Equinox von YourBucky ================================================================================ Kapitel 4: Kapitel IV - Von Licht und Schatten ---------------------------------------------- ... und schon wieder ein neues Equinox-Kapitel! Ja, ich war fleißig, weil ich das hier unbedingt bis zum Geburtstag meines FF-Autoren SonGokuDaimao fertig haben wollte. Fünkchen, that's for you! ^.^ Die Arbeit an diesem Kapitel fiel mir stellenweise erstaunlich leicht, zumindest im Vergleich zu manch vorherigem (und nachfolgendem ;_;) Kapitel. Lustigerweise hat die Ãœberschrift, Von Licht und Schatten, in der überarbeiteten Version noch mal eine ganz neue Bedeutung gewonnen und passt jetzt nur umso besser. Man könnte dieses Chapter gewissermaßen unter das Motto "Nobody's perfect" stellen, denn hier zeigt sich mal, dass jeder der Charaktere so seine Schwächen hat... ich bin sehr glücklich darüber, dass in dem "neuen" Equinox wirklich alle Charas viel, viel... menschlicher und, wie ich finde, auch glaubwürdiger sind. Ich hoffe, dass ich mit dieser Meinung nicht alleine dastehe und es dem einen oder anderen gefällt. ^_^ Über Kommentare jeglicher Art würde ich mich persönlich sehr freuen! "Was zum..." Ein Licht flackerte auf, so grell, dass Shinya die Augen schließen und sich schützend beide Arme vor das Gesicht reißen musste. Nichts an diesem Licht war schön oder sanft - auf eine kaum zu beschreibende Weise war es auch nicht einmal wirklich hell, sondern lediglich von einer blendenden Bedrohlichkeit erfüllt. Nicht schon wieder, jagte es ihm ein ums andere Mal durch seine Gedanken, bitte nicht schon wieder, doch das Schicksal oder was auch immer sich nun für die anscheinend gar nicht enden wollenden Aufregungen dieser Nacht verantwortlich nennen durfte, schien wieder einmal kein Einsehen mit ihm zu haben. Eine widerwärtig klebrige Wärme umfing den Körper des Katzenjungen - nicht schmerzhaft, sondern einfach nur verflucht unangenehm - und als er es langsam wieder wagte, seine Arme sinken zu lassen und die Lider zu heben, da sah er zunächst einmal überhaupt nichts anderes mehr als Punkte und Kreise, die wie wildgeworden vor seinem Blickfeld umhertanzten. Und er sah, dass das Licht sich verändert hatte. Es war zunächst einmal mehr eine vage Ahnung, die dann aber rasch zur Gewissheit wurde, als sich der erste Eindruck auch mit besser werdenden Sichtverhältnissen nicht einfach wieder verflüchtigte. Jegliches blendende Gleißen hatte sich voll und ganz im Nichts verloren und war nun einem blässlich-warmen Leuchten gewichen, einem weichen Zwielicht aus trübem Sonnenschein und türkisblauen Nebelschwaden. Dies war allerdings bei Weitem nicht die einzige Veränderung, die seine Umgebung binnen weniger Sekunden durchlebt hatte. Unter den Sohlen seiner Stiefel fühlte Shinya nicht mehr länger das harte, etwas staubige Pflaster des Marktplatzes von Avârta, sondern weichen, angenehm warmen Boden, wie er ihn bislang nur aus den Wäldern von Arvesta kannte. Die Luft war auch nicht mehr klar und erfrischend kühl, sondern schwer von dem Duft nach Moos und Tannennadeln. Und als die Augen des Katzenjungen endlich wieder voll und ganz dazu imstande waren, sich umzublicken, da fand Shinya sich tatsächlich auf einem schmalen, gewundenen Waldweg wieder, der von zarten, ungewöhnlich hohen Farnen gesäumt wurde. Hinter diesen filigranen Pflanzenkunstwerken erhob sich eine Mauer aus Bäumen - allerdings Bäume, wie der Halbdämon sie noch nie zuvor in seinem Leben gesehen hatte. Die Rinde dieser Bäume trug die Farbe tiefen Schwarzes, ohne dabei jedoch krank oder auch nur unheimlich auszusehen, und ihre duftenden Nadeln und Blätter strahlten in einem intensiven Blaugrün. Die schlanken Äste der Laubbäume bildeten einen natürlichen Baldachin über dem märchenhaft verwunschenen Weglein, auf dem er stand, und versperrten so jeden Blick auf das weite Zelt des Himmels, sodass Shinya nicht einmal hätte sagen können, ob es nun immer noch Nacht oder tatsächlich bereits heller Morgen war. Etliche Momente lang war der Katzenjunge von der unwirklichen Schönheit des Ortes allerdings sowieso derart gefangen, dass er sich noch nicht einmal ernstlich wundern konnte. Dann jedoch schaltete sich langsam aber sicher sein logischer Verstand wieder ein und brachte ganz unweigerlich einen Berg von wenig wildromantischen, dafür aber umso quälenderen Fragen mit sich. Zum Beispiel, wie er quasi von einem Augenblick zum nächsten von dem Marktplatz eines Dorfes in einen Wald - in was für einen Wald überhaupt?! - gekommen war. Oder wo sich Noctan und Hoshi wohl befinden mochten, da er keinen von beiden auf dem Weg oder auch im Schutz des umliegenden Dickichts ausmachen konnte. Shinya schüttelte den Kopf, wie um seine Gedanken gewaltsam wieder auf vernünftige Bahnen zu lenken. Tatsächlich gab es nämlich gar nicht allzu viele Möglichkeiten, wie seine blitzschnelle Reise vonstatten gegangen sein konnte, und diese Möglichkeiten liefen im Endeffekt auch mehr oder weniger alle aufs gleiche Ergebnis heraus. Vielleicht war all die Aufregung der zurückliegenden Stunden ja einfach ein kleines bisschen zuviel für ihn gewesen und er infolgedessen ganz unheldenhaft in Ohnmacht gefallen, weshalb er nun auch in einem bemerkenswert realistischen und besonders schönen Traum verweilte. Oder er war lediglich das Opfer einer weiteren - wie hatte Noctan so schön gesagt? - Illusion geworden, die er in dieser Nacht ja anscheinend auch irgendwie magisch anzuziehen schien. Und während er noch so grübelnd zwischen Farnen, Zwielicht und Nebelfetzen verweilte, da hörte er mit einem Mal ein glockenhelles Stimmchen hinter sich ertönen: "Hallo, du! Hast du dich verlaufen?" Erschrocken fuhr Shinya herum - und prallte beinahe auf ein kleines Mädchen, das kaum älter als sieben Jahre sein konnte. Ihr ganzes Erscheinungsbild fügte sich derart perfekt in ihre Umgebung, dass es beinahe schon wieder grotesk war. Die Kleine hatte nämlich leuchtend himmelblaues Haar, das sie zu zwei Zöpfen zusammengebunden trug, dazu eigentümlich blasse, fast schon bläulich durchschimmernde Haut und große dunkelblaue Augen, die dem Katzenjungen neugierig entgegenblitzten. An ihren tiefblau samtenen Haarbändern baumelten winzige Glöckchen, und ihr kurzes Oberteil bestand aus einem lebendig meeresfarben glänzenden Stoff. Die dünnen Beine des Mädchens waren lediglich von einem kurzen schwarzen Röckchen verhüllt, über dem sie einen für ihre kindliche Größe eigentlich viel zu breiten Ledergürtel mit einer großen, etwas ausgebeulten Tasche trug. Zu ihren Füßen, die in schweren grauen, mit hellblauem Stoff verzierten Stiefeln steckten, saß ein braun-weiß geschecktes Tien-Tien. Shinya hatte noch nicht viele dieser scheuen Tiere gesehen, die ein bisschen so wie eine überaus niedliche Mischung aus einem Hasen und einer Katze aussahen. Er hatte irgendwann einmal davon gelesen, dass die Tien-Tiens auf Grund der großen, funkelnden Edelsteine, die sie auf ihrer Stirn trugen, lange Zeit von den Menschen gejagt und getötet worden waren, bis sie sich schließlich in den Wälder zurückgezogen hatten, um sich dort vor den Augen ihrer Jäger zu verstecken. Das blauäugige kleine Exemplar, das er nun jedoch vor sich hatte, schien von dieser Grundangst vor allem menschlichen Leben allerdings noch nicht allzu viel gehört zu haben, denn es kuschelte sich eng und vertrauensvoll an die Füße der kleinen Blauhaarigen und betrachtete auch Shinya eher mit wohlwollendem Interesse als mit lauernder Furcht oder Ablehnung. "Wer bist du?", fragte das Mädchen und machte einen forschen Schritt auf den Katzenjungen zu. "Misty hat dich hier noch nie gesehn. Du bist ja süß! Bist du eine Katze?" Shinya blinzelte der Kleinen verwirrt entgegen, was diese jedoch lediglich zu einem übermütig entzückten Lachen verleitete. "Ich... ich bin Shinya Trival", antwortete der Halbdämon ein wenig säuerlich (immerhin hatte er allen Grund, mit seiner momentanen Situation überfordert zu sein, und das fand er auch ganz und gar nicht komisch!) und hob seine Schultern. "Wie ich hier herkomme, wüsste ich allerdings auch gern. Was is das überhaupt für ein komischer Ort? Avârta wird's ja wohl nich sein, oder?" "Nein, nicht Avârta", verbesserte ihn die Kleine mit einem seiner Meinung nach eindeutig viel zu altklugen Lächeln auf den leicht bläulichen Lippen, "sondern Arcana. Das hier ist der Wald Arcana und ich bin Misty Shape!" Der Katzenjunge zwang sich mit leisem Widerwillen dazu, das begeisterte Strahlen der kleinen Blauhaarigen auf doch etwas gedämpfte Weise zu erwidern. "Was machst du eigentlich hier, so ganz allein? Ich mein, du bist ja doch noch so ein ganz klein wenig zu jung dafür, um hier einsam im Wald zu leben, meinste nich?" Das Mädchen machte große Augen. "Aber Misty ist doch gar nicht allein! Misty hat soooo viele Freunde hier!" Sie schob sich blitzschnell Daumen und Zeigefinger zwischen die Lippen und stieß einen hellen Pfiff aus, und noch im nächsten Moment begann sich die verträumt schlummernde Märchenlandschaft mit Leben zu füllen. Von überall her flatterten plötzlich zahllose Vögel herbei, große und kleine, in den fantastischsten Farben und mit prächtig leuchtenden Federkleidern. Kleine Tien-Tiens und Häschen hoppelten heran, und zur unvermeidbaren Krönung der traumhaften Szenerie sah Shinya dann auch noch ein zierliches Reh zwischen den Bäumen hervorstaksen. Dem Katzenjungen fielen fast die Augen aus dem Kopf. "Das sind alles Mistys Freunde! Siehst du? Misty ist gar nicht allein. Aber Shinya ist allein, wieso denn?" Es kostete Shinya große Mühe, sich wieder von dem schlichtweg unglaublichen Anblick loszureißen, den er in jeder Erzählung wohl ganz einfach nur als krampfhaft idyllisch und kitschig abgetan hätte, und der ihn nun, da er ihn mit eigenen Augen bewundern durfte, doch ohne jeden Zweifel zutiefst beeindruckte. Zu allem Überfluss hatte die vertrauensselige Tierschar nun auch noch zur kollektiven Belagerung des Mädchens angesetzt - die Vögel ließen sich auf ihrem Kopf und ihren Schultern nieder, während die übrigen Tiere ihr sanft und zärtlich um die Beine strichen oder mit sichtlicher Hingabe ihre kleinen Fingerchen abschleckten. "Also... es ist so", murmelte er, immer noch reichlich perplex, "ich war da eben noch auf dem Marktplatz von Avârta und allein war ich auch nich, aber die anderen sind plötzlich weg und ich... bin hier... oder so..." Wieder einmal erfüllte das helle, klare Lachen der kleinen Blauhaarigen den Wald. "Ich weiß schon, dann ist Shinya also durch das Licht hierher gekommen! Misty kennt das Licht, weil Mistys Großmutter nämlich ganz, ganz viel davon erzählt hat!" Sie unterstrich ihre Worte mit einem eifrigen Nicken. "Also muss Shinya ein ganz besonderer Mensch sein, wenn er durch das Licht nach Arcana gekommen ist. Misty ist nämlich auch als Baby durch das Licht nach Arcana gekommen!" Shinya horchte auf. "Das Licht, sagst du? Da war echt ein Licht, ja, aber was hat das zu bedeuten?" Misty zuckte mit den Schultern. "Na ja, so genau weiß Misty das auch nicht, aber das hat irgendwas mit Magiern zu tun. Misty kann nämlich zaubern und Misty wird einmal eine gaaaanz große Kriegerin, wenn sie erwachsen ist. Eine Sternenkriegerin!" "Moment Mal - sagtest du eben Sternenkriegerin?" Der Katzenjunge fühlte, wie ein leiser Schauer langsam über die gesamte Fläche seiner Haut kroch. Es war vor noch gar nicht allzu langer Zeit gewesen, da war er gemeinsam mit Hoshi und der alten Yantra wieder einmal gemütlich bei Eintopf und Kerzenlicht zusammengesessen und wie so oft war ihr heiteres Gespräch auf etlichen verschlungenen Pfaden schließlich doch wieder bei der Estrella-Legende angelangt. Und irgendwann hatte die grauhaarige Frau wie beiläufig in einem Satz erwähnt, dass das Wort Estrella tatsächlich Stern bedeutete, was Shinya zwar irgendwie erfreut hatte (schließlich liebte er die Nacht und alles, was damit zu tun hatte), aber letztendlich doch im strahlenden Lichte wichtigerer Fakten auf wenig rühmliche Weise verblasst war. Wenn er nun jedoch daran zurückdachte - und sich gleichzeitig die fast schon lachhaft absurde Tatsache vor Augen führte, dass ihm innerhalb der letzten vierzehn Tage bereits sage und schreibe fünf Estrella über den Weg gelaufen waren, sich selbst noch nicht mal mit eingerechnet - da erschien ihm jene kindlich naive Wortschöpfung der Blauhaarigen eigentlich gar nicht mehr naiv und kindlich, sondern ganz ungemein... bedeutungsschwer. Aber war es denn wirklich möglich, dass ausgerechnet dieses unschuldig dreinblickende kleine Mädchen...? "Ja genau! Und außerdem ist Misty auch eine ganz, ganz tolle Magierin, und wenn Shinya mag, dann kann sie ihn auch gleich wieder zu seinen Freunden zurückbringen! Misty ist nämlich schon groß und Misty kann genauso gut zaubern wie ihre Großmutter!" "Wie ihre... deine Großmutter?" Das neu entflammte Interesse vertrieb erfolgreich jegliche Verwirrung aus Shinyas Stimme und machte es ihm auch deutlich leichter, einen freundlichen, einnehmenden, ja sogar ein kleines bisschen begeisterten Tonfall zu wahren. "Hast du von ihr das mit dieser Sternenkrieger-Sache? Sag mal, es kann aber nicht zufällig sein, dass deine Oma da irgendwie noch mehr über die Est... über die Sternenkrieger weiß?" Das blauhaarige Mädchen nickte eifrig und schenkte Shinya ein stolzes Lächeln, woraufhin ganz wie von selbst ein freudiges Zucken durch Shinyas Katzenohren lief. Sollte es etwa tatsächlich möglich sein, dass sich das Schicksal nur ein einziges Mal auf seine Seite geschlagen hatte? "Hey, kannst du mich dann vielleicht mal kurz zu ihr bringen? Das würd mir nämlich echt total weiterhelfen, weißt du?" "Echt?", fragte Misty, und noch während sie sprach legte sich ein trauriger Ausdruck in das tiefe Blau ihrer großen Augen. Sie senkte ihren Blick ein wenig und schwieg einige Momente lang, bevor sie sich mit einem übereifrigen Kopfschütteln wieder zum Lächeln und Strahlen zwang. "Das ist aber dumm für Shinya, weil Großmutter ist nämlich eingeschlafen. Und sie träumt einen soooo schönen Traum, dass sie gar nicht wieder aufwachen möchte!" "Oh", machte Shinya mangels einfühlsamerer, tröstenderer Worte, und ließ seinen Blick hastig zu dem bläulichen Grün der Farne schweifen, das auf einmal ganz ungemein an Faszination gewonnen hatte. Er spürte einen leisen Stich in seinem Herzen und er begriff nicht, wieso, da er das Mädchen erstens nicht kannte und zweitens auch kleine Kinder im Allgemeinen nicht sonderlich mochte. Aber trotzdem... Misty war wirklich noch sehr jung, und nach dem Tod ihrer Großmutter war sie gewiss der einzige Mensch, der jetzt noch diesen merkwürdig zauberhaften Wald bevölkerte, was doch allen herzigen Tieren zum Trotz ein ziemlich einsames Leben sein musste... Oder zumindest stellte er es sich so vor. "Aber jetzt soll Misty Shinya doch zu seinen Freunden bringen, oder?", fragte die Kleine hastig. Der Katzenjunge nickte und bemühte sich um ein aufmunterndes Lächeln. "Dann wart mal kurz, Shinya!" Misty ging auf die Knie und streckte ihre Arme nach dem kleinen gescheckten Tien-Tien aus, das schon vor den übrigen Tieren bei ihr gewesen war. Das kleine Fellknäuel quiekte freudig und bewegte sich mit einem überraschend kraftvollen Satz auf die Schulter des Mädchens. "Auf Wiedersehn, Chibi! Pass bitte auf die anderen auf, während Misty weg ist!" Die Kleine und ihr Tien-Tien tauschten einen kurzen, amüsanterweise aber unvorstellbar innigen Blick aus, und noch im nächsten Moment hatten die Augen der Blauhaarigen ihr wahres Leuchten zurückgewonnen, vielleicht sogar noch ein kleines bisschen strahlender als zuvor. "Meinst du wirklich? Oh Chibi, das ist eine tolle Idee!" Sie schloss den kleinen Schecken fest in ihre Arme, dann setzte sie ihn vorsichtig wieder auf dem Waldboden ab und zog eine silbrig schimmernde Flöte aus ihrer Tasche hervor. "Dann sehn wir uns ja bestimmt bald wieder, Chibi-chan!" Misty kraulte noch ein letztes Mal hingebungsvoll das braun-weiße Fell des Tieres, dann sprang sie auf und hüpfte Shinya lachend entgegen. "Soooo, jetzt können wir gehen!" Shinya vollführte eine Kopfbewegung in Richtung des nun ganz eindeutig etwas geknickt dreinblickenden Tien-Tiens. "Sag mal... wär das irgendwie möglich, dass ihr euch... also... unterhalten könnt? Ich mein du... und dein... dein Tier?" "Natürlich kann Misty mit Chibi sprechen", entgegnete die kleine Blauhaarige in milde verzeihendem Tonfall und bemaß den Halbdämon gleichzeitig mit einem Blick, der tatsächlich in leuchtend roten Lettern die Worte hirnlos und Dummkopf in die bläulich schimmernde Luft zu schreiben schien. "Mistys Großmutter konnte das nämlich auch und hat es Misty beigebracht. Misty kennt Chibi schon, seit Chibi ein ganz kleines Baby ist, und Chibi kann auch zaubern!" "Wie schön", murmelte Shinya wenig geistreich, was ihm spontan ein (seiner Meinung nach etwas zu) unverschämt breites Grinsen seitens des Mädchens einbrachte. "Sowas hab selbst ich noch nie gesehn!" "Das findet Misty auch. Aber jetzt reden wir ja schon wieder, los jetzt!" Misty schwenkte in sichtlicher Ungeduld ihr kleines, silbern blitzendes Instrument in der Luft umher und wandte sich von dem Katzenjungen ab. Shinya sah schon, wie sich ihr zierlicher Körper spannte, bereit, jeden Augenblick loszuschnellen und den gewundenen Waldweg hinabzulaufen, dann jedoch hielt die Kleine noch einmal kurz inne und grinste betont frech über ihre Schulter zurück. "Und außerdem hat Misty auch noch nie einen Jungen mit Katzenohren gesehn!" Lachend drehte sie sich um und sprang mit übermütigen Sätzen den verwunschenen Pfad hinab, tiefer hinein in den von blauem Licht und blauen Schatten erfüllten Märchenwald. Die Nebelfetzen sammelten sich mit zunehmender Dichte zwischen den nachtfarbenen Baumstämmen. Tautropfen schimmerten auf den Farnen und den Pilzen, die dicht neben den hohen, dunklen Stämmen der Baumriesen wuchsen. Die ganze Kulisse schien an sich schon einem unheimlich schönen, fantastischen Traum entsprungen zu sein, und nun erklang inmitten dieser unwirklichen Atmosphäre auch noch das silberhelle Flötenspiel des kleinen Mädchens. Misty spielte eine gleichzeitig träumerisch ruhige und doch lebhaft bewegte Melodie, ein an und für sich recht schlichtes Liedchen, das Shinya dennoch eine überaus hartnäckige Gänsehaut über den Rücken jagte. Trotz ihres Spiels gelang es dem Mädchen, schneller und schneller voranzulaufen, bis der Halbdämon schließlich größte Probleme hatte, überhaupt noch mit ihr Schritt zu halten. Ihre Zöpfe flogen bei jedem Sprung hinter ihr her, schimmerten im blauen Licht des Waldes, in das die kleine Gestalt schließlich vollkommen eintauchte. Ihre Konturen verblassten mehr und mehr, während gleichzeitig wahre Massen von Nebel aufzogen und den Wald in einen schneeweißen Schleier hüllten. Irgendwo inmitten dieses Nebelmeeres sprang und hüpfte ein kleines blaues Irrlicht, und Shinya begriff rasch, dass es sich bei diesem tanzenden Schein nur um Mistys an und für sich ja silberne Flöte handeln konnte, die milchig weich zu glühen begonnen hatte. Schließlich verblasste jedoch selbst dieser letzte Funken an Orientierung, als sich der dunstige Rausch seiner Umgebung in ein einziges schimmerndes Nichts auflöste, doch aus irgendeinem Grund blieb Shinya auch jetzt nicht stehen, sondern rannte einfach immer weiter geradeaus, blindlings ins Ungewisse hinein. Erstaunlicherweise schien auch der Boden unter seinen Füßen merkwürdig... aufgeweicht... undefiniert, und so blieb dem Katzenjungen keinerlei Chance, seine tatsächliche Umgebung zu bestimmen. Befand er sich etwa immer noch inmitten des traumhaft schönen Waldes, in den er auf so mysteriösem Wege hinein- und jetzt angeblich auch schon halb wieder hinausgelangt war? Schwebte er gar am Ende irgendwo zwischen Raum und Zeit, in einem unbestimmten Nichts zwischen allen Dimensionen, aus dem es möglicherweise kein Entkommen mehr gab? Wer sagte ihm denn eigentlich, dass das - vielleicht nur auf den ersten Blick so niedliche - Mädchen ihn auch tatsächlich in Freiheit und Sicherheit führen wollte? Shinya spürte, wie sich noch im Laufen die bislang noch wohlige, vom zarten Klang des Flötenspiels verzauberte Gänsehaut auf seinem Körper in eine unangenehme Salve eisig kalter Schauer verwandelte. Er keuchte, schnappte nach Luft, und noch im selben Moment verstummte Mistys Liedchen und er taumelte in einen grausigen Zustand vollkommener Orientierungslosigkeit hinein. Er fühlte sich so verloren wie selten zuvor, gefangen in einer Welt, in der es keinerlei Sinneseindrücke mehr gab, nur noch Weiß, glanzloses, dichtes, alles erstickendes Weiß, nicht mehr und nicht weniger. Dann plötzlich hörte er seinen Namen und der Bann war gebrochen. "Shinya? Shinya, oh bei den Göttern, da bist du ja endlich wieder!" Der Katzenjunge blinzelte, nur ein einziges Mal, und schlagartig waren sämtliche Farben, Formen, Gerüche und Gefühle zurückgekehrt, die sich auf einem nächtlich verlassenen Dorfplatz eben so finden ließen. Da war die Front schlummernder Häuserfassaden und das blitzende Tuch des Nachthimmels. Da war der harte Pflasterstein unter seinen Fußsohlen und das hektische Klopfen, das seine eigenen Schritte darauf erzeugten. Da war das leise Lied des Nachtwinds und seine sanfte Berührung. Und da war Hoshi, die mit angstvoll geweiteten Augen und wehendem Haar auf ihn zugelaufen kam. Verwirrt blickte Shinya um sich, doch seine Umgebung war tatsächlich derart normal, dass es ihn erschaudern ließ. Das Licht der Nacht war blau, doch ihm fehlte der unwirkliche meeresfarbene Schimmer des seltsamen Waldes. Einmal abgesehen davon waren auf dem Marktplatz von Avârta aus naheliegenden Gründen auch keinerlei Farne, Baumriesen und Moosbüschel, ja nicht einmal mehr ein einziges kleines Pilzchen zu finden, und auch von Misty fehlte jede Spur - ebenso wie von Noctan, was den Katzenjungen aber nur sehr bedingt traurig stimmte. "Shinya, wo warst du denn?", keuchte ihm da allerdings auch schon Hoshi in sein Ohr, bevor er noch tiefer in Gedanken versinken konnte. "Macht es dir heute irgendwie Spaß, mich halb zu Tode zu erschrecken?" Der Halbdämon wandte träge seinen Kopf, fühlte sich allerdings viel zu benommen, um lange über eine einfühlsam erklärende Antwort nachzudenken. Es gab viele Wege, um zu ein und demselben Ziel zu gelangen, und obwohl Shinya sein genaues Ziel momentan gar nicht mehr wirklich erkennen konnte, entschied er sich doch ohne langes Nachdenken für die kürzeste und direkteste Route, da ihm zu jeglichem Umweg die Kräfte fehlten. "Also... ich weiß zwar nicht, was und wo das ist, aber ich war in Arcana und ich habe einen Estrella getroffen. Wo auch immer sie nun sein mag. Hier ja scheinbar nicht. Und, nein, ich wollte dich nicht umbringen. Noch Fragen?" "Noch Fragen?" Hoshi machte große Augen und durchbohrte den Halbdämon mit einem derart entgeisterten Blick, dass dieser unweigerlich die Schultern hob, um schützend den Kopf einzuziehen. "Da fragst du noch, ob ich noch Fragen habe? Hallo? Arcana? Einen Estrella getroffen? Muss ich das jetzt verstehen?" "Ähm... keine Ahnung?" "Na, du machst mir Spaß! Verschwindest plötzlich und stehst dann wieder vor mir und behauptest allen Ernstes, du wärst gerade eben in einen Märchenwald hineinspaziert und hättest uns auch gleich noch Verstärkung mitgebracht, die sich jetzt allerdings spontan mal wieder in Luft aufgelöst hat... aha." "Was denn, aha?" Shinya spürte, wie Hoshis ganz offenkundig misstrauische und zweifelnde Verwirrung auf ihn überzugreifen begann, und diese Empfindung, gepaart mit einer wachsenden Erschöpfung und Müdigkeit, ließ einen starken Unwillen in ihm erwachen. "War ja klar, dass du irgendwie wieder weißt, wovon ich rede, aber dann weißt du's auch wieder doch nicht und ich soll jetzt am besten dumm lachen und sagen, dass ich's mir alles nur eingebildet hab, oder wie?" "Shinya, was soll denn das jetzt plötzlich?" Das Mädchen zwang sich ein Lächeln auf die Lippen, das allerdings nicht nur vollkommen unpassend, sondern auch reichlich erzwungen wirkte. "Ich meine... ich hab mir Sorgen um dich gemacht. Du warst einfach nicht mehr da und... ja, natürlich kenne ich Arcana, aber das kennt doch eigentlich jeder!" "Entschuldige bitte - ich nicht!" "Arcana ist ein Wald aus einer Geschichte... aus einem Märchen." Hoshi bemühte sich redlich um einen versöhnlichen Tonfall, was Shinya allerdings lediglich mit der überaus unangenehmen Erkenntnis erfüllte, dass sie ja eigentlich sowieso von Anfang im Recht und er wieder einmal furchtbar unfair gewesen war. Aber immerhin war er todmüde und aus irgendeinem Grund auch furchtbar frustriert... ernüchtert, und so verspürte er keinerlei Lust mehr auf das mühsame Streben nach taktvoller Diplomatie. "Kenn ich nicht", brummelte er unverändert missgelaunt. Hoshi seufzte tonlos, und Shinya hätte sie dafür erwürgen können, so gerne er das Mädchen an und für sich auch mochte. "Keiko hat sie mir oft erzählt, als ich noch ein Kind war. Es geht in dieser Geschichte um eine Frau, die mit den Tieren des Waldes sprechen kann und in Frieden und Freundschaft und Harmonie mit ihnen lebt. Ein typisches Kindermärchen eben. Ich glaube nicht, dass es dieses Arcana wirklich gibt." "Kann ich was dafür, dass ich dort war?" Shinya schob trotzig die Unterlippe vor, dann jedoch lief vollkommen gegen seinen Willen ein erkennendes Leuchten durch seine grünen Augen. "Moment mal... ne Frau mit Tieren? Das kann aber jetzt echt mal sein, ich meine so ganz im Ernst und nicht nur als... Märchen oder so. Die Frau, das is Mistys Großmutter! Und wie die das ist!" "Wer ist Misty?", fragte Hoshi und ließ zweifelnd eine ihrer Augenbrauen in die Höhe wandern. "Und wer ist Mistys Großmutter? Shinya... bist du sicher, dass es dir gut geht?" Der Blick ihrer dunklen Augen wurde noch ein wenig eindringlicher und kritischer, und trotz eines leisen Schreckens war Shinya nur wenige Sekunden später heilfroh, dass er nicht mehr dazu kommen sollte, den bitterbösen Kommentar über seine Lippen zu bringen, der da so brennend heiß mitten auf der Zunge ruhte. "Shinya-chan!", tönte es hell und begleitet von einem übermütigen Lachen über den dunklen Marktplatz. "Da bist du ja wieder, Shinya! Misty hat sich schon gaaaanz große Sorgen um Shinya gemacht! Misty hat gedacht, Shinya wäre verloren gegangen." "Misty!" Shinya wandte sich erleichtert von dem braunhaarigen zu dem blauhaarigen Mädchen hin und hob seine Hand zu einem fast schon zu freudigen Winken. Aus den Augenwinkeln nahm er dennoch wahr, dass Hoshi ebenfalls in Richtung Misty blickte - und dass sich ihre Lippen ganz spontan zu einem erstaunt verzückten Lächeln verzogen. "Hallo!", begrüßte sie den kleinen blauhaarigen Wirbelwind, der gleichsam nervös wie auch freudig erregt, in jedem Fall aber reichlich überdreht vor den beiden Estrella auf und ab und im Kreis herum hüpfte. "Du bist ja niedlich! Und wie heißt du?" "Misty!", strahlte die Kleine und Hoshi strahlte zurück, obwohl sie die Antwort auf ihre Frage an und für sich ja längst schon hätte wissen müssen. "Und du?" "Ich bin Hoshi." "Hallo, Hoshi-chan!" Das Mädchen deutete einen komisch missglückten Knicks an, was Shinya unter anderen Umständen wohl durchaus hätte amüsieren können. Momentan war er allerdings viel zu beschäftigt damit, das merkwürdige, alles andere als schöne Gefühl in seinem Inneren niederzukämpfen, das die seltsame Begegnung mit Misty, seine kurze, aber wenig harmonische Unterhaltung mit Hoshi und nicht zuletzt die plötzlich erwachte Begeisterung in den dunklen Augen der Lichtmagierin dort hatte heranwachsen lassen. "Hey, Hoshi", raunte er dem Mädchen so leise wie möglich zu, obwohl Misty ihre offenbar noch vollkommen unbekannte Umgebung sowieso weitaus interessanter zu finden schien als seine verschwörerisch dahingeflüsterten Worte. "Du hast aber schon verstanden, dass sie der Estrella is, von dem ich vorhin erzählt habe?" "Ähm - sie?" Hoshi machte große Augen. "Aber... nicht im Ernst! Das ist doch noch ein Kind, und überhaupt..." Ein durchdringend prüfender Ausdruck trat in ihren Blick. "Wo kommt sie eigentlich so plötzlich her, Shinya?" "Ich will nich wissen, was du jetzt wieder denkst!" Shinya verschränkte die Arme vor der Brust. "Wenn du mir allerdings vorhin zugehört hättest, wüsstest du, dass ich in Arcana war - wie auch immer ich nun dort hingekommen bin - und außerdem einen Estrella getroffen habe. Also sie. Aber du warst ja leider viel zu sehr damit beschäftigt, mich für verrückt zu erklären!" "Was für jeden Menschen mit nur einem einzigen Funken logischen Verstandes auch durchaus nachvollziehbar sein dürfte!" Sie schob ihre Unterlippe trotzig nach vorne, konnte diesen offensichtlich gespielt beleidigten Gesichtsausdruck jedoch nur wenige Sekunden durchhalten, bis das Lächeln auf ihr Gesicht zurückkehrte. "Hey, es tut mir ja leid, Shinya, aber eigentlich ist das doch jetzt auch egal - jetzt ist sie da... und... und sie ist immerhin ein Estrella!" Der Katzenjunge runzelte die Stirn. "Hoshi, ich weiß, was du jetzt sagen möchtest. Die Antwort lautet: Nein." "Shinya!" "Schau mich nicht so an!" Auf das Gesicht des Katzenjungen legte sich ein ernster Ausdruck. "Du hast es doch selbst gesagt, sie ist ein Kind. Sie kann unmöglich mit uns kommen!" "Eben deshalb." Hoshi atmete tief durch und wandte sich wieder Misty zu, doch das Strahlen auf ihrem Gesicht wirkte mittlerweile reichlich erzwungen. "Sag mal, Kleine, was willst du denn jetzt eigentlich machen?" "Das ist doch ganz einfach!" Die Blauhaarige stieß ein begeistertes Lachen aus und warf ihre langen Zöpfe übermütig hin und her. "Misty findet Shinya und Hoshi nämlich ganz doll nett, und deshalb will Misty auch gar nicht mehr von ihnen weggehn!" "Da hörst du's!" Hoshi bekräftigte die Worte des kleinen Mädchens mit einem Nicken, das sie sich (zumindest Shinyas Meinung nach) auch genauso gut hätte sparen können. "Erstens möchte sie mit uns kommen. Zweitens ist sie ein Estrella und wir können ihre Hilfe ganz bestimmt sehr gut gebrauchen. Und drittens..." "Drittens hat sie keine Ahnung davon, was sie erwartet!" Shinya stieß einen unwilligen Seufzer hervor. "Ebenso wenig wie wir übrigens. Darf ich dich vielleicht mal ganz dezent daran erinnern, was hier eben so auf dem Marktplatz passiert is? Und ich glaub wirklich nich, dass das schon alles gewesen ist!" "...und drittens erzählst du mir irgendwelche merkwürdigen Geschichten, dass du sie in Arcana getroffen hast und was nicht noch alles! Hat sie denn überhaupt Eltern?" "Ich glaube nicht..." Der Katzenjunge warf einen kurzen, schuldbewussten Blick zu dem Mädchen hin. "Sie lebte bei einer Frau, zu der sie Großmutter sagte, auch wenn ich nicht denk, dass sie das wirklich war. Aber die... die ist jetzt wohl gestorben..." "Dacht ich's mir doch! Und die Kleine hat niemanden mehr, der sich um sie kümmert." Hoshi stemmte sich die Hände in die Hüften und sah plötzlich beunruhigend wild entschlossen aus. "Shinya, du kannst doch wohl nicht ernsthaft von mir verlangen, dass wir sie ganz auf sich allein gestellt hier zurücklassen?!" "Nein, aber..." "Kein aber! Woher weißt du denn, dass sie auch wirklich wieder in ihren Wald zurückkehren kann? Sie ist hierher gekommen, um dich zu retten, und solange wir auf sie aufpassen wird es ja wohl weniger gefährlich für sie sein, als wenn sie mutterseelenallein in einer wildfremden Stadt herumirrt!" "Avârta ist ein Dorf", murmelte Shinya, doch noch im nächsten Augenblick fiel schlagartig jede trotzige Sturheit von seinem müden Körper ab und er ließ resigniert den Blick sinken. "Mann, Hoshi... gegen dich werd ich irgendwie niemals ankommen, kann das sein? Ich meine... ja... ja, du hast doch auch Recht und alles... soll die Kleine halt mit uns kommen. Aber ich warn dich: Sobald es irgendwie Probleme gibt oder sie wirklich in Gefahr gerät, dann schicken wir sie zurück in ihren Wald, und das mein ich jetzt vollkommen ernst!" "Ich weiß", zwinkerte Hoshi ihrem Freund lachend zu, und wieder einmal begriff der Katzenjunge, warum man der Dunkelhaarigen einfach nicht böse sein konnte. "Aber... ich hab da so das Gefühl, dass unsere Misty gar nicht so hilflos ist, wie sie vielleicht aussieht..." Mit einem letzten geheimnisvollen Lächeln wandte sich die Dunkelhaarige von Shinya ab und beugte sich stattdessen zu Misty hinunter, um die - zumindest in ihren Augen - frohe Botschaft zu verkünden. Auf dem Gesicht des kleinen Mädchens breitete sich sofort ein strahlendes Lächeln aus, und im nächsten Augenblick hatte sie sich Hoshi auch schon übermütig jauchzend um den Hals geworfen. Shinya betrachtete die Szene mit gemischten Gefühlen. Natürlich war alles ganz süß und bezaubernd und Hoshi strahlte so umwerfend und ansteckend wie eh und je, aber trotzdem... er selbst war bestimmt nicht begeistert von der Idee, von nun an ein kleines Mädchen mit sich herumschleppen zu müssen. Ob nun wehrhaft oder nicht, sie blieb eben doch trotz allem nur ein Kind, in ihrer ganzen Art, ihrer Weltsicht... in einfach allem. Und was erst Noctan von ihrer zudem nur mäßig gut durchdachten Idee halten würde, das wollte Shinya sich noch nicht einmal vorstellen. "Sag mal, Hoshi, wo ist er eigentlich? Ich meine Noctan..." "Noctan? Der müsste theoretisch irgendwo hier herumlaufen und dich suchen. Oder vielleicht ist er inzwischen auch schon wieder in die Herberge zurückgegangen, ich weiß es nicht. So wirklich schlau werde ich noch nicht aus ihm, aber gut, ich kenn ihn ja auch erst... sagen wir, eine Viertelsnacht. Vielleicht ist er... ähm... ganz nett, wenn man ihn erst mal näher kennt... oder auch nicht." Die Lichtmagierin zuckte mit den Schultern, und dann, ganz ohne jede Vorwarnung, verzogen sich ihre Lippen zu einem unverschämt breiten Grinsen, dessen unverblümte Boshaftigkeit der Katzenjunge nun wirklich jedem zugetraut hätte, nur ganz gewiss nicht ihr. "Aber sag mal, Shinya, warum siehst du nicht einfach gleich mal nach ihm? Noctan wird von unserer neuen Mitstreiterin doch bestimmt ganz begeistert sein, meinst du nicht?" "Wie bitte?!" Durch die violetten Augen des Weißhaarigen zuckte ein entgeistertes Blitzen, während sich seine Lippen zu einem fassungs- und humorlosen Lächeln verzogen. "Das ist nicht euer Ernst. Sagt mir bitte, dass das nicht euer Ernst ist!" Shinya seufzte tief und vergrub das Gesicht zwischen den Fingern. Der nächste Morgen war seit noch gar nicht einmal so langer Zeit angebrochen, er hatte in dem kümmerlichen Rest der Nacht zumindest seiner Meinung nach ganz entschieden zu wenig Schlaf abbekommen (Hoshi sah das anders) und überhaupt konnte der Katzenjunge sich weiß Gott angenehmere Dinge vorstellen, als für eine Sache zu argumentieren, hinter der er nicht einmal selbst stand. Mittlerweile bereute er seine eindeutig mehr von Faulheit als von Vernunft geborene Entscheidung des Vorabends, Noctan lieber erst am nächsten Morgen über ihre Pläne aufzuklären, zutiefst, was aber höchstwahrscheinlich daran lag, dass dieser Morgen inzwischen gekommen und die gnädige Schonfrist auf ganz ungnädige Weise verstrichen war. Warum die undankbare Aufgabe, Noctan ihre (also Hoshis und Mistys) Entscheidung mitzuteilen, ausgerechnet ihm zugefallen war, ja, das wusste er selbst nicht so genau, jedenfalls saßen die beiden Mädchen nun gut gelaunt beim Frühstück in der Wirtsstube, während er selbst den Unglücksboten spielen durfte. "Glaubst du ich bin begeistert davon, jetzt hier einen auf Kindermädchen zu machen?", grummelte er und warf seinem höhnisch gemütlich aussehenden Kissen einen bösen Blick zu. "Nein," entgegnete Noctan mit versteinerter Miene, "aber, lass mich raten, Hoshi ist begeistert davon. Das ist es doch, oder? Hoshi befiehlt und lächelt und du gehorchst wie ein Hündchen, verzeih, wie ein Kätzchen..." "Ja, sicher!" Das unwillige Murren des Katzenjungen steigerte sich schlagartig zu einem wütenden Knurren. "Schon mal dran gedacht, dass sie auch irgendwie ein Estrella ist und uns vielleicht ja helfen könnte? Mir hat man gesagt, dass es meine Aufgabe ist, die Estrella zu finden und zu versammeln oder was auch immer. Jetzt hab ich also einen Estrella gefunden, wo bitte ist das Problem?" "Das Problem sitzt unten in der Gaststube und schlägt sich auf unsere Kosten den Bauch voll." Noctan rollte mit den Augen. "Aber was rede ich überhaupt? Jetzt wird es sich ja doch nicht mehr ändern lassen. Wenn du uns unbedingt einen Klotz ans Bein binden willst, bitte, ich werde dich schwerlich daran hindern können... oh welch ein Jubel!" "Warum eigentlich ein Klotz am Bein?" Der Halbdämon trat vor Noctan hin und baute sich so gut er konnte vor ihm auf, um zumindest in etwa die Augenhöhe des Weißhaarigen zu erreichen. "Jetzt hör mal gut zu, die Kleine mag vielleicht nerven, aber dass sie irgendwie zaubern kann, das hab ich selbst auch schon gesehen. Ich kann mir auch nich so wirklich vorstellen, dass ich nur so rein zufällig in diesen Wald gekommen bin, oder? Immerhin ist sie ein Estrella, genau wie du, sie wird sich ja wohl noch wehren können!" Noch während er sprach wurde Shinya bewusst, dass er beinahe exakt die gleiche Diskussion führte, wie er es in der vergangenen Nacht bereits mit Hoshi getan hatte - mit dem kleinen aber feinen Unterschied, dass er nun ganz plötzlich auf der anderen Seite stand und genau jene Argumente benutzte, die ihn selbst mehr oder weniger davon überzeugt hatten, Misty in seine kleine Gruppe aufzunehmen. Irgendetwas an dieser Erkenntnis machte ihn wütend. Wieso ließ er sich überhaupt von Noctan in eine Position drängen, in der er sich und seine Entscheidung verteidigen musste? "Nicht jeder Estrella kann automatisch auch zaubern und sich wehren", erwiderte Noctan ungerührt und mit einem kalten Lächeln auf den Lippen. "Aber gut, ich sehe schon, dass meine unwürdigen Worte ohnehin kein Gehör finden und so hülle ich mich eben stattdessen in Schweigen. Wenn uns dieses... reizende kleine Engelchen entgegen aller Erwartungen doch irgendwie behilflich sein kann - und sei es nur, um der großen Hoshi eine kleine Freude zu bereiten - dann bitte... nimm sie mit. Nur tu mir den Gefallen und halt die Plage so weit wie möglich von mir entfernt, ja?" Der Weißhaarige warf sich seinen langen Pferdeschwanz über die Schulter und stapfte dann aus dem Zimmer, ohne den Katzenjungen auch nur noch eines weiteren Blickes zu würdigen. Shinya stand buchstäblich am äußersten Rande der Stadt Haída, genauer gesagt an der unregelmäßig zerklüfteten Kante der Hafenmauer, so weit dem Meer zugewandt, dass seine Fußspitzen bereits in der Luft schwebten. Er blickte starr auf das glitzernd blaue Wasser hinab, das gegen die steinerne Mauer schlug und in tausend winzige Tropfen zerbarst. Obwohl er nicht ganz begreifen konnte, warum es so war, stieg doch ein leiser Hauch von Wehmut in dem Katzenjungen auf und ließ das Rauschen des Windes merkwürdig traurig klingen. Shinya hätte viel darum gegeben, wenigstens ein bisschen Zeit in der fantastischen Wunderwelt von Haídas Straßen verbringen und Klarheit in all die verschwommenen Bilder zu bringen, die ihm aus seiner Kindheit geblieben waren. Immerhin war Haída die Stadt, in der er die ersten Jahre seines Lebens verbracht hatte. Er dachte nicht gern und auch nicht oft daran zurück. In jenen längst vergangenen Tagen hatte sein Dasein mehr dem eines Tieres als dem eines Menschen geglichen und war einzig und allein von dem steten Kampf ums Überleben bestimmt worden. Es war an sich schon nicht leicht für ein Straßenkind, ganz auf sich allein gestellt in der großen, harten Welt aus düsteren Straßenschluchten und rastlosen Menschenmengen zu überleben, und für einen kleinen Halbdämon war es wahrlich ein Ding der Unmöglichkeit gewesen, Anschluss an irgendeine Gruppe zu finden. Auch wenn ihm sonst nur wenige klare Erinnerungsfetzen geblieben waren, das allgegenwärtige Gefühl von Ablehnung hatte sich wie ein glühendes Eisen in sein Gedächtnis gebrannt. Nach all den Jahren stand es immer noch wie eine unsichtbare, aber doch unüberwindbare Mauer zwischen ihm und dem Rest der Welt, den Menschen, zu denen er nicht gehörte und wohl auch niemals wirklich gehören würde, auch wenn er sein ganzes Leben quasi an ihrer Seite verbracht hatte. Selbst jetzt, als er mit Hoshi und den beiden anderen durch die Lande reiste und ja nun eigentlich alles andere als einsam war, blieb doch stets ein hartnäckiges Überbleibsel dieses Gefühls wie eine Trennwand aus kalten Nebelfetzen zwischen ihnen bestehen. Shinya strich sich die Haare aus der Stirn und versuchte die trüben Gedanken mit einem energischen Kopfschütteln zu verscheuchen. Warum sollte er sich diesen wundervoll sonnigen Spätsommertag durch düstere Grübeleien verderben? Sollte er nicht viel lieber an jene Tage zurückdenken, die er auf den seltenen, deswegen aber nur umso schöneren Ausflügen mit Sylvie und den anderen Heimkindern in den Straßen Haídas verbracht hatte? Wie groß und wie schön war ihm die Stadt damals erschienen! Ein faszinierendes, gigantisches Wunderland aus glitzernden Häuserfassaden, die nachts noch viel heller strahlen konnten als der klarste Sternenhimmel. Seine Erinnerungen waren ein wirbelndes Meer aus köstlichen Düften von zahllosen Restaurants und Buden, aus Jahrmarktattraktionen, Karussells und Riesenrädern, aus hell erleuchteten Straßen und Brücken, unter denen sich schwarzes Wasser hindurchwälzte, auf dessen Oberfläche sich das Licht der Laternen in glitzernden Bahnen wiederspiegelte. Eine türkisfarbene Welle schlug übermütig gegen die weißgraue Hafenmauer und zersprang in einen blendend hellen Regen aus kalten Glitzerfunken. Shinya trat erschrocken einen Schritt zurück, als einige der Tropfen auf sein Gesicht prallten und kühl über seine Haut rannen. Er wischte sich über die Stirn und stieß einen tiefen Seufzer aus. Die zurückliegenden Tage waren wie im Flug vergangen, doch jetzt spürte er die stete Hektik und Anstrengung der ereignisreichen Stunden nur umso schwerer auf seinen Gliedern lasten. Die kleine Gruppe der Estrella hatte zunächst den Dorfältesten von Avârta aufgesucht, der ihnen dann wiederum von einem Adeligen mit außergewöhnlichen magischen Fähigkeiten erzählt hatte. Gerüchten zufolge sollte auch er ein Estrella sein, und so hatten Shinya und seine mehr oder minder loyale Gefolgschaft nicht lange gezögert und sich auf dem Weg gemacht, um ihn in seinem Heimatland aufzusuchen. Was freilich leichter gesagt als getan war. Natürlich musste auch Shinya sich eingestehen, dass er im Grunde genommen ja Glück im Unglück gehabt hatte und seinem tendenziell eher böswilligen Schicksal ausnahmsweise einmal gar nicht so wirklich böse sein konnte. Es blieb ihm nämlich wenigstens erspart, zu einem anderen Kontinent aufbrechen zu müssen, um besagten Adligen finden zu können, wozu er im Übrigen auch nicht einmal ansatzweise genügend Geld gehabt hätte. Wenn man dem überaus redseligen alten Mann tatsächlich Glauben schenken durfte, dann lag die Heimat des gesuchten Estrella im Schloss des Inselstaats Hoshiyama, der unweit der silvanischen Küste nun schon seit mehreren Jahrhunderten erfolgreich der Macht der Wellen und dem Einfluss des Kontinents die Stirn geboten hatte. Leider war diese geographische Nähe auch schon der einzige Vorteil, den Shinya an der ganzen Sache erkennen konnte. Er hatte noch nie in seinem ganzen Leben ein Schloss auch nur aus weiter Ferne betrachten können (höchstens auf den prachtvollen Illustrationen des einen oder anderen Buches, aber das zählte nicht), geschweige denn einen Adligen getroffen oder gar näher kennen gelernt, aber auch er hatte da so... seine Vorstellungen. Was ja auch durchaus verständlich war, wenn man einmal ganz objektiv die äußeren Umstände betrachtete. Da war einmal ein hinreißendes, sogar recht hübsches und ohne jeden Zweifel ziemlich intelligentes... Dorfmädchen. Dann ein unheimlich gutaussehender, nur leider auch grauenvoll unsympathischer und aus irgendeinem Grund prinzipiell sarkastisch daherredender Eisberg, den er eigentlich niemandem so richtig zumuten wollte, am allerwenigsten sich selbst. Außerdem ein kleines Mädchen, das wahlweise die Welt entdeckte oder anderen auf die Nerven ging. Und schließlich war da noch er selbst, der große Shinya Trival, ein heimatloser Halbdämon, der die ersten Jahre seines Lebens auf der Straße und die übrigen in einem Kinderheim verbracht hatte, um sich nun ohne jegliche magische oder kämpferische Vorkenntnisse gut gelaunt zum glorreichen Retter der Welt aufzuschwingen. Kurzum: Die perfekte Gesellschaft für einen bis über die Grenzen des Landes hinaus als Herren des Feuers bekannten Übermagier von adligem Geblüt, der von seinem Glück zwar bislang noch keine Ahnung hatte, sich aber doch wahrlich perfekt in die kleine Gruppe fügen würde. Mehr oder weniger. "Shinya! Hey, Shinya, das Schiff ist da!" Hoshis Ruf riss den Katzenjungen einmal mehr aus seinen Gedanken, was ihm allerdings auch alles andere als ungelegen kam. Es war ein schöner Tag, der Himmel zwar hier und dort von beinahe durchsichtigen Wolkenfetzen verhangen, aber immer noch mit äußerst angenehmen Temperaturen und vor allen Dingen ganz viel Sonnenschein. Das Strahlen auf Hoshis Gesicht fügte sich ganz perfekt in diese Wetterlage. Entweder ahnte das Mädchen tatsächlich noch nichts von den ihnen vorstehenden Problemen oder sie waren ihr momentan einfach reichlich gleichgültig, jedenfalls funkelten ihre dunklen Augen so hell und begeistert wie schon lange nicht mehr. Fast gegen seinen Willen musste Shinya lächeln. Hoshi freute sich nun schon seit Tagen auf die bevorstehende Schiffsreise (genau genommen schon seit dem Moment, da sie von selbiger erfahren hatte), und diese Vorfreude schien jeden anderen Gedanken bedeutungslos zu machen. Er selber konnte diese Begeisterung leider nicht uneingeschränkt teilen. Vielleicht lag es daran, dass seine empfindlichen Katzenohren kein Wasser vertrugen und er dem nassen Element deshalb generell eher mit Misstrauen begegnete, jedenfalls behagte ihm der Gedanke ganz und gar nicht, bald von einem endlos weiten Ozean umgeben zu sein! Und trotzdem stimmte es ihn ganz merkwürdig glücklich, das Lächeln auf den Lippen seiner Freundin zu sehen. Ohne größere Gegenwehr ließ er sich von dem Mädchen am Arm packen und die belebte Hafenpromenade entlang ziehen. Die Menschen um ihn herum hatten sich von der guten Laune des Firmaments anstecken lassen und schienen als Bewohner einer größeren Hafenstadt zudem Kummer und Absurditäten gewohnt zu sein, jedenfalls schenkten sie Shinya außerordentlich wenig Beachtung und das stimmte den Katzenjungen merkwürdig ausgelassen. Nur zu gerne fiel er in Hoshis hohes Schritttempo ein und war gerade drauf und dran, ein übermütiges Lachen auszustoßen, als er mit einem Mal begriff, was das Ziel ihres kindlich vergnügten Laufes war. Nämlich ein knapp einen Meter breiter, bösartig morsch aussehender Steg, der ihr sympathisches kleines Personenschiff mit dem herrlich sicheren Festland verband. Shinya schluckte. Schlimm genug, dass er mehrere Tage einzig und allein von Wasser, Wasser und immer nur Wasser umgeben sein würde, aber das war entschieden zuviel! Am allerliebsten hätte er auf dem Absatz kehrt gemacht und wäre gleich doppelt so schnell weitergelaufen, aber bitteschön in die entgegengesetzte Richtung, doch Hoshi hielt sein Handgelenk unbarmherzig fest umschlossen und zog ihn mit sanfter Gewalt weiter vorwärts. Mit traumwandlerischer Sicherheit und ohne ihr Tempo nennenswert zu verringern, schritt sie über die beunruhigend wackligen Holzplanken, während Shinya im Geiste pflichtbewusst sein Testament unterzeichnete. Dem Katzenjunge fiel ein riesengroßer Stein vom Herzen, der bei einer eventuellen Kollision ihr hübsches, aber eben nicht sonderlich großes Holzschiff ohne weiteres hätte versenken können, als er endlich wieder... na ja, zumindest einigermaßen festen Boden unter seinen Füßen spürte. Er atmete auf und wandte sich hastig von der kleinen Misty ab, die mit zwei übermütigen Sätzen vollkommen unbekümmert den schwankenden Steg überquerte, nur um dann im nächsten Augenblick auch schon vergnügt jauchzend an der Reling herumzuturnen. Zufälligerweise fiel Shinyas Blick dabei ausgerechnet auf Noctan, der mit verschränkten Armen und kalten Augen vergleichsweise vorsichtig über die schmalen Holzbretter schritt. Shinya stieß einen tonlosen Seufzer aus - weniger deshalb, weil er fürchtete, dass Noctan ihn möglicherweise würde hören können (das war ihm nämlich vollkommen gleichgültig), sondern einfach nur, um Hoshi nicht die gute Laune zu trüben - und zog es stattdessen vor, Blickkontakt mit dem Meer aufzunehmen, denn das glitzerte und sah fröhlich aus. Was erwartete er denn eigentlich? Es war Noctan! Er kannte den Weißhaarigen zwar noch nicht allzu lange, aber in dieser Zeit hatte er ihn noch nicht ein einziges Mal ohne seine patentierte Grabesmiene gesehen. Ein ungeduldiges Knurren mischte sich in das ruhige Rauschen der Meereswellen. Shinya warf einen schuldbewussten Blick in Richtung seines Magens. Die hektische, rastlose Eile der vergangenen Stunden hatte ihnen noch keine Zeit dazu gelassen, ihren ohnehin auf ein äußerst klägliches Sümmchen geschrumpften Geldvorrat für etwas Essbares ausgeben und das dann gar noch verzehren zu können. Die Schifffahrt war trotz der kurzen Strecke doch leider recht teuer gewesen, und so war Shinya heilfroh, dass im Preis für die Überfahrt wenigstens auch ein paar warme Mahlzeiten enthalten waren. "Also, Leute", verkündete er gerade so laut, dass auch die turnende Misty und der finster dreinblickende Noctan es hören konnten, "ich weiß ja nicht, wie's euch so geht, aber ich für meinen Teil werd mir jetzt erst mal ein bisschen den Bauch vollschlagen gehn!" "Gute Idee!", seufzte Hoshi und ließ ihren Blick hinauf in den sommerblauen Himmel wandern. "Ich hab einen Bärenhunger! Aber... sagt mal, gibt es denn um die Uhrzeit überhaupt noch etwas zu essen?" "Das können wir nur rausfinden, wenn wir's ausprobieren!", grinste Shinya und schlenderte ruhig auf die niedrige Holztüre zu, die unter Deck und somit wohl auch zu dem Speisesaal führte. Er warf noch einen letzten Blick auf die glitzernde Oberfläche des Meeres, auf die Möwen und die zarten Wölkchen am Himmel, und ganz unweigerlich stahl sich ein Lächeln auf sein Gesicht. Zum ersten Mal seit vielen, vielen Tagen hatten sie wieder alle Zeit der Welt. In der Tat waren die Stunden auf dem Schiff sogar noch weit langsamer verstrichen, als Shinya es sich zunächst vorgestellt hatte. Er hatte die Zeit des Nichtstuns damit verbracht, jeden Winkel ihres hölzernen Gefährtes ganz genau zu erkunden, doch nachdem er alles mindestens zweimal gesehen und ertastet hatte und fast eine ganze weitere Stunde rastlos an Deck herumgewandert war, da war ihm schließlich auch nichts mehr anderes eingefallen, als einfach früh schlafen zu gehen. Es hatte auch gar nicht lange gedauert, bis die Erschöpfung der vergangenen Tage ihn endlich doch noch überwältigt und in einen tiefen, traumlosen Schlaf gezogen hatte. Die Wellen hatten jedoch andere Dinge im Sinn, schaukelten das Schiff zwar nur verhältnismäßig sanft, aber eben leider unaufhörlich und unermüdlich von einer Seite auf die andere, und diese stete Bewegung riss Shinya schon weitaus früher wieder aus dem Schlaf, als ihm das lieb gewesen wäre. Nach einer knappen Dreiviertelstunde, in der er sich ein- ums andere Mal von der rechten auf die linke Körperseite und wieder zurückgewälzt hatte, gestand er sich schließlich resignierend ein, dass ihm an diesem Morgen wohl keine wohl verdiente Minute erholsamen Schlummers mehr geschenkt werden würde, und stand auf. Während seine offensichtlich nicht minder erschöpften Gefährten noch ruhig und friedlich in ihren Betten schliefen, stahl sich Shinya also auf Zehenspitzen aus dem gemeinsamen Zimmer, durch den dunklen, hölzernen Korridor und an Deck hinaus. Ein kühler Windstoß begrüßte ihn und trieb ihm Tränen in die müden Augen, aber der Katzenjunge ließ sich von der steifen Morgenbrise nicht abschrecken. Er schlenderte mit schützend verschränkten Armen über die leicht feuchten Planken und lehnte sich dann mit einem wohligen Gähnen über die niedrige Reling. Knapp zwei Meter unter ihm kräuselten sich die sanfte Wellen am Bug des Schiffes, zunächst noch glanzlos und bleich, sogar von einer zarten Decke feinen Nebels verhangen. Doch bald schon stahlen sich die ersten Strahlen der Morgensonne über den Horizont, der Himmel erhellte sich in vielfarbigen Streifen und schließlich hüllte irgendwo hinter der morgendlichen Wolkendecke ein rotvioletter Ball die ruhige Meeresoberfläche in ein rötlich goldenes Glitzern. Shinya seufzte zufrieden. Bei aller Abenteuerlust tat es ihm gut, nach so langer Zeit endlich wieder einen Augenblick der Ruhe zu genießen. Auch die Temperatur des Windes wurde zunehmend angenehmer, und der herrlich salzig schmeckenden Brise schien es offenbar größten Spaß zu bereiten mit dem langen Haar des Katzenjungen zu spielen. Shinya schloss seine Augen und streckte seine Arme ein bisschen weiter aus, um dem Wind möglichst viel Angriffsfläche zu bieten, konzentrierte sich voll und ganz auf das stete Rauschen der Wellen und... "Woah! Komm! Komm, schnell, Mann, das... das is der Hammer! Der absolute Hammer! Das muss man gesehn haben, sonst hat man nix gesehn, echt jetzt!" Ein Ruck lief durch Shinyas Körper, als ihn ein lauter, durchdringender Schrei brutal aus seinem selbstvergessenen Zustand vollkommener Entspannung riss. Am allerliebsten hätte er gleich ebenfalls mit einem Schrei geantwortet, und zwar mit einem furchtbar enttäuschten, beließ es dann aber doch bei einem missmutigen Verziehen von Stirn und Mundwinkeln. Wer auch immer die Unverschämtheit besitzen mochte, an einem Morgen wie diesem und überhaupt zu solch früher Stunde derartigen Lärm zu machen, hatte hoffentlich nicht vor, sich länger als irgendwie nötig in seiner unmittelbaren Nähe aufzuhalten, und dann sollte er ihm auch egal sein. "Hey, gib dir den Sonnenaufgang! Wie geil! Und da... da! Ich glaub, da kann man schon Land sehn, echt jetzt!" Ganz genau, dachte Shinya missmutig und wandte sich schweren Herzens von der violetten Morgendämmerung ab, und wenn ich das gleiche zum Frühstück getrunken hätte wie du, dann würde ich jetzt vermutlich auch schon Dinge sehen, die es nicht gibt. Nun war es aber leider Gottes so, dass Shinya an diesem Morgen weder Alkohol noch sonst irgendwelche halluzinogenen Stoffe zu sich genommen hatte, und so waren seine Sinne viel klarer und aufnahmefähiger, als ihm das momentan lieb gewesen wäre. Missmutig suchten seine Augen das Gesicht jener unsensiblen Person, die ihm in dem unvergleichlich sinnlosen Bestreben, auch ja alle Welt an ihrer Begeisterung teilhaben zu lassen, nicht nur die zauberhaft einsamen Morgenstunden, sondern auch seine Laune gründlich verdorben hatte. Dabei fiel sein Blick auf einen Jungen in seinem Alter, der anscheinend nicht nur über ein äußerst leistungsfähiges Stimmorgans verfügte, sondern vor allem auch dank seiner feuerroten Haarpracht kaum zu übersehen war. Als ob diese Farbe allein nicht schon auffällig genug gewesen wäre, zierte den Kopf des Jungen obendrein auch noch eine - zumindest Shinyas Meinung nach - äußerst merkwürdige Frisur. Eigentlich trug er sein Haar nämlich mehr oder weniger kurz geschnitten und in erster Linie ganz fürchterlich chaotisch zerwühlt, doch in die Stirn fielen ihm etliche längere Strähnen, ebenso in den Nacken, wo er sie zu einem dünnen Pferdeschwanz zusammengebunden trug. Seine Kleidung war ausnahmslos in gedeckten Grüntönen gehalten und auch sonst von recht militärischen Schnitt, auch wenn sein ganzes Verhalten eher an ein überdrehtes Kind als an einen Soldaten erinnerte. Er zog einen schwarzhaarigen Jungen von höchstens zehn oder elf Jahren hinter sich her, der seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen auch nicht so recht zu wissen schien, was er nun von dieser überschwänglich präsentierten Schiffsführung zu halten hatte. Obwohl der Katzenjunge nach seiner kleinen Romanze mit dem Morgenwind noch viel weniger müde war als zuvor - genau genommen war er sogar hellwach - zog er die verschlafene Ruhe bei seinen Gefährten unter Deck dem zwar wunderschön anzusehenden, aber leider akustisch gesehen reichlich verhunzten Sonnenaufgang immer noch dankend vor. Ruhige Atemzüge waren eine Sache, grenzdebile Freudenschreie eine ganz andere, und so wandte er sich leise grummelnd von der Reling ab, verschränkte die Arme vor der Brust und schlenderte betont langsam und widerwillig auf die niedrige Türe zu, die zurück ins Schiffsinnere führte. Seine rechte Hand lag schon auf dem kühlen, leicht feuchten Holz, als ihn ein lauter, nicht unbedingt freundlich klingender Ruf innehalten ließ. "Hey, du da! Ja, du mit den komischen Ohren! Wart ma eben!" Shinya wusste nicht genau, warum er tat, wie ihm geheißen war. Er wusste auch nicht, womit sein herrlicher Start in den Tag solch ein unrühmliches Ende verdient hatte. Er wusste nur, dass er, was auch immer nun folgen mochte, sicherlich nur allzu bald bereuen würde, und trotzdem konnte er nicht anders. Der Katzenjunge drehte sich zwar nicht um - zumindest nicht sofort -, aber er ging eben auch nicht weiter, rettete sich nicht in den einladend offen stehenden Fluchtweg, an dessen Ende ein unermesslicher Schatz auf ihn gewartet hätte, ein Schatz in Form von Ruhe, Frieden und dem guten Gefühl, ganz locker und erhaben über den Dingen zu stehen. Was Shinya zu seinem größten Bedauern aber leider nicht tat. "Ey, sag mal, bist du dir irgendwie zu gut, um mit mir zu reden oder bist du gleich auf allen vier Ohren taub oder wie?" "Vielleicht red ich ja einfach nur nicht mit jedem!" Shinya drehte sich provozierend langsam zu dem Rotschopf herum und reckte sein Kinn in die Höhe. "Vor allem nich bevor ich weiß, was du eigentlich von mir willst!" "Von dir will ich gar nix, okay?", stieß der Fremde sichtlich entgeistert hervor. "Warum kannst du mich dann nich einfach in Ruhe lassen? Sag mal, reicht's nich, dass du mir grad eben schon den Morgen versaut hast?" "Geht's auch noch schlechter gelaunt, Mann?" Der Junge rollte theatralisch mit seinen hellgrünen Augen. "Hey, sorry, wenn ich deine heilige Ruhe störe, echt schlimm jetzt, aber ich hab ne Frage an dich, ja? Du bist doch nich allein auf's Schiff gekommen, hab ich Recht?" "Ja, und?" "Also..." Auf seinem Gesicht breitete sich ein leicht schiefes Grinsen aus, was ihn spontan noch um etliche Grade unsympathischer machte, obgleich es wohl das genaue Gegenteil hätte bewirken sollen. "Die Kleine... du weißt schon... die is nich übel. Geht da noch was mit der?" "Die Kleine... Misty?!" Shinya riss entsetzt seine Augen auf. Das wurde ja immer schöner! Schlimm genug, dass der Rotschopf ein elender Störenfried war, jetzt war er also auch noch ein pädophiler elender Störenfried! "Heißt die so? Nich schlecht... aber jetzt sag endlich, was is mit der? Meinste, ich hab da so meine Chancen? Du verstehst schon..." "Sag mal, geht's noch?" Der Katzenjunge warf sich den Zopf über die Schulter und rammte sich beide Hände in die Seiten. "Hallo, das is vielleicht ein Kind! Was... was zum Henker hast du vor mit der!?" "Ein Kind? Häh?" Der Rothaarige kratzte sich am Kopf und blickte etliche Momente lang ebenso kritisch wie ratlos aus der Wäsche. Dann jedoch wandelte sich der Ausdruck auf seinem Gesicht schlagartig, seine Augenbrauen zogen sich etliche Millimeter nach unten und um seine Mundwinkel spielte ein wütendes Zucken. Breitbeinig setzte er sich in Bewegung und stapfte geradewegs auf Shinya zu. "Hey, was hast du für Probleme? Seh ich aus als würd ich auf... woah! Was geht eigentlich?! Ich mein die Tuss mit den braunen Haaren, verstanden?" "Hoshi?" Shinya konnte sich ein leises Keuchen nicht verkneifen und baute sich nun seinerseits auf, um seinen Mangel an Körpergröße so gut es eben ging zu kompensieren. "Also, um eins mal klarzustellen, Hoshi ist keine... keine Tuss, und außerdem hast du mir gar nix zu sagen!" "Ach ne", gab der Rotschopf angriffslustig grinsend zurück und verschränkte seine kräftigen Arme vor der Brust. "Das glaub ich jetzt nich. Das Kätzchen wird eifersüchtig!" "Halt's Maul, ja? Und weil du's ja sooo unbedingt wissen willst: Rein zufällig hat Hoshi Geschmack, also versuch's besser gar nicht erst bei ihr!" "Sagt wer?!" Der Fremde schlug mit seiner rechten Faust in die flache linke Hand. "Jetzt hör mir mal gut zu, du... Freak! Überleg's dir lieber mal, mit wem du dich anlegst, ja? So was wie dich mach ich mit meinem kleinen Finger platt, und das gleich zweimal!" "Ja klar! Du bist natürlich so stark und toll und unbesiegbar und gibst nem... Freak... wie mir sogar noch nen guten Ratschlag, hey, das is ja richtig... edel. Pass auf, gleich fall ich vor dir auf die Knie! Abgefahren, was?" "Hey... hey, werd nich frech, ja?!" "Wie jetzt? Ich werde frech? Oh tatsächlich? Jetzt gib dir das, ich werde frech, nein, das ist ja wirklich... der Hammer!" "Sei lieber ruhig, bevor's dir leid tut! Hör mal lieber drauf was dir andre sagen, die größer sind wie du!" "Machst du jetzt hier einen auf Anführer, oder was?" Shinya verzog seine Lippen zu einem abfälligen Lächeln, für das er sich übrigens nicht einmal mehr anstrengen musste. "Und da glaubst du jetzt, dass Hoshi drauf steht, ja? Hey, sicher, klappt bestimmt. Der große Meister kann zwar nich richtig reden, aber ganz toll rumkommandieren, Mann, wie geil..." Der Halbdämon entblößte seine spitzen Eckzähne in einem durch und durch boshaften Grinsen. "Freak!" Im nächsten Moment traf Shinya ein wütender Faustschlag mitten ins Gesicht und riss ihn beinahe von den Füßen. Augenblicklich zuckte ein rasender Schmerz durch seinen gesamten Kopf und für ein paar Sekunden wurde das Bild vor seinen Augen von wirbelnden schwarzen und grellweißen Flecken getrübt. Er biss jedoch tapfer die Zähne zusammen, unterdrückte einen Schrei, ja sogar noch das leiseste Wimmern, und lächelte dem Fremden zwar etwas mitgenommen, aber immer noch provokant herausfordernd entgegen. Dessen Gesicht glühte mittlerweile derartig vor Zorn, dass es beinahe schon die Farbe seiner Haare angenommen hatte. Nur mit viel Glück und auch nur äußerst knapp konnte der Halbdämon sich unter einem weiteren Schlag des Rotschopfes, der ihm höchstwahrscheinlich kurz und schmerzvoll den Rest gegeben hätte, hinwegducken und verpasste seinem Kontrahenten nun seinerseits einen kräftigen Tritt vors Schienbein. Was diesem aber unglücklicherweise nicht sonderlich viel auszumachen, denn auf seinem Gesicht zeigte sich nicht auch nur der leiseste Anflug von Schmerz. Stattdessen verzogen sich seine Lippen zu einem beängstigend breiten Grinsen. "So is das also, Katze... du willst Ärger, ja? Bitte, kannste gerne haben!" Begleitet von einem wütenden Knurren stürzte der rothaarige Junge sich auf Shinya, welcher aber zum Glück geschickt genug war, den meisten Tritten und Schlägen gekonnt auszuweichen. Zudem wusste er die Hitzköpfigkeit des Fremden dann und wann zu seinem eigenen Vorteil auszunutzen, was seine körperliche Unterlegenheit sogar beinahe wieder wettmachte und ihm die Chance auf mehr als nur einen gezielten Hieb eröffnete. Mit einer fließenden Bewegung sprang Shinya nach hinten zurück, zog den Kopf zwischen die Schultern, um sich den blind auf ihn einprasselnden Fäusten auf leidlich elegante Weise zu entziehen, und holte dann blitzschnell zu einem Handkantenschlag aus - allerdings nicht zu irgendeinem Handkantenschlag. Im Laufe der Jahre, die Shinya im Heim verbracht hatte, waren ihm etliche merkwürdige Gestalten über den Weg gelaufen, und mit manchen von ihnen hatte er sogar tatsächlich etwas näheren Kontakt zugelassen. Eines von den ganz besonders kuriosen Exemplaren war ein midgardisches Mädchen namens Kylie gewesen, die jedoch alle Welt aus naheliegenden Gründen nur mit Kyle angesprochen hatte. Sie hatte ihr blondes Haar stets kurz getragen und außerdem neben einer Vorliebe für möglichst zerschlissene Hosen auch eine für silvanischen Kampfsport gehegt, was sie übrigens bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit durch kurze Vorführungen und umso längere Ausführungen anschaulich unter Beweis gestellt hatte. Jedenfalls war Kylie oder Kyle auch ein äußerst großherziges Mädchen gewesen, das möglichst viele an ihrer Weisheit teilhaben lassen wollte und ganz besonders den kleinsten Kindern mit größtem Vergnügen ein paar wirkungsvolle Tricks für den Notfall beigebracht hatte. Und wenn Shinya auch nur eine einzige ihrer zahlreichen Lektion behalten hatte, dann war das der patentierte Kylie-Handkanten-Todesschlag direkt gegen den Hals des Gegners, der selbst wildgewordene Riesen im allerbesten Fall in süße Ohnmacht versetzte, ganz gewiss aber mit einer ordentlichen Portion nachhaltigen Schmerzes beglückte. Er war gerade dabei, den glorreichen Siegestreffer gekonnt und zielsicher zu platzieren, als nun schon zum zweiten Mal an diesem einen Morgen ein durchdringend lauter Ruf seine schönen Pläne schlagartig wieder zunichte machte. "Shinya? Shinya, verdammt noch mal, was tust du da eigentlich?! Shinya!!" Der Katzenjunge erstarrte und mit ihm der eben noch so hitzig tobende Faustkampf. Ein überaus ungutes Gefühl kroch mit beängstigender Geschwindigkeit in seinem Inneren hoch, und als er ganz langsam den Blick zu heben wagte, da fand Shinya jede einzelne seiner schlimmsten Vermutungen bestätigt. Wenige Schritte hinter dem verschüchtert dreinblickenden schwarzhaarigen Jungen war ein ihm mittlerweile doch ziemlich gut bekanntes braunhaariges Mädchen zu ihnen an Deck getreten. Wie so oft blitzten und funkelten ihre dunklen Augen mit der Morgensonne um die Wette - nur leider diesmal nicht unbedingt vor Freude oder gar Begeisterung. "Hoshi!" Mit einiger Mühe kämpfte sich Shinya aus dem schraubstockähnlichen Griff des Rotschopfes, der seine kurze Schrecksekunde natürlich sofort schamlos ausgenutzt hatte, und stolperte derart hektisch auf das Mädchen zu, als ob er tatsächlich sie und nicht viel eher sich vor ihr retten musste. Und das, obwohl jedes einzelne seiner Gliedmaßen ganz unverschämt schmerzte oder doch zumindest vor Anstrengung stöhnte und ächzte und er zu allem Überfluss auch noch feststellen musste, dass ihm eine warme, leicht klebrige Flüssigkeit über das Gesicht lief, zu deren Identifizierung er sogar in seinem momentanen Zustand nicht unbedingt viel Fantasie benötigte. Ein kurzer Blick nach Links verschaffte ihm jedoch mindestens noch kurzfristige Linderung und eine große Portion wohltuenden Triumphes, denn auch sein Gegner war keineswegs ungeschoren davongekommen. Sein rechtes Auge übte sich eifrig im anschwellen und hatte sich zudem in ein durchaus kleidsames Blauviolett gehüllt, und auch sein zuvor noch so selbstsicherer Gang glich nur mehr einem (leider immer noch viel zu selbstsicheren) Humpeln. "Würdest du mir bitte mal verraten, was das hier eigentlich werden soll?" Aus dem Blick des Mädchens war jegliche Sanftmut gewichen. "Du hast Nerven! Als ob wir nicht eh schon genug Probleme hätten! Musst du dich jetzt auch noch unbedingt mit irgendwelchen wildfremden Leuten herumprügeln?" "Was denn?!" Shinyas Stimme klang weitaus wütender, als er das eigentlich beabsichtigt hatte, und obwohl sich da ganz tief in ihm schon so eine leise Ahnung regte, wem dieser Zorn nun tatsächlich galt, gelang es ihm nicht, seine trotzige Wut zu zügeln. "Was glaubst du denn, wofür ich das mach, häh? Du hast ja nicht gehört, wie er über dich geredet hat! Der wollte was von dir, aber wie, hätt ich da einfach schweigend zuhören sollen, ja?!" "Jetzt hör mal zu, Shinya, ich kann sehr wohl auch mich selber aufpassen. Das hier hättest du dir jedenfalls sparen können, aber scheinbar habe ich dich wohl für deutlich erwachsener gehalten, als du tatsächlich bist!" "Mann, Hoshi, ich..." "Nein!" Die Lichtmagierin brachte ihn mit einer überraschend herrischen Handbewegung zum Schweigen. "Ich will überhaupt nichts mehr davon hören, wer hier wem und warum den Kopf eingeschlagen hat. Und jetzt geh endlich und wasch dir das Blut vom Gesicht!" "...da hab ich dich wohl für erwachsener gehalten, für so toll und perfekt und erwachsen wie mich!", grummelte Shinya und durchbohrte die Decke über ihm mit einem ganz besonders finsteren Blick. Das dunkle Holz hielt es jedoch offensichtlich nicht für nötig, ihm gleich welche Antwort auf sein nun schon mindestens eine halbe Stunde lang andauerndes Schimpfen und Fluchen zu geben (von einem leisen Quietschen dann und wann einmal abgesehen) und so musste Shinya hilflos mit ansehen, wie sein Ärger im Laufe dieses wenig poetischen Monologes mehr und mehr verebbte. Das Licht in der kleinen Kajüte war so finster, staubig und bedrückend wie eh und je, legte aber nun neben dieser depressiven Grundstimmung auch noch eine grauenhaft höhnisch-vorwurfsvolle Ader an den Tag, die dem Halbdämon zuvor noch niemals so wirklich aufgefallen war. Die ihm aber jetzt mit jeder einzelnen Minute, die er in seiner leidlich bequemen Koje verbrachte, schwerer auf dem Gemüt zu lasten schien, bis er es irgendwann kaum mehr aushielt. Aber wohin sollte er gehen? Dieses stille Kämmerchen war vermutlich der einzige Ort auf dem ganzen Schiff, an dem er garantiert keine Gefahr lief, Hoshi über den Weg zu laufen, und das machte beinahe jedes Manko hundertfach wieder wett. Mindestens vorläufig. Shinya wollte gerade wieder zu einer neuerlichen Schimpftirade über seine dunkelhaarige Gefährtin ansetzen, doch stattdessen drang nur ein niedergeschlagenes Seufzen über seine Lippen. Ja, verdammt, er wusste doch auch, wem er eigentlich und verdientermaßen ganze Salven unflätigster Beleidigungen an den Kopf zu werfen hatte! Wer wieder einmal und wie immer und überhaupt schuld an der ganzen Situation und an allem Ärger war und wer jetzt nicht einmal den Mut aufbringen konnte, zu diesen Fehlern zu stehen und solch ein an und für sich recht simples Wort wie Entschuldige über die Lippen zu bringen. Wie so oft war das dämonische Blut in seinen Adern mit ihm durchgegangen, und wie sie oft folgte nun auf den ersten Adrenalinstoß ein tiefes Tal von Reue und Selbstvorwürfen, in dem er sich hilflos verirrte. Er kannte Situationen wie diese aus seiner Zeit im Heim, und schon damals hatte er erkennen müssen, dass ein ruinierter Ruf sich leider nicht mehr so schnell aus der Welt schaffen ließ und ein einmal gewonnener Eindruck meistens fester und hartnäckiger in den Köpfen der Menschen haften blieb als jeder aufrichtige Versuch der Wiedergutmachung. In denen Shinya ohnehin keine große Übung und erst recht kein großes Geschick besaß. Er hatte nicht umsonst die meiste Zeit seines Lebens allein verbracht und sich irgendwann auch damit abgefunden. Aber nun war das etwas anderes, etwas vollkommen anderes, und das machte die ganze Situation erst so richtig schmerzhaft. Es war für Shinya nämlich durchaus nichts Selbstverständliches, sich überhaupt erst einmal auf andere einzulassen, und im Gegensatz zu Phil gehörte er auch ganz sicher nicht zu den Menschen, die jeden halbwegs sympathischen Zeitgenossen augenblicklich und wie selbstverständlich als Freund titulierten. Nun war er also gerade im Begriff dazu gewesen, im Fall von Hoshi wenigstens einmal mit diesen gewohnten Prinzipen zu brechen, und dann kam sie und führte sich auf wie... Und dann kam er und machte mit seiner Unbeherrschtheit alles wieder zunichte. Warum hatte sie ihm denn nicht wenigstens eine halbe Minute lang zugehört? Er hatte ihr doch nur helfen wollen und er hatte es verdammt noch mal gut gemeint und jetzt saß er hier in diesem hässlichen finsteren Kämmerlein unter Deck, während draußen der Himmel und das Meer miteinander um die Wette strahlten. Shinya richtete sich auf und zog seine Beine an den Körper. Irgendein äußerst unangenehmes Gefühl hatte sich zwischen seiner Brust und seinem Bauch breit gemacht, und der Katzenjunge konnte nicht so recht sagen, ob es sich dabei nun um Traurigkeit oder Wut oder Angst oder Einsamkeit oder einfach nur um ein ganz furchtbar schlechtes Gewissen handelte; wahrscheinlich um eine Mischung aus allem. Und genau in dem Augenblick, da er sich dieser durch und durch negativen Gefühlsflut wirklich bewusst wurde, da begriff Shinya, dass es eigentlich gar nicht mehr schlimmer kommen konnte, als es momentan ja ohnehin schon war. Natürlich verspürte er nicht einmal das geringste bisschen Lust dazu, auf die Schiffsplanken zu fallen und demütig um Gnade flehend geradewegs über das feuchte Holz vor Hoshis Füße zu kriechen, aber selbst das war im Grunde genommen immer noch besser als das ewig drückende Halblicht der einsamen Schiffskajüte. So kam es, dass Shinya sich schließlich doch auf den Boden hinabquälte, um dann wenig euphorisch auf den Gang hinauszutreten und sein hässliches Refugium endlich hinter sich zu lassen. Den Weg über den Korridor und an Deck hinauf hatte er zugegebenermaßen schon deutlich schneller hinter sich gebracht, und auch vor der Tür ins Freie blieb er noch einmal gut eine halbe Minute stehen und trat nervös von einem Fuß auf den anderen. Dann atmete er tief durch (wobei die beißend staubig in seine Lungen eindringende Luft ihn um ein Haar hustend und keuchend durch die schicksalhafte Pforte hätten taumeln lassen) und stahl sich so leise wie möglich in die angenehm sommerliche Wärme hinaus. Vielleicht war es ja tatsächlich so, dass das Schicksal nicht so recht in seinen Mut und seine Entschlossenheit vertrauen konnte, jedenfalls stand Hoshi in einer beinahe schnurgeraden Linie exakt dem Ausgang gegenüber an der Reling und blickte aufs Meer hinaus. Shinya war sich nicht so ganz sicher, ob sie ihn tatsächlich nicht wahrnahm oder ihn einfach nur nicht wahrnehmen wollte, jedenfalls drehte sie sich nicht zu ihm um, als er sich ihr näherte. "Hoshi?", fragte (oder flüsterte) er vorsichtig, und wieder zeigte das Mädchen keinerlei Reaktion. Immerhin stand sie auch direkt am Wasser und inmitten von Windgesang und Meeresrauschen war es schon mal gut möglich, von ein paar leise dahingenuschelten Worten überhaupt nichts mitzubekommen. Möglicherweise hatte sie auch einfach keinerlei Lust dazu, ein Gespräch mit ihm zu beginnen, und das konnte Shinya sogar sehr gut nachvollziehen. Trotzdem wusste er, dass es jetzt kein Zurück mehr gab, dass er jetzt nicht einfach wieder in seine Koje kriechen und sich zwischen Staub und Zwielicht verstecken konnte. Wenn er überhaupt irgendwann in seinem Leben die Chance bekommen hatte, Stärke zu zeigen, dann war das jetzt, genau jetzt und in diesem Augenblick und so nah, dass er einfach nur seine Hand danach ausstrecken und zugreifen musste. Shinya atmete ein weiteres Mal tief durch, und nun war die Luft auch überhaupt nicht mehr staubig und abgestanden, sondern erfrischend kühl und wunderbar salzig. Er schritt langsam und vorsichtig auf das Mädchen zu, den Blick starr auf ihr dunkles Haar gerichtet, dessen übermütiger Tanz im Seewind so gar nicht zu dem sonstigen Zeitlupentempo der gesamten Szene passen wollte. Vorsichtig hob der Katzenjunge seine Hand und streckte sie ganz langsam nach der Schulter des Mädchens, bis er beinahe schon ihre Körperwärme an seinen Fingern spüren konnte. Und dann besann er sich, warf kurzerhand all seine grauenvoll zögerlichen und feigen Anschleichpläne über den Haufen und folgte stattdessen einer vollkommen anderen Angriffsstrategie. Er zog seine Hand ruckartig wieder zurück, beschleunigte seine Schritte und vollführte eine rasche Wendung nach rechts. Mit angehaltenem Atem und gesenktem Kopf hastete er so leise wie möglich auf den hinteren Teil des Schiffes zu und schickte währenddessen im Sekundentakt Stoßgebete zu sämtlichen Göttern, die ihm gerade einfielen, dass Hoshi ihn doch bitteschön weder gesehen noch gehört noch sonst wie wahrgenommen hatte. Was freilich nicht unbedingt sehr wahrscheinlich war, aber erstens starb die Hoffnung ja bekanntermaßen immer noch zuletzt und zweitens würde Hoshi, falls sie diese bodenlose, unbeschreibliche Peinlichkeit tatsächlich mitbekommen hatte, nun wahrscheinlich sowieso niemals wieder in seine Nähe kommen wollen. Mit hochrotem Kopf und heftig klopfendem Herzen ließ sich Shinya zwischen einer besonders großen Taurolle und den Überresten eines offensichtlich nicht mehr ganz intakten Segels auf dem Schiffsboden nieder und stützte seinen Kopf auf die angewinkelten Beine. Offensichtlich war er unten in seiner Kajüte einem ganz besonders bösen Irrtum auf den Leim gegangen - es hatte sogar sehr wohl schlimmer kommen können und es war schlimmer gekommen, sehr viel schlimmer. Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte, er hatte sich zusätzlich zu seinem Aussetzer in den frühen Morgenstunden nun auch noch bis auf die Knochen blamiert und darüber hinaus sehr eindrucksvoll bewiesen, was für ein elender Feigling er doch war. Von seinem wenigstens recht gut verborgenen Platz aus konnte Shinya das Meer nicht sehen, dafür aber den Himmel, und außerdem war das ruhige Rauschen der Wellen auch ohne visuelle Untermalung noch sehr wohl zu hören. Doch selbst diese gelungene Mischung aus Idylle und Fernweh konnte den Katzenjungen nun nicht mehr nennenswert beruhigen; eher im Gegenteil. Tausend Gedanken jagten durch seinen Kopf, einer beklemmender und niederschmetternder als der andere, und doch fühlte Shinya sich außer Stande, diesem finsteren Sog der Grübeleien noch eigenmächtig zu entkommen. Während er so dasaß und das Meer nahezu unbeachtet an ihm vorbeizog, vergaß der Halbdämon vollkommen, dass neben unendlich vielen anderen Dingen auf dem Planeten ja auch so etwas wie ein Phänomen mit dem Namen Zeit existierte, oder zumindest achtete er nicht mehr weiter darauf. Das Blau des Himmels wurde zunehmend dunkler und der Wind wurde kälter, aber Shinya war viel zu sehr mit seinen eigenen Gedanken beschäftigt, um noch derart unbedeutsamen Alltäglichkeiten Beachtung schenken zu können. Einmal horchte der Katzenjunge kurz auf, als er seinen Namen über das Schiff hallen hörte, aber dann konnte er sich doch nicht dazu aufraffen, sich zu erheben und in menschliche Gesellschaft zurückzukehren. Die Einsamkeit war auch unter freiem Himmel immer noch bedrückend, aber gleichzeitig hatte sie doch auch etwas sehr Beruhigendes, Friedliches an sich, das ihm immer noch lieber war als jegliche unangenehme Unterhaltung. Am Horizont zeichnete sich bereits der blasse Kreis des aufgehenden Mondes ab und Shinya stellte fest, dass hier auf See die Sterne noch ungleich heller strahlten und funkelten als an Land. Aber vielleicht bildete er sich das ja auch nur ein, so wie er sich anscheinend viele Dinge einbilden konnte. Ein Held zu sein, beispielsweise. So bedeutungsvoll und verlockend die Worte jener nächtlichen Stimme auch geklungen haben mochten, sie waren eben doch nicht mehr und nichts anderes gewesen als Worte, höchstwahrscheinlich nur leere Versprechungen, heraufbeschworen von seinen tiefsten und sehnlichsten Wünschen. Was war er denn schon für ein Auserwählter? Er konnte doch im Endeffekt nichts Anderes, als fähigeren Magiern und Kriegern ein hartnäckiger Klotz am Bein zu sein, gesegnet mit nur einer einzigen, äußerst zweifelhaften Fähigkeit, nämlich andere und sich selbst in Schwierigkeiten zu bringen. Und als ob das alles nicht schon schlimm genug gewesen wäre, hörte er im nächsten Moment auch noch Schritte, die sich ihm eilig näherten. "Shinya! Shinya, da bist du ja endlich!" Der Katzenjunge blickte nicht auf. Natürlich wusste er, zu wem diese Stimme gehörte - er hatte die betreffende Person eigentlich bereits an der Art ihres Ganges erkannt, und überhaupt, wer hätte es denn auch sonst sein sollen? Shinya war sich sehr wohl auch im Klaren darüber, dass er ganz und gar nicht das Recht hatte, wütend auf Hoshi zu sein, und im Grunde genommen war er das ja auch überhaupt nicht. Er wollte sie nur nicht sehen. Er wollte niemanden sehen, aber sie am allerwenigsten, und jetzt stand sie vor ihm und er hatte keine Ahnung, wie er denn bitteschön reagieren sollte. "Was machst du denn da, Shinya? Du bist nicht mehr aufgetaucht und da... da hab ich mir Sorgen gemacht und ich... ach, ich weiß auch nicht. Ich bin nicht mehr böse auf dich, ja? Es tut mir leid, ich glaube, ich habe auch überreagiert..." Der Halbdämon biss sich auf die Lippe. Aus irgendeinem Grund sorgte Hoshis vollkommen überflüssige Entschuldigung nicht unbedingt dafür, dass er sich besser fühlte. Eigentlich war sie sogar weitaus schlimmer und schmerzhafter, als es jeder noch so berechtigte Vorwurf hätte sein können, und das Grausamste an der ganzen Sache war, dass Shinya nur allzu genau wusste, dass Hoshi ihre entschuldigenden Worte vollkommen ernst gemeint und ohne jeglichen bösen Hintergedanken vorgebracht hatte. Natürlich wollte sie ihm kein schlechtes Gewissen einreden, sie wollte ihn aufmuntern, und am allerwenigsten wollte sie ihm willentlich demonstrieren, dass sie ja so unendlich viel stärker war als er selbst und sich nicht einfach nur entschuldigen, sondern sich sogar an seiner Stelle entschuldigen konnte, und zwar für etwas, das ihr wohl kein Mensch auf der ganzen Welt hätte vorgeworfen. Was selbstverständlich daran lag, dass Hoshi ja so unvorstellbar gut war und er nicht, aber das wusste er ja sowieso schon und er wollte nicht noch weitere Beweise dafür hören und überhaupt sollte sie ihn einfach nur in Ruhe lassen. "Shinya? Was ist denn..." Hoshi machte einen weiteren Schritt auf den Katzenjungen zu und ließ sich neben ihm in die Hocke sinken. Ganz kurz schnappte dieser ihren Blick auf, der so sanft und so warmherzig war, als ob niemals etwas anderes zwischen den beiden jungen Estrella geherrscht hätte als perfekte Harmonie. Er schluckte. "Mann... tut mir ja auch alles leid, in Ordnung?", murmelte er, wobei seine Stimme leider doch nicht ganz so missmutig klang, wie es ihm eigentlich lieb gewesen wäre. "Ich weiß auch, dass ich nich unbedingt sonderlich nützlich bin für euch und... ja, ich hätt's nicht tun sollen. Du musst jetzt nicht ankommen und hier groß einen auf Mitleid machen, wenn du mich eigentlich lieber anschreien und schlagen würdest und so..." Zu seinem größten Entsetzen spürte Shinya plötzlich, wie sich sein Blick leicht trübte und sich seine Augen mit einem unangenehm feuchten Film überzogen, und er wandte sehr hastig seine Kopf von Hoshis sanftem Lächeln ab. "Du bist ein Idiot, Shinya!", sagte das Mädchen in einem Tonfall, der eigentlich auch überaus gut zu jedem liebevoll schmeichelhaften Kompliment gepasst hätte. Wie selbstverständlich legte sie einen Arm um seine Schultern und lehnte ihren Kopf an seinen Hals. "Und wie kommst du eigentlich darauf, dass du nicht nützlich für uns bist? Du bist mächtiger als wir alle zusammen, hörst du?" "Ach?" Der Katzenjunge lachte bitter. "Entschuldige, das muss mir bislang irgendwie entgangen sein." Shinya spürte, wie Hoshi mit den Schultern zuckte. "Dir vielleicht. Mir aber nicht." "Und wie das?!", murmelte er nach wie vor recht missmutig vor sich hin, obwohl ihn die unmittelbare Nähe des Mädchens doch langsam aber sicher auch mit einer gewissen Nervosität erfüllte. "Schau mal", erklärte sie in ihrem unnachahmlichem, geduldig überzeugenden Tonfall, während ihr Blick ganz entspannt auf dem hell erleuchteten Nachthimmel ruhte, "das kann doch wohl kein Zufall sein, dass du in so kurzer Zeit schon derart viele Estrella getroffen hast! Jeder normale Mensch könnte jahrelang durch Silvania irren und würde nicht einen einzigen von uns finden! Wie denn auch? Ich glaube jedenfalls nicht, dass das Zufall ist. Ich weiß zwar nicht, wie, aber du scheinst Estrella irgendwie... anzuziehen." "Im Kampf bringt mir das trotzdem nichts..." "Im Kampf, im Kampf!" Hoshi verpasste dem Katzenjungen einen leichten Schlag mit der flachen Hand auf den Hinterkopf. "Das ist mal wieder typisch Mann, weißt du das eigentlich? Es geht doch wohl nicht immer nur ums Kämpfen!" "Das ist also typisch Mann, ja? Na, erzähl das mal Tierra! Und was ist mit dir? Du wirst doch wohl auch nicht nur aus lauter Spaß am Zaubern trainiert haben!" "Du verstehst überhaupt nicht, was ich meine!", beschwerte sich die Lichtmagierin in gespielt entnervten Tonfall und verpasste dem Katzenjungen zur Abwechslung einen Ellbogenstoß in die Seite. "Shinya... es geht doch nicht darum, wer hier am besten Zaubern und kämpfen kann! Du bist der Auserwählte, schon vergessen? Der Auserwählte, der Licht und Schatten in sich vereint. Und der mal so ganz nebenbei auch als einziger von uns durch dieses... dieses komische Licht in diesen Wald gekommen ist... in Avârta, du weißt schon. Ist das Zufall? Nein, ist es nicht. Ich glaube wirklich, du bist viel mächtiger, als du eigentlich weißt..." Ein Grinsen stahl sich auf Shinyas Gesicht, das zu seiner größten Überraschung nicht einmal falsch oder zynisch war. "Sag mal Hoshi, willst du grad irgendwie schleimen oder so?" "Immer doch!", lachte das Mädchen. "Aber nein... nein, ich mein das eigentlich ernst... wirklich! Du bist der Auserwählte, Shinya, das hab ich von Anfang an gesagt und ich sag es immer noch, und wie du ja weißt habe ich in solchen Dingen grundsätzlich Recht!" Shinya warf dem Mädchen einen zweifelnden Seitenblick zu. "Ach? Wenn du so viel weißt, dann erklär mir doch bitte mal, wie ich gleichzeitig so mächtig sein kann und dann nix davon merke? Ich... ich hab keine Ahnung, was dieses ganze Gerede von wegen zwei Seiten zu bedeuten hat und ob ich überhaupt wirklich... das klingt jetzt total doof... ob ich wirklich bei den, na ja, Guten bin. Verstehst du das, Hoshi? Ich hab keine Ahnung, ob ich nicht irgendwann aufwache und die Welt geht unter und ich merk dann plötzlich, dass es eigentlich meine Schuld war..." Die Dunkelhaarige schüttelte den Kopf und strich Shinya vorsichtig über die Wange. "Ich weiß doch selber nicht genau, was jetzt hier richtig und was falsch ist. Keiner weiß das. Wir haben nur die Legenden und die können wir lesen und dran glauben oder eben nicht. Aber hey, ob wir nun gut oder böse oder was auch immer sind, wir stehen immer noch auf derselben Seite, und das ist doch wenigstens etwas, oder?" Die Sonne stand hoch am wolkenlos blauen Himmel, als die Küste der Insel Hoshiyama endlich am Horizont hinter den Wellen auftauchte. Shinya stand gemeinsam mit Hoshi und Misty an der Reling und betrachtete fasziniert die weißen Küsten Hoshiyamas. Das Land war gesäumt von hohen, scharfkantigen Kreidefelsen, die im hellen Tageslicht wie kostbares Elfenbein erstrahlten. An diesen natürlichen Wällen türmten sich türkisblaue Wellen auf, nur um dann in einem Regen aus tausend kleinen, funkelnden Kristallsplitten zu zerbersten. Auch Noctan stand einige Meter abseits von ihnen und nahm mit unbewegter Miene das nahende Land in Augenschein, aber da er sowieso schon den ganzen Morgen schwieg, hatte Shinya kurzerhand beschlossen, ihn eben einfach zu ignorieren. Der Tag war viel zu schön, um ihn sich von irgendjemandem ruinieren zu lassen. Auch der Rotschopf, mit dem der Katzenjunge am Tag zuvor aneinandergeraten war, befand sich mittlerweile an Deck und beglückte seine Mitmenschen wieder einmal mit seinen lautstark begeisterten Kommentare. Wobei ihn Shinya nun ausnahmsweise sogar verstehen konnte, denn wenn man nicht gerade zufällig auf den Namen Noctan hörte, war es wohl praktisch unmöglich, beim Anblick des perfekt vom Sommerhimmel in Szene gesetzten Naturschauspiels nicht in Begeisterungsstürme zu verfallen. Der Halbdämon hatte von Adel und Militär und von strategisch kluger Siedlungsweise noch immer nicht sonderlich viel Ahnung, aber langsam begann er doch zu verstehen, warum jenes kaiserliche Geschlecht einst sein Schloss ausgerechnet hier auf Hoshiyama errichtet hatte. "Was meinst du, Shinya", fragte Hoshi und blinzelte nachdenklich auf den glitzernden Teppich von Sonnenlicht und Meereswasser hinaus, "was ist dieser Rayo de Fugio wohl für ein Mensch?" "Hmm... ein Adliger halt", entgegnete Shinya und unterstrich seine wenig aufschlussreichen Worte mit einem ratlosen Schulterzucken. "Und wie sind Adlige so?", hakte das Mädchen nach. "Ich habe jedenfalls noch nie einen getroffen..." "Ja, denkst du ich?" "Umbringen wird euch dieses Versäumnis wohl nicht gerade", mischte sich - oh Wunder! - ausgerechnet Noctan in das gerade erst beginnende Gespräch der beiden jungen Estrella ein. "Und bald werdet ihr euch wahrscheinlich auch wünschen, es niemals nachgeholt zu haben." "Optimistisch wie immer", grinste Hoshi und schenkte Shinya ein amüsiertes Augenzwinkern. "Dabei dachte ich, alle Adligen wären elegante, gebildete Kavaliere..." "Nein, Hoshi", verbesserte der Weißhaarige, "nicht ele gant sondern arro gant. Da gibt es einen kleinen aber feinen Unterschied." Was du ja wohl am besten wissen müsstest, dachte Shinya, behielt diesen Gedanken aber lieber für sich. "Weil ja auch ganz bestimmt alle Adligen auf der ganzen Welt ausnahmslos und exakt gleich sind, natürlich!" "Vielleicht nicht alle, Hoshi, aber wir haben es hier immerhin mit dem erlauchten Herren des Feuers zu tun!" Noctan verdrehte die Augen. "Oh, ich sehe ihn förmlich schon vor mir stehen, einen weisen, uralten, verknöcherten und erzkonservativen Magiergrafen... oder von mir auch Magierherzog, Magierbaron, wie auch immer... er wird uns lieben und auf Händen tragen!" "Solange er wenigstens zaubern kann, soll's mir auch recht sein!", entgegnete Shinya lachend und warf sich schwungvoll seinen braunen Zopf über die Schulter. "Der Meister des Feuers, wie? Also ich hätt absolut nix dagegen, wenn er Phil mal ein bisschen einheizen würde!" Noctan antwortete nicht mehr, aber sein Blick sprach Bände, und so zog es der Katzenjunge vor, sich lieber wieder mit dem wohltuend warm aussehenden Ozean und den schneefarbenen Klippen zu beschäftigen. Selbige waren tatsächlich schon weitaus näher gekommen, als er es angesichts der sonstigen Langsamkeit ihrer Reise für möglich gehalten hätte, aber das sollte ihm nur recht sein. Wind und Meer hatten zwar auch etwas für sich, aber im Endeffekt blieb Wasser eben doch nur Wasser, und das mochte zwar wunderschön aussehen, war aber bei näherem Kontakt meist eher kalt und nass und vor allem tief. Trotz seiner Vorfreude auf den unbekannten und festen Boden vergingen die Minuten bis zu ihrer Ankunft auf Hoshiyama wie im Flug. Das Panorama der nahenden Insel war und blieb auch bei längerer Betrachtung ganz unheimlich faszinierend, und auch die hoch über ihren Köpfen kreisenden Vögel und das eine oder andere vorbeiziehende Fischerboot sorgten für angenehme Abwechslung und Unterhaltung. Dann lief das Schiff auch schon in den Hafen ein und Shinya wollte gerade innerlich triumphieren, als er mit einem Mal die grauenhafte Veränderung bemerkte, die binnen weniger Sekundenbruchteile mit der Zeit vor sich gegangen war. War selbige nämlich eben noch leichtfüßig und munter dahingeeilt, so schien sie nun irgendwo zwischen Schiffskörpern und Holzstegen gestürzt zu sein und sich obendrein auch noch einen überaus komplizierten Bruch zugezogen zu haben, sodass sie jetzt bestenfalls noch kriechen konnte. Es schienen tatsächlich mehrere Stunden zu vergehen, bis ihr hölzernes Gefährt endlich sicher an seinen schmalen Platz zwischen vielen kleinen und großen Artgenossen eingelaufen war. Und dann wuselten plötzlich zahlreiche Matrosen durcheinander, sprangen furchtlos zwischen Land und Schiff hin- und her, bis (zumindest laut Shinyas zeitlicher Wahrnehmung) Tage später endlich alles vertaut und mit Stegen versehen und überhaupt irgendwie vorbereitet war. Misty war die Erste, die ohne Rücksicht auf wacklige Planken übermütig an Land hüpfte und ausgelassene Freudensprünge auf dem weißen Pflaster der Hafenstadt vollführte. Trotz seiner Sehnsucht nach dem nicht schwankenden Boden hatte es der Katzenjunge weitaus weniger eilig, der Kleinen zu folgen, und lenkte sich mit konzentrierten Blicken in Hoshis Richtung von seinem heftig pochenden Herzen ab, denn das Mädchen schien vor lauter Begeisterung offensichtlich gar nicht mehr zu wissen, wohin sie nun zuerst blicken sollte. Faszinierenderweise sah aber sogar Noctan noch irgendwie, wenn auch nur andeutungsweise beeindruckt aus, als er wieder einmal als Letzter das Schiff verließ. Was allerdings auch kein großes Wunder war, denn das Bild, das sich den jungen Estrella bot, schien tatsächlich der Zeichenfeder eines Märchenbuchillustratoren entsprungen zu sein. Vor ihnen lag eine lange Reihe von Häuserfronten, und fast jedes dieser Gebäude besaß eine kleine, mit bunten Blumen geschmückte Dachterrasse, winzige Erkerfensterchen oder liebevoll verzierte Fachwerkfassaden. Unzählige Schiffchen und Bote schaukelten auf den türkisblau strahlenden Wellen, und zwischen den Tauen, Fischernetzen und Holzstegen, die bis weit auf das Wasser hinausführten, tummelten sich weiße Möwen, verschlafene Katzen und spielende Kinder. In etlichen Metern Entfernung waren zahlreiche Marktstände aufgebaut worden, zwischen denen ein überaus reges Treiben herrschte, ein buntes Durcheinander von Händlern, von Frauen mit schweren Körben und von zottigen Pferden, die über und über mit Waren aus dem Inland beladen waren. Das gesamte Szenario wirkte derart verspielt und niedlich, als wäre Shinya nicht etwa auf eine zwar bekanntermaßen sehr schöne, aber eben doch unbestreitbar reale Insel, sondern vielmehr geradewegs in ein Spielzeugdorf getreten. "Hey, Hoshi, schau dir das an, da hinten, der ganze Fisch!", lachte der Katzenjunge, während er mit großen Augen (und knurrendem Magen) seine wundersame Umgebung betrachtete. "Da könnt man glatt Hunger kriegen, wenn man's nicht eh schon hätte..." "Na, warum schauen wir's uns dann nicht einfach mal genauer an?", strahlte Hoshi sichtlich begeistert und vollführte eine halb gesprungene, halb getanzte Drehung um die eigene Achse. Dann rannte sie übermütig und mit weit ausgebreiteten Armen auf die kleinen, windschiefen Holzaufbauten zu, hinter deren reich gefüllten Theken die Händler lautstark ihre Ware als die beste des ganzen Marktes, wenn nicht sogar des ganzen Landes anpriesen. "Es ist einfach toll hier!", rief das Mädchen lachend dem wolkenlosen Himmelszelt entgegen, und ihr dunkles Haar flatterte im Wind. Was sie leider angesichts von Puppenstubenstadt und Sommerhimmel ganz zu vergessen schien, war die wenig romantische Tatsache, dass man überfüllte Straßen vielleicht doch lieber nicht rennend und hüpfend und schon gar nicht mit geschlossenen Augen durchqueren sollte, und als Shinya das nahende Unglück bemerkte, da war es beinahe schon zu spät. "Hoshi, pass auf!" Der Ruf des Katzenjungen erreichte die Dunkelhaarige tatsächlich gerade noch rechtzeitig - und setzte eine unheilvolle Kettenreaktion in Gang. Anstatt nämlich anzuhalten oder auszuweichen oder sonst irgendetwas Konstruktives zu tun, wandte Hoshi mitten im Lauf ihren Kopf zu Shinya um und blickte ihm fragend entgegen. Allerdings nur etwa zwei Sekunden lang, bevor sie mit voller Wucht auf einen vorbeigehenden Jungen prallte, um dann gemeinsam mit ihm unter Schreckensschreien in einem Gewirr aus vergeblich nach Halt suchenden Armen und Beinen zu Boden zu gehen. "Hoshi!", rief Shinya nicht minder erschrocken und vor allem noch ungleich lauter als das Mädchen, was die ohnehin schon peinliche Szene nun endgültig in den Mittelpunkt der Öffentlichkeit rückte. Er stürzte tapfer an allen gaffenden und kichernden Menschen vorbei auf seine Freundin zu, doch noch bevor er sie erreichen konnte, hatten sich beide Gefallenen zumindest wieder in eine sitzende Position gekämpft. "Kannst du nicht aufpassen?", schnaubte der Junge und bedachte Hoshi mit einem überaus ärgerlichen Blick aus seinen tiefblauen Augen, bevor er sich mit einiger Mühe wieder aufrappelte. Er war von eher zierlicher Statur und nicht sonderlich groß, konnte aber nur geringfügig jünger sein als Shinya selbst. Sein langes Haar war von der Farbe sehr hellen Blonds und auch seine Haut war auffallend, allerdings keineswegs ungesund bleich. Absurderweise trug dieser alles andere als kriegerisch anmutende Mensch die blaue Uniform der Soldaten Hoshiyamas, dazu hohe schwarze Stiefel und fingerlose Handschuhe von derselben Farbe. "Hey, lass sie in Ruhe, ja?", mischte sich Shinya ein, doch bevor er sich richtig aufbauen und als großer Beschützer in Szene setzen konnte, wurde er von Hoshi mit einer beschwichtigenden Geste zum Schweigen und Zurückbleiben gebracht. "Shinya... es ist in Ordnung." Die Lichtmagierin stand langsam auf und bedachte den Katzenjungen zusätzlich (und vollkommen überflüssigerweise!) mit einen flehenden Blick. Der seufzte tief und nachgiebig, trat aber schon aus bloßem Trotz dennoch mit verschränkten Armen und drohendem Blick an die Seite seiner Freundin. "Wer selbst keine Augen im Kopf hat", grummelte er gerade so laut vor sich hin, dass es auch garantiert noch jeder Anwesende verstehen konnte, "braucht dich aber auch gar nicht dumm anzumachen, Hoshi!" "Keine Augen im Kopf? Dumm anmachen?" Der Blonde warf Shinya einen fassungslosen Blick zu. "Ich höre wohl nicht recht! Ihr... ihr scheint ganz offensichtlich nicht zu wissen, wen ihr da eigentlich vor euch habt!" "Nein, verzeiht!", gab der Katzenjunge in spöttischem Tonfall zurück. "Sollten wir das etwa?" "Das will ich doch sehr meinen!" Der blonde Junge strich sich die langen Haare aus dem Gesicht und reckte sein Kinn demonstrativ noch ein Stückchen höher, was ihn spontan sogar noch ein klein wenig überheblicher aussehen ließ, als er sowieso schon von Anfang an getan hatte. "Ich weiß nicht, wie es um eure Bildung steht - eurem Aussehen nach zu urteilen, scheint ihr ja nicht gerade von sonderlich hoher Herkunft zu sein - aber mein Name sollte doch selbst euch noch bekannt sein. Nur damit ihr's wisst, ich bin Rayo de Fugio!" Ende des viertes Kapitels Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)