natürlich sofort darüber in Kenntnis setzen.“ Rayo seufzte ergeben. Dann legte er Noctans leblosen Körper vorsichtig in die Arme des Priesters. „Und… was machen wir solange?“, fragte Shinya und fühlte sich dabei immer noch ein wenig unwohl. „Wo sollen wir denn überhaupt bleiben?“ „Also, ihr wärt die ersten Reisenden, denen es in unserer Stadt der tausend Wunder auch nur für eine einzige Sekunde langweilig geworden wäre!“ Die Augen des Heilers leuchteten auf. „Folgt nur immer den Straßen entlang der dritten und vierten Wasserader, und ihr findet alles, was nötig ist, um euch etliche Tage, ja ebenso auch Wochen, Monate und möglicherweise sogar jahrelang zu zerstreuen – je nachdem, wie lange ihr nun eben hier zu bleiben gedenkt. Ganz gleich, ob ihr unsere weltberühmte Bibliothek besichtigen wollt, ob ihr die Stunden in Marys kleinem Zaubergarten verbringt oder mit einem Boot unser wunderschönes Lluvia von der mittleren Wasserader aus bewundert, glaubt mir, ihr werdet euch prächtig amüsieren und jegliche Sorgen vergessen! Und ehe ihr euch verseht, gibt es ein Wiedersehen mit eurem Freund. Nun, was meint ihr?“ „Au suuuuuper!“, kreischte Misty und klatschte begeistert in ihre kleinen Hände. „Misty will in den Zaubergarten, oh ja, Misty will unbedingt in den Zaubergarten und zu den Süßigkeiten und das Pony streicheln und überhaupt alles, alles hier machen! Ja, ja, ja!!“ Sie hüpfte vor lauter Vorfreude auf und ab, ein übermütiges, ungetrübtes Strahlen in den blauen Augen. „Bliebe nur noch die Frage – wo finden wir einen Gasthof, in dem wir solange die Nächte verbringen können?“ Hoshi schob sich mit einem ernüchternden Seufzer in die Welle von Begeisterung, die das kleine Mädchen verströmte. „Ich fürchte nämlich, wir haben nicht mehr allzu viel Geld.“ „…das ihr gewiss auch für andere Dinge ausgeben könntet, nicht wahr?“ Der Priester lachte und deutete mit dem Finger in eine der schmaleren Straßen hinein. „Sucht das Haus mit den farbigen Fenstern und dem Schild eines weißen Phönix über der Türe. Dort ist die Herberge von Yantra, einer guten, alten Freundin von mir. Wisst ihr, es verirren sich leider nicht oft Fremde in unsere Stadt, aber wenn, dann bereiten wir ihnen ein Leben, das sie so bald nicht mehr vergessen werden! Ich bin mir beinahe sicher, sie wird euch mit Freuden empfangen und aufnehmen. Ihr müsst natürlich auch nicht dafür bezahlen, keine Sorge. Die Insel schenkt uns alles, was wir zum Leben benötigen. Geld spielt hier in der Welt der Magie kaum eine Rolle.“ „Moment mal… heißt das, wir können kostenlos da wohnen? Echt jetzt!?“ Shinya sah den Geistlichen verdattert an. „Aber ja!“ Der Priester lächelte mild. „Doch nun geht, meine jungen Freunde. Lasst eure Sorgen eine Woche lang meine Sorgen sein und genießt das Leben in der Stadt, in der alle Träume wahr werden…“ Er nickte ihnen zum Abschied zu, und die vier übrig gebliebenen Estrella verließen ohne ein weiteres Wort der Widerrede langsam und schweigend den Tempel. Shinya hörte, wie sich die silberne Türe hinter ihnen öffnete und blickte zurück, doch bevor er auch nur einen einzigen, flüchtigen Blick auf das Innere des Tempels erhaschen konnte, war das glitzernde Portal auch schon wieder ins Schloss gefallen. „Misty will in den Zaubergarten!“, jauchzte das blauhaarige Mädchen in überschäumender Vorfreude und wischte die kurz aufflammende Nachdenklichkeit des Katzenjungen rasch wieder Beiseite. Die Kleine war offensichtlich schon im Begriff dazu, einfach loszurennen und die wundersame Stadt auf eigene Faust zu erkunden, aber Hoshi hielt sie mit einem tadelnden Räuspern zurück. „Zuallererst sollten wir unsere Unterkunft aufsuchen und abklären, ob das mit dem kostenlosen Übernachten auch wirklich in Ordnung geht“, sagte sie streng. „Danach können wir uns amüsieren.“ Plötzlich jedoch blitzen auch ihre dunklen Augen freudig auf, und ein beinahe kindliches Lächeln erhellte ihr Gesicht. „Oh Shinya, wir müssen unbedingt mit einem Boot fahren, ja, machen wir das? Ich… ich wollte schon immer einmal solch eine Bootsfahrt machen! Und die Stadt ist ja so wunderschön!“ Sie lachte vergnügt auf, dann packte sie den Katzenjungen überaus stürmisch bei der Hand und lief auf die Straße zu, in der ihre Herberge auf sie wartete. Die Woche verging tatsächlich wie im Fluge. Shinya hätte sogar ohne zu zögern geschworen, dass die Zeit, die sie in der Stadt der tausend Wunder verbrachten, wirklich um einiges schneller vorüberging als in der normalen Welt, außerhalb der gläsernen Stadtmauern. Das konnte aber ebenso gut daran liegen, dass Lluvia seinen Beinahmen wahrlich zu Recht trug. Der Katzenjunge kam aus dem Staunen eigentlich gar nicht mehr heraus. Einen ganzen Tag verbrachten die jungen Estrella allein in der gigantischen Bibliothek der Stadt, einem riesigen Gebäude mit Wänden aus blauem Glas, die über und über mit allen nur erdenklichen Arten von Büchern vollgestellt waren. Ob Märchen, ob Heldensage, philosophische Abhandlung oder nüchterne Geschichtsschreibung – kein literarischer Wunsch blieb unerfüllt. Und im dämmrigen blauen Licht, das durch die ebenfalls gläserne Kuppel in den fünfeckigen Raum fiel, schienen all die Legenden und Fantasiegestalten Wirklichkeit zu werden. Vom glitzernden Wasser aus war Lluvia jedoch beinahe noch prächtiger und schöner – sofern das überhaupt möglich war. Tag für Tag schien die Sonne, ja selbst die Nächte waren angenehm warm und luden zu ausgedehnten Spaziergängen zwischen den farbigen Fackeln und dem Licht der Sterne ein, das im gläsernen Boden und in jedem Kanal gefangen genommen und reflektiert wurde. In den zahllosen kleinen Cafés am Rande der Flüsschen flogen die Stunden nur so dahin, wenn man dem türkisblauen Wasser beim Plätschern zusah und gleichzeitig die köstlichen Getränke und die überaus verlockende Fülle an Kuchen und süßen Leckereien verspeiste. Erstaunlicherweise hatte der Priester auch hier Recht behalten – keiner der Bewohner verlangte für die reichliche Verpflegung Geld von den anscheinend wirklich äußerst seltenen Fremden, und so ließen die Freunde es sich so gut gehen, wie es nur irgendwie möglich war. Das wahrhaft Fantastischste in der magischen Stadt entdeckten sie jedoch erst am vierten Tag, und zwar ausgerechnet in einem Häuschen, das angesichts der sonstigen Pracht von außen fast schon unscheinbar wirkte. Über der niedrigen Türe war ein hölzernes Schild in die weiße Wand genagelt, auf dem mit verschnörkelten Buchstaben geschrieben stand: „Marys kleiner Zaubergarten.“ Wäre Misty nicht sofort begeistert kreischend und jauchzend darauf zugehüpft, hätten die Estrella das niedrige, zur rechten Seite hin leicht eingesunkene Haus wahrscheinlich nicht einmal betreten. So jedoch fanden sie überaus zielsicher ihren Weg in den kleinen, mit Holz verkleideten Raum, in dem eine mit violetten Schleiern verhängte Türe – zumindest laut einer neben ihr angebrachten Tafel – geradewegs in das Reich der Träume führen sollte. Mary selber, eine ältere dunkelhäutige Frau mit einem nahezu kindlich anmutenden Blitzen in den Augen, saß auf einem einfachen Holzstuhl in einer Ecke des Zimmerchens und lächelte jedem Eintretenden fröhlich entgegen. „Willkommen, junge Fremde!“ Sie sprach in einem leisen, geheimnisvollen Tonfall und ihre schwarzen Augen blitzten noch ein wenig mehr. „Geht nur weiter… und staunt!“ Shinya tauschte mit Hoshi einen vielsagenden, reichlich zweifelnden Blick. Was konnte sie hinter dieser unscheinbaren Türe denn schon so Großartiges erwarten? Doch was er dann sah, war tatsächlich nichts Anderes als ein zum Leben erwachter Kindheitstraum. Er stand vor einem riesigen Garten mit leuchtend blauem Gras, über dem ein sanfter, weißer Nebel lag. Dieser Garten war umgeben von einem dichten blaugrünen Tannenwald, dessen Baumwipfel von einem silbrigen Flimmern überzogen waren. Ein schmaler, von kreisrunden Steinen gerahmter Pfad führte zu einem See mit türkisblauem Wasser hin, auf dessen intensiv glühender Oberfläche sich das Licht des Mondes und der Sterne widerspiegelte und mit einer tanzenden Horde bläulich weißer Glühwürmchen um die Wette funkelte. Blumen in den schönsten und fantastischsten Formen wuchsen aus der Wiese empor und leuchteten allesamt in einem sanften, gedämpften Licht. Aber das war noch längst nicht alles: Der Zaubergarten war bevölkert, und zwar von einer Vielzahl von Waldtieren, von kleinen Häschen, Rehen, Eichhörnchen, die allesamt ein silbrig weißes Fell trugen. Und am See standen zwei Einhörner in friedlicher Eintracht nebeneinander und tranken von dem reinen, schimmernden Wasser. Natürlich war all diese unfassbare Schönheit wirklich nicht viel mehr als ein Traum, als eine Illusion. Aber sie war dabei so real, so vollkommen, dass dies keine Rolle mehr spielte. Das Fell der Einhörner fühlte sich so weich an wie das eines sehr jungen Fohlens, und sie ließen sich ebenso zutraulich streicheln und kraulen wie alle anderen Tiere dieser verzauberten Waldlichtung. Das Gras, die Bäume, das Wasser, die Blumen… alle Dinge konnte man berühren, ohne auch nur eine Sekunde lang an ihrer Echtheit zweifeln zu müssen. Und weil in dem Zaubergarten stets Nacht herrschte, hatte der Begriff Zeit in dieser märchenhaften Welt auch keinerlei Bedeutung mehr. Irgendetwas war da an diesem wundersamen Ort zwischen Wachen und Träumen, das Shinya so tief und so nachhaltig berührte, dass er bei seinem Anblick stets gleichzeitig hätte weinen und lachen können. Er konnte nicht genau begreifen, was das war und was es da eigentlich in ihm regte, er hatte bestenfalls noch eine vage Ahnung davon, dass es mit irgendwelchen sorgsam gehüteten Erinnerungen zusammenhing, die er niemals wieder mit solch einer Intensität zu spüren gehofft hatte. Es war die Erinnerung an einen vergessen geglaubten Zauber, der ihm auch stets genau in der Sekunde wieder abhanden kam, da er die Türe des magischen Gartens hinter sich schloss und hinaus in die nicht minder magische Prunkstadt trat. Wahrscheinlich war genau das der Grund dafür, dass Shinya von da an am liebsten jede freie Minute (also jede Minute, die er nicht entweder mit Essen oder Schlafen vergeudete) in Marys kleinem Zaubergarten verbringen wollte, was dann endgültig noch dazu führte, dass ihm jedes, aber auch wirklich jedes Zeitgefühl abhanden kam. Und dennoch brach irgendwann der Tag an, den der Katzenjunge noch vor genau einer Woche so sehnsüchtig erwartet hatte, so unendlich fern er ihm damals auch noch erschienen sein mochte. Als Shinya an diesem Morgen auf den gläsernen Marktplatz trat, konnten ihn auch der Anblick der fröhlichen Menschenmenge und die strahlende Pracht des Tempels nicht beruhigen. Sein Herz schlug ihm bis zum Hals – vor allem aber schämte er sich dafür, dass er Noctan während der vergangenen Woche tatsächlich oft genug komplett vergessen hatte, obwohl er dem Priester für diese Behauptung noch vor wenigen Tagen am liebsten den gütigen Kopf von den Schultern gerissen hätte. „Glaubt ihr wirklich, dass sie Noctan einfach so wieder heilen konnten?“ Hoshi sah ihre Freunde zweifelnd an. Selbst ihr schien es in diesen frühen Stunden des neugeborenen Tages nicht mehr zu gelingen, mit gewohnt optimistischer Zuversicht dem nahenden Moment der Wahrheit entgegenzublicken. „Ich weiß es echt nich…“ Shinya senkte den Kopf, weil er es einfach nicht mehr länger fertig brachte, auf die ungetrübt verlockende Schönheit seiner Umgebung zu blicken, die ihm mit einem Mal einfach nur noch vorwurfsvoll erschien. „Keine Ahnung, wie’s euch geht, aber irgendwie ging mir das alles ein bisschen zu… zu leicht.“ „Nun hört schon auf, so herumzuunken! Wart ihr es nicht eben noch, die wieder und wieder betont haben, dass wir doch nur hoffen und vertrauen müssten? Und wie sagte Hoshi doch gleich – haben wir eine Wahl? Ich zumindest wüsste nicht, was wir jetzt noch tun könnten!“ Rayo stieß einen ungehaltenen Seufzer aus und trat dann sichtlich nervös über die Brücke auf den weißen Tempel zu. Shinya folgte ihm deutlich langsamer, aber durchaus nicht weniger aufgeregt. Noch bevor er allerdings auch nur in den Vorraum treten konnte, öffnete sich auch schon die große Silberpforte – wieder nur ein Stück weit, sodass der Blick ins Innere des Tempels verwehrt blieb – und jener weiß gekleidete Priester trat heraus, mit dem sie schon vor einer Woche Bekanntschaft gemacht hatten. Sein Gesichtsausdruck war ernst. „Ich habe euch bereits erwartet, meine jungen Freunde. Und glaubt mir eines – das Ritual war schwieriger, sogar weitaus schwieriger, als wir es zunächst für möglich gehalten haben“, sagte er mit steinerner Miene. „Vielleicht lag es daran, dass er eine zu lange Zeit unter diesem dunklen Bann gestanden hat, vielleicht lag es an den überaus starken magischen Fähigkeiten des Jungen, die sich nach der Verfluchung gegen jegliche Heilung sträubten. Vielleicht…“ „Verdammt noch mal, nun sagt doch endlich, was mit ihm geschehen ist!“, entfuhr es Rayo, und sehr zu Shinyas Überraschung folgte auf den sicherlich ganz und gar unstandesgemäßen Ausbruch des jungen Adligen nicht einmal ein Hauch von Verlegenheit. Die tiefblauen Augen des Blondschopfes flackerten bedrohlich, als er dem Priester lange und direkt ins Gesicht sah. Dann jedoch, ganz plötzlich, stahl sich ein breites Lächeln auf die Lippen des Geistlichen. „Es ist uns gelungen. Aber, bei der Macht aller Götter, ich habe noch niemals in meinem ganzen Leben ein derart… anstrengendes… Kräfte zehrendes Extraktionsritual hinter mich gebracht, das könnt ihr mir glauben!“ „Heißt das… es geht ihm gut?“ Schlagartig wich die Wut in Rayos Blick einem mehr als nur erleichterten Leuchten. „Aber ja doch, es könnte ihm nicht besser gehen!“ Der Priester nickte bekräftigend und überaus zufrieden. „Ihr könnt es bestimmt gar nicht erwarten, ihn wiederzusehen, habe ich Recht? Noch einen Moment Geduld – ich werde ihn sofort holen gehen.“ Er wandte sich um und verschwand eilig in dem Raum hinter der silbernen Türe. „Ja!“ Shinya war es in diesem Augenblick vollkommen egal, was die umstehenden Personen von ihm denken mochten – er vollführte einen Luftsprung und schwenkte triumphierend die Faust zum Himmel, dann fiel er Hoshi mit einem übermütigen, befreiten Jauchzen um den Hals. Er drückte das Mädchen kurz und heftig an sich, bevor er sie bei den Händen packte und sich etliche Male mit ihr über das schimmernde Glas des Platzes drehte. „Wir haben es geschafft, Hoshi! Glaubst du das? Wir haben es wirklich geschafft!!“ Die Lichtmagierin lachte, und in diesem einen Lachen schwang all ihre Erleichterung, all ihre Freude mit. Sofort wurde es Shinya sogar noch ein bisschen wärmer ums Herz. „Oh ja!“ Die dunklen Augen des Mädchens strahlten noch ungleich heller als der Sonnenball, der weiß und ungetrübt am Himmel stand. „Wir haben es…“ Sie wurde von dem Geräusch der sich öffnenden Türe unterbrochen, verstummte schlagartig und blickte auf. Auch Shinya erstarrte in der Bewegung, als sein Herzschlag sich unangenehm beschleunigte und er plötzlich spürte, wie ein letzter, nagender Zweifel in ihm hochkroch. Dann aber trat der Heiler zum zweiten Mal an diesem Morgen zu ihnen ins Freie. Er hatte seine Hand auf den Rücken eines weißhaarigen Jungen gelegt, der seine Umgebung mit verwirrten und leicht hilflosen violetten Augen abtastete. „Noctan!!“ Obwohl Shinya in diesem Augenblick wohl nichts mehr wirklich hätte erschüttern können, war er doch wenigstens mehr als nur ein bisschen überrascht darüber, dass es ausgerechnet Rayo war, der wohl ohne langes Nachdenken nach vorne stürmte, in halsbrecherischem Tempo die Stufen des Gotteshauses erklomm und sich dem Weißhaarigen dann regelrecht um den Hals warf. „Oh Gott, Noctan, ich… ich bin ja so froh! Ich kann es noch gar nicht glauben… es… es tut mir so leid, dass ich… Noctan…“ Dann lief plötzlich ein nicht zu übersehender Ruck durch den Körper des jungen Adligen und er machte einen fast schon panischen Schritt zurück, während sich ein tiefes Rot über seine Wangen legte. „Ich… also… das… das tut mir leid!“, stammelte Rayo reichlich hilflos, während Shinya noch damit beschäftigt war zu überlegen, ob ihn Noctan nun am ehesten aufschlitzen, ihn in Stücke reißen, ihm den Hals umdrehen oder ihn doch eher langsam zu Tode foltern würde. Überraschenderweise tat er nichts von alldem – wenigstens vorläufig nicht. „Aber… nein…“ Noctans Stimme klang immer noch reichlich müde und erschöpft, so als ob er erst vor wenigen Sekunden aus einem unendlich langen Schlaf erwacht wäre, ohne jemals Ruhe gefunden zu haben. „Das ist doch… ich meine…“ Er stockte, atmete einmal tief durch und wandte sich dann mit gesenktem Blick seinen Freunden zu. „Ihr habt euch bestimmt große Sorgen gemacht und das tut mir leid. Wenn sich einer entschuldigen muss, dann bin ich es… das war so dumm von mir.“ Shinya riss seine Augen so weit auf, wie er nur irgendwie konnte, und starrte den Weißhaarigen an, als ob nicht ihr soeben wieder erwachter Mitstreiter, sondern vielmehr ein sechsbeiniger geflügelter Hund mit Löwenpranken und einem Pferdekopf auf dem Rücken zu ihnen gesprochen hätte. Was ihn allerdings vermutlich immer noch nicht einmal halb so sehr in Erstaunen versetzt hätte wie… wie… wie das hier. „Was… was habt ihr denn?“ Der Weißhaarige erwiderte die Blicke seiner Freunde nicht minder verwirrt, und in seiner Stimme schwang einen Moment lang ein unsicherer, fast schon ängstlicher Tonfall mit. Dann zuckte er mit den Schultern und lachte. „Irgendetwas stimmt da nicht!“, raunte Hoshi mit gedämpfter Stimme. „Recht hast du, da is was schief gelaufen, aber ganz gewaltig!“ Shinya nickte und schielte zu der Türe hin, hinter der Noctan und Misty genau in diesem Augenblick friedlich in ihren Betten lagen und schliefen. „Wenn ich es nich besser wüsste, würd ich ja sagen, die haben seinen Charakter mit dem Fluch gleich mitextrahiert, oder wie das heißt!“ Hoshi kicherte leise. „Vielleicht war seine überaus nette, freundliche und sympathische Art ja auch so eine Art Fluch, der ihm oder uns von irgendjemandem auferlegt worden war!“, grinste sie. „Wie könnt ihr so etwas sagen? Das ist nicht lustig!“ Rayo bemaß das Mädchen mit einem strafenden Blick. „Was ist, wenn ihm dieses Ritual nun… auf irgendeine Art und Weise geschadet hat?“ „Na, wenn der Schaden sich dadurch äußert, dass aus ihm ein besserer Mensch geworden ist, dann könnte es ruhig öfters solche Nebenwirkungen geben!“, entgegnete Hoshi und lachte leise. „Ach, ich weiß es ja auch nicht genau, aber ich persönlich sehe keinen Grund, warum wir uns bei diesen Priestern beschweren müssten – ihr vielleicht?“ „Also, im Prinzip hab ich gegen unseren neuen Noctan ja mal absolut nichts einzuwenden“, stimmte Shinya zu. „Wisst ihr, was ich vorschlage? Wir schaun uns die ganze Sache einfach noch für ne Weile an, und dann sehn wir ja, ob Noctan so bleibt, wie er jetzt is, ob er vielleicht sowieso wieder so wird… wie früher und ob er irgendwelche wirklichen Schäden zurückbehalten hat.“ „Ich weiß nicht…“ Rayo biss sich auf die Lippe. „Hey, nun komm schon!“ Hoshi stieß dem Blondschopf in die Seite und lächelte ihn aufmunternd an, doch irgendwo in ihren Augen lag auch eine flüchtige Spur von Ungeduld. „Jetzt schau ihn dir doch nur mal an. Noctan ist so bestimmt viel glücklicher als früher! Ich denke, Shinya hat schon Recht. Und wir sollten uns jetzt langsam wirklich mal schlafen legen, bevor noch irgendjemandem etwas auffällt.“ Shinya nickte und nach wenigen Augenblicken tat es auch Rayo ihm gleich, und so schlichen die drei jungen Estrella zurück zu ihren Betten. Die Decke und die Matratze empfingen den jungen Adligen mit einer wunderbar luftigen Wärme, doch er fühlte sich innerlich viel zu aufgewühlt, um überhaupt nur an Schlaf zu denken. Die Minuten verrannen, wurden zu endlos langen Stunden im Licht des Mondes, das wie ein silbrig blasser Regenbogen durch die bunten Fensterscheiben der Herberge fiel. Er drehte und wälzte sich von einer Seite auf die andere, deckte sich halb ab und dann wieder zu, rollte sich zusammen und streckte dann wieder alle Gliedmaßen weit von sich – aber schlafen konnte er nicht. Zumindest sehr, sehr lange nicht, denn als seine Freunde am nächsten Morgen erwachten und auch von draußen her wieder Geräusche zu ihrem geduckten Zimmer hinaufdrangen, da schreckte Rayo hoch und konnte im ersten Augenblick noch nicht begreifen, warum es urplötzlich hell war. Er hatte nicht geträumt und somit auch gar nicht bemerkt, überhaupt geschlafen zu haben. Außerdem war er ganz im Gegensatz zur vergangenen Nacht todmüde und konnte sich nur mit äußerster Mühe aus seinen plötzlich ganz unbeschreiblich gemütlichen Federn quälen. Als die fünf Estrella dann schließlich wieder vereint auf dem Marktplatz Lluvias standen, um über ihre weiteren Pläne zu beraten, da fühlte Rayo sich wie erschlagen und fünf Meilen von einem morschen alten Pferdekarren durch eine felsige Wüste gezerrt. Er gähnte unauffällig und versuchte dann nach Leibeskräften, den Worten seiner Freunde zu folgen, ohne dabei im Stehen wieder einzuschlafen. „Also, Leute, wir wollten hier doch irgendetwas herausfinden, über unsere Bestimmung, unser weiteres Vorgehen, ihr wisst schon!“, begann Shinya das Gespräch. „Ich würd ja vorschlagen, wir durchkämmen einfach mal gründlich und gezielt die Bibliothek nach… nach einfach allem, was irgendwie nützlich sein könnte.“ „Gute Idee!“, stimmte Hoshi zu, und das mit einem so ehrlichen und beinahe schon ansteckenden Enthusiasmus in der Stimme, wie ihn zu solch früher Stunde eben nur Hoshi zustandebringen konnte. „Ich könnte auch die verschiedenen Gelehrten und Priester und so weiter abklappern. Die können mir bestimmt die eine oder andere interessante Geschichte erzählen!“ „Ja, aber… ich weiß nicht…“ Noctan warf ein sichtlich enttäuschtes Blinzeln in die Runde. „Ihr habt die Stadt ja schon besichtigen können und… ich möchte wirklich nicht unverschämt klingen, aber ich… Lluvia ist doch so schön und ich hätte wirklich gerne noch ein bisschen mehr davon gesehen… irgendwann…“ „Also… das versteh ich sogar ziemlich gut, Noctan. Jetzt mach mal nich so ein Gesicht. Rayo kann dir doch von mir aus heute die Stadt zeigen, dann gehe ich mit Misty in die Bibliothek – immerhin schien sich ihre Großmutter ja mit dieser Stadt ein wenig auszukennen, ich denk mal, wir finden da schon irgendetwas. Und Hoshi, du hörst dich dann also ein bisschen um, das hilft uns sicher auch irgendwie weiter. Ihr zwei könnt ja dann ab morgen wieder mitmachen.“ „Super!“ Noctan nickte, und in seine violetten Augen trat ein Leuchten, wie Rayo es noch niemals zuvor dort gesehen hatte – von dem er sich allerdings auch gar nicht mehr so sicher war, ob er es in dieser Form wirklich dort hatte sehen wollen. Er fühlte sich ein bisschen unsicher und schwieg betreten, während Shinya, Hoshi und Misty sich entfernten und ihn gemeinsam mit dem Weißhaarigen auf dem belebten Spiegelplatz zurückließen. „Ich würde sagen… dass wir erst einmal frühstücken gehen sollten, meinst du nicht?“, schlug der junge Adlige schließlich vor, als er die reservierte Stille irgendwann einfach nicht mehr ertragen konnte. Wenigstens versprach ein duftend warmer Kaffee, seine Müdigkeit zumindest ein ganz klein wenig zu vertreiben, und ein besserer Vorschlag fiel ihm sowieso nicht ein. Hinzu kam, dass er sich mit wirklich jeder Sekunde, die er in Noctans Gegenwart verbrachte, unwohler fühlte. Er wusste nicht, wie er sich ihm gegenüber verhalten sollte. Schlimmer noch – ihm war, als ob er da tatsächlich einen vollkommen fremden Menschen an seiner Seite hätte. Von dem Noctan, den er bislang gekannt hatte, war außer den schönen Gesichtszügen, der Augen- und Haarfarbe und der blassen Haut nicht mehr sonderlich viel übrig geblieben. „Gerne! Ich bin wirklich sehr hungrig. Aber was machen wir danach?“ Noctan lächelte, als er Rayo ansah, und aus irgendeinem Grund versetzte es dem jungen Adligen einen Stich in seinem Herzen, als er den Weißhaarigen so glücklich sah. Aber warum? Er wusste es nicht. Er konnte beim besten Willen nicht mehr begreifen, was da gerade eben in ihm vorging. „Ich… ich wollte dir ohnehin etwas zeigen… es ist wirklich sehr schön dort, also, wenn du möchtest…“ Rayo hob ein wenig hilflos seine Schultern. Noctan antwortete mit einem sichtlich begeisterten Nicken, und aus irgendeinem grotesken Grund erinnerte er den Blondschopf in diesem Augenblick sogar überaus stark an Misty. Er schluckte tapfer das in ihm aufkeimende Entsetzen hinunter und wandte sich dann eilig wieder von Noctan ab. „Gut, dann lass uns jetzt am Besten gleich aufbrechen, oder?“ Rayo schlenderte zunächst noch vollkommen wahl- und ziellos in eine der kleinen Gassen hinein, schlug dann aber rasch den Weg zu einem der schönen kleinen Cafés am Wasser ein. Ein orangerot gekacheltes Haus lud dort zu unglaublich köstlichem Kuchen, zu Kaffee in allen nur erdenklichen Variationen und zu einem traumhaften Blick auf das morgendliche Glitzern des türkisblauen Kanals ein. Dennoch konnte er die idyllische Schönheit seiner Umgebung und die angenehme Süße seines Frühstücks nicht genießen, zu sehr nagte da eine leise, unbestimmte Wut tief in seinem Inneren. Warum war er denn jetzt nicht einfach glücklich? Warum konnte er sich nicht freuen, wo Noctan doch eigentlich ganz genau so war, wie Rayo ihn sich immer gewünscht hatte? Warum plagte ihn immerzu die bittere Gewissheit, dass irgendetwas an all dem falsch war? Den belanglosen Gesprächen mit Noctan, die sich größtenteils sowieso um Lluvias zahllose Wunder und die unfassbare Schönheit der Stadt drehten, lauschte er nur mit halber Aufmerksamkeit. Seine Lippen formten Worte, die nicht seinen Gedanken entsprangen, völlig automatisch, so als stünde er neben sich und starre hilflos auf seinen lächelnden, plaudernden Körper. Genauso fremd, so endlos weit entfernt erschien ihm das Lachen auf dem Gesicht seines weißhaarigen Freundes, das vollkommen überwältigte Strahlen in seinen Augen, als der junge Adlige ihn schließlich in den kleinen nächtlichen Zaubergarten führte, der ihm während ihres kurzen Aufenthaltes schon so sehr ans Herz gewachsen war. An diesem Morgen erschien ihm die türkisblaue Märchenwelt sogar noch ein wenig schöner, noch fantastischer als an den Tagen zuvor. Das Mondlicht ließ die Oberfläche des kleinen Sees sanft schimmern, zerfloss in silberweißen Schlieren und schien von den zahllosen Glühwürmchen in die warme Nacht hinausgetragen zu werden. Wie in Trance schritt Rayo die steinigen Stufen zu dem glühenden Wasser hinab. Er fühlte eine warme, flüchtige Berührung an seiner Hand, und als er aufblickte, traf ihn Noctans Lächeln, beinahe schüchtern, vorsichtig, aber vor allem unendlich glücklich. „Danke…“, flüsterte der junge Estrella. Noch einmal streiften seine Finger Rayos Handrücken, dann wandte er sich mit einem Lachen ab und lief zu einem der Einhörner hin, das friedlich zwischen einigen zartblättrigen, tiefblau glimmenden Blumen weidete. Das Fell des Tieres glich den silbrig schimmernden Haaren des Mondestrella, die ihm lang über die Schultern fielen. Rayo wandte seinen Blick ruckartig von der schwarz gekleideten Gestalt ab und starrte geradewegs in sein eigenes, bleiches Gesicht, das ihn mit traurigen Augen aus dem leuchtenden See heraus ansah, stumm, nahezu vorwurfsvoll. Die Sterne funkelten so hell, dass man sie trotz des flüssigen Mondlichtes, trotz der tanzenden Glühwürmchen im türkisblauen Wasserspiegel erkennen konnte. Ein leichter Wind streifte das Gras, zeichnete Wellen in das Licht, das von den blaugrünen Spitzen gefangen genommen wurde. Der junge Adlige spürte einen leichten Stoß in seinem Rücken, und als er aufblickte, sah er direkt in die weisen, sanftmütigen Augen der Einhornstute. Er strich dem Tier über die weichen Nüstern, dann wandte er sich wieder seinem Spiegelbild zu. „Ich weiß jetzt, was du gemeint hast. Es ist wirklich… wunderschön hier! Ich kann es noch gar nicht glauben…“ Noctan lachte, den Kopf an die lange, seidige Mähne des Einhorns geschmiegt, die Augen geschlossen. „Ja… beinahe zu schön, um wahr zu sein. Ich… kann es nicht so recht in Worte fassen, aber es ist doch fast… wie ein Traum, nicht?“ Noctan blickte kurz irritiert auf, dann nickte er und wandte sich wieder dem verschmusten Fabeltier zu. „Ich weiß, was du meinst!“ Rayo hegte sogar überaus starke Zweifel an Noctans Worten, aber er ging nicht weiter auf das Thema ein und lauschte stattdessen den beruhigenden Geräuschen der Nacht. Und da, ganz plötzlich, jagte ein Gedanke durch seinen Kopf, ein Gedanke, den er nicht verstand, der vollkommen sinnlos, ja fast schon absurd war, und der ihm doch gleichzeitig einen derart tiefen Stich versetzte, wie er es selten zuvor hatten spüren müssen. Wenn ich das alles doch nur Noctan zeigen könnte! Der junge Adlige riss seine tiefblauen Augen weit auf. Aber warum dachte er denn so etwas? Noctan war doch hier, bei ihm! Er selbst hatte den Weißhaarigen an diesen wundersamen Ort geführt, ganz so, wie er es sich in der vergangenen Woche so oft vorgestellt hatte… und jetzt? Es war doch alles perfekt! Was fehlte ihm denn eigentlich noch?! Die Wasseroberfläche wurde urplötzlich erschüttert, die silberne Glätte von einem Kreis hinfortgewischt, der sich langsam ausdehnte, begleitet von einer schwachen Welle, und dann verblasste. Und erst jetzt, als er das fahle Glitzern auf der bleichen Wange seines Spiegelbildes bemerkte, verstand Rayo auch, dass ihm eine einsame Träne über das Gesicht gelaufen war. Hastig wischte er sich über die Augen, stand mit einem einzigen Ruck auf und lief zu seinem Freund hinüber, fort, nur fort von dem vorwurfsvollen Blick seines eigenen Abbildes, das ihm aus dem intensiv türkisblauen Glühen des Teiches entgegenstarrte. In diesem Moment wurde Rayo schlagartig bewusst, dass er Angst davor hatte, aufzuwachen. Wenn eine einzige Sache in Lluvia vollkommen bedeutungslos war, dann die Zeit. Sie glitt hinfort wie im kristallenen Trichter einer gigantischen Sanduhr, ohne dass man ihr hätte nachtrauern müssen. Was galt schon Zeit an einem paradiesischen Ort, an dem nichts und niemand auf einen wartete, nichts als eine endlose Kette von Spaß, Erholung und Faszination, an einem Ort, dem Langeweile ebenso fremd war wie Stress oder Hektik? Erst, als wieder einmal der kreisrunde Vollmond hoch oben über den weißen Häusern und gläsernen Mauern der märchenhaften Stadt erstrahlte, begriffen die Freunde, dass seit ihrer Ankunft bereits ein ganzer Monat ins Land gezogen war. Sie realisierten es, sie registrierten es – und kümmerten sich dann nicht weiter darum. Stattdessen beschlossen sie wie so oft in jener langen Zeit, die so erschreckend schnell verstrichen war, in dieser hellen, sternenklaren Nacht durch die vollkommen verlassenen, menschenleeren Straßen zu wandeln. Und obwohl es ihnen doch ein wenig ungerecht erschienen war, hatten Rayo, Shinya und Hoshi Noctan darum gebeten, bei Misty in der Unterkunft zu bleiben, da sich das Mädchen angeblich nicht wohl fühlte. Selbstverständlich war dies nichts anderes als ein Vorwand gewesen, um sich einmal mehr allein und ungestört unterhalten zu können, und alle drei waren froh, dass Misty bei ihrem Plan so eifrig und überzeugend mitgespielt hatte. Allerdings schien bei Noctan auch keine sonderlich große Überredungskraft mehr vonnöten zu sein – natürlich half er gerne, wenn einer seiner Kameraden in Not war und natürlich verzichtete er dafür auf eine so kleine, unbedeutende Freude wie die eines nächtlichen Spaziergangs. Zum Glück für die drei jungen Estrella – denn immerhin sollte es bei ihrem Gespräch vor allem auch um Noctan selber gehen, und so war es nur allzu verständlich, dass er nicht unbedingt daran teilhaben sollte. „Was denkt ihr denn jetzt?“, fragte Hoshi schließlich, nachdem die kleine Gruppe eine ausreichend große Distanz zwischen sich und ihre Unterkunft gebracht hatte. „Ich hab das Gefühl, Noctan geht es doch eigentlich ziemlich gut.“ Shinya nickte, ohne zu zögern. „Das mein ich allerdings auch!“ Ein Grinsen stahl sich auf sein Gesicht. „Mann, stellt euch das echt mal vor, da bleibt der doch tatsächlich freiwillig bei Misty und passt auf sie auf! Wenn mir das irgendjemand vor dieser Reise gesagt hätte, ich schwöre, den hätt ich zu einem Heiler geschleppt, aber zu einem verdammt guten Heiler hätt ich den geschleppt!“ „Ich nicht!“, entgegnete Hoshi. „Bei dem wäre nämlich jeder Heiler zu spät gekommen!“ Sie kicherte. „Aber mal im Ernst – ich habe wirklich das Gefühl, dass diese Veränderung durch und durch zum Positiven war und dass wir so auf jeden Fall glücklicher mit ihm sind und er mit uns auch. Hey, ich meine, wir sind in den letzten Tagen… eine Gruppe geworden! Hättet ihr euch das noch vor… vor… etwa fünf Wochen vorstellen können? Keine ständigen Zankereien mehr, keine permanenten Meinungsverschiedenheiten, ich will dies, ich will aber das, hierhin, dorthin, nein, nein, nein…“ Sie verdrehte die Augen. „Furchtbar! Und jetzt? Wir halten doch richtig gut zusammen! Phil und die anderen können einpacken!“ „Recht hast du!“ Shinya grinste. „Aber wie immer – kommen wir jetzt zur weniger positiven Nachricht, die muss es ja anscheinend auch irgendwie immer geben. Egal. Seit wir hier sind, haben wir jedenfalls noch nicht wirklich was herausgefunden… jedenfalls nicht viel mehr, als wir sowieso schon wussten.“ Hoshi nickte. „Mistys Großmutter in Ehren, aber langsam befürchte ich, dass es in dieser Hinsicht echt überflüssig war, hierher zu kommen.“ „In dieser Hinsicht, ja, aber dafür…“ „Hey, Moment mal!“ Rayo, der den beiden Estrella die ganze Zeit über stumm gefolgt war, mischte sich nun in umso heftigerem Tonfall ein, der in der Stille der Nacht unangenehm laut widerhallte. „Was redet ihr da eigentlich? Also… ich bin mir wirklich ganz und gar nicht so sicher, ob Noctans Veränderung derart grandios ist, wie ihr es gerade darzustellen versucht!“ „Ja, aber… warum denn nicht?“ Zwischen Hoshis Augenbrauen erschien eine steile Falte. „Merkst du das eigentlich nicht? Er ist glücklich, so wie er jetzt ist, und wir sind auch glücklich, weil er so ist und weil er glücklich ist und überhaupt… sollten wir nicht lieber langsam mal auf ein wichtigeres Thema zu sprechen kommen?“ „Wichtiger?“, ächzte Rayo fassungslos. „Wichtiger als unser Freund?“ „Hey – jetzt hör aber echt mal auf, so nen Unsinn zu reden!“ Shinya bemühte sich ganz offensichtlich nicht im Geringsten, den genervten Tonfall in seiner Stimme zu verbergen. „Mann, Rayo, jetzt denk doch bitte mal nach! Bevor wir hierher gekommen sind, war Noctan ein verdammtes kaltschnäuziges Arschloch! Sparen wir uns bitte dieses… dieses scheinheilige Gerede und sein wir doch mal ehrlich – keiner von uns hat ihn leiden können, und das war ja wohl auch kein Wunder! Jetzt ist er unser Freund, das willst du doch wohl nicht wirklich ändern?“ Rayo stolperte einen Schritt zurück. „Shinya, was soll denn das?“ Er schüttelte so heftig seinen Kopf, dass ihm etliche Strähnen seines langen blonden Haares wirr vor das Gesicht fielen. „Nur… nur weil wir hier einige schöne, ruhige Wochen miteinander verlebt haben, kannst du doch nicht von Freundschaft sprechen – davon, dass wir jetzt eine Gruppe sind! Hier in dieser Stadt ist ja sowieso alles perfekt und vollkommen und glücklich!“ „Was willst du eigentlich, Rayo?“ Hoshi betrachtete den Jungen mit großen, fragenden Augen, ganz so, als ob ihm mit großen, leuchtend roten Buchstaben das Wort unzurechnungsfähig auf die Stirn geschrieben stünde. „Ich verstehe dich einfach nicht. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du willst überhaupt nicht glücklich sein…“ „Tu gefälligst nicht so, als ob ich derjenige wäre, mit dem etwas nicht stimmt! Ich sehe nur, dass außer mir scheinbar keiner von euch wahrhaben möchte, wie sehr Noctan sich verändert hat. Er ist doch gar nicht mehr er selbst, begreift ihr das eigentlich nicht?!“ „Aber sicher doch, Rayo, alles klar!“ Shinya rollte mit den Augen und verzog seine Lippen zu einem durch und durch mitleidigen Lächeln, das den jungen Adligen wie ein Schlag in die Magengrube traf. „Jetzt komm erst mal wieder runter, okay? Und zu dem anderen Problem: Ich würd ja sagen, wir bleiben noch ein bisschen hier und genießen die Stadt – hey, wer weiß, wann wir wieder mal hier herkommen? Und danach können wir immer noch sehn, wie’s weitergeht.“ „Shinya!“ Rayo fühlte plötzlich eine lähmende, hilflose Verzweiflung in sich aufsteigen. „Uns läuft die Zeit davon! Wir können nicht einfach… nicht einfach so hier bleiben und… das… das kann doch alles nicht dein Ernst sein!“ „Rayo, jetzt ist aber gut!“, fiel Hoshi dem Blondschopf mit empörter Miene ins Wort. Rayo wich unweigerlich noch einen weiteren Schritt zurück, die Augen weit aufgerissen und seinen entsetzten Blick starr auf das Gesicht seiner Freundin gerichtet, das ihm mit einem Mal so unendlich fremd erschien. „Ich weiß nicht, was… ich begreife einfach nicht, was mit euch los ist, aber… ich… ich glaube, ich möchte lieber eine Weile allein sein!“ Der junge Adlige fuhr mit einem heftigen Ruck herum und stürzte förmlich auf den gläsernen Marktplatz zu, weg, nur weg von diesem grauenhaften Alptraum, aus dem er einfach nicht mehr erwachen konnte. Sein hellblondes Haar schimmerte im Licht des Mondes beinahe silbern, als es wie ein seidiger Umhang von der Bewegung herumgeworfen wurde. Shinya und Hoshi sahen ihm für einige Augenblicke stumm und verwirrt nach. Dann zuckten sie bedauernd mit den Schultern, schüttelten den Kopf und gingen weiter. Die Nacht war viel zu schön, um sie sich durch irgendwelche Belanglosigkeiten verderben zu lassen. Rayo rannte und rannte, flog wie von einer ganzen Horde blutrünstiger Dämonen gehetzt über die blauen und weißen Lichtbahnen, die vom Rausch der Geschwindigkeit verzerrt auf die hellen Pflastersteine geworfen wurden. Er lief einfach immer weiter, den Blick starr zu Boden gerichtet, den Kopf erfüllt von rasender Leere, bis ihn irgendwann ein hässliches Stechen in der Seite zum Anhalten zwang. Keuchend stolperte er noch einige Schritte vorwärts, stützte sich dann an der schneefarbenen Mauer zu seiner Linken ab und schnappte mit geschlossenen Augen nach Luft. Sein Herz schlug so heftig, als ob es jeden Augenblick in tausend brennende Stücke zerspringen wollte, und seine Knie zitterten. Er fühlte sich zu Tode erschöpft und gleichzeitig so verwirrt, dass ihm schwindelig wurde und ihn nur noch der warme Stein in seinem Rücken davon abholt, auf der Stelle und inmitten des idyllischen kleinen Vorgartens zusammenzubrechen. Er verstand die Reaktion seiner Freunde einfach nicht! Sie konnten doch nicht allen Ernstes so tun, als ob nichts geschehen, als ob alles in bester Ordnung wäre? Hatten sie ihre Aufgabe denn wirklich schon vollkommen vergessen? Dachten sie gar nicht mehr an Equinox, den Tag der Entscheidung, der mit jeder märchenhaften Stunde, die sie in der Stadt der tausend Wunder verbrachten, unerbittlich näher und näher rückte? Nein – ganz offensichtlich taten sie das nicht. Ein leises, bitteres Lachen stahl sich über Rayos Lippen. Wie sollten sie auch? Sie dachten ja nicht einmal mehr an ihren Freund, nicht daran, was mit ihm geschehen war und was das erst noch für Konsequenzen haben mochte. Nur, weil es so vielleicht – mit Sicherheit einfacher war, konnten sie doch nicht einfach die Augen davor verschließen, dass irgendetwas mit Noctan ganz gewaltig nicht in Ordnung war! Irgendetwas hatte aus dem schönen, aber vollkommen kalten Jungen, den er damals kennen gelernt hatte, ein ewig lächelndes, begeisterungsfähiges, kindisches, optimistisches, willenloses Etwas gemacht… aber wie? Und zu welchem Preis? Doch noch ungleich schlimmer als das, was der junge Adlige aus dem Mund seiner Freunde hatte hören müssen, war der Tonfall gewesen, in dem sie Rayo diese Worte so ungerührt an den Kopf geworfen hatten. Der Blondschopf stieß einen tiefen Seufzer hervor und wandte seinen Blick dem Ende der schnurgeraden Straße, jener gläsernen, nunmehr von schillernden Blautönen durchzogenen Mauer zu. Irgendwo in diese Richtung mussten Shinya und Hoshi verschwunden sein… er konnte sie nicht mehr sehen. Der breite Weg lag menschenleer, von Fackeln und niedlichen Häuserfassaden eingerahmt, im silbrigen Netz des Mondlichts. Ein leichter Wind war aufgezogen, doch obwohl er vom Meer her kommen musste und leicht salzig schmeckte, brachte er keinerlei Kälte mit sich. Eine der weißen Flammen, nur wenige Meter von ihm entfernt, begann unruhig zu flackern. Dann wurde Rayo plötzlich gepackt und in eine schmale, schwarze Gasse zwischen zwei der weißen Häuschen gezerrt. Alles geschah so unglaublich schnell, dass Rayo nicht einmal mehr den Entschluss zur Gegenwehr fassen konnte. Zwei kräftige Arme drückten ihn fest gegen die raue Wand in seinem Rücken. Ganz instinktiv wollte er schreien, doch sofort legte sich eine Hand auf seinen Mund und raubte ihm nicht nur die Stimme, sondern auch den Atem. Im Halbschatten konnte der junge Adlige zwei dunkle, blitzende Augen erkennen, die zu einem bleichen, von schwarzen Haaren eingerahmten und im ersten Moment überwältigend schönen Gesicht gehörten. „Du weißt es, Kleiner, nicht wahr? Du weißt es…“, raunte der finstere Fremde ihm zu, doch die Töne glitten an Rayos geschockten Bewusstsein vorbei. Die tiefblauen Augen des Blondschopfs weiteten sich. Eigentlich war es vollkommen überflüssig, ihm den Mund zuzuhalten – die Angst schnürte ihm ohnehin die Kehle zu. Er fühlte sich wie erstarrt und er wusste, dass ihm in diesem dunklen Seitengässchen, ja, in dieser ganzen verlassenen Stadt niemand helfen würde. Der Fremde schien das offensichtlich auch zu wissen, denn er sah ihn einige Augenblicke lang ruhig und erwartungsvoll an. Dann plötzlich begann er zu kichern. „Ach Gott, nein, also – das ist mir ja jetzt doch ein wenig peinlich! Wie dumm, wie dumm von mir, du kannst ja gar nicht sprechen, wenn ich dir den Mund zuhalte! Also wirklich…“ Er grinste. „Du musst mich schon entschuldigen, aber ich bin wirklich nicht geübt in derartigen Dingen. Und – bitte – du darfst jetzt nicht schreien! Ich werde dich ganz gewiss nicht ermorden, also starr mich doch nicht so entsetzt an. Ich bin es nicht, vor dem du Angst haben musst!“ Er zog langsam seine Hand zurück, den Blick prüfend auf das Gesicht des jungen Adligen gerichtet, doch als der keine weiteren Anstalten zu einem – höchstwahrscheinlich ohnehin vergeblichen – Hilferuf machte, entspannte er sich und ließ den Arm mit einem zufriedenen Nicken sinken. „Jetzt wird es aber Zeit, dass ich mich erst einmal vorstelle. Gestatten – Morpheus mein Name, Traumhändler und Experte auf dem Gebiet der nächtlichen Fantasiereisen.“ „Traum… händler?“ Rayo fühlte sich ganz und gar nicht weniger verwirrt als noch vor wenigen Augenblicken. Was wollte denn nun auch noch dieser seltsame Fremde von ihm? Und wieso war er überhaupt hier, in Lluvia? Eigentlich konnte das nur bedeuten, dass auch er von dem schwarzen Geisterschiff gewusst hatte, das ihn ihm Licht des kreisrunden Silbermondes in die magische Stadt getragen hatte. Aber woher? „Verschwenden wir unsere kostbare Zeit nicht mit unwichtigen Fragen!“, raunte Morpheus ihm mit wichtiger Miene zu und schien mit diesem Satz auf einen Schlag auch die wirren Gedanken zu unterbinden, die wie ein panischer Mückenschwarm in Rayos Kopf herumschwirrten. „Ich bin zu dir gekommen, weil ich weiß, dass auch du es spüren kannst.“ „Spüren…? Ja… aber… was denn?“ Der Schwarzhaarige blickte Rayo auf seine Frage hin tief in die Augen, und für einen Moment meinte der blonde Junge zu sehen, dass die Umgebung um ihn herum verblasste, dass sich pechfarbene Nebelschwaden über das strahlende Weiß der Hauswände legten und ein ekelhaft warmer Wind den lichten Glanz der Straßen hinfortwischte, sie mit einem zähen Brei aus Dreck und stinkender Asche bedeckte. Er zuckte zusammen und noch in der nächsten Sekunde war die Illusion verschwunden. „Das war keine Illusion“, sagte Morpheus ernst und leise, und Rayo war sich nicht ganz sicher, ob der seltsame Fremde tatsächlich seine Gedanken lesen konnte oder ob er einfach nur eine entsprechende Bemerkung hatte fallen lassen, ohne es zu bemerken. Ihm gefiel weder die eine noch die andere Möglichkeit. „Es war genauso wenig eine Illusion wie die unvorstellbare Schönheit, die dich umgibt. Es ist vielmehr… ein Traum. Ein wundervoller, niemals enden wollender Traum, und mehr als das, denn jetzt, wo wir hier stehen, ist er ebenso real wie du und ich. Zumindest so lange, wie…“ Er brach ab. „Nein – ich kann es dir nicht erklären. Du musst es mit eigenen Augen sehen und dann… für dich selber begreifen. Ich kann es dir nur zeigen. Also folge mir!“ „Ja, aber…“ Rayo fühlte sich wie benommen, und obwohl Morpheus’ Worte jene beunruhigenden Gefühle bestätigten, die ihn seit Noctans Heilung so unbarmherzig verfolgt und heimgesucht hatten, brach diese Erkenntnis doch nun viel zu plötzlich über ihn herein, als dass er sie wirklich hätte verstehen und durchschauen können. „Zögere nicht! Uns bleibt nur die Nacht, jetzt schlafen sie! Solange es dunkel ist, sind wir in Sicherheit.“ Morpheus trat aus der Seitengasse, warf einen kurzen, prüfenden Blick und auch reichlich gehetzt wirkenden Blick nach rechts und links (soviel also zum Thema in Sicherheit !), und schritt dann langsam, mit leisen, vorsichtigen Schritten den Weg zum gläsernen Marktplatz hinab. Rayo blieb mit großen Augen und einem wirren Chaos in seinem Kopf allein in den Schatten der Gasse zurück. Woher wusste er überhaupt, dass der Fremde ihn nicht einfach nur belogen hatte? Konnte er dieser seltsamen schwarzen Gestalt denn wirklich trauen? Schon der bloße Gedanke widerstrebte ihm – hatte er doch in seinem jungen Leben schon allzu oft gelernt, dass Vertrauen eine unglaublich gefährliche Gabe war, die man besser unauffällig für sich behielt. Im nächsten Moment begriff der Blondschopf jedoch, welch unsinnigen Überlegungen er da eigentlich folgte. Hätte dieser Morpheus wirklich vorgehabt, ihm irgendetwas anzutun, dann musste er der größte Idiot sein, den Rayo jemals getroffen hatte. Ließ ein finsterer, heimtückischer Mörder denn wirklich die perfekte Gelegenheit verstreichen, sein hilfloses Opfer in einer dunklen, schmalen Gasse in vollkommen menschenleerer Umgebung zu töten? Nein, wenn der Traumhändler ihn wirklich hätte umbringen wollen, dann hätte er es schon längst getan, da war sich der junge Adlige vollkommen sicher. Oder zumindest beinahe vollkommen. Und ganz nebenbei fiel ihm in dieser düsteren nächtlichen Stunde auch nichts ein, das er noch zu verlieren hatte. Rayo löste sich aus dem Netz bläulicher Schatten und schloss eilig zu dem schönen Schwarzhaarigen auf. „Wohin gehen wir denn eigentlich?“, fragte er vorsichtig und blickte hinauf in Morpheus’ blasses, unbewegtes Gesicht. Der hob langsam seine Hand und deutete auf das große, schneeweiße Tempelgebäude, dessen zarter Wasservorhang im Mondlicht beinahe noch schöner, noch traumhafter glitzerte als bei Tage. „In das Herz Lluvias!“, raunte er, und beinahe schien es Rayo, als ob sich ein kaum merklicher Schatten über die Stimme des Traumhändlers gelegt hätte. Er beschleunigte seinen Schritt ein wenig. „Dort ruht das Geheimnis dieser Stadt.“ „Das Geheimnis?“ Rayos stete Verwirrung wich einer mehr und mehr in ihm aufflammenden Neugierde, die er nun kaum noch bezwingen konnte. Sie verdrängte sogar beinahe das tief in ihm lodernde bleischwere Gefühl, das ihm aus voller Kehle zurief, er solle umkehren, laufen, fliehen, zurück in das gemütliche kleine Hotel mit den Fenstern aus farbigem Glas, zurück zu seinen Freunden… zurück zu Noctan, der in dieser wundervollen Stadt doch endlich sein Lachen wiedergefunden hatte. Noctan… Der Gedanke an den Weißhaarigen fegte mit einem einzigen Schwerthieb jeglichen Zweifel beiseite, der sich noch irgendwo tief in Rayos Bewusstsein versteckt und verkrochen hatte, und mit einem Mal war sich der junge Adlige vollkommen sicher, dass er das Richtige tat. Es gab jetzt kein Zurück mehr – was auch immer ihn in diesem märchenhaften Tempel erwartete, er musste und er würde es herausfinden. Er durfte Noctan nicht im Stich lassen! Morpheus trat vor die gewaltige Pforte, deren elfenbeinfarbene Einladung mit den letzten Strahlen der Sonne verstummt war, und die nun in den nächtlichen Stunden fest verschlossen den Zutritt zum Tempelgebäude verwehrte. „Dort sollen wir also hinein? Das dürfte sich als reichlich schwierig gestalten, oder?“ Nun, da sein Misstrauen gewichen oder zumindest verdrängt worden war, fühlte Rayo leise Zweifel in seiner Brust aufsteigen. Langsam begann er sich zu fragen, ob Morpheus’ Plan nicht möglicherweise doch weitaus weniger durchdacht und erfolgversprechend war, als er zunächst ganz automatisch angenommen hatte. Wie bitte wollten sie denn zu zweit, die sie ja noch dazu beide alles andere als muskulöse und kraftstrotzende Erscheinungen waren, dieses massive, schwere und schon allein im Größenverhältnis vollkommen überdimensionale Tor bewegen? Die Vorstellung war doch lächerlich! Morpheus bemaß den jungen Adligen mit einem verzeihenden Blick. Auf seinem Gesicht lag ein Lächeln, das keinerlei Skepsis zu kennen schien – nicht einmal Auge in Auge mit dem übermächtigsten, unbezwingbarsten Feind, den man aus knapp einem Meter dickem, tonnenschwerem Gestein nur irgendwie erschaffen konnte. „Warum diese finstere Miene, junger Feuerkrieger? Glaub mir, es gibt eine ganze Menge andere Dinge, über die du dir noch Sorgen machen musst und wirst… dies lass bitte ganz meinen Kummer sein. Ich werde versuchen, auf die bestehende Traumebene zu gelangen. Du machst dich jetzt bereit.“ „Ja, aber… bereit? Bereit wofür?“ „Frag nicht! Du wirst es noch früh genug merken.“ Morpheus schloss seine grauen Augen und atmete tief durch. „Was jetzt kommt, wird alles andere als einfach. Ich kann nicht behaupten, dass ich für harte Arbeit sonderlich viel übrig hätte, aber… ohne eine kleine Anstrengung kommen wir hier wohl nicht weiter…“ Der Traumhändler hob seine Arme und streckte die Hände nach vorne, sodass seine Daumen und Zeigefinger ein Dreieck bildeten. Etliche Sekunden lang verharrte er reglos in dieser doch recht merkwürdigen Position, dann geriet sachte Bewegung in sein langes schwarzes Haar, als ob der warme Nachtwind sich nunmehr allein auf das Zentrum des gläsernen Platzes, auf den gigantischen weißen Tempel konzentrieren würde. Langsam schlug Morpheus seine Augen wieder auf, die nunmehr jedoch zwei pechschwarzen, bodenlosen Teichen glichen, glänzend, aber vollkommen lichtlos. Der Wind nahm zu, und gleichermaßen hielt Rayo seinen Atem an. Ein grauschwarzes Leuchten umfing Morpheus’ Hände, sickerte dann in die bewegte Nachluft hinaus und legte sich in düster glimmenden Fetzen auf das weiße, über und über mit meerfarbenen Edelsteinen besetzte Tor. Unerbittlich fraß sich der Nebel in die schimmernde Pracht hinein, schlug seine konturlosen Zähne in die blendende Kostbarkeit und ließ nichts als ein pechschwarzes, klaffendes Loch zurück. „Los, lauf !“, schrie der Traumhändler, seine feinen Gesichtszüge wie unter kaum zu ertragender Anstrengung verzerrt. Und Rayo lief. Von einer plötzlichen, brennend heißen Energie erfüllt, stürzte er sich ohne zu Überlegen in die unheimliche Dunkelheit und vergaß schlagartig die leise, melancholische Trauer, die beim Anblick des sterbenden Tores von ihm Besitz ergriffen hatte. Der kurze Blick auf Morpheus’ Gesicht hatte ihn mit der alles andere als beruhigenden Gewissheit erfüllt, dass er nicht mehr lange Zeit hatte, jagte einen Adrenalinstoß durch seinen Körper und ließ ihn durch die dunkle Vorhalle rennen, wie er noch nie zuvor in seinem Leben gerannt war. Der junge Adlige passierte in halsbrecherischem Tempo die dreckig grauen Wände, die pockenartig mit Löchern und Schmutzflecken übersäht waren, stürzte vorbei an den letzten Resten der ehemals so prächtigen Vorhänge, die nunmehr wie faulige Fleischfetzen von der Decke herabhingen, geradewegs auf jenen zweiten, noch ungleich düstereren Schlund zu, der noch vor wenigen Stunden so hartnäckig von der silbernen Pforte versperrt gewesen war. Rayo konnte nicht erkennen, was ihn hinter dieser Wand vollkommener Schwärze erwartete – vielleicht reichte Morpheus’ Bannspruch nicht so weit in die verfallene Pracht des riesenhaften Gebäudes hinein – aber eigentlich war es ihm auch vollkommen egal, bedeutungslos, denn er hatte den Punkt, von dem an es kein Zurück mehr gab, schon längst überschritten. Das weitaus größere Problem war, das Schattenportal erst einmal zu erreichen. Viel zu langsam erschien ihm sein verzweifelter Lauf, viel zu weit die Distanz, viel zu kurz die Zeit, die ihm noch blieb. Dennoch zögerte er nicht, rannte unbeirrt weiter, flog förmlich über den von grauweißer Asche bedeckten Boden hinweg, und als er das schwarze Loch dann endlich erreicht hatte, spannte er ein letztes Mal jeden einzelnen Muskel in seinem Körper an und warf sich blind nach vorne. Was folgte war nicht Leere, nicht bloße körperlose, alles verschlingende Finsternis, wie er noch in den rasenden Sekundenbruchteilen vor seinem verzweifelten Sprung befürchtete hatte – es folgte ein Aufprall, so hart und kalt, dass ihm einige Momente lang schwarz vor den Augen wurde. Rayo rang nach Luft, unfähig, seinen Blick von der glatten, eisfarben schimmernden Fläche zu nehmen, die ihn gerade eben so unsanft in Empfang genommen hatte. War das Glas? Der junge Adlige meinte, ein intensiv blaues Leuchten und Blitzen aus irgendeiner Ecke des Raumes wahrzunehmen, doch das stete Schwindelgefühl, das schon bei dem Gedanken an eine Bewegung eine Welle von Übelkeit ihn ihm aufsteigen ließ, erlaubte ihm erst nach einigen betäubten Minuten, sich schwankend und unsicher aufzurappeln und nun endlich seine geheimnisvolle Umgebung betrachten zu können. Was er sah, ließ ihn beinahe augenblicklich wieder zusammenbrechen. Eiskalte, klamme Finger legten sich um den Hals des Blondschopfes und ließen die Luft in seinen Lungen zu einem stacheligen Block gefrieren, der ihn innerlich zu zerfetzen drohte. Er wollte schreien, doch nur ein leises, ersticktes Keuchen kam über seine Lippen. Viel zu grauenhaft und lähmend wie ein qualvoll tötendes Gift, war der Anblick des gigantischen Saales, der sich vor ihm erstreckte. Der gesamte Raum war verspiegelt, alles, die Wände, der Boden, selbst die kuppelförmig zulaufende Decke, und aus jedem dieser Spiegel starrte ihm sein eigenes totenbleiches Antlitz aus schreckensgeweiteten Augen entgegen. Die einzige Lichtquelle im Inneren des Tempels war eine dickflüssige Substanz, die in dem intensivsten, reinsten Türkis strahlte und funkelte, das Rayo jemals in seinem ganzen Leben gesehen hatte. Wie das gefrorene Licht Hunderter, ja Tausender feinster Brillanten ließ sie die Spiegel wie von innerem Licht erfüllt glühen, verwischte die Konturen der heiligen Halle, kroch in unzähligen verästelten Bahnen die glatten Wände hinauf, geradewegs zur Spitze des hohen Turmes hin. Mit einem Mal wurde Rayo bewusst, dass dies die Quelle des Springbrunnens sein musste, der die ganze Stadt mit diesem wunderschönen, glitzernden Wasser versorgte… Wasser? Ihn erschauderte es bei dem Gedanken, wie oft sie den einen oder anderen Schluck aus den reinen Fluten genossen hatten. Aber sie hatten doch nicht wissen können, dass… Der junge Adlige schüttelte heftig den Kopf und riss seinen Blick mühevoll von der glitzernden Flüssigkeit los, um auch den Rest des Tempels langsam mit seinen erstarrten Augen zu erkunden. Im hinteren Teil des Spiegelsaales ragte ein gigantischer kreisrunder Altar aus dem Boden hervor, dessen grauweißer Stein über und über mit verschlungenen Schriftzeichen und magischen Symbolen verziert war – und mit riesengroßen, lupenreinen Edelsteinen, deren tiefes Blau leuchtete und flackerte, als ob sie selbst von uraltem Leben erfüllt wären. Den magischen Hauch dieser atemberaubenden Pracht nahm der Blondschopf jedoch nur ganz am Rande wahr, wie von einem neblig weißen Schleier bedeckt. All seine Aufmerksamkeit wurde mit grausamer Brutalität auf die verspiegelte Wand hinter dem Altar gerissen, an der sich der Ursprung der türkisfarbenen Materie und somit auch der unbeschreiblichen Schönheit und der tausend Wunder Lluvias befand. Es waren drei leblose Gestalten, die mit schweren eisernen Ringen um Hand- und Fußgelenke an die Wand gekettet waren. Die beiden äußeren Körper waren bleich und fahl wie die zweier Toter – was höchstwahrscheinlich daran lag, dass sie ihren letzten Atemzug schon vor mehreren Jahren ausgehaucht haben mussten. Ihre Leiber glichen Skeletten, bis auf die Knochen abgemagert, die Haut grau und vertrocknet. Vor allem der linke der drei Körper, der wohl einst einmal einer jungen Frau gehört hatte, glich nunmehr einer halb verwesten Leiche, die irgendein krankes Hirn in diesem abstoßenden Zustand konserviert hatte. Die türkisblau funkelnden Ströme der beiden offensichtlich längst Verstorbenen waren versiegt und hatten als letzte Quelle die mittlere der drei gespenstischen Gestalten zurückgelassen. Es war ein junger Mann mit langem, schneeweißem Haar, das ihm nunmehr lose über die Schultern hinabfiel und in wirren Strähnen sein vollkommen ausdrucksloses und nicht weniger bleiches Gesicht einrahmte. Plötztlich schien es Rayo, als ob sich der ganze riesenhafte Raum in ein gläsernes Karussell verwandeln würde, um ihn auf eine halsbrecherische, schwindelerregende Fahrt einzuladen. Er stieß ein zittriges Keuchen aus und taumelte wie von einem tödlichen Schwerthieb getroffen rückwärts, bis er die kalte, glatte Wand in seinem Rücken spürte. „Noctan!“ Wie von einem Schwall eisigen Wassers übergossen erwachte der junge Adlige aus der Ohnmacht seines Entsetzens und stürzte nach vorne, auf das viel zu weit entfernte Ende des glühenden Raumes zu. Die Glätte des Bodens raubte seinen Füßen jeglichen Halt und er verlor das Gleichgewicht, schlug wiederum hart auf dem eisfarbenen Glas auf, stemmte sich aber noch in derselben Bewegung wieder hoch und rannte weiter. Er rannte an dem Altar vorbei, schneller, immer schneller, bis er seine Beine kaum noch spürte, blindlings die letzten Meter nach vorne stolperte und dann überaus unsanft auf den Knien landete. Zitternd rappelte er sich wieder auf, suchte aber vergeblich nach festem Halt an der Spiegelwand. Weiße Punkte rasten vor seinen Augen umher, packten seinen Kopf und rissen sein erstarrtes Bewusstsein ein ums andere Mal im Kreis herum, doch Rayo schluckte die erneut aufflammende Übelkeit tapfer herunter und zwang sich zur Ruhe. „Noctan? Noctan, kannst du mich hören?“ Das Gesicht des Weißhaarigen blieb vollkommen regungslos, wie in einem Kerker tiefen Schlafes gefangen, aus dem es kein Entkommen mehr gab. Wenn es denn nur Schlaf war… Rayo verdrängte den Gedanken, trieb die panische Angst mit einem verzweifelten Aufschrei seines Willens zurück, bevor sie ihm endgültig den Verstand rauben konnte. Vergeblich versuchte er, Noctan von seinen stählernen Fesseln zu befreien, suchte nach einer Öffnung, einer Unregelmäßigkeit in dem schweren Metall, doch es schien, als ob irgendeine boshafte Macht die massiven Ringe geradewegs um die Gliedmaßen des totenblassen Körpers geschmiedet hätte. Der junge Adlige senkte den Kopf, als eine gewaltige, alles verzehrende Woge tiefer Mutlosigkeit über ihn hereinbrach. Beinahe wünschte er sich, die eben noch durch seinen Körper tobende Furcht würde zu ihm zurückkehren, würde diese unerträgliche, endlose Leere füllen, die sich über seine Gedanken, über seine Gefühle gelegt hatte. Erst jetzt begriff er die wahre Boshaftigkeit der Situation, in die er da wieder einmal geraten war, und genau das wischte jede verzerrende Angst, Hoffnung oder Entschlossenheit mühelos hinfort. Er würde diese Ringe niemals zerstören können. Stattdessen stand er nun allein, hilflos und gefangen neben seinem Freund, konnte nichts tun, um ihn zu befreien – nichts, außer auf den kommenden Morgen zu warten und auf eine Horde wütender Priester, die ihn begleiten würde…. Rayos Augen wanderten viel zu ruhig, fast wie betäubt und dennoch hellwach durch den Raum, suchten verzweifelt nach irgendetwas, das ihm jetzt, in dieser scheinbar so ausweglosen Lage noch weiterhelfen konnte. Sie fanden nichts außer dem Altar und einer türkisblauen, erdrückenden Leere, die das Innere des prachtvollen Tempels still und unerbittlich in seiner Gewalt hielt. Wie automatisch blieb Rayos Blick an den funkelnden Strömen hängen, deren Licht hier und dort ein Glitzern auf die blanke Oberfläche der allgegenwärtigen Spiegel zauberte. Flüssige Träume, schoss es ihm durch den Kopf. Wie hell sie strahlten, ganz wie von einem inneren Feuer erfüllt, das… Feuer? Der Gedankenfluss des Blondschopfes stockte, als ob binnen weniger Sekundenbruchteile eine Dürrewelle über die finstere Landschaft in seinem Kopf hereingebrochen wäre und jeden Tropfen des wirren Stromes zum Versiegen gebracht hätte. Noch im gleichen Moment musste er sich beherrschen, sich nicht entweder zu schlagen oder zu treten oder sonst wie wehzutun, da er nämlich genau das und nichts anderes verdient hatte. Feuer – warum hatte er nicht schon viel eher daran gedacht? Wozu beherrschte er denn eigentlich Magie? Die Ringe bestanden immerhin aus Metall, Metall, das man unter Hitze formen und schmelzen konnte. Ein bitteres Lächeln legte sich auf Rayos starre Gesichtszüge. Jeder dumme kleine Bauernsohn war mit diesem einfachsten aller Naturgesetze vertraut – er hingegen offensichtlich nicht. Wofür hatte er denn sein Leben lang trainiert und gekämpft, wofür, wenn er jetzt immer noch das weltfremde, unselbstständige Adelskindchen von damals war, vorbereitet auf alles, auf den Kampf, auf Empfänge, darauf, eines Tages das Erbe seiner Familie anzutreten… nur leider nicht auf das Leben selbst. Er seufzte und schloss die Augen, um zu seiner Konzentration zurückzufinden. Seine Magie war ihm nur allzu gut vertraut und so fiel es ihm nicht schwer, jene uralte Kraft zu erwecken, die tief in ihm schlummerte. Über der Finsternis seines Geistes breitete sich ein sanftes Leuchten aus, das zunächst noch sehr langsam zu einer Flamme anwuchs, dann höher und höher flackerte, immer heller, blendender wurde und schließlich explodierte. Rayo schlug seine Augen wieder auf, und er war dabei von einer tiefen inneren Ruhe erfüllt, von der er noch vor wenigen Minuten nicht einmal zu träumen gewagt hatte. Seine Hände glühten in tiefrotem Feuerschein. Er ballte sie zu Fäusten und spürte, wie sich der Kreislauf der brennenden Energie in seinem Körper schloss, wie er schneller und schneller durch seine Adern jagte. Mit einem Ruck riss der Blondschopf seine Hände nach oben und hinterließ einen glühenden Funkenregen im sanften blauen Licht des gigantischen Saales, der sterbend und verblassend auf den Spiegelboden hinabsank. Im gleichen Maße, wie sich die in ihm freigesetzten Kräfte zu einem alles verzehrenden Rasen steigerten, flammte auch das scharlachrote Leuchten auf, das seinen Körper umfing. Zwischen Rayos Handflächen verdichtete sich das brennende Licht zu einer Flammenkugel, deren feuriger Hauch die Luft versengte, sie flackern ließ wie an einem sehr heißen Sommertag. Der junge Adlige lenkte all seine Konzentration auf die vier eisernen Ringe, die Noctan gefangen hielten, grub das Bild wie ein Brandzeichen in sein Bewusstsein ein, bis er nichts mehr anderes vor seinem inneren Auge wahrnehmen konnte. Dann stieß er seine Hände blitzartig und mit all der überkochenden Kraft, die durch sein Blut jagte, nach vorne. Vier Feuerbälle schossen wie rasende Dämonen auf die Metallringe zu, so schnell, dass sie mit bloßem Auge kaum noch wahrzunehmen waren, und hüllten die unbarmherzig massiven Fesseln in ein gleißendes Licht. Der Stahl verlor seine Kontur, schien zu glühender Lava zu zerfließen, so hell und flackernd, dass Rayo einen Moment lang von dem schmerzhaft grellen Licht geblendet wurde und sich die Hände vor das Gesicht schlagen musste. Als er es endlich wieder wagte, den Blick zu heben, als das hysterische Flackern verschwand, das sich ebenso plötzlich wie hartnäckig über seine Umgebung gelegt hatte, war das wohltuend sanfte türkisblaue Glühen in den Spiegelsaal zurückgekehrt. Nichts erinnerte mehr an die feurigen Drachen, die noch vor wenigen Sekunden in der brennenden Luft gewütet hatten. Alles war erfüllt von eisig kalter Perfektion, ohne Konturen, ohne Kanten und Makel. Die stählernen Fesseln hatten nicht einen einzigen Brandfleck zurückbehalten. „Nein…“ Binnen einer Sekunde wich jeder noch so kleine Funken Hoffnung und Mut aus Rayos Körper. Der junge Adlige sank auf die Knie, jeder inneren und äußeren Kraft beraubt, den Blick starr auf einen Punkt gerichtet, den es nicht gab. Er hatte seinen letzten Trumpf verspielt und nun saß er mit leeren Händen, innerlich wie tot, inmitten seines glitzernden und funkelnden Gefängnisses – Grabes… es gab nichts mehr, was er noch tun konnte. Rayo hatte all die Energie, die nach den zahllosen halb durchwachten Nächten noch in seinen Adern zurückgeblieben war, in diesen einen Zauber gelegt – und versagt. Nun war es vorbei, es war alles vorbei und er fühlte nicht einmal mehr Schmerz, Wut oder Verzweiflung darüber, dass diese Geschichte solch ein unschönes Ende nehmen sollte… er fühlte überhaupt nichts mehr. Rayo nahm kaum noch war, wie sich seine tiefblauen Augen langsam mit Tränen füllten, die warm und lebendig über seine starren, bleichen Wangen rannen. Er sah geradewegs durch den Boden hindurch, fixierte die Reflexion des heuchlerischen türkisblauen Lichtes, in das sich jetzt langsam ein sanftes Rot mischte und… Ein Rot? Rayo hob ruckartig seinen Kopf, nur um festzustellen, dass seine halb erfrorenen Sinne ihn nicht getäuscht hatten – unmittelbar vor ihm, inmitten der blauen Luft des Raumes, hatte sich ein intensiv roter Nebel gebildet. Die bewegten, halb transparenten Schlieren konzentrierten sich auf einen Punkt in ihrer Mitte und zerflossen zu einem noch ungleich helleren, reineren Licht. Dieser feuerrote Teich glomm auf, flackerte und bebte wie glühendes Metall unter den Hammerschlägen eines Schmiedes, nur um sich binnen weniger Sekunden zu verdichten, zu materialisieren. Das flüssige Leuchten war einem metallischen Glanz gewichen, verblasste zu dem unbefleckten Silber einer langen, majestätischen Klinge, über die sich ein zierliches Band tiefrot leuchtender Runen zog. Der blonde Junge riss seine feucht glänzenden Augen weit auf. Seine innere Starre zerbarst unter den heftigen Schlägen seines Herzens, als er begriff, dass nun der Zeitpunkt gekommen war, eine Macht zu erwecken, die schon viel zu lange im Kerker eines Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte währenden Schlafes gefangen gehalten worden war… es lag an ihm, als Erster das Vermächtnis eines verstorbenen Estrella in den Händen zu halten. Rayo umfasste langsam, nahezu ehrfürchtig den bronzenen Griff des prächtigen Zweihänders. Kaum hatten seine Finger das Metall berührt, strömte ein warmes Gefühl durch seinen Körper, das erlösende Gefühl, etwas wiederzufinden, wonach er sein Leben lang gesucht hatte, ohne überhaupt zu wissen, dass es ihm fehlte. Ganz wie von selbst schlossen sich seine Hände um den Schwertgriff, der nicht etwa kalt oder, wie Rayo zunächst befürchtet hatte, glühend heiß war, sondern von innerem Leben durchströmt zu sein schien, beseelt von einer Kraft, die dem jungen Adligen tief in seinem Innersten so vertraut war, als ob sie seit jeher dort geschlummert hätte, in stummer Erwartung dieses einen Tages, an dem sie endlich, endlich erweckt werden würde. Es war nicht bloß eine Waffe, die er in seinen Händen hielt – es war ein Teil von ihm, mit dem er vom ersten Augenblick an eine unzertrennliche Einheit bildete. Der junge Adelige hob den mächtigen Zweihänder mit einer mühelosen, nahezu spielerischen Bewegung an. Der massive Stahl fühlte sich in seinen Händen so leicht an wie eine einzige Feder. Doch trotz der Zuversicht, mit der ihn allein die Anwesenheit des Schwertes erfüllte, schlug ihm das Herz immer noch bis zum Hals hinauf, als er sich langsam den Eisenringen näherte, lauernd, ganz so als blicke er einem wilden, unbezähmbaren Tier ins Auge. Kurz vor der Wand blieb er ruckartig stehen, atmete tief durch und sammelte seine neu gewonnenen Kräfte. Dann holte er aus und schlug ohne weiter darüber nachzudenken, ohne zu zielen oder die Entfernung abzuschätzen zu. Die Klinge fand nicht nur ihren Weg, sondern stoppte auch ganz wie von selbst exakt an jener Stelle, an der das kalte Metall der Fessel endete und scheinbar nahtlos in Noctans Handgelenk überging. Rayo keuchte, als ihm mit einem äußerst schmerzhaften und ernüchternden Schlag bewusst wurde, was er da gerade eben getan hatte – und vor allem, was er da gerade eben riskiert hatte. Es vergingen jedoch noch etliche weitere Sekunden, bis der junge Adlige auch begriff, dass seine Waffe den Metallring vollkommen mühelos gespalten hatte, ganz so, als bestünde er nicht aus massivem Stahl, sondern aus morschem, brüchigem Holz. Rayo musste noch einmal tief durchatmen und sich sammeln, als eine Welle glühend heißer Euphorie durch seinen Körper jagte, dass ihm schwindlig wurde. Dann jedoch zerschlug er die übrigen Ringe umso schneller, sicher und vollkommen mühelos auf dieselbe Weise. Der junge Adlige machte instinktiv einen Satz nach vorne, als Noctan von seinen Ketten befreit nun haltlos in sich zusammenbrach. Er fing den Körper seines Freundes auf – und bemerkte erst jetzt, als er den Weißhaarigen fest in seinen Armen hielt, dass sein Schwert ganz einfach wieder verschwunden war, ebenso schnell, wie es ihm noch vor wenigen Sekunden zur Rettung geeilt war. „Noctan!“ Vorsichtig legte Rayo den Jungen auf den spiegelnden Boden, seinen Oberkörper immer noch mit den Armen umfasst. „Noctan, hörst du mich? Es ist vorbei! Wach auf! Bitte… Noctan… wach auf!“ Und da, ganz plötzlich, auf leisen, hinterhältigen Sohlen, kehrte die Angst in Rayos Bewusstsein zurück und setzte sich lautlos dort fest, ein höhnisches, triumphierendes Lächeln auf den hässlichen Lippen. Mit ihr kamen Zweifel und Fragen, eine ganze Armee quälender, ewig wiederkehrender Fragen, die wie ein tosender Wirbelsturm in seinem Kopf wütete. Was, wenn der Fluch des Geisterschiffes immer noch anhielt, wenn er Noctan vielleicht niemals wieder gehen lassen würde? Oder hatte er seinen Freund am Ende sogar umgebracht, mit seinen eigenen Händen getötet, als er ihn dem Bahn der Priester entrissen hatte? „Noctan… bitte…“ Das Gesicht des Weißhaarigen war immer noch so bleich und ausdruckslos wie das eines Toten. Doch dann, ganz langsam und zunächst noch kaum merklich, lief ein schwaches Flackern durch seine Lider, dann ein Blinzeln, und schließlich drang ein leises, atemloses Husten über Noctans leicht bläulich angelaufene Lippen. „Ich… Ra-Rayo?“ Der Blick des jungen Mondestrella war unruhig, verstört, dabei jedoch auch unendlich erschöpft, als ob er seine Augen kaum offen halten konnte. Über seinen eben noch so reglosen Körper war ein heftiges Zittern hereingebrochen. Es schien, als sei der Weißhaarige aus einem jahrelangen Todesschlaf erwacht, vollkommen überwältig von der wirklichen Welt, von all dem Leben, das nun wieder durch seine Adern rann. Doch für Rayo zählte im Moment nur eines – Noctan lebte, er lebte wirklich, befreit vom verfluchten Gift des Wahnsinns, befreit aus den pechschwarzen Klauen dieses grauenhaften Schiffes. „Rayo… was…“ „Shhh…” Rayo schloss Noctan vorsichtig in seine Arme, von tiefer Erleichterung und einem Glück erfüllt, wie er es selten zuvor gekannt hatte. Er drückte seinen Freund fest an sich, strich ihm beruhigend über den Rücken und das lange, schneeweiße Haar. „Du musst keine Angst mehr haben, hörst du? Jetzt ist alles gut, jetzt ist alles wieder gut…“ Der junge Adlige blickte nicht auf, und so konnte er auch nicht sehen, dass der funkelnde Strom der Träume langsam versiegte, dass sein lebendiges Glitzern schwand und das sanfte Glühen in dem prächtigen Spiegelsaal mit sich nahm. Alles war unbedeutend, in diesem Moment zählte einzig und allein, dass Noctan am Leben und bei ihm war. Erst das dumpfe Geräusch des auffliegenden Silbertores ließ Rayo aufblicken. „Shinya, Hoshi, ich habe ihn…“ Der Blondschopf stockte. In dem matt glänzenden Portal standen nicht etwa seine Freunde – es waren fünf Priester, die ihn aus weit aufgerissenen Augen, erfüllt von fassungslosem Schrecken, anstarrten. Sie wichen vor ihm zurück, langsam, wie von eisiger Panik ergriffen, bis sie schließlich in ihren grotesken Bewegungen einfroren. Und dann begann die Veränderung. Der Vorderste der in strahlendes Weiß gehüllten Männer stieß einen Schrei aus, so gellend und durchdringend, dass Rayo ein eisiges Schaudern durch den ganzen Körper kroch. In einer krampfartig zuckenden Bewegung schlug er die Hände vor das Gesicht und krümmte sich zusammen wie unter unerträglichen Schmerzen. Mit einem weiteren Schrei, der noch schriller, noch weniger menschlich klang als der vorherige, mehr wie der Todeslaut einer dämonischen Kreatur, riss er seine bebenden Arme wieder nach unten. Von seinem gütigen, warmherzigen Gesicht war nicht mehr viel übrig geblieben, nichts als eine abstoßende, teuflische Fratze. Nadelspitze Zähne ragten hinter geschwulstartigen Lippen hervor, die Augen waren zu blutroten, klaffenden Wunder zerflossen, die Haut ein einziges widerwärtiges Geflecht blutiger und eitriger Wunden. Die zuckenden Finger der Priester schwollen an und platzten schließlich einer nach dem anderen auf, als lange, von Rost zerfressene Klauen wie stählerne Parasiten daraus hervorkrochen. Aus den Priestern waren grauenvolle Monster geworden. Rayo stieß einen keuchenden Schrei aus und presste seinen Freund an sich, so fest er nur irgendwie konnte, erfüllt von der vagen, verzweifelten Hoffnung ihn so irgendwie beschützen zu können. „Wa-was… aber… oh… oh bei den Göttern…“ Die zittrige Stimme des Weißhaarige verriet überdeutlich, dass er noch nichts von all dem begriff, was um ihn herum vor sich ging. Rayo hingegen traf die schreckliche Wahrheit wie ein Schlag ins Gesicht. Die Stadt war aufgewacht. Ende des zehnten Kapitels Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)