Equinox von YourBucky ================================================================================ Kapitel 8: Kapitel VIII - Der Wille zu Leben -------------------------------------------- Wieder einmal ist viel Zeit ins Land gezogen, Ferien, die eigentlich gar keine waren, kamen und gingen, ich bin im zweiten Semester... und ich hoffe und bete, jetzt endlich mal ein wenig mehr Freizeit zu haben. Ich weiß langsam nicht mehr, wo mir der Kopf steht... whatever, ich lade dieses Kapitel vor allem deshalb jetzt hoch, weil mein liebes Katerchen schon so weit mit Lesen ist, und ich ja weiter Kommentare von ihm bekommen möchte. ^_^ Trotzdem wünsche ich natürlich auch allen anderen viel Spaß damit! „Noctan!!“ Der lähmende Bann, der tonnenschwer auf Shinyas Körper gelastet, ihm den Atem zum Sprechen und die Kraft zu jeglicher Bewegung genommen hatte, schien urplötzlich, von einer Sekunde auf die andere, wieder von ihm abzufallen. Der Katzenjunge sprang auf, und bevor sich auch nur irgendein klarer Gedanke in die beklemmende Panik in seinem Inneren stehlen konnte, stürzte er auch schon den schwarzen Korridor hinab, folgte blindlings dem weißhaarigen Jungen, der kichernd und taumelnd in den Schatten der nachtfarbenen Wendeltreppe verschwunden war. Er kam nicht weit, denn schon nach wenigen übereilten Metern schloss sich eine Hand um seinen Arm und riss ihn mit einer unerwartet heftigen Bewegung zurück. Shinyas eigener Schwung brachte ihn beinahe augenblicklich wieder zu Fall, und er verdankte es allein seinen guten Reflexen und einer gehörigen Portion Glück, dass er sich gerade noch an dem rauen, kalten Holz der Schiffswand abfangen und sein Gleichgewicht zurückgewinnen konnte. „Bist du wahnsinnig geworden?!“ Der aufgebrachte Tonfall in Hoshis Stimme wurde von dem flehenden, seltsam verstörten Ausdruck in ihren warmen braunen Augen Lügen gestraft. Ihre Finger zitterten, doch ihr Griff blieb fest und sicher um Shinyas Handgelenk gelegt. „Was bringt es dir, wenn du ihm jetzt nachrennst? Willst du etwa auch noch… verflucht… besessen… was auch immer werden?! Ich habe keine Ahnung, was da gerade eben mit Noctan passiert ist, aber… so hilfst du ihm ganz bestimmt nicht!“ „Was bitte sollen wir denn sonst tun?“ Der Katzenjunge befreite sich mit einem Ruck aus der Gewalt des Mädchens und fixierte sie mit argwöhnisch blitzenden Augen. „Ich werde jedenfalls nicht hier unten in diesem verrotteten Stück Holz sitzen und darauf warten, bis… bis… ach, ist doch auch egal! Was auch immer dieses… dieses Ding mit Noctan gemacht hat, er sah nicht unbedingt so aus, als hätte er großen Spaß dabei!“ „Ja, aber…“ „Was… was ist denn los?“ Ein kindliches und obendrein noch reichlich verschlafenes Stimmchen mischte sich mit argloser Unwissenheit in das aufgeregte Gespräch und brachte es augenblicklich zum Verstummen. Das dazugehörige kleine Mädchen hob langsam seinen verstrubbelten hellblauen Haarschopf an und blinzelte ihren Freunden halb ratlos, halb empört über ihr unsanftes Erwachen entgegen. Hoshi biss sich auf die Lippe und wich dem Blick ihrer jungen Freundin aus. „Misty, es… es tut mir leid, dass ich dich geweckt habe. Vielleicht solltest du weiterschlafen… ich… ich will auch ganz bestimmt nicht mehr so laut sein, und Shinya… der schon gar nicht.“ „Warum kuckt ihr denn alle so komisch?“ Die Blauhaarige rieb sich ihre großen Augen, dann stemmte sie sich erstaunlich schnell auf die Füße, gähnte und streckte sich erst einmal ausgiebig, bevor sie sich wieder mit prüfend strenger Miene ihren schweigenden Gefährten zuwandte. „Seid ihr böse mit Misty? Warum sagt ihr denn gar nichts? Und…“ Der Blick der Kleinen nahm eine derart analytische Eindringlichkeit an, dass Shinya unweigerlich einen Schritt vor ihr zurückwich. „Wo ist eigentlich Noctan?!“ „Misty, das… das ist nicht ganz so einfach…“ Hoshis Gesichtsausdruck wurde schlagartig noch ein bisschen betretener. „Er… ich meine… er ist…“ „Er ist hier.“ Shinya wandte so plötzlich seinen Kopf von dem dunkelhaarigen Mädchen ab und zum Ende des Korridors hin, dass ein leiser Schmerz durch seinen derart unvermutet strapazierten Nacken zuckte. Und obwohl er sich noch in dieser einen einzigen Schrecksekunde tief in seinem Inneren ja eigentlich schon darauf vorbereitet hatte, wer ihn nun grinsend und wankend wie eh und je am Ende des Ganges erwarten musste, ließ ihn der Anblick der totenbleichen Gestalt ganz unweigerlich aufs Neue erstarren. „Aber warum guckt ihr denn so? Warum diese weiten Augen, diese fahlen Gesichter? Man könnte glatt meinen, ihr hättet einen Geist gesehen!“ Die weißen Lippen des Jungens verzogen sich zu einer boshaften Grimasse, die nur noch sehr entfernt an ein Grinsen erinnern konnte. „Ihr. Seid. Am. Ende. Wie gefällt euch das?“ „Noctan, bitte… nein…“ Rayos Stimme klang so leise und brüchig, dass sie kaum das Echo von Shinyas eigenem Herzschlag übertönen konnte. Dennoch versetzte das umso eindringlichere Flehen dem Katzenjungen selbst in der kalten Erstarrung seiner Angst noch einen schmerzhaften Stich mitten in der Brust. Noctan hingegen schien die Worte des jungen Adligen gar nicht zu bemerken, jedenfalls blieb sein leerer Blick ziellos im neblig blauen Nichts des Ganges hängen. „Noctan! Wir wollen dir doch nur helfen!“ Hoshi sprach weitaus lauter, doch obwohl sie sich um einen sicheren, eindringlichen Tonfall bemühte, konnte sie ein letztes Beben nicht ganz aus ihrer Stimme verbannen. „Verdammt noch mal, du musst uns doch erkennen! Wir… wir sind doch deine Freunde!“ Die blutigen Augen Noctans – oder jener Kreatur, die einmal Noctan gewesen war – blitzen bei den Worten des Mädchens bedrohlich auf. „Freunde?“, stieß er abfällig hervor, beinahe so, als ekelte ihn davor, das Wort überhaupt in den Mund zu nehmen. „Natürlich… meine Freunde seid ihr! Ihr wollt mich also retten? Dann kommt und holt mich!“ Mit einem letzten irrsinnigen Lachen rannte er taumelnd aber doch erstaunlich schnell auf eine der dunklen Türen zu, stürzte hinein und warf sie dann wieder hinter sich in die Angeln, bevor Shinya auch nur zu einer Reaktion ansetzen konnte. Das rostige Metall kreischte erschrocken und empört auf, doch gerade dieser schmerzhaft schrille, auf eine grausige Art und Weise menschlich anmutende Misston war es, der Rayo endlich aus seiner Erstarrung erwachen und nun nur umso schneller auf die Füße kommen ließ. „Noctan!“ Der junge Adlige starrte sichtlich verwirrt und mit einem panischen Flackern in den tiefblauen Augen auf das immer noch leicht bebende schwarzrote Portal, in dem soeben jenes hysterisch kichernde Wesen verschwunden war. „Nein! Ich… ich… worauf wartet ihr denn noch? Wir müssen hinterher!“ Seine Stimme, die noch vor wenigen Augenblicken beinahe schon beängstigend ruhig geklungen hatte, überschlug sich nun nahezu bei jeder zweiten Silbe. „Natürlich müssen wir das!“, entgegnete Shinya und hob beschwichtigend seine zitternden Hände. „Wir… werden ihm helfen, das ist doch wohl klar!“ Obwohl sein klägliches Ringen um einen ruhigen, besänftigenden Tonfall gnadenlos scheiterte, atmete der blonde Junge auf diese Worte hin tief durch und senkte den Kopf. „Aber zuvor brauchen wir irgendeinen Plan, nicht wahr?“ Shinya nickte. „Genau, ein Plan. Schönes Wort. Nur leider hab ich im Augenblick… noch viel weniger als den Hauch von ner Ahnung, wie dieser tolle Plan aussehen soll… ach, verdammt!“ Shinya hatte eigentlich ruhig bleiben wollen, doch eine Woge heißer Wut brach über seinen Körper herein und verzerrte seine letzten Worte zu einem bebenden Aufschrei, der merkwürdig dumpf in seinen Ohren widerhallte. Seine Hände krampften sich zu Fäusten zusammen, und noch im nächsten Augenblick hatte der Katzenjunge selbige auch schon hochgerissen und schlug mit aller Kraft gegen die schwarze Wand des Geisterschiffes. „Shinya!“ „Das is nich fair!“ Der Halbdämon fühlte kaum, wie ein glühender Schmerz durch seine Fingerknöchel zuckte, viel zu sehr wütete da ein vollkommen unbestimmtes, dafür aber umso quälenderes Gefühl in seinem Inneren und schnürte ihm fast die Kehle zu. „Ich weiß doch genau, was für ein abartiger Vollidiot der is, aber nein, ich kann natürlich wieder mal nich die Klappe halten und jetzt… jetzt… ach, verdammt!“ „Hör auf so zu reden!“ Shinya spürte, wie sich ihm langsam, fast ein bisschen zögerlich zwei Arme um die Schultern legten. Eine sanfte Stimme, begleitet von angenehm warmem Atem, drang nun unmittelbar an sein Ohr. „Ich hab doch mit dieser ganzen Sache angefangen, nicht du. Und vor allem, rausgeschaut hat er immer noch selbst! Aber mal ganz abgesehen davon…“ Hoshi holte tief Luft und fuhr mit deutlich festerer Stimme fort, beinahe so, als müsse sie sich selbst erst noch von ihren eigenen Worten überzeugen. „Diese ganzen Schuldzuweisungen helfen doch jetzt keinem mehr, am allerwenigsten Noctan. Anstatt unsere Zeit mit Grübeleien und Selbstvorwürfen zu verbringen, sollten wir lieber irgendetwas machen!“ Das irgendetwas gab ihrem Satz ungewollterweise einen reichlich hilflosen, fast schon verzweifelten Unterton, den Shinya aber so gut es eben ging zu überhören versuchte. Stattdessen zwang er sich zu einem unbeschreiblich missglückten und ganz bestimmt nicht aufmunternden Lächeln. „Gratulation – da hast du wieder einmal Recht. Und hey, wie wäre es denn, wenn wir ihm erst einmal nachgehen, bevor wir jetzt noch stunden- oder tagelang in diesem bescheuerten Gang hier stehen und uns den Kopf über irgendwelche tollen Strategien oder so was zerbrechen?“ „Eigentlich… ist das gar nicht mal so ne schlechte Idee.“ Hoshi grinste schief. „Ich weiß zwar nicht was passiert, wenn wir grad irgendwo mitten im Schiff sind, während es anlegt, aber…“ „Aber darüber wollen wir uns erst mal noch gar keine Sorgen machen, meine liebe Hoshi – das wird schon nicht passieren.“ Der Katzenjunge warf einen raschen entwarnenden Blick in Richtung Misty, deren Unterlippe gefährlich zu zittern begonnen hatte. „Ich würde aber auf jeden Fall sagen, wir halten uns alle ganz, ganz fest bei den Händen, wenn wir jetzt durch diese tolle… einladende… sicher auch vollkommen ungefährliche Türe gehen – nein Misty, du musst keine Angst davor haben. Es ist nur so… ich habe bei diesem Schiff irgendwie so ganz allgemein kein gutes Gefühl. Und bevor wir uns noch verlieren…“ „Shinya, wir werden uns nicht verlieren!“ Hoshi blickte ihrem Freund eindringlich und tadelnd in die grünen Augen. „Schön, dies ist ein Geisterschiff. Aber es ist und bleibt nun mal ein Schiff, verstehst du? So viel Platz, um sich zu verlieren, hat’s da nämlich gar nicht.“ „Das mag sein, aber Shinya hat trotzdem Recht“, bekräftigte Rayo, immer noch mit einem schwachen Zittern in seiner Stimme. „Du darfst nicht vergessen, dass auf diesem Schiff ein Fluch liegt, und außerdem…“ „Keine Sorge, das hätte ich schon nicht vergessen!“ Die Dunkelhaarige verdrehte die Augen und fuhr dann in weitaus gedämpfterem Tonfall fort. „…aber das muss unsere Kleine ja nicht unbedingt wissen!“ „Trotzdem – sicher ist sicher. Misty hat doch eh schon eine Heidenangst vor dem Schiff und dem Ganzen hier, da ist ihr so ein bisschen Händchenhalten doch bestimmt ganz recht.“ „Ich habe ja auch gar nicht gesagt, dass wir uns nicht bei den Händen halten sollen!“, raunte Hoshi in mittlerweile deutlich genervtem Tonfall zurück, der Shinya mehr als andere klar machte, wie gespannt ihre Nerven tatsächlich sein mussten. „Wir müssen ja sowieso in erster Linie darauf aufpassen, dass der Kleinen…“ Die Lichtmagierin stockte – und riss im nächsten Moment ihre dunklen Augen erschreckend weit auf. Die Lippen des Mädchens begannen zu beben, und als Shinya sich langsam umwandte, um ihrem entgeisterten Blick zu folgen, da fühlte auch er sich wie mit einem Eimer halb gefrorenen Wassers übergossen. Der Gang hinter ihm erstreckte sich neblig blau und menschenleer bis zu dem pechschwarzen Schneckenhaus der Wendeltreppe hin. Von dem blauhaarigen Mädchen aber, das sich noch bis vor wenigen Augenblicken sichtbar verängstigt und den Tränen gefährlich nahe an die nachtfarbene Wand gedrängt hatte, fehlte jede Spur. „Misty!“ Hoshis Schrei glich fast schon einem unterdrückten Schluchzen. „Nein… bitte… bitte sagt mir jetzt, dass das nicht wahr ist! Sie… ich meine… die Kleine ist nicht…“ „…ganz allein hinter Noctan hergelaufen?“ Shinya stieß einen hilflosen Seufzer aus. „Ich fürchte schon… oh Mann, dieses dummes kleine Ding!“ „Nein, wir sind dumm! Wir hätten doch auf sie aufpassen müssen!“ Das dunkelhaarige Mädchen biss sich kurz und heftig auf ihre Unterlippe. „Aber nein, stattdessen diskutieren wir übers Händchenhalten und über Sicherheit, und das alles nur, weil wir Misty auch ja nicht irgendwie verängstigen wollten…“ „Aber wie ist denn das möglich?“ Rayo schüttelte ein ums andere Mal den Kopf und auf seinem Gesicht stand einmal mehr ein Ausdruck blanker Fassungslosigkeit geschrieben. „Es kann doch einfach nicht sein, dass… dass sie sich an uns vorbei schleicht, ganz unbemerkt, und durch diese schwere Türe hindurch…“ „Offensichtlich schon.“ Hoshi strich sich nervös durch ihr langes braunes Haar. „Eigentlich hätten wir es uns ja denken können – unsere tatkräftige kleine Misty wartet eben keine langen Verhandlungen ab, wenn es darum geht, einen ihrer Freunde zu retten…“ „Und jetzt…“ Shinya starrte auf die verschwommenen Linien der schwarzen Holzplanken und schluckte schwer. „Jetzt is die Kleine auch noch in Gefahr…“ Das Herz des Katzenjungen schlug misstönend laut und heftig, als er langsam und angespannt durch die hässliche Türe trat, in deren rauen schwarzen Stahl der Rost bereits zahlreiche tiefe, blutige Wunden gefressen hatte. Das Bullauge fixierte ihn wie ein einziges boshaft funkelndes Auge in der grausam entstellten Fratze eines Zyklopen. Aus der dumpf verstaubten, gesprungenen Oberfläche glotzte ihm sein eigenes erschrockenes Spiegelbild entgegen, blass und verzerrt zu einer höhnisch grinsenden Grimasse, deren Anblick ihn frieren ließ. Dennoch wagte er den Schritt durch das deformierte Portal, Hoshis lebendig warme Hand fest von seiner eigenen umschlossen, und trat in einen Raum, dessen Anblick ihn eine Sekunde lang perplex innehalten ließ. Das hölzerne Zimmerchen war schwarz, geduckt und kahl – alles in allem jedoch ein vollkommen normaler Schiffsraum, wie er in jeder größeren Barke wohl zwanzigfach zu finden war und auf den ersten Blick in etwa so unheimlich wie der kleine Obst- und Gemüsegarten hinter Shinyas Heim in den Wäldern. Doch gerade diese vollkommen deplaziert wirkende Harmlosigkeit weckte tiefes Misstrauen in dem Halbdämon, und so ließ er seine grünen Augen lauernd über die nachtfarbenen Wände streifen, deren Beschaffenheit sich eigentlich nicht im Geringsten von jenen unterschied, die Shinya und seine Freunde noch auf dem niedrigen, nebelverhangenen Korridor eingeschlossen hatten. Trotzdem war irgendetwas anders. Der Katzenjunge vermochte beim besten Willen nicht zu sagen, was ihn an diesem kleinen Zimmer derart störte und beunruhigte, aber die stete Bedrohung schien ihn wie ein blutrünstiges Raubtier zu umschleichen, körperlos und doch erschreckend real. Ihm war, als ob irgendeine bösartige Macht den staubigen Schatten ein grausames, zerstörerisches Leben eingehaucht hätte, um nun ein sadistisches Spiel mit ihnen zu treiben. Aber auch das war noch nicht alles, was Shinya mit einer derart zähen und lähmenden Dunkelheit erfüllte. Der Raum besaß trotz seiner bescheidenen Ausmaße ganze vier Türen. Jene, durch die sie gerade eben getreten waren, starrte ihnen nun mit dem halb erblindeten Zyklopenauge feindselig in den Rücken. Eine weitere fügte sich stumm in die Wand zu ihrer Linken ein. Im Gegensatz zu ihren reichlich heruntergekommenen halbtoten Brüdern und Schwestern in den Schiffsgängen bestand sie jedoch nicht aus Stahl, sondern vielmehr aus edlem, in Anbetracht der sonstigen Umgebung beinahe schon grotesk anmutendem Ebenholz, das über und über mit einer Fülle von zarten Verzierungen und kostbaren Intarsien geschmückt war. Ihr matter, schwerer Glanz blickte direkt in das Antlitz einer dritten Türe – oder zumindest etwas, das wohl irgendwann einmal eine Türe hatte werden sollen und zu dem noblen Kunstwerk in etwa so gut passte wie eine Faust mitten in die Magengrube. Das durch und durch hässliche, von Rost nahezu zerfetzte Monstrum trug die Farbe von dreckigem Rotbraun und schien in seiner ganzen Abscheulichkeit geradewegs in eine grauenhafte Unterwelt zu führen. Passend dazu glomm hinter dem gelblich grauen Bullauge ein tiefrotes Licht wie von weit entfernter Feuersglut hinauf. Shinya spürte, wie sich spontan alle Härchen an seinem Körper zu sträuben begannen, und wandte hastig seinen Blick von der abstoßenden Karikatur einer Schiffstüre ab. Und was er dann sah, übertraf selbst seine schlimmsten und finstersten Erwartungen. Die letzte Türe direkt gegenüber dem Eingang war an und für sich alles andere als besonders und auffällig – ganz im Gegenteil. Sie bestand aus exakt demselben schwarzen Holz wie die Schiffswände und stach eigentlich auch nicht weiter ins Auge, weshalb Shinya ihr angesichts der doch überaus exzentrischen Nachbarn zuvor noch keine größere Beachtung geschenkt hatte. Aber nun, da er sie eingehender betrachtete, ihr endlich ungeteilte Aufmerksamkeit schenkte, fiel es dem Katzenjungen wie Schuppen von den Augen, was ihn die ganze Zeit über an dem scheinbar so harmlosen Kämmerchen mit all seinem Staub und all seinen Schatten gestört hatte. Hinter der kleinen Türe lag ein Raum. Shinya konnte es klar und deutlich erkennen, denn das runde, von schlichtem grauem Metall eingefasste Fenster war trotz seines langjährigen Daseins auf einem verfluchten Schiff noch verhältnismäßig klar und sauber geblieben. Der Halbdämon schüttelte den Kopf, schloss die Augen, rieb sie ein ums andere Mal, aber das Bild hinter dem dicken Glas veränderte sich nicht – die niedrige schwarze Türe führte ganz eindeutig in ein weiteres nachtfarbenes Zimmer. Diese Tatsache allein war natürlich noch nicht der Grund dafür, dass Shinya ganze Armeen von eisig kalten Insektenbeinen über den Rücken krochen; vielmehr war es der Anblick der beiden weiteren Bullaugen in ebendieser Schiffswand, der ihn vielleicht mehr alles andere entsetze. Hinter ihrem spinnwebenverhangenen Glas waren in unveränderter Dunkelheit das düstere Gemälde des Nachthimmel und ein kleiner, wütender Fetzen der pechfarbenen, windgepeitschten See zu erkennen. Eigentlich bestand kein Zweifel daran, dass das Schiff mit diesem Zimmer endete. Und trotzdem lag hinter der kleinen Türe ein Raum. „Ich sag’s echt nicht, gern, Leute, aber wir… wir… sollten uns dann wohl aufteilen…“, sprach er hastig, wie um sich von dem lähmenden Entsetzen loszureißen, das sich mit kalten, klammen Tauen um seinen Körper gewunden hatte. Sein Fluchtinstinkt hatte schrill und ohrenbetäubend Alarm geschlagen, schon seit er durch die Zyklopentüre geschritten war. Genau drei Türen erwarteten sie hier, und selbst in seiner bedrückenden Angst war sich Shinya noch viel zu sicher, dass dies schlicht und ergreifend kein Zufall mehr sein konnte. Aber gerade deshalb begriff er doch auch, dass ihre einzige Chance, Noctan jemals wiederzufinden, in einer Trennung lag, so wenig ihm dieser Gedanke auch gefallen mochte. Und vor allem konnte der Katzenjunge beim besten Willen nicht sagen, welche der drei Türen ihn nun am meisten abstieß. „Weißt du was? Genau das Gleiche hab ich auch gerade gedacht! Und ich weiß sogar schon, welche Türe ich nehmen will!“ Hoshi stapfte ohne zu zögern und mit einem zielstrebigen Lächeln auf den Lippen auf das rostzerfressene Höllentor zu. „Ähm… bist du dir da ganz sicher?“ Shinya sah seine Freundin zweifelnd an. Der Gedanke, dass ausgerechnet sie durch dieses gefräßige, bösartige Stahlgebilde treten wollte, gefiel ihm ganz und gar nicht. „Aber sicher bin ich da sicher! Jedenfalls… wenn ich Noctan und obendrein noch verflucht wäre, dann… na ja… dann würde ich ganz bestimmt durch diese Türe gehen. Sieht doch auch richtig unheimlich aus, oder?“ Die vage Angst in ihren Augen passte nicht so recht zu dem erzwungen fröhlichen Klang ihrer Stimme. Trotzdem verzichtete Shinya auf jeden weiteren Versuch, das Mädchen von ihrem Vorhaben abzubringen– und zwar gerade deshalb, weil er fürchtete, mit ebendiesem Unterfangen womöglich auch noch Erfolg zu haben. Er hätte sich dafür treten können, aber tief in seinem Inneren war er doch heilfroh, nicht ausgerechnet durch diese Türe gehen… ja sie überhaupt nur ein einziges Mal berühren zu müssen. Und außerdem wusste er nur zu gut, dass gerade Hoshi sich im Notfall ja sehr wohl auch verteidigen konnte, denn immerhin beherrschte seine Freundin ihr Element so gut wie kaum ein Anderer von ihnen. „Nun… dann denke ich, dass ich diesen Weg hier nehmen werde“, meinte Rayo in mehr oder minder überzeugtem Tonfall und trat äußert langsam auf die prachtvoll verzierte Holztüre zu. „Sie sieht doch ein wenig so aus wie die Türen in unserem Schloss, meint ihr nicht?“ Shinya hatte zwar noch niemals in seinem Leben Rayos oder überhaupt irgendein Schloss aus nächster Nähe, geschweige denn von Innen betrachten können, aber das dunkle, in Anbetracht der verfallenen Umgebung seltsam melancholisch wirkende Kunstwerk erinnerte tatsächlich an den verschwenderischen Prunk längst vergangener Zeiten. Er konnte nicht genau sagen warum, aber irgendwie passte es auf diese Weise sogar überaus gut zu dem jungen Adligen. Der Katzenjunge nickte schwach und versunken, doch noch während er diese Bewegung mehr automatisch als willentlich ausführte, wurde ihm langsam und schmerzlich bewusst, welche Türe ihm somit geblieben war. Und wie hätte es auch anders sein können?! Obwohl Shinya immer noch nicht an eine alles beherrschende Macht glauben wollte, die unaufhörlich an irgendeinem Rad des Schicksals drehte oder Fäden spann oder vielleicht auch nur die Seiten eines goldenen Buches füllte, drängten sich ihm nun an diesem Platz zwischen schwarzem Holz und blauem Nebel doch ernsthafte Zweifel an… an eigentlich allem auf. Er wusste nicht mehr, woran er angesichts einer derartigen Unmöglichkeit überhaupt noch glauben sollte, und noch während er entgegen eines stetig wachsenden inneren Widerstandes langsam auf den kleinen Durchgang zuschritt, da sehnte er sich beinahe schon wieder nach einer Einladung in einen gewissen rostigen Höllenschlund. Er spürte, dass mit dem Raum hinter dem schwarzen Holz etwas ganz und gar nicht stimmte, so deutlich, wie er selten zuvor in seinem Leben etwas gespürt hatte. Ganz abgesehen davon, dass es dieses Zimmer ja eigentlich überhaupt nicht geben durfte… „Gut“, hörte er sich merkwürdig fremdartig, fast schon erschreckend ruhig zu seinen Freunden sagen, den Blick hilfesuchend über seine Schulter gewandt. „Wir sollten halt nicht zu lange wegbleiben. Jetzt, wo wir unter uns sind, kann ich’s ja sagen – ich glaub nämlich auch nich, dass es sonderlich gesund sein wird, wenn wir grad irgendwo unten im Schiff rumirren und dann legen wir an…“ Er holte tief Luft, und ganz langsam wurde ihm seine eigene Stimme wieder ein bisschen vertrauter. „Trotzdem sollten wir echt alles tun, um die Beiden zu finden! Klar?“ Hoshi nickte und auch Rayo deutete eine dem zumindest sehr ähnliche Kopfbewegung an, die Shinya kurzerhand als Zustimmung auffasste. Er sah noch einmal in die ängstlichen Augen der Lichtmagierin und bemühte sich um ein aufmunterndes Lächeln. Dann wandte er sich seiner Türe zu, öffnete sie und trat ein. Das erdrückende Gefühl des Widerwillens wurde mit jeder Sekunde stärker in ihm, aber Shinya biss sich tapfer auf die Lippe und ignorierte seinen sinnlos protestierenden Fluchtinstinkt. Es gab doch schon längst kein Zurück mehr! Er schloss seine Augen so fest er nur konnte, während er langsam und vorsichtig in den Raum hinter der Holztüre trat. Noch im selben Moment schlug die Furcht in seinem Inneren in Panik um. Was, wenn er tatsächlich nur einer Illusion zum Opfer gefallen war? Wenn sein Fuß ins Leere treten würde, wenn die brüllenden, ölig schwarzen Wellen nur darauf warteten, dass er endlich das Gleichgewicht verlor und sie ihn mit gierigen Schlünden verschlingen konnten? Shinya wusste beim besten Willen nicht, ob er erleichtert sein sollte, als er doch einmal mehr nur den gewohnt festen Holzboden unter seinen Füßen spürte. Der metallische Geschmack von Blut hatte sich in seinem Mund ausgebreitet, das warm aus seiner aufgebissenen Unterlippe sickerte. Erst jetzt, da der erste Angstmoment verstrichen war, bemerkte der Katzenjunge, dass er das Tosen des Meeres nicht mehr hören konnte. „Ganz ruhig, Shinya!“, murmelte er so leise, dass er das Zittern in seiner Stimme gerade noch unterdrücken konnte. Trotz seiner verzweifelten Selbstaufheiterung sträubte sich immer noch alles in ihm, die Augen überhaupt jemals wieder aufzuschlagen, und er musste all seinen Mut und all seine Willenskraft zusammennehmen, um die Lider zu heben und einen Blick auf seine Umgebung zu werfen. Woraufhin er sich ein doch recht hysterisches Lachen allerdings nicht mehr verkneifen konnte, das von den unzähligen Staubkörnern verschluckt, ja regelrecht aufgesogen wurde wie ein winziger Regentropfen, dessen lange Reise vom Himmel hinab ausgerechnet im Meer geendet hatte. Er stand in einem ganz gewöhnlichen Schiffsraum, der sich von dem Kämmerchen, aus dem er gerade eben getreten war, nur äußerst geringfügig unterschied. Im Grunde genommen lag die einzig auffällige Abweichung in den vier Türen, die hier nämlich allesamt klein, unbedeutend und schwarz waren, ganz so wie auch die Wände des Schiffes. Mit einem letzten nervösen Beben in den Fingern strich sich Shinya über die Stirn und lächelte gequält in das staubige Halbdunkel hinein. Wie dumm war er eigentlich, sich derart vor dem bloßen Durchqueren einer Türe zu fürchten? Natürlich durfte dieser Raum allen Gesetzen der Logik nach nicht existieren. Aber wenn man es nun tatsächlich nur rein logisch betrachtete, durfte es denn dann überhaupt Geisterschiffe geben? Und was sagte die blanke Vernunft eigentlich zu seinen wirren Traumprophezeiungen, zu Weltenwagen und den kindlichen Worten einer blinden Seherin? Trotzdem bewiesen diese Gedanken Shinya gleichzeitig auch, dass er sich eben doch noch nicht ganz an absurde Ereignisse gleich welcher Art gewöhnt hatte, und diese Erkenntnis beruhigte ihn ungemein. Ein bisschen ruhiger als zuvor zwang der Halbdämon sich ein Lächeln auf die Lippen. Er mochte nicht sonderlich weit gegangen sein – konnte aber bereits jetzt mit vollkommener Gewissheit ausschließen, dass Noctan oder Misty diesen Raum auch nur betreten, geschweige denn durchquert hatten. Der dunkle Boden war von einer mehrere Zentimeter dicken Staubschicht bedeckt und jeder seiner vorsichtigen Fußabdrücke zeichnete sich scharf konturiert und nur allzu deutlich auf den schmutzigen Holzplanken ab. Shinya atmete auf und fühlte tatsächlich so etwas ähnliches wie Befreiung in seiner gefesselten Brust. Wenigstens würde er sich in Kürze nicht mehr allein durch die Schrecken der verfluchten Barke kämpfen müssen, denn wenn er sich nun nur ein bisschen beeilte, würde er Hoshi gewiss noch einholen können. Irgendetwas sagte ihm, dass sie auf ihrem Weg durch die Hölle aus glühendem Licht und blutigem Rost ein bisschen Unterstützung auch sicherlich gut gebrauchen konnte, und so machte er auf dem Absatz kehrt und lief eilig durch die schwarze Türe zurück in jene neblige Kammer, in der sich kurz zuvor ihre Wege getrennt hatten. Der Raum war nicht mehr da. Er hatte sich nicht etwa Luft aufgelöst, seine zweifelhafte Existenz kurzerhand aufgegeben und war endlich in jene verlorene Finsternis zurückgekehrt, der er irgendwann einmal entstiegen war. Vielmehr war mit dem ohnehin nicht sonderlich auffälligen oder bedrohlichen Zimmerchen eine Veränderung vonstatten gegangen, die es nun noch ungleich blasser und eintöniger erscheinen ließ. Und eigentlich betraf diese stille Mutation auch nicht die Kammer selber, sondern lediglich die vier Türen, die nunmehr allesamt der niedrigen Holztüre glichen, durch die er nun schon zum zweiten Mal unversehrt getreten war. Einige Augenblicke lang stand Shinya vollkommen ratlos an seinem Platz im Staub und starrte auf seine verwandelte Umgebung. Was zum Henker ging hier eigentlich vor sich? Warum gaukelte ihm dieses wahrhaft verfluchte Schiff urplötzlich ein Bild von solch grotesker Normalität vor, wo eben noch traurige Schlosstüren und blutiger Rost und blankes Grauen geherrscht hatten? Oder war dies etwa das wahre Gesicht ihrer schwarzen Barke – ein ganz gewöhnliches Schiff, monoton und eigentlich doch viel eher grau, begraben unter dem Staub der Jahrzehnte? Der Katzenjunge schüttelte so heftig seinen Kopf, dass ihm einen Moment lang schwindlig wurde. So sehr er auch an dieser zweifelhaften Fähigkeit hing, er wollte sich langsam nicht mehr wundern, nicht an diesem unberechenbaren Ort, an dem eine Illusion die Nächste jagte. Immerhin wusste er ja noch, durch welche der Türen Hoshi verschwunden war, also konnte es sogar in seinem Zustand doch nicht allzu schwer sein, der Lichtmagierin zu folgen. Shinya sammelte sich mit einem tiefen Atemzug, dann wandte er sich nach links und trat durch die einstmalige Schreckenspforte. Im nächsten Moment entwischte ein entsetzter Aufschrei seiner Kehle, den er beim besten Willen nicht mehr zurückhalten konnte. Der Halbdämon stand erneut in einem viereckigen kleinen und vor allem ungemein staubigen Zimmer, das sich nicht einmal durch ein winziges Detail von seinen beiden Vorgängern hätte unterscheiden lassen. Und während das Pochen seines Herzens sich zu einem hysterischen Rasen steigerte, begriff der Katzenjunge ganz langsam, dass er ein Problem hatte. Shinya wusste selber nicht, wie es ihm gelang, sich irgendwie noch einmal zur Ruhe zu zwingen, auch wenn es nur die kalte Ruhe im Angesicht einer möglicherweise ausweglosen Situation sein mochte. Er war sich vollkommen darüber im Klaren, dass er noch ganz genau eine Chance besaß, eine letzte Planke, die unter seinem hilfesuchenden Griff wie brüchiges Pergament zu zerbröckeln drohte. Diese einzige noch mögliche Rettung war der Gang, jener Gang aus blauem Nebel und verbotenen Bullaugen, aus Metalltüren und schwarzen Wendeltreppen, auf dem ihre Reise ins Verderben begonnen hatte. Shinya durchquerte rasch und ohne noch einmal zögern den Raum, in dem er sich zuvor von seinen Gefährten getrennt hatte, und riss mit einer ebenso heftigen Bewegung die einstmalige und nun so radikal angeglichene Zyklopentüre auf. Was er dort sah, überraschte ihn nicht einmal mehr – raubte ihm aber dennoch mehrere Sekunden lang den Atem und ließ ihn rückwärts taumeln, bis er schließlich gegen eine der niedrigen hölzernen Wände prallte. Natürlich war auch an die Stelle des tristen Korridors ein ihm mittlerweile schon etwas zu gut bekannter Raum getreten, ein Raum aus schwarzgrauem Holz und vermeintlich unberührten Staubschichten, ein vollkommen anonymer und gesichtsloser Raum, dessen Anblick ihn schon jetzt beinahe um den Verstand brachte. Shinya wusste, dass er mit offenen Augen in die Falle dieses unvorstellbar grausamen, bösartigen Schiffes gegangen war – und mit ihm all seine Freunde. Sie hatten ihr Todesurteil genau in jenem Moment unterzeichnet, in dem sie sich getrennt und die Anweisungen der blinden Wahrsagerin so leichtfertig missachtet hatten. Sie hatten einen unverzeihlichen Fehler begangen und dies war das Ende. „Nein!“ Shinya schrie wütend auf, wie um seine eigenen Gedanken zu verängstigen und in die Flucht zu schlagen. Hatte er denn immer noch nicht gelernt, dass er nicht so einfach aufgeben durfte? In den Stunden seiner Prüfung, gefangen zwischen Spiegeln und mörderischen Trugbildern, war da sein Todesurteil nicht eigentlich jener verhängnisvolle Moment gewesen, in dem er all seine schwindenden Hoffnung begraben und sich der süßen, verlockend einfachen Resignation hingegeben hatte? „Ich… ich finde meine Freunde und… ich komme hier heraus!“ Verzweifelt versuchte Shinya, sich die rettenden Worte zurück in sein angstumnebeltes Gedächtnis zu rufen, die er einst jener höhnisch kalten Felswand in der prüfenden Höhle entgegengeschrien hatte. War ihm seine Situation damals nicht ebenso ausweglos, ebenso endgültig erschienen? Verdammt noch mal, er war ein Estrella und er durfte sich doch von einem Schiff nicht einfach so unterkriegen lassen! „Ich weiß, dass ich… dass ich hier irgendwie wieder rauskomme, ja? Verdammt noch mal, ich weiß das! Hörst du nicht? Ich weiß es!“ Die tanzenden Staubkörner, die bei jedem seiner Schritte erschrocken aufwirbelten, schluckten gierig jedes einzelne seiner Worte, verschlangen jeden Ruf, jeden Schrei wie ein alles erstickender Schwamm, kaum dass die Töne Shinyas Lippen entflohen waren. „Das ist doch alles gar nicht echt! Wie oft muss ich’s denn noch sagen? Ich glaube nicht an irgendwelche… irgendwelche Illusionen… und… das ist nicht echt! Das ist nicht echt, hörst du?!“ Ein heftiges Zittern lief durch Shinyas Hände, während sein Verstand mit grausamer Klarheit einsah, dass er schreien konnte, so viel, so laut und so lange er wollte, und es würde ihn doch niemals jemand hören können, irgendwann vielleicht nicht einmal mehr er selbst. Dies war schon längst keine Prüfung mehr, kein Test an irgendeiner inneren Stärke, an dessen Ende ein hübscher Preis auf die siegreichen Helden wartete. Im Grunde genommen war es auch gar kein boshaftes, tödliches Spielchen mehr. Dieses Schiff war der Tod. „Hoshi! Rayo! Ha-hallo? Warum hört ihr mich nicht, verdammt noch mal?! Hilfe!!” Die Panik brach wie eine alles verschlingende Welle eisigen Wassers über ihn herein und riss alles mit, was zuvor noch an ihrer Stelle gewesen war. Obgleich Shinya aus voller Kehle schrie, sodass ihm jeder Ton wie Feuer in seinem rauen Hals brannte, drangen doch nur leise, scheinbar unendlich weit entfernte Misslaute an seine Ohren. „Hilfe!“ Mit einem letzten erstickten Aufschrei fuhr der Katzenjunge herum und begann zu rennen. Er rannte und rannte, riss blindlings jede pechschwarze Türe auf, die sich ihm in den immer gleichen Weg stellte und stürzte in kopfloser Panik durch sie hindurch. Er achtete nicht mehr auf seinen Weg (wozu auch?), nicht mehr auf seine Schritte oder auf sonst irgendetwas um ihn herum. Unfähig, überhaupt noch irgendeinen Gedanken zu fassen, stürzte er durch das endlose staubige Labyrinth, bis ihm irgendwann die Luft in den Lungen brannte und die Kraft in den Beinen versagte und er keuchend und zitternd auf die Knie brach. Er wollte schreien, aber er brachte keinen einzigen Laut mehr zustande. Die Welt um ihn herum drehte sich, verwandelte sich in ein wirbelndes Meer aus Schmerz und Übelkeit, das sein Bewusstsein in ein bodenloses schwarzes Loch hinabriss. Shinya kippte haltlos vornüber und blieb dann regungslos auf dem staubigen, kalten Boden liegen. Das Erste, was Hoshi mit unverminderter Gewalt entgegenschlug, als sie die hässliche, rostige Türe öffnete, war eine schier unerträgliche Hitze, die ihr für einen Moment den Atem nahm und sie beinahe postwendend wieder zurückgeschleudert hätte. Der widerwärtige Brodem trieb ihr Tränen in die Augen und raubte ihr die klare Sicht, und gleichzeitig erfüllte sich jenes abscheuliche zerfressene Gebilde, das man nur mit sehr viel gutem Willen noch als Türgriff bezeichnen konnte, mit einer plötzlichen Wärme, schien unter ihren Fingern regelrecht zu pulsieren wie nacktes, warmes Fleisch. Mit einem Aufschrei zog die Lichtmagierin ihre Hand zurück und unterdrückte nur mit all ihrer Willenskraft den Impuls, sich einfach umzudrehen und wieder auf den blauschwarzen Gang hinauszulaufen. Vor allem anderen ging es jetzt doch darum, Misty und Noctan möglichst wohlbehalten wiederzufinden. Und außerdem – wer war sie denn eigentlich? Ein erbärmlicher Feigling, der bei jedem kleinen Spuk die Nerven verlor und panisch das Weite suchte? Nein, sie konnte sich wehren, sie war stark und sie würde ganz bestimmt nicht davonlaufen. Die Dunkelhaarige versuchte vergeblich, die schwere Dunkelheit, die sich vor ihr ausgebreitet hatte, mit ihren Blicken zu durchdringen. Beinahe schien es dem Mädchen so, als blickte sie nicht einfach in einen gewöhnlichen finsteren Gang, sondern vielmehr auf eine lebendige, dichte Masse, die ihr unerbittlich die Sicht auf alles verwehrte, was hinter ihr verborgen lag – oder in ihr… Hoshi schüttelte heftig ihren Kopf, um das schwarze, lähmende Gift aus ihren Gedanken zu verscheuchen, und tauchte dann mit festen Schritten in das Netz aus Schatten ein. Sie kam genau zwei Meter weit, dann tat sich urplötzlich ein Nichts unter ihren Füßen auf und riss sie gewaltsam vornüber. Mit einem erschrockenen Kreischen sah das Mädchen ihr Gleichgewicht entschwinden, ruderte panisch mit den Armen, um sich wieder zu fangen, um nicht in den widerwärtigen Brei aus Leere und Schatten stürzen zu müssen – nur, um am Ende doch zu fallen. Schreiend schlug sie auf einem harten, kalten Etwas ungefähr einen halben Meter weit unter ihr auf und rollte haltlos nach vorne, einem nicht weniger tiefen Fall entgegen. Treppenstufen aus vereistem, von gierigem Rost zerfleischtem Metall schlugen wieder und wieder gegen ihren Körper, ohne jedoch ihre blinde Rutschpartie zu bremsen. Und dann endlich, nach einer scheinbaren Ewigkeit, prallte die Dunkelhaarige auf einer rauen aber nicht minder harten Fläche auf und kam mit einem letzten kraftlosen Stöhnen zum Liegen. Reglos, die dunklen Augen krampfhaft geschlossen, wartete Hoshi darauf, dass die Schmerzen in ihren Gliedern und vor allem in ihrem Kopf und dem Rücken wenigstens ein kleines bisschen nachlassen würden, doch auch diese qualvolle Zeitspanne verstrich noch ungleich langsamer, als es dem Mädchen lieb war. Sie zählte ihre Atemzüge, nur um an etwas anderes zu denken als an die unaufhörliche und überaus grausame Folter, die in ihrem geschundenen Körper tobte, und irgendwann wagte sie es, ihre Augen ganz langsam wieder aufzuschlagen. Direkt über ihr flackerte ein Licht, baumelte nervös von einer Seite auf die andere, stumm und rastlos. Hoshi rieb sich mit einiger Mühe die Augen und blinzelte verwirrt in den bewegten, matten Funken hinein, der wie ein Irrlicht über ihrem Kopf umhertanzte. Wiederum vergingen mehrere Sekunden, bis sich der Blick der Dunkelhaarigen so weit geklärt hatte, dass sie tatsächlich eine kleine, halb heruntergebrannte Kerze ausmachen konnte, die nur an einem Metallkettchen befestigt an der hölzernen Decke aufgehängt worden war und ein schwaches, blässliches Licht verbreitete. Und trotzdem war sich Hoshi vollkommen sicher, dass sie das Leuchten von der Türe aus hätte sehen müssen. Ebenso wie die Treppe, deren steile, rostige Stufen sie gerade eben auf so überaus unelegante Weise hinabgestürzt war. Mit einem Mal war Hoshi doch heilfroh, dass Shinya nicht mit ihr gekommen war – schon allein die bloße Vorstellung ihres kopflosen Falls trieb ihr das Blut in die Wangen. Besser hätte ihr ganz persönliches Abenteuer aber auch wirklich nicht beginnen können! Da wollte sie sich ein einziges Mal beweisen, wie heldenhaft und mutig sie doch war, dass auch sie allein sich bewähren und durchsetzten konnte… doch von einer latenten Übelkeit und einer beachtlichen Menge an Schmerzen einmal abgesehen hielt sich ihr Erfolg bislang leider stark in Grenzen. Mit hochrotem, pochendem Kopf und zittrigen Knien rappelte sie sich auf und humpelte den verschwommen konturierten Gang hinab, der sich im gedämpften Licht der flackernden Kerzenflammen vor ihr erstreckte. Irgendetwas an diesem Korridor irritierte sie, doch erst auf den zweiten Blick begriff ihr reichlich durchgeschüttelter Verstand, dass dessen bloße Ausmaße, all die Windungen und nicht zuletzt die beachtliche Länge in krassestem Gegensatz zu der eigentlich Größe der Barke standen. Sicher, das Schiff war alles andere als klein, aber ein derart ausgedehntes Innenleben hatte die junge Lichtmagierin trotzdem nicht erwartet. Ein seltsames, beklemmendes Gefühl stieg in ihr hoch. Ich sollte nicht hier sein. Hoshi riss ihre dunklen Augen weit auf. Der Satz brach so plötzlich in ihre Gedanken hinein, dass sie es im ersten Moment noch gar nicht recht begreifen konnte. Dann jedoch wurde ihr beinahe ebenso schlagartig bewusst, dass diese simplen Worte ganz genau das ausdrückten, was sie schon beim ersten Schritt in die erdrückende Finsternis gefühlt hatte und nun immer deutlicher wahrnahm. Sie sollte, nein, sie durfte sich eigentlich gar nicht in diesem Gang befinden! Sie musste umdrehen, davonlaufen, rennen und rennen so schnell sie nur konnte, bevor es endgültig zu spät war… Die Weißmagierin schüttelte erneut den Kopf und zwang sich mühsam Beherrschung auf. Hatte sie denn noch gar nichts begriffen? Sie selbst und niemand anderes hatte diesen Weg für sie gewählt! Es war längst schon zu spät, um noch umzukehren. Dummerweise erschien ihr genau dieser Gedanke in ihrer gegenwärtigen Lage alles andere als tröstlich, aufmunternd oder wenigstens noch motivierend. Es war vielmehr so, als hätte sie mit genau dieser Erkenntnis eine Türe hinter sich zugeschlagen, die sie nun nicht mehr öffnen konnte. Ob es ihr nun gefiel oder nicht – sie hatte Recht. Feigheit und Mut hin oder her, sie konnte ganz einfach nicht mehr zurück. Unbewusst hatte Hoshi ihre Schritte beschleunigt, den Blick starr auf den dunklen hölzernen Boden zu ihren Füßen gerichtet, ohne ihrer bedrückend finsteren Umgebung noch weiter Beachtung zu schenken. Die Enge und die immer weiter zunehmende Wärme des Korridors legten sich wie ein klammer Ring um ihren Hals und schnürten ihr wie ein feuchtkaltes Tau die Brust zusammen. Ein unruhiges, lauerndes Angstgefühl verfolgte sie, kroch in ihren Körper und schwoll mit jedem zähen Meter an, den sie sich tiefer in ihr düsteres Grab hineinbewegte. Die wachsende innere Beklemmung drückte schwer auf den Atmen des Mädchens. Ihr Herz schlug so heftig und so laut, dass sie fast schon meinte, den dumpfen Laut in ihren Ohren dröhnen zu hören, grauenvoll gedämpft von den niedrigen Wänden zurückgeworfen. Die Dunkelhaarige blieb abrupt stehen. Sie spürte, wie die Panik mit eisigen Knochenfingern nach ihr griff, sie packte, würgte und ihr den kalten Schweiß über den Rücken trieb. Die finstere Umgebung hatte ihre Gedanken nicht etwa umnebelt, verwirrt, einem angstdurchtränkten Wahn als Opfer dargeboten. Ihre überreizten Sinne hatten ihr nicht einfach nur einen boshaften Streich gespielt, denn es war gar nicht ihr eigener Herzschlag, den sie da hörte. Der Gang lebte. Hoshi stieß einen tonlosen Schrei aus. Sie hatte der grauenvollen Veränderung, die langsam und tückisch schleichend mit ihrer Umgebung vonstatten gegangen war, viel zu lange keinerlei Beachtung geschenkt – und wünschte sich jetzt, dieses Versäumnis auch niemals nachgeholt zu haben. Die Wände waren nicht mehr schwarz und kühl und staubig, vielmehr war die teerfarbene, wabernde Masse von roten, heftig pulsierenden Adern durchzogen und pochte selbst wie im gleichmäßigen Takt eines gewaltigen Herzens. Mehr als alles andere fühlte Hoshi jedoch die tiefe, alles durchsickernde Bosheit, die der abstoßende, zuckende Organismus wie ein tödliches Gas auszustoßen schien. Ihr war, als ob allein die bloße Anwesenheit in der Nähe dieser abartigen Lebensform genügen würde, um ihr eigenes Herz durch und durch zu vergiften. Und die Lichtmagierin befand schon längst nicht mehr nur in der näheren Umgebung dieses stinkenden Fleischklumpens. Sie war in ihm. Das Mädchen keuchte. Trotz des abgrundtief widerwärtigen Anblicks, der sie umfing, war Hoshi aus irgendeinem Grund nicht mehr in der Lage dazu, einfach kehrt zu machen und davonzulaufen, aus dieser pochenden Abart zu fliehen, so schnell ihre Beine sie tragen konnten. Wie in Trance schritt sie immer weiter geradeaus, tiefer und tiefer in ihr grausames, endgültiges Verderben hinein. Ihr eigener Körper wollte ihr nicht mehr gehorchen, hatte ein ebenso boshaftes Eigenleben entwickelt wie jenes pechschwarze Herz des Todesschiffes. Und da wurden ihre starr aufgerissenen Augen mit einem Mal einer finsteren, diffusen Bewegung gewahr. Auch in ihrem traumwandlerisch benommenen Zustand hatte Hoshi schon lange jene leisen, unruhigen Geräusche wahrgenommen, die sich über den dröhnend bebenden Puls des Adernetzes gelegt hatten. Doch erst jetzt, da sie es endlich auch sehen konnte, wurde der Lichtmagierin wirklich bewusst, was ihr umnebelter Verstand schon etliche Minuten zuvor registriert hatte. Sie sah einen Schemen, der sich ihr hinter einer nervös zuckenden Biegung des Ganges rasch und flackernd näherte. Nun begriff sie auch, dass es schnelle, keuchende Schritte waren, die in die schwarze Sinfonie des bösartigen Herzens mit eingestimmt hatten. Beinahe noch im selben Augenblick, da die Kenntnis des rasenden Schattens wie eisiges Wasser über sie hereinbrach, verstand die Dunkelhaarige auch, dass dieser sie ebenfalls längst schon gesehen haben musste. Und nun rannte er nicht etwa blindlings geradeaus – er kam geradewegs auf sie zu. Hoshi legte all ihre Panik in einen einzigen, befreienden Schrei. Die schlagartig in ihr hochkochende Todesangst war stärker als der unsichtbare, klebrige Sog, der sie wie eine blinde Marionette in das Innere ihres pochenden Grabes gezogen hatte. Die Lichtmagierin fuhr herum und stürzte zurück durch das schwarzrote Glühen, vorbei an den wogenden Wänden, deren blutige Adern vor ihren Augen verschwammen und als tödlicher, irrwitziger Farbenrausch an ihr vorbeirasten. Ein heftiger Schwindel drehte sich im Kopf des Mädchens und nahm ihr jegliche Orientierung. Bis ganz plötzlich, schlagartig und abgehackt eine Wand in ihrem kopflosen Weg auftauchte. Die Lichtmagierin wollte ausweichen, in letzter Sekunde zur Seite springen, aber ihre Reflexe waren nicht gut genug, um auf das unerwartete Hindernis noch irgendwie zu reagieren. Hoshi spürte, wie sie das Gleichgewicht verlor, musste hilflos in eisigem Schrecken erstarrt mit ansehen, wie der schwarze Boden in groteskem Zeitlupentempo näher und näher auf sie zukam. Dann wurden ihre rasenden Sinne durch einen heftigen Schmerz benebelt, der ihren Körper durchzuckte, als sie mit dem Kopf voran auf dem harten, rauen Holz aufschlug. Nicht aufgeben, jagte es durch ihre Gedanken, nur nicht liegen bleiben! Der sichere Tod war ihr unmittelbar auf den Fersen, näherte sich mit unverändert schnellen, leisen Schritten, deren Echo dumpf und schwer durch den lebenden Gang vorauseilte. Doch trotz des beängstigend klaren Wissens um ihr nahendes Ende war Hoshi nicht mehr in der Lage dazu, ihren Körper noch irgendwie zu bewegen, geschweige denn aufzustehen und weiterzulaufen. Ihre schwindenden Kräfte konzentrierten sich einzig und allein noch darauf, ihr Bewusstsein wach und gespannt zu halten, um den nahenden Verfolger unaufhaltsam heranjagen zu hören. Ihr war vollkommen klar, dass ihr Abenteuer an genau dieser Stelle enden würde, doch ein kleiner Teil in ihr wollte sich nicht mit dieser Erkenntnis abfinden, nicht mit solch einem einsamen, unehrenhaften Tod, ohne ein letztes Mal einen Blick in Shinyas Augen geworfen zu haben… Und als sie die schwarze Gestalt schon aus den Augenwinkeln wahrnehmen konnte, da stieß das Mädchen einen letzten, verzweifelten Schrei aus, der von dem lauten Pochen des grauenhaften Herzens verschluckt wurde. Er wusste nicht, was in diesem Moment wohl lauter sein musste – sein rasender Herzschlag oder sein keuchender Atem, der sich bedrückend schwer über seine Lippen presste. Dabei wirkte die prachtvolle hölzerne Türe nicht einmal wirklich bedrohlich auf ihn, nein, ihn erschreckte auch nicht der Gedanke, durch dieses einsame edle Portal zu treten. Er wollte nur nicht alleine gehen. Er wollte sich nicht von seinen Freunden trennen. Aber er musste doch Noctan finden! Vorsichtig öffnete Rayo die Türe gerade so weit, dass er sich durch den finsteren Spalt in den dahinter liegenden Raum zwängen konnte. Es war, als ob er geradewegs in eine andere Welt getreten wäre. Ihn erwartete kein Zimmer, sondern vielmehr ein Saal von beeindruckenden Ausmaßen. Die Wände waren mit einer Tapete verziert, die wohl vor langer Zeit einmal jenen sanften, blassen Grünton gehabt haben musste, der auch noch den einfachsten Räumen diesen gewissen Hauch von Luxus und Adel verlieh. Rayo kannte solch edle Tapeten aus dem Schloss von Hoshiyama, in dem er aufgewachsen war. Auch sonst erinnerte der Saal vielmehr an einen jener prunkvollen Salons auf den teuren Edelschiffen, deren angenehme, vergnügliche Überfahrt sich nur die Reichsten der Bevölkerung, allen voran natürlich Silvanias Adlige zu leisten pflegten. Dabei war die äußere Gestalt ihrer schwarzen Barke ja nun wirklich alles andere als luxuriös! Außerdem – das Schiff mochte unzweifelhaft groß sein, aber es grenzte beinahe schon an Blasphemie, einen derart ausgedehnten Raum allein der Zerstreuung wohlhabender Passagiere zur Verfügung zu stellen. An ebendieser Unterhaltung konnte es jedoch einst, als die Seele des Schiffes noch nicht in ihren tödlichen Wahn hinabgeglitten war, beim besten Willen nicht gemangelt haben. Die Ausstattung des Ballsaales war ebenso stilvoll und prächtig wie sein kostbares Portal. In einer Ecke war eine niedrige Holzbühne, deren edler schwarzer Lack sich größtenteils schon abgeschält hatte. Von dem ewig gut gelaunten Orchester, das die feinen Herren und Damen vor sehr langer Zeit mit seichter Tanzmusik durch den Rausch eines weltvergessenen Abends geführt hatte, war nur ein einziger alter Flügel übrig geblieben. Einsam und verlassen stand er da in der staubigen Leere, wie ein letztes trauriges Erinnerungsstück an längst vergangene Tage. Auch das dunkelbraune Holz des Bodens und der Wandverkleidungen, das dem der Türe an Kostbarkeit in nichts nachstand, war in den langen Jahren der Vergessenheit stumpf und glanzlos geworden, hier und dort auch abgesplittert und zerbrochen. Die edle blassgrüne Tapete, die auf den ersten Blick fast schon Heimatgefühle in ihm geweckt hatte, war an vielen Stellen von der Wand abgeblättert und hing nun in geisterhaften Fetzen hinab, verhangen mit einem Baldachin pelzig grauer Spinnweben. An der Decke baumelte schief und leicht verbogen ein großer Kristalllüster, dessen Kerzen jedoch sicherlich schon vor mehreren Ewigkeiten das letzte Mal hatten brennen dürfen. Jetzt wurde der Raum nur mehr durch ein staubig blaues Licht erfüllt, das einerseits kalt und unheimlich zwischen den zerfetzten Wänden lag, gleichzeitig aber auch von einer unbeschreiblich tiefen, schwermütigen Melancholie erfüllt war, so als trauere der sterbende Saal den besseren, aber unwiederbringlich verlorenen Zeiten nach. Rayo seufzte tief. Die verfallene Schönheit seiner Umgebung stimmte ihn traurig. Wie prachtvoll, wie strahlend musste dieser Ballsaal einst gewesen sein, erfüllt von Leben, Licht und ausgelassener Freude! Fast war ihm, als läge das beschwingte Spiel der Musiker noch in der schweren Luft, als umfingen ihn immer noch das Lachen und die belanglosen Unterhaltungen der sorglosen Menschen, eingebettet von den steten Schritten der tanzenden Paare, die sich im Takt der Musik und der Wellen durch den Raum drehten. Ja, wenn er ganz genau hinsah, dann schien es ihm sogar beinahe so, als würde der Glanz jener herrlichen Tage noch wie ein Schleier durch den toten Raum gleiten, Wände, Holz, Tapeten und auch den zerbrochenen Flügel, dessen Tasten wie die Zähne eines grausigen Gebisses schief und dreckig gelb in alle Richtungen abstanden, noch ein letztes Mal zum Leben erwecken. Und auch der prächtige Leuchter erhob sich zu einem letzten Funkeln und Strahlen, um den ganzen Raum in sein goldenes Licht zu tauchen. Ein bebendes Schaudern, kalt und lähmend wie Eis, kroch langsam durch Rayos ganzen Körper. Seine Augen jagten gehetzt über sein trostloses Umfeld, doch je mehr er sich anstrengte, irgendetwas klar und deutlich zu erkennen, desto mehr entzog sich das Bild seinen Blicken. War da nicht ein leises Huschen, ein leichtfüßiges Wirbeln, bewegte sich da nicht ein tanzender Schatten, lachend, nur kurz im Augenwinkel wahrzunehmen? Der junge Adlige schüttelte heftig seinen Kopf. Das war nicht möglich! Dieser Saal war leer, verlassen, heruntergekommen, und er konnte ganz bestimmt nicht einfach wieder auferstehen, wann es ihm gerade so beliebte. Es gab keine Tänzer, es gab kein Licht und es gab keine Musik. Er war allein. Aber warum spürte er dann fremde Leiber, die sich eng um seinen eigenen drängten? Zog da nicht ein Atemhauch an seinem Nacken vorbei? Stieß ihm da nicht ein unachtsamer Tänzer in den Rücken, entschuldigte sich rasch und verlegen, nur um dann wieder mit seiner Partnerin in den Strudel wirbelnder Körper einzutauchen? Rayo schluckte etliche Male und beschleunigte dann seine Schritte. Er zwang sich dazu, nicht mehr auf seine Umgebung zu achten und fixierte starr die kleine, ebenholzfarbene Türe, die sich am Ende des Saales in das blasse Grün der Wand fügte. Er wusste nicht mehr, was er denken sollte, ohne den Verstand zu verlieren oder sich einzugestehen, dass ebendies schon längst geschehen war. Die Musik des Orchesters tönte lauter und lauter in seinen Ohren, verlor jedoch ihre heitere Leichtigkeit, je mehr er sich dem Ausgang des vergessenen Ballsaales näherte. Die Töne wurden schrill, hektisch, glichen mehr und mehr einem unmenschlichen Kreischen, und im gleichen Maße veränderte sich auch der körperlose Todesreigen der verlorenen Festgesellschaft. Rayo wollte rennen, doch die dichte Menge der Tanzenden hielt ihn zurück, nahm ihn mit unzähligen drehenden und wogenden Leibern gefangen. Der junge Adlige spürte, wie ihm die erdrückende Enge den Atem nahm, wie sich seine Hände feucht von kaltem Schweiß zu Fäusten verkrampften. Was, wenn sie ihn nicht gehen ließen? Nein – das war nicht möglich und das konnte er ihnen auch nicht gestatten, das sollte er ja nicht einmal nur denken. Er musste doch Noctan helfen! Mit aller Willenskraft, die Rayo noch irgendwie aufbringen konnte, drängte er sich durch die unsichtbaren Massen hindurch, schob und rempelte gegen den reißenden Strom an, der ihn in seinen rasenden Wellen gefangen nehmen wollte, kämpfte sich Meter um Meter auf die kleine Türe zu. Das ohrenbetäubend schrille Geschrei der Violinen ließ das Glas des flackernden Lüsters beben. Rayo schrie auf. Sein rettender Ausgang schien zum Greifen nahe und dennoch unerreichbar weit von ihm entfernt, denn der Widerstand wurde mit jeder Sekunde erbitterter, panischer, während die Kraft im Körper des Blondschopfes mehr und mehr nachließ. Mit einem verzweifelten Satz sprang der junge Adlige auf den hölzernen Durchgang zu, packte die angelaufene Türklinke, drückte sie noch in derselben Bewegung herunter und warf sich in den dahinerliegenden Raum. Er fühlte unzählige eiskalte Skelettfinger, die sich um sein Bein legen wollten um ihn festzuhalten, ihn zurück in den geisterhaften, todbringenden Ballsaal der lebenden Leichen zu zerren und ihn niemals wieder gehen zu lassen. Sie kamen zu spät. Rayo wurde von seinem eigenen Schwung geradewegs durch den dunklen Türrahmen hindurchgeschleudert. Mit einem lauten Knall fiel das erstaunlich schwere hölzerne Portal hinter ihm ins Schloss, noch bevor der Blondschopf auf dem Teppichboden aufprallte, sich dreimal überschlug und dann reglos und zitternd liegen blieb. Das hysterische Kreischen der Violinen tönte immer noch schmerzhaft in seinen Ohren, jagte ihm ein ums andere Mal kalte Schauder über den Rücken hinab. Rayo schloss die Augen und atmete tief durch, um sich wenigstens wieder ein bisschen zu beruhigen. Dann rappelte er sich langsam und unsicher auf, hob seinen Kopf und sah sich in dem kleinen Raum um, den er auf solch ungewöhnliche Art und Weise betreten hatte. Er wirkte ein bisschen wie eine verspielte Miniaturausgabe des Saales, aus dem er sich eben noch hatte retten müssen, nur dass Teppich und Wände in diesem Zimmerchen intensiv blutrot leuchteten. Ein kleines, kunstvoll verziertes Schränkchen aus glänzend poliertem dunklem Holz stand an der gegenüberliegenden Wand, daneben ein niedriges Tischchen, auf dem ein goldener Kerzenleuchter mit drei scharlachroten Kerzen stand. Ansonsten war der Raum leer. Rayo presste einen letzten tiefen Atemzug zwischen den Lippen hervor und wandte sich dann erst einmal dem zwar kleinen, dafür aber umso verschnörkelteren Möbelstück zu. Er wollte gerade darauf zugehen, um ihn nach irgendetwas Brauchbarem zu durchsuchen, als er plötzlich hörte, wie sich hinter ihm die Türe öffnete. Ein leises Kichern erfüllte das Halbdunkel des Zimmerchens. „Hallo, Rayo!“ Hoshi kniff ihre Augen fest zusammen, während die schwarze Gestalt in einem wahrhaft irrsinnigem Tempo näher kam und sich schließlich mit einem einzigen Satz auf sie stürzte. Das Mädchen hielt den Atem an und krampfte ihre eisigen Hände ruckartig zusammen, als sie fühlte, wie sich kleine, dünne Finger um ihren Arm legten und mit erbarmungsloser Härte zupackten. Und dann begann der Schatten zu schreien. „Hoshi! Hoshi, Hoshi, Hoshi, Hoshiii!!!“ Die Lichtmagierin riss ihre dunklen Augen weit auf und vergaß einige Momente lang zu atmen. Natürlich kannte sie diese Stimme! Das Blut schoss ihr ins Gesicht, als sie endlich begriff, vor wem sie da die ganze Zeit über so verzweifelt davongelaufen war. „Misty!“ Tiefe Erleichterung mischte sich in die Scham des Mädchens. Sie drehte sich langsam auf den Rücken und schloss den zitternden Körper ihrer kleinen Freundin fest in die Arme. Die Blauhaarige klammerte sich an Hoshis Arm und schüttelte dann wie wild ihren Kopf. „Wir müssen ganz, ganz, ganz schnell weg von hier!“, schluchzte Misty und presste ihr Gesicht in den Stoff von Hoshis Oberteil. „Noctan ist nicht hier! Niemand ist hier und wir dürfen auch gar nicht hier sein! Misty… Misty mag diesen Ort nicht!“ Hoshi strich der Kleinen beruhigend über die hellblauen Haare. „Ist gut, Misty!“, flüsterte sie dem Mädchen zu. „Ich will ja auch nicht hier bleiben. Hier ist es wirklich nicht schön. Aber du musst dich nicht mehr fürchten, hörst du? Ich bin ja jetzt da und passe auf dich auf!“ Hoshis Worte hallten höhnisch zischend in ihren eigenen Ohren wieder. Glaubte sie denn wirklich an das, was sie der kleinen Blauhaarigen da so heuchlerisch versprach? Die Lichtmagierin war zu müde, um noch weiter darüber nachzudenken, um mehr Gefühl und Ehrlichkeit in ihre leeren Worte zu legen, die ja nicht einmal mehr sie selbst überzeugen konnten. Die drückende Hitze und der immerwährende, boshafte Herzschlag raubten ihr langsam aber sicher die Fähigkeit, überhaupt noch irgendeinen klaren Gedanken zu fassen. Trotzdem war sie unendlich froh darüber, nicht mehr allein durch diesen Alptraum wandeln zu müssen – und vor allem jemanden an ihrer Seite zu haben, der sogar noch ungleich mehr Angst hatte als sie selbst. „Komm mit!“ Hoshi kämpfte sich auf die immer noch äußerst unsicheren Beine, löste sich sanft aus Mistys Klammergriff und nahm die Kleine bei der Hand. Dann wandte sie sich etwas zu eilig um und steuerte mit raschen Schritten jener widerwärtigen, bösartigen Türe entgegen, durch die sie diesen abscheulichen Organismus überhaupt erst betreten hatte. Die Lichtmagierin konnte weder mit Worten noch in Gedanken ausdrücken, wie sehr sie sich nach der ehemals so bedrohlich wirkenden Dunkelheit des seltsamen und überaus tückischen Treppenhauses sehnte. Der Anblick der immerfort pulsierenden Adern, die jene rot glühende, dickflüssige Masse durch das stinkende, pechschwarze Fleisch pumpten, wurde mit jeder Sekunde unerträglicher. „Dieses Schiff hat ein Herz“, hauchte eine zittrige Stimme hinter ihr so gedämpft und leise, dass sie beinahe vom Dröhnen des Pulses verschlungen wurde. „Misty… Misty hat es gesehen.“ Hoshi spürte, wie ihr ein eiskalter Schauer über den Rücken lief und langsam und gründlich jedes einzelne ihrer Nackenhaare wie elektrisiert zum Beben brachte. So abartig und grauenhaft dieser Gang auch war, um wie vieles schlimmer musste erst jener unvorstellbar grässliche Klumpen Bosheit sein, jener schwarze Motor, der das verdammte Schiff unaufhörlich durch die nächtliche See trieb, gierig nach neuen Opfern für sein todbringendes Spiel? „Wir… wir kommen bestimmt bald aus diesem furchtbaren Schiff heraus!“, versicherte Hoshi schnell. Sie wusste nicht, ob sie damit sich selbst oder das kleine Mädchen beruhigen wollte, sie wusste lediglich, dass ihr zumindest Ersteres beim besten Willen nicht gelang. Als die Lichtmagierin dann endlich den schwachen Schein der ersten Kerzen an der immer noch schwarzen, aber nunmehr eindeutig hölzernen Decke erkennen konnte, schien ein ganzes Gebirgsmassiv von ihrem heftig pochenden Herzen abzufallen. So eilig wie es mit der überaus anhänglichen Misty am Handgelenk eben möglich war, erklomm das Mädchen die finsteren, viel zu hohen Stufen und durchquerte die triefende Dunkelheit, bis sie schließlich mit einem Seufzer unendlicher Erleichterung die rostige Türe aufstoßen konnte. Das abscheuliche zerfressene Metall kreischte schrill und höhnisch, als die beiden Mädchen keuchend aus der Hitze der lebendigen Hölle in das blaue Nachtlicht hinaustaumelten. Hoshi achtete nicht mehr auf den schmerzenden Misslaut des schadenfrohen Portals, viel zu sehr war ihr erschöpfter Körper erfüllt von einem Gefühl tiefster Befreiung. Die Dunkelhaarige ließ sich gegen eine der angenehm kühlen Wände sinken, rutschte langsam und genüsslich daran hinab und lehnte ihren merkwürdig hohlen Kopf an das nachtfarbene Holz zurück. „Wo sind eigentlich Rayo und Shinya?“, fragte Misty nicht ohne gewisse Ungeduld in der zittrigen Stimme und sah sich demonstrativ in dem kleinen Raum um. „Verstecken die sich?“ „Hm… ich glaube eher nicht, dass ihnen jetzt zum Spielen zumute ist, Misty. Sie sind in die anderen Türen gegangen und suchen Noctan. Und dich.“ „Aber Misty ist doch hier!“, lachte die Kleine derart unbefangen, dass es Hoshi beinahe schon wieder unheimlich war. „Und Noctan ist aber auch dumm! Wenn Misty nämlich irgendwie so komisch wäre und sich verstecken wollte, dann würde sie doch in diese gaaaaanz, ganz unheimliche Türe da gehen. Nicht in so eine Schöne. Da traut sich doch jeder gleich, nach ihm zu suchen!“ „Na, wenn du meinst…“ Die Lichtmagierin legte ihren Kopf schräg und verharrte einige Sekunden lang in tiefem Nachdenken. Dann nickte sie, rappelte sich wiederum auf und steuerte mehr oder minder entschlossen auf die unscheinbarste der drei Türe zu. „Komm, Misty! Wir gehen jetzt und helfen Shinya! Einverstanden?“ „Einverstanden!“, rief die Blauhaarige und grinste über das ganze Gesicht. „Aber warum denn Shinya? Shinya ist doch viel, viel mutiger als Rayo, ooooder?“ „Ach, weißt du…“ Hoshi zuckte mit den Schultern und versuchte irgendwie das schlechte Gewissen niederzukämpfen, das die unbedachten Worte des kleinen Mädchens in ihr geweckt hatten. „Ich habe irgendwie so ein Gefühl… als könnte er das jetzt ganz gut gebrauchen.“ Sie öffnete vorsichtig die schwarze, hölzerne Türe und spähte in den dahinterliegenden Raum. Das flirrende Gemisch aus Staub und blauer Dunkelheit machte es ihr schwer, überhaupt irgendetwas zu erkennen. Und auch als ihre müden Augen sich langsam an das trübe Zwielicht gewöhnt hatten, sah sie zunächst einmal noch niemanden in dem einfachen Kämmerchen stehen. Als Hoshi dann endlichen ihren Fehler bemerkte, lief eine eisige Starre durch ihren Körper. Natürlich hatte sie niemanden in dem Raum stehen sehen! Was aber keineswegs bedeutete, dass er deshalb auch wirklich leer war, denn mitten auf dem staubigen Boden lag Shinya, regungslos… wie tot. Wiederum vergingen etliche lähmende Sekunden, bis die Lichtmagierin begriff, was an diesem Anblick nicht stimmen konnte. Die Haltung des Katzenjungen war vollkommen unnatürlich, so als wäre er in sehr schnellem Laufen zusammengebrochen, als hätten ihm mitten in der Bewegung die Beine versagt… aus Erschöpfung? Aber das war absurd, oder noch besser gesagt, unmöglich! Der Raum besaß nämlich nur diese einzige Türe. Hoshi schob rasch ihre letzten logischen Überlegungen beiseite – was brachte sie denn eigentlich auf die Idee, auf einem Geisterschiff logisch denken zu wollen? – und stürzte zu dem bewusstlosen Katzenjungen hin. Oder zumindest hoffte sie, dass er nur bewusstlos war. Hoshi schüttelte energisch ihren Kopf, obgleich die allzu heftige Bewegung ihre düstere Umgebung vor ihren Augen verschwimmen und sogar noch die letzten spärlichen Formen und Konturen verlieren ließ. So etwas durfte sie nicht einmal denken! Hastig, mit schuldbewusst geröteten Wangen, kniete sie sich zu dem leblosen Körper hinab und nahm ihn vorsichtig in ihre Arme. „Shinya?“ Hoshi wollte nach ihrem Freund rufen, wollte schreien, aber sie brachte nicht mehr als ein brüchiges Flüstern über die Lippen. „Shinya!“ Der Katzenjunge reagierte nicht. Kein Zucken, kein Blinzeln lief über sein Gesicht und verriet auch nur das geringste Lebenszeichen. „Shinya? Shinya, verdammt noch mal, sag irgendwas! Hörst du mich? Shinya!“ Panik kroch in dem Mädchen hoch und legte sich wie eine dünne, starre Eisschicht über ihren gesamten Körper. Was, wenn sie zu spät kam? Hoshi wusste nicht, was in diesem scheinbar vollkommen leeren kleinen Kämmerchen geschehen war, aber sie hatte den Hauch des Verderbens am eigenen Leibe gespürt, den das Schiff wie giftigen Atem ausstieß. Und wenn Shinya diesem Gift nun zu nahe gekommen, ihm vielleicht sogar erlegen war? Nein! Das konnte, das durfte einfach nicht sein! Hoshi wollte diesen Gedanken nicht akzeptieren, obgleich er wie eine Herde panischer Wildpferde ein ums andere Mal durch ihren Kopf raste. Sie packte die Schultern des Jungen und schüttelte ihn. „Shinya!!“ „Ho… Hoshi?“ Durch die Lider des Katzenjungen lief ein leises Zittern. Seine Lippen bewegten sich kaum merklich, während er unendlich langsam seine grünen Augen aufschlug. „Shinya? Oh Gott… Shinya!!“ Mit einem einzigen erleichterten Schluchzen fiel das Mädchen ihrem Freund um den Hals und drückte ihn an sich, so fest sie nur irgendwie konnte. „Ich… ich bin so froh, du… du bist in Ordnung!“ „Ja… mir… mir geht’s prächtig… falls… falls du mich jetzt nicht erwürgst… dann geht’s mir nämlich nicht mehr so prächtig, glaube ich.“ „Ist mir egal!“ Hoshi presste ihren Kopf an Shinyas Hals und vergrub ihre Finger im Stoff seines Oberteiles. So verharrte sie mehrere Minuten lang, und spätestens, als sie die Hand des Katzenjungen vorsichtig über ihren Rücken streichen fühlte, vergaß sie auch vollkommen, dass sie ja immer noch auf einem nach wie vor verfluchten Geisterschiff ins Ungewisse segelten, umgeben von Staub und bläulichen Schatten. Shinya lebte und das war eigentlich auch schon der einzige Gedanke, der noch Platz in ihrem Kopf finden konnte – wenn überhaupt. Im Grunde genommen dachte sie nämlich überhaupt nicht mehr nach und verlor sich dankbar in der tiefen, aufrichtigen Erleichterung, die sich wohlig warm in ihrem Körper ausgebreitet hatte. Dann jedoch verließen sie irgendwann die Kräfte zu einer derart festen Umarmung und auch ihr Geist kehrte langsam wieder in die düstere Realität zurück. Hoshi holte sie tief Luft, dann löste sie sich vorsichtig aus Shinyas Armen und legte ihm stattdessen beide Hände auf die Schultern. Ihre dunklen Augen suchten ernst und besorgt die seinen, und das stete Flackern, das sie dort entdeckte, gefiel ihr ganz und gar nicht. „Was… was war denn eigentlich los hier? Warum…“ Sie brach ab und beließ es bei einem fragenden Blick, den der Katzenjunge auch sehr wohl zu verstehen schien. „Ich… wie kommst du hier… wir…“ Shinyas Augen weiteten sich, was sie spontan sogar noch ein bisschen panischer aussehen ließ. „Du darfst nicht hier sein! Du… du musst hier weg, schnell! Verdammt, wir… wir kommen hier nie mehr raus! Wir werden…“ „Shhh…“ Hoshi legte ihm beruhigend einen Finger auf die Lippen. „Ist ja gut. Du musst nicht darüber reden, was passiert ist, aber jetzt ist es jedenfalls vorbei. Ich denke…“ Sie ließ ihren Blick nachdenklich durch die offen stehende Tür in den schwarzen Raum schweifen, aus dem Misty die beiden jungen Estrella mit großen, ängstlichen Augen beobachtete. „Dieses Schiff ist Schuld daran… das ist irgendwie Schuld an allem hier. Es raubt einem den Verstand… irgendwie. Wir müssen schaun, dass wir Noctan finden, und dann… so schnell wie möglich von hier wegkommen…“ „Du hast Noctan also auch nich gefunden?“, fragte Shinya leise, nachdem er einige Male tief durchgeatmet hatte. Hoshi schüttelte langsam den Kopf. „Nein. In diesem Gang…“ Sie erschauderte unweigerlich bei dem Gedanken an jenen pochenden, von blutig roten Adern durchzogenen Organismus. „In diesem Gang war er nicht. Dafür aber Misty.“ Shinya atmete geräuschvoll aus und wischte sich immer noch reichlich unsicher über die Stirn. „Das is gut. Sehr gut.“ „Immerhin, unsere Kleine haben wir wieder! Und Noctan, den finden wir… Moment mal…“ Hoshi schluckte schwer. Das aufgeregte Rot, das die ganze Zeit über ihr Gesicht bedeckte hatte, wich nun schlagartig aus ihren Wangen. „Wenn ich ihn nicht gefunden habe. Und wenn du ihn nicht gefunden hast. Dann…“ Obwohl Hoshi das gar nicht mehr für möglich gehalten hatte, wurde Shinyas Blick schlagartig sogar noch viel entsetzter. „Dann heißt es, dass… Rayo!!“ „Na, wie fühlt man sich… so… so…“ Die schwankende Gestalt stieß ein schrilles, gehässiges Lachen hervor. „In die Falle gedrängt… wie ein Tier… ein kleines, hilfloses Mäuschen… ist das nicht wirklich komisch?“ Er schüttelte kichernd seinen Kopf. „Noctan… bitte… nein…“ Rayo war wie gelähmt vor Angst und einer ganzen Menge anderer Gefühle, die er nicht beschreiben konnte und am liebsten auch niemals in seinem ganzen Leben kennen gelernt hätte. Er stand mit dem Rücken dicht an die Wand gepresst, und nur diese Tatsache hielt ihn noch auf den Füßen. Er spürte, wie ihm eisig kalter Schweiß über das Gesicht lief, wie sein Körper heftig zitterte. Aus irgendeinem Grund hatte er längst schon begriffen, dass Noctan ihn töten würde. Ausgerechnet Noctan. „Oh, hat das reiche Kindchen etwa Angst? Will es wieder zurück zu seiner Mami?!“ Noctans Stimme sollte wohl gehässig klingen, doch sie überschlug sich bei jedem zweiten Wort und schien nicht mehr als das sinnlose Gekicher eines Wahnsinnigen zu sein. Trotzdem verletzte er Rayo mit jedem seiner Worte wie mit glühenden Messerstichen. „Ich… ich hab dir gesagt, dass du nicht von meinen Eltern reden sollst!!“ Der junge Adlige keuchte. „Aber warum denn nicht? Freu dich, Rayo, freu dich, wenn ich noch einmal von ihnen rede, du wirst sie ohnehin nie wieder sehen können!“ Noctans zuckende Mundwinkel verzogen sich zu einem reichlich missglückten, aber dennoch unbeschreiblich boshaften Grinsen. „Na, mein kleiner Rayo, was sagst du nun? Was helfen sie dir jetzt, dein wundervoller Adelstitel, deine großartige, reine Blutlinie… all dein Geld… du wirst sterben, ganz einsam und alleine und alle, alle Welt wird dich vergessen!“ „Bitte… hör auf, Noctan, hör auf damit! Du kannst es!“ Die tiefblauen Augen des Jungen waren starr und panisch aufgerissen. Aus seinem ohnehin schon recht blassen Gesicht war jegliche Farbe gewichen. „Ach so?“ Die weißhaarige Gestalt legte den Kopf schief und blinzelte einige Male mit seinen milchig weißen Augen. „Ja, ich kann… ich kann jetzt eine ganze Menge, weißt du? Schau nur her, Rayo, ich zeige dir, was ich kann!“ Er vollführte eine rasche, abgehackte Handbewegung in Richtung des kleinen Tischchens, das daraufhin mit einem erschrockenen Krächzen exakt und sauber in der Mitte durchbrach. „Ist das nicht toll, Rayo?“ Er kicherte erneut, und wieder schien seine Stimme ein Stück Menschlichkeit verloren zu haben. „Und das…“ Er trat einige Schritte auf den blonden Jungen zu. „Das mache ich nun mit deinem hübschen Hälschen, ist das nicht toll?“ Schwankend riss Noctan seinen Arm in die Höhe und holte weit aus. „Noctan… nein…“ Gegen seinen Willen füllten sich Rayos große blaue Augen mit Tränen. Seine bleichen Lippen begannen zu beben. „Bitte nicht… Noctan…“ Auf das kalte transparente Gesicht des Weißhaarigen stahl sich ein teuflisches Lächeln. „Sag Goodbye, Rayo!” Er hob den Arm noch ein Stückchen weiter, wie um Schwung zu holen, und obwohl (oder vielleicht auch weil) Rayo ganz genau wusste, was nun unweigerlich folgen musste, schloss er seine Augen und senkte den Kopf. Er schluchzte leise. Dies sollte also sein Ende sein. Und ausgerechnet Noctan… Rayo versuchte nicht einmal mehr, sich zu wehren oder gar davonzulaufen. Er hörte die Bewegung von Noctans Hand, wie sie die staubige Luft zerschnitt und auf seinen Hals zuschnellte. Was in Wirklichkeit nur den Bruchteil einer einzigen Sekunde andauern musste, schien zu einer qualvollen Ewigkeit zu werden, der letzten Ewigkeit seines jungen Lebens. Er war innerlich fest vorbereitet auf den finalen, den endgültigen Schmerz, der alles andere durchdringen und wegwischen würde… auf den erlösenden Todesstoß… Der allerdings nicht kam, ebenso wenig wie die darauf folgende blutige Dunkelheit. Es vergingen etliche Sekunden, bis Rayo endlich begriff, dass die verstrichene Zeit ihm nicht nur in seinem gelähmten Bewusstsein so unendlich lange erschienen war. Es war ganz einfach nichts geschehen. Zögerlich schlug der junge Adlige seine Augen wieder auf. Einen Moment lang glaubte er, dass die Minuten und Stunden still stehen mussten, versunken in tiefem Todesschlaf, und mit ihnen auch seine finstere Umgebung. Samt Noctan, der in der Bewegung erstarrt war, ohne seinen Schlag zu Ende geführt zu haben. Seine Hand hatte nur wenige Zentimeter vor Rayos Hals schlicht und ergreifend angehalten, wie mitten im tödlichen Angriff eingefroren. Dann sah Rayo, dass Noctans Unterlippe zitterte. „Noctan?“ In Rayos leere Augen kehrte ein dumpfes, vorsichtiges Leuchten zurück. Über die totenbleiche Wange des Weißhaarigen rollte eine dicke blutrote Träne. Der Blondschopf spürte, wie sein Herz wieder schneller und lebendiger zu schlagen begann und die eisige Starre seines Körpers durchbrach. Aber er wusste, dass es nun keine Furcht mehr war, die seinen Puls derart beschleunigen ließ. Ein zögerliches, aber umso sanfteres Lächeln stahl sich auf sein blasses Gesicht. Langsam, aber ohne eine Spur von Angst streckte er eine Hand nach dem Gesicht seines Freundes aus. „Oh Noctan, ich…“ Die zitternden Finger des jungen Adligen erreichten ihr Ziel nicht mehr, denn urplötzlich lief ein Ruck durch das ganze Schiff. Noch im nächsten Augenblick bäumte es sich auf, wild und verzweifelt wie ein Tier im Todeskampf, der schließlich mit einem letzten Beben erstarb. Rayo taumelte nach vorne und wäre beinahe auf Noctan gestürzt, aber der machte einen schnellen Satz rückwärts, fuhr herum und stürzte wie von blinder Panik ergriffen durch die Ebenholztüre hinaus in den Tanzsaal. „Nicht!“ Rayos Kehle fühlte sich rau und trocken an, hatte kaum noch die Kraft zum Schreien. Der Blondschopf stolperte dem Jungen so schnell er nur konnte hinterher, denn er wusste, dass die letzte Chance, Noctan noch retten zu können, mit rasender Geschwindigkeit zwischen seinen Fingern hindurchglitt, um vom schwarzen Spiegel des Meeres verschluckt zu werden. Er ahnte, was geschehen war, doch die erwartete Erleichterung über diesen Augenblick blieb aus. Das Schiff hatte angelegt. Shinya war gerade erst durch die schwarze Türe der staubigen kleinen Kammer getreten, als der gewaltige Ruck durch die verfluchte Barke lief. Der Katzenjunge verlor das Gleichgewicht, taumelte, griff in letzter Sekunde nach dem Türrahmen und krallte sich in dem dunklen Holz fest. Ein glühender Schmerz raste durch seine ohnehin erst frisch verheilten Fingerkuppen und er spürte, wie ein warmer, feuchter Film zwischen seine Haut und den kalten Rahmen trat. Ein tiefer Atemzug hob seine Brust, vertrieb so gut es ging das brennende Pochen und machte einer äußerst kurzlebigen Erleichterung Platz. Immerhin hatte er sein Gleichgewicht wieder gefunden. Der Halbdämon löste sich von der Türe und wischte seine Hände am mittlerweile reichlich dreckigen Stoff seines Oberteiles ab. Jetzt war es also soweit! Sie waren am Ziel ihrer langen Reise angekommen und… Shinya hatte seinen Gedanken kaum zu Ende gedacht, da trieb sich ein lauter Knall der prächtigen Ebenholztüre wie ein hölzerner Keil tief in seine wirbelnden Emotionen. Der Katzenjunge hob erschrocken den Blick – und ein Gefühl von Schrecken brach über ihn herein, das in seiner Kälte einem inneren Schneesturm glich. Durch die Türe trat nämlich nicht etwa Rayo, sondern eine lebende Leiche, taumelnd und in einem fort hysterisch kichernd. Ihr milchig trüber Blick glitt rastlos durch das staubige Blau des Zimmers, ohne jedoch Shinya oder überhaupt irgendjemanden auch nur im Geringsten wahrzunehmen. Die wachsartig bleichen Wangen waren befleckt von tiefroten Spuren, über die sich ein ums andere Mal blutige Tränen ergossen. „Oh Gott… wir… wir müssen hier raus!“, schrie der Katzenjunge heiser, die grünen Augen flehend auf Noctans zuckendes Gesicht gerichtet, was dieser jedoch immer noch nicht zu bemerken schien. „Wo… wo ist Rayo? Und… und…“ Er brach ab, als das Schiff ein zweites Mal erzitterte. Durch die bläulich finsteren Gänge wälzte sich ein grollendes, zorniges Brüllen. Und in diesem Augenblick wurde schlagartig klar, dass sie alle miteinander verloren waren, wenn sie jetzt nicht flohen und die schwarze Barke mit all ihrem Grauen hinter sich ließen. „Kommt, verdammt noch mal, kommt!“ Shinyas Gedanken sprangen wie unter einem finsteren Blitzschlag aus ihren gewohnten Bahnen, wurden verdrängt und vernichtet von einem längst vergessenen Teil seines tiefsten Unterbewusstseins. Er handelte nicht mehr nach Vernunft oder Logik, vielmehr schien sein Körper beherrscht von Instinkten, die er selber nicht mehr verstehen konnte. Allerdings blieb dazu auch gar keine Zeit mehr. Der Katzenjunge packte Hoshi und Misty bei den Händen, stürmte kurzerhand an der schwankenden Gestalt vorbei, stieß die rostige Zyklopentüre mit einem einzigen heftigen Fußtritt auf und stürzte auf den nebligen Gang hinaus. Und tatsächlich – wieder klaffte in dem pechschwarzen Holz der Schiffswand eine tiefe Wunde, aus der teerfarbenes Blut in das finstere Wasser des Meeres sickerte. Inmitten des unförmigen Loches hatten sich die Schatten zu einem schmalen, hölzernen Steg formiert. Ohne lange zu zögern, stieß Shinya die beiden Mädchen hinaus an Land. „Dreht euch nicht um!“, schrie er. „Aber…“ „Nein!“, unterbrach er Hoshis Worte und vertrieb so schnell wie nur irgendwie möglich den flehenden, schmerzhaft panischen Tonfall ihrer Stimme aus seinen Ohren. „Ihr dürft nicht zurückschauen, hört ihr?! Auf gar keinen Fall, sonst war alles umsonst!“ Er wartete keine Antwort mehr ab, sondern wandte sich erneut der einäugigen Metalltüre zu, stieß sie auf und blickte keuchend in den Raum, in dem Noctan immer noch taumelnd und irrsinnig lachend umherwankte. „Rayo!“ Der Katzenjunge schrie, so laut er es noch irgendwie fertig bringen konnte, obwohl ihm jedes Wort in den Lungen brannte. „Rayo, bitte… bitte komm doch… Rayo!!“ Mit einem Mal fühlte Shinya sich vollkommen hilflos. Wo blieb der junge Adelige denn? War er überhaupt noch am Leben? Und außerdem, was sollte er denn nur mit Noctan machen? Er konnte ihn doch nicht einfach hier sterben lassen! Ihm lief die Zeit mit gigantischen Schritten davon und er wusste, dass er irgendetwas tun musste, irgendetwas, aber er konnte nicht einmal mehr darüber nachdenken, was dieses irgendetwas denn nun eigentlich sein sollte. Er war am Ende seiner geistigen und körperlichen Kräfte, und um ein Haar wäre ihm genau diese lähmende Verzweiflung zum Verhängnis geworden. Shinya war in eine Situation geraten, die ihn derart überforderte, dass er sich aus eigenem Antrieb niemals mehr daraus hätte befreien können – was er aber glücklicherweise auch gar nicht musste, denn seine Gedanken wurden abrupt von dem Geräusch der Ballsaaltüre zerrissen, die erneut mit einem ohrenbetäubend lauten Schlag gegen das schwarze Holz der Schiffswand prallte. Rayo stürzte hinaus, doch die aufkeimende Freude und Erleichterung des Katzenjungen wurde sogar überaus schnell wieder erstickt, als er in die Augen des blonden Jungen blickte. Irgendetwas an der tiefen, endgültigen Entschlossenheit darin gefiel ihm nämlich ganz und gar nicht. „Lauf, Shinya!“, schrie der junge Adlige. „Aber Rayo…“ „Du sollst den Mund halten und mir aus dem Weg gehen, hörst du nicht? Lauf, Shinya, lauf endlich!!“ Und da, ganz plötzlich und zudem aus einem Grund, den er selber wohl am wenigsten verstehen konnte, wusste der junge Halbdämon, dass dies sein einziger Ausweg war. Er konnte Rayo und Noctan schon längst nicht mehr helfen, und schon gar nicht, indem er die Türe blockierte und verloren in die Finsternis des Zimmers hineinstarrte. Shinya fuhr herum und stürzte wie in Trance durch den staubigen Gang und über die heftig schwankenden und empört quietschenden Planken des viel zu schmalen Steges hinweg. Erst, als er endlich das lebendig kühle Festland unter seinen Füßen spürte, sank er neben Hoshi und Misty zu Boden, die Hände fest zu Fäusten geballt. Der bittere Beigeschmack einer ganz unbeschreiblich vernichtenden Niederlage erfüllte seinen Mund, aber das war nicht einmal das Schlimmste an der ganzen Situation. Der Gedanke brachte ihn beinahe um den Verstand, und doch wusste Shinya ganz genau, dass er sich jetzt nicht mehr umdrehen durfte und eigentlich auch gar nicht mehr umdrehen musste. Was nun geschah, lag nicht mehr länger in seiner Hand. Auch Rayo wusste sogar erschreckend genau, was er zu tun hatte, und vielleicht zum ersten Mal in seinem Leben war er vollkommen überzeugt davon, richtig zu handeln. Eine nie gekannte Kraft und Entschlossenheit hatte sich in seinen Adern entzündet und rann nun glühend heiß durch seinen angespannten Körper. Er rannte auf Noctan zu, packte dessen Arm und zog ihn mit all seiner noch verbleibenden Kraft auf die Zyklopentüre zu. Der Weißhaarige folgte ihm nicht. Er stemmte sich Rayos Griff entgegen, zerrte und wand sich, und trotz seines immerwährenden Taumelns wohnte jeder seiner Bewegungen die panische Stärke eines eingekreisten Tieres inne. „Rayo, lass… lass mich los!”, stieß er keuchend hervor. „Ich werde sterben und das weißt du, also hau… hau ab, bevor ich dich auch noch töte!!“ Sein Kichern klang mehr und mehr wie ein vergeblich unterdrücktes Schluchzen, doch Rayo hörte kaum mehr darauf, ebenso wenig wie auf seine mühsam hervorgepressten Worte. Er schüttelte nur stumm seinen Kopf, umfasste dann kurzentschlossen den Körper seines Freundes und lief los. Noctan wollte sich wehren, sich aus dem Griff des jungen Adligen befreien, doch seine Bewegungen wurden schwächer und erstarben mehr und mehr, je näher der blonde Junge ihn auf den rettenden Ausgang zuschleifte. Dafür stellte sich Rayo ganz plötzlich und unvermutet ein vollkommen anderes Hindernis in den scheinbar so kurzen Weg. Das schwarze Todesschiff forderte seinen Tribut, wollte sein sicher geglaubtes Opfer nicht einfach wieder gehen lassen. Die Schiffsplanken erbebten unter einem kreischenden Ächzen, vibrierten und zuckten wie ein Schwarm pechfarbener Käfer. Rayo geriet ins Taumeln, kämpfte einige Augenblicke lang um sein Gleichgewicht und legte dann noch an Geschwindigkeit zu. Er wusste, dass er stürzten würde, wenn er nur ein klein wenig langsamer wurde, wenn er stehen blieb… Und doch brachte ihn das grausige Schauspiel, das ihm ein kurzer Blick über die Schulter zurück gewährte, beinahe zum Erstarren. Entsetzt musste Rayo mit ansehen, wie die scheußliche rostige Türe im Raum hinter ihm aus den Angeln flog, mit einem grässlichen Kreischen über den Holzboden schlitterte und dann auf abstoßende Art und Weise verformt in einer der staubigen Ecken zum Liegen kam. Wie auf ein misstönendes Kommando hin begannen die gesamten Wände der Barke wie ein gigantisches Herz zu pulsieren. Blutrote, ekelhaft pochende Äderchen zogen sich durch diese widerwärtige Masse wie ein lebendiges Spinnennetz, das sich in einem irrwitzigen Tempo um seine Opfer legte, nur um sie dann langsam und vor allem überaus qualvoll zu vernichten. Rayo schrie auf. Er presste Noctans Körper, der mittlerweile leblos wie eine eiskalte Puppe in seinen Armen hing, fester an sich und schloss die Augen, um den abstoßenden Anblick jener tödlichen, grauenhaften Metamorphose des Geisterschiffes nicht mehr länger ertragen zu müssen. Dann begann er zu rennen. Er wusste, dass der Ausgang unmittelbar vor ihm liegen musste, aber wie weit genau vermochte er nicht mehr zu sagen. Irgendetwas griff nach seinen Beinen, widerlich warm und zuckend in einem rasenden Pulsschlag, und der junge Adlige stieß ein panisches Keuchen aus, als ihm klar wurde, dass es die blutigen Adern waren, die ihn festhalten, ihn zu Fall bringen wollten. Er würde es nicht mehr schaffen. Ihm war klar, dass er nur noch eine letzte, winzige Chance hatte, und er musste nun alles auf diese eine Karte setzen. War er auch nur noch ein kleines Stückchen zu weit vom Ausgang entfernt, dann würde dies sein sicheres, abscheuliches Todesurteil sein. Er würde auf die gierigen Planken stürzen, wo ihn der furchtbare Organismus verschlingen würde, ihn und Noctan… und dennoch hatte er keine Wahl. Mit einem letzten Schrei sammelte er alle noch verbleibende Kraft in seinem Körper. Dann sprang er. Ende des achten Kapitels Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)