BlutsErben des Siegels von Idhren (- Gegen das System -) ================================================================================ Kapitel 2: ----------- Elodie saß in der Bibliothek und blätterte in ein paar Büchern über Sternkunde. Sie hatte in der letzten Nacht in den klaren Himmel gesehen und war völlig fasziniert gewesen. Nur Exodus hatte die Faszination rauben können. Sie verstand sich noch immer nicht mit ihm. Es war reine Höflichkeit, die sie nicht ihre ehrlichen Meinungen sagen ließ. Elodie hatte draußen bei den Ställen gestanden und den Kopf in den Nacken gelegt, um die volle Pracht der winzigen Lichter sehen zu können. Orion jagte mit seiner mächtigen Keule im Süden den Stier, die Zwillinge sahen nur ruhig zu, während der große Wagen seine Bahnen drehte. Exodus hatte sich neben sie gestellt und gelächelt. "Wirklich schön, nicht wahr?", hatte er gesagt. Elodie hatte genickt. "Ja, es ist wunderbar, das Gott uns in der dunklen Nacht solche wunderschönen Dinge an den Himmel geheftet hat. Schade nur, dass sich der Himmel so dreht, dass man sie am Tag nicht sehen kann." Er hatte sie nur mit Misstrauen angesehen, danach wieder den Kopf gehoben. "Ich habe gehört, es soll schon im Jahre dreihundert vor Christus Gelehrte gegeben haben, die behaupteten, die Sterne drehen sich nicht um die Erde, sondern die Erde drehe sich, wodurch es nur so erscheint. Und es wurde behauptet, die Erde sei nicht Mittelpunkt der Welt." Elodie sah ihn wütend an. "Aber dem ist ja nicht so, nicht wahr, Monsieur Exodus? Gott hat die Erde geschaffen und den Menschen, und Sonne, Mond und Sterne drehen sich um unseren Planeten um die Krönung der Schöpfung zu erheitern." Exodus lachte. "Ihr nennt die Krönung der Schöpfung den Menschen, Mademoiselle? Wer bei Hofe seine Notdurft in den Ecken der Paläste verrichtet, ist für mich nicht jene Krönung der Schöpfung. Selbst Tiere halten ihre Höhlen sauber." In Elodie begann es zu kochen. "Monsieur, Ihr redet wie ein Ketzer, den man schnellstmöglich hängen sollte! Würde Euch jemals ein Mann Gottes so reden hören, wäret Ihr des Todes, dessen seid Euch gewiss! Ich halte nicht viel davon, Gotteslästerer in meinem Hause aufzunehmen, deswegen lernt, Eure Zunge zu hüten." Wutentbrannt war sie gegangen. Und jetzt saß sie hier in der Bibliothek, in der Hoffnung, etwas über jene Gelehrte zu finden, von denen er gesprochen hatte, und seine Thesen in der Luft zerreißen zu können. Doch hier stand nichts. Es hatte sie wahrscheinlich gar nicht gegeben... Es war jetzt über drei Monate her, da war er zu ihr ins Kloster gekommen. Noch immer hatte er seinen wahren Namen nicht genannt, und noch immer schien er sie in jedem Gespräch, ob bewusst oder unbewusst, provozieren zu wollen. Halb enttäuscht, halb zornig warf sie das Buch auf den Tisch. Ein Gast, mit dem man sich nicht verstand, den man aber auch nicht rauswerfen durfte - es war eine Last, mit der sie der Kirche hoffentlich einen guten Dienst erwies. Die Tür zur Bibliothek öffnete sich, Anne trat herein. "Mademoiselle? Es sind zwei weitere Gäste eingetroffen, sie warten in der Eingangshalle." Elodie stand auf und sah an sich herunter - es war schon spät, und sie war wieder aufgestanden, nachdem sie das Thema so beschäftigt hatte, daher hatte sie nur ihr weißes Negligé an. "Ich komme. Wärest du so freundlich, noch zwei Zimmer herzurichten? Je nach dem ob Mann oder Frau in den verschiedenen Flügeln. Danke." Anne knickste und ging den Korridor, den sie gekommen war, zurück, Elodie ging aus der Tür und schloß sie hinter sich, folgte Anne und fand sich bald in der Eingangshalle wieder. Sie errötete. "Verzeihung, ich bin nicht passend angezogen, um Gäste zu empfangen, doch ich hatte mich schon zu Bett gelegt...", sagte sie zu der Frau und dem Jungen, die vor ihr standen und musterte sie genau. Die Frau war ganz in Schwarz gekleidet, ihr ebenfalls schwarzes Haar lugte nur ein wenig unter der Kapuze hervor. Ihre Gesichtszüge waren ungemein fein; schön geschwungene Lippen, eisblaue Augen unter dünnen Brauen und eine zierliche Nase. Der Junge, keine fünfzehn, vielleicht nicht einmal vierzehn, hatte blondes, kurzes Haar, grüngraue Augen, einen schmalen Mund und jede Menge Sommersprossen auf der Nase. Was Elodie an ihm beschäftigte, war aber nicht sein Aussehen, nicht einmal sein Alter - es war die Kreatur um seine Schultern. Eine Echse mit Flügeln, je nach Lichteinfall mit schwarzen oder blauen Schuppen. Ein Drache. Die Frau lächelte. "Das macht doch nichts. Wir wissen, dass es spät ist, doch wir hatten gehofft, trotzdem noch hier unterkommen zu können." Elodie nickte geistesabwesend und hob den Blick von dem Drachen. "Ja... Natürlich. Anne, eine Magd, richtet gerade zwei Zimmer her. Wenn Ihr mir bitte folgen würdet? Es wird noch ein wenig dauern, deswegen wäre es wohl besser, wenn Ihr erst einmal sitzen könntet." Elodie führte sie zum Esszimmer, wo sich alle drei hinsetzten. Die Frau lächelte, als sie sich niederließ. "Mein Name ist Catherine Souchette. Mein Deckname auf dieser Reise war Persephone. Ich komme aus Rouen." Elodie stutzte. Rouen? Sie sagte jedoch nichts. Erst jetzt sprach der Junge, der bisher recht verängstigt gewirkt hatte. "Ich bin Jean. Jean Horel. Mein Deckname war Hermes." Catherine lächelte. "Wir beide haben uns auf dem Weg hierher getroffen. Purer Zufall. Ich glaube, er denkt noch immer, man würde ihm sein geliebtes Drachenweibchen hier nehmen." Elodie lachte. "Nein, wozu? Ich bin ein bisschen verwirrt, das muss ich zugeben, aber warum sollten wir es dir wegnehmen? Ich hätte da nur eine Frage - soll es bei dir im Zimmer schlafen oder in den Ställen? Ist es nicht reinlich, so musst du es jedoch in deinem Zimmer selbst säubern!" Jean blickte auf, zum ersten Mal sah man Freude in seinem Gesicht, seit er aufgebrochen war. "Ich kann Avia behalten? Und sie darf sogar in meinem Zimmer schlafen? Danke!" Der Drache erhob sich müde von seinen Schultern, drehte kurz ein paar Runden und legte sich dann auf den Tisch. Catherines Lächeln hielt weiter. "Siehst du, Jean? Ich hab es dir doch gesagt. Hier wird niemandem 'ein Dämon ausgetrieben'." In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Exodus trat ein. Elodie wurde wieder wütend, doch diesmal nicht auf ihn. Er hatte mit Sicherheit schon geschlafen, dass sah man seinem müden Blick an. Giselle jedoch nicht. Die Hausherrin lächelte ihm gezwungen zu. "Guten Abend, Monsieur. Hier sind dann wohl zwei, die Euer Schicksal teilen. Persephone und Hermes, das ist Exodus." Catherine sah sie verwirrt an, erhob sich kurz und stellte sich knapp vor. "Catherine Souchette", sagte sie nur, Jean tat es ihr gleich. Exodus lächelte. "Mein Name bleibt erst einmal im Verborgenen, verzeiht mir meine Unhöflichkeit." Die beiden nickten teilnahmslos und setzten sich wieder. Exodus ließ sich neben Elodie auf einen Stuhl sinken. Sie lächelte. "Und? Habt Ihr gut geschlafen bisher?" Er grinste. "Eure Betten sind sehr weich, aber Eure Zofen handeln gerne im Interesse der Gäste." "Sie sollte als Zofe in meinem Interesse handeln, sonst setze ich sie bald vor die Tür, sagt ihr das bitte das nächste Mal, wenn Ihr sie seht." Er beachtete ihre Aussage erst gar nicht, faltete nur die Hände und stützte sein Kinn darauf. "Und, hattet Ihr eine angenehme Reise?", fragte er höflich. Jean strich über Avias Schuppenpanzer, während Catherine nickte. "So angenehm, wie sie wohl sein kann", sagte sie und gähnte hinter vorgehaltener Hand. Sie redeten noch ein wenig miteinander, das meiste reine Höflichkeit, doch dann trat Anne ein und berichtete, die Zimmer seien hergerichtet. Elodie trug ihr auf, die beiden Gäste, die vollkommen übermüdet schienen, zu ihren Zimmern zu geleiten und ging selbst in ihres. Auch sie war müde. Exodus blieb alleine im Esszimmer sitzen. Wahrscheinlich grübelte er noch ein wenig, das schien er gerne zu tun. Der neue Tag brach an, und Elodie stand relativ früh auf. Sie bat Giselle herein, als diese an die Tür klopfte. "Mademoiselle? Soll ich Euch beim Ankleiden helfen?" Elodie lächelte und nickte, während sie die Schnüre ihres Negligés am Ausschnitt öffnete und sich umkleidete. Schließlich zog Giselle die Korsage des Kleides, das Elodie anzog, eng und schnürte sie zu, so dass Elodie im ersten Moment nach Luft schnappen musste. "Giselle, ich muss noch mit dir reden. Du bist meine Zofe, und ich hoffe, dir ist das klar. Meine Vertraute. Und es ist mir egal, wie sehr du den Engländer magst - du stehst in meinem Dienst und solltest nicht das tun, was mich erzürnt." Die Bedienstete tat unwissend und überrascht. "Wie bitte? Was meint Ihr, Mademoiselle?" Elodie hielt sich am Türrahmen fest, während die Bänder verknotet wurden, weil sie sich nicht schütteln lassen wollte. "Du wirst frech. Du weißt genau, was ich meine. Ich spiele auf gestern abend an. Und sage mir jetzt nicht, du hättest ihn nicht geweckt! Giselle, ich habe dich gerne aufgenommen, und ich fände es traurig, dich entlassen zu müssen, aber als meine Zofe schuldest du mir Respekt. Und wenn es dir noch so wenig passt." Giselle nickte. "Verzeiht, Mademoiselle. Ich weiß, es war unrecht und es stand mir nicht zu. Wenn es Euch nicht stört, gehe ich und sehe nach den anderen Gästen." Elodie ließ ihre Zofe gehen. Sie hingegen begab sich zum Arbeitszimmer. Auf dem dunklen, schweren Schreibtisch lag ein Brief, das Siegel noch ganz. Er musste ziemlich früh angekommen sein, bestimmt hatte Anne ihn entgegengenommen. Die Magd konnte abends erst spät zu Bett gehen und musste morgens früh aus den Federn. Elodie setzte sich und brach das Wachs um den Inhalt des Briefes zu lesen. "Chère Mademoiselle Délieure, Wir schickten Briefe an alle zwölf Mitglieder des Ordens und nannten ihnen ein Datum, den 29.04.1450. Zu diesem Tag sollten alle zwölf im Kloster vereint sein. Sollte dieser Fall nicht zutreffen, so ersuchen wir Euch, uns dies zu schreiben. Außerdem erwarten wir einen Brief, sobald alle anwesend sind. Das beigelegte Entgelt ist für jegliche Unkosten, die bei Euch anfallen werden. Der nächste Brief wird das weitere Vorgehen von Kirche und Orden erläutern. Hochachtungsvoll, Die Kardinäle um Papst Nikolaus V." Elodie wunderte sich über die Kürze des Briefes, besonders weil sie um mehr Informationen gebeten hatte, doch es störte sie nicht weiter. Das Datum war interessanter. Schon übermorgen. Und bisher waren erst drei Mitglieder eingetroffen. Doch ihr konnte es egal sein, sie hatte der Kirche folge geleistet. Das beigelegte Entgelt musste wohl Anne angenommen haben, es lag kein Beutel auf dem Tisch. Elodie ging durch die hohen Flure an ein paar Heiligenstatuen vorbei und begab sich ins Esszimmer. Natürlich. Exodus saß schon da und unterhielt sich mit Catherine und Jean. Als die Hausherrin das Zimmer betrat, verstummte das Gespräch. Dass sie vom Orden ausgeschlossen wurde, war ihr eigentlich ziemlich egal. Sie gehörte ja auch wirklich nicht dazu. Sie setzte sich und nahm sich von Brot, Käse und Wurst, die auf dem Tisch lagen. Catherine und Jean sahen auf ihren Teller und schwiegen, während Exodus die Arme mit den Ellen auf den Tisch stützte und sein Kinn auf die gefalteten Hände legte. "Guten Morgen, Mademoiselle", sagte er höflich und lächelte, grinste beinahe. "Guten Morgen, Monsieur", erwiderte Elodie und biss von ihrer Brotkruste ab, blickte aber nicht einmal auf. Catherine hob den Kopf und sah die beiden an; wie er sie nicht aus den Augen ließ und ein gewisses Funkeln in seinen Augen glitzerte. Etwas Solches kannte sie sonst nur von Verliebten, hier aber schien es anders. Doch so sehr sie sich mühte, es zu lesen, sie vermochte es nicht. Jean folgte mit seinem Blick dem Drachenweibchen, das glücklich seine Kreise im hohen Raum zog. Exodus ließ seine Augen weiter auf Elodie ruhen. "Und, Mademoiselle? Habt Ihr gut geschlafen?" Elodie warf ihm nur einen kurzen Blick aus ihren grünblauen Augen zu, wandte sich dann wieder dem Essen zu. "Eigentlich ist es an mir, Euch diese Frage zu stellen; seid Ihr doch mein Gast." "So kann ich Euch sagen, dass ich einen ruhigen Schlaf hatte, aber trotzdem dankbar war, als Eure Zofe mich weckte und mir interessante Neuigkeiten berichtete." Sie legte das Essen nieder und stand auf. "Entschuldigt mich", presste sie zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, "doch ich will nach den Tieren sehen." Jean, der erst mit dem letzten Satz zugehört hatte, sah sie verwundert aus großen Augen an. "Aber Ihr habt Euer Frühstück nicht aufgegessen. Wer weiß, wann die nächste Hungerperiode einbricht, Mademoiselle?" Exodus grinste jetzt. "Genau, Mademoiselle Délieure. Ihr solltet das Essen nicht verschwenden." Elodie warf ihm einen Blick zu, der ihn getötet hätte, hätte er es vermocht. "Gib es dem Drachen", sagte sie knapp, nickte Catherine zu, die dem ganzen schweigend zusah und ging aus dem Raum. Nachdem sie die Tür geschlossen hatte, atmete sie tief durch. Anne kam in diesem Moment auf sie zu. "Ein weiterer Gast ist eingetroffen, Mademoiselle. Den Beutel, den der Gesandte heute morgen brachte, habe ich zu dem anderen Geld gebracht, damit es sicher verwahrt ist." Elodie nickte. "Sehr gut, danke, Anne. Wenn du noch Zeit hast, bevor du etwas essen möchtest, bitte ich dich, Giselle zu suchen. Schick sie auf ihr Zimmer und verbiete ihr, es wieder zu verlassen, bevor ich nicht bei ihr gewesen bin." Anne sah ihre Herrin verwundert an, nickte aber, machte einen Knicks und ging. Elodie ging in die Eingangshalle. Eine junge Frau sah sich beeindruckt um, ihr rötliches Haar flog bei schnellen Bewegungen ein wenig hin und her. Sie schien ein Alter von siebzehn zu haben, ihre Kleidung zeugte nicht von Reichtum. Elodie ging auf sie zu. Die Frau drehte sich zu ihr um. "Bonjour, Mademoiselle. Bin ich hier in diesem Kloster richtig? Ich habe den Brief nur schlecht lesen können." Elodie nickte. "Ja, Ihr habt den rechten Weg eingeschlagen. Ich heiße Elodie Délieure. Seid willkommen." Die Frau knickste. "Mein Name ist Manon Fournier, mein anderer Name, den die Kirche mir gab, Fortuna." Elodie lächelte. "Gut, Manon. Seid Ihr hungrig? Oder wollt Ihr ausruhen?" "Wenn es möglich ist, würde ich mich über etwas Eßbares sehr freuen." Anne eilte wieder die Treppe hinunter. "Mademoiselle? Giselle wartet." "Ahh, Anne, sehr gut, danke. Wenn du jetzt frühstücken gehst, nimm Manon bitte mit und mache sie mit den anderen bekannt." Die Magd nickte und der neue Gast ging mit ihr mit. Elodie dagegen stieg schnell die Treppen hinauf. Als sie an Giselles Zimmertür kam, klopfte sie nicht einmal. Sie schloß die Tür hinter sich und sah Giselle ins Gesicht, die aufgestanden war. "Du erinnerst dich an unser Gespräch von vorhin?" Die Zofe nickte. "Natürlich, Mademoiselle." "Hast du verstanden, was ich von dir verlangt habe?" Giselle zögerte kurz. "Ja, Mademoiselle, das habe ich." Elodie atmete scharf ein. "Höchst interessant. Denn du hast mir eindeutig zu verstehen gegeben, dass du meinen Ärger nicht bestärken willst. Und dennoch bist du heute zu Exodus gegangen und hast ihn mit irgendwelchen Neuigkeiten erfreut. Als erstes will ich wissen, welche das gewesen sein sollten." Giselle schluckte. "Ein Bote brachte die Nachricht, dass viele Menschen in der Umgebung in letzter Zeit nach unserem Kloster gefragt hatten. Es schienen auch Hexenjäger gewesen zu sein." Elodie nickte knapp, das war ihr auch schon zu Ohren gekommen, und dennoch... "Und warum hast du dich meinem Befehl widersetzt?" Die Zofe blickte zu Boden. "Exodus hatte mich darum gebeten, ihm solche Dinge mitzuteilen." Von einer Ecke des kleinen Raums in den anderen gehend, dachte Elodie kurz nach, blieb dann stehen und sah ihre Bedienstete fest an. "Gut, Giselle. Du hast dich meiner Order wissentlich widersetzt. Und nicht nur das: Du hast mir deine neuen Nachrichten nicht mitgeteilt, wie es eigentlich deine Aufgabe ist, sondern es lieber dem Engländer in meinem Hause berichtet. Das hat Folgen, wie du dir sicher denken kannst. Du hast dir in letzter Zeit viel herausgenommen. Ich hebe Anne in die Aufgaben meiner Zofe, ab jetzt musst du als Magd arbeiten. Oder gehen." Ohne sich noch einmal umzudrehen verließ die Hausherrin das Zimmer und ging zurück zum Frühstückstisch. Erneut verstummte das Gespräch mit ihrem Eintreten, aus dem nur Anne sich heraus zu halten schien. Manon blickte lächelnd auf. "Es ist wundervoll, endlich wieder etwas ordentlich zwischen die Zähne zu kriegen", sagte sie und lächelte mit gelblichen Zähnen, die ihr hübsches Gesicht ein wenig hässlicher machten. Höflich lächelte Elodie zurück und nahm neben Anne Platz. Die Magd mühte sich, in Gegenwart ihrer Herrin höflich zu essen, schloß den Mund um Schmatzgeräusche zu verhindern und schluckte, bevor sie sprach. "Mademoiselle? Kann ich Euch helfen?" Elodie schüttelte den Kopf. "Iss in Ruhe weiter. Ich wollte dich nur unterrichten, dass du nach dem Essen Giselle erneut suchen kannst und ihr deine Aufgaben mitteilen kannst. Ihr Zimmer gehört vorerst dir, ich habe dich gerade zu meiner Zofe gemacht und Giselle zu den anderen Mägden geschickt. Ich hoffe, du weißt zu schätzen, dass ich dir diese Aufgaben erteile." Annes Augen glühten, schnell schlang sie den Bissen in ihrem Mund hinunter. "Ich danke Euch, Mademoiselle! Ich werde mein Bestes geben." Elodie lächelte, dann wanderte ihr Blick entschlossen kurz zu Exodus, der das Gespräch wohl mit angehört hatte. Sie warf auch ihm ein Lächeln zu. Hier sitze ich am längeren Hebel, dachte sie und stand auf. Sie hatte den Lederhandschuh angezogen und sah Aer zu, wie er hoch oben am Himmel seine Kreise zog und sich schließlich auf die Erde stürzte, um etwas zu fangen. Schwere Schritte kamen näher, Elodie wusste auch so, wer es war. "Bonjour, Monsieur Exodus." "Hello, Miss Délieure." Verwirrt drehte sie sich um. Sie hatte ihn nie Englisch sprechen hören. "Ich wusste doch, dass ihr mich so wenigstens einmal eines normalen Blickes würdigt." Und schon sah sie wieder auf. Er lachte. "Euer Stolz ist der eines Mädchens, Mademoiselle." Sie hob den Arm, und Aer ließ sich darauf nieder, dann ging sie auf ihn zu und sah ihm fest in die Augen. "Und Euer Hochmut ist nicht auszuhalten. Könnte ich es, würde ich Euch nicht einen Tag länger in diesem Kloster die Zeit verbringen lassen. Doch die Kirche..." Er sah sie abschätzend an. "Mir scheint, Ihr lasst Eurer Wut langsam freien Lauf." Er blickte ihr tief in die Augen, zuerst ernst, doch dann begann er sanft zu lachen. Sie strich Aer über das weiche Gefieder. "Warum lacht Ihr?" Er sah zum Himmel. "Ich hätte nicht gedacht, dass ich einst wiederholen müsste, was mein Freund mit Eurer Mutter tat." Elodie ging zurück zur Voliere und ließ Aer in seinem Stall zurück. "Und das wäre, Monsieur?", sagte sie verkniffen und drehte sich zu ihm. Doch was er jetzt tat, damit hatte sie nicht gerechnet, sie war vollkommen überrascht. Blitzschnell trat er auf sie zu, griff nach ihren Handgelenken, trieb sie ein paar Meter weiter und drückte sie kraftvoll, aber dennoch nicht hart an die Wand. Ihr Herz begann zu rasen, vor Angst und Aufregung. Seine grünen Augen blickten noch immer tief in die ihren, doch man konnte aus ihnen noch immer nichts lesen. Er beugte sich vor und drückte seine Wange an ihre, um leise in ihr Ohr zu flüstern. "Euch die Augen zu öffnen, Mademoiselle. In Eurem Blut liegt pure Naivität." Er ließ von ihr ab und ging ohne ein weiteres Wort zurück. Sie sah mit keuchendem Atem auf die Erde, legte eine Hand auf die Brust, durch die ihr Herz springen zu wollen schien und versuchte langsam, sich zu beruhigen. "Dieser Mann ist das pure Mysterium", sagte sie leise zu sich selbst und sah hin, wo er verschwunden war. Giselle klopfte an das Arbeitszimmer und trat ein. Glücklich sah sie keineswegs aus. "Mademoiselle? Es sind gleich drei weitere Gäste eingetroffen. Sie stellten sich mir mit den Namen Uranos, Pandora und Gabriel vor." Elodie nickte, Giselle knickste und verließ den Raum. Die Hausherrin schrieb noch eben die letzten Sätze zu Ende, legte die Feder nieder und ging hinunter zur Eingangshalle. Die Tinte könnte jetzt trocknen. Die neuen Gäste schienen sehr unterschiedlich. Eine Frau, wohl jünger als Elodie, sah mit ihren blauen Augen gedankenverloren auf den Boden, keine einzige Gefühlsregung im Gesicht, die verriet, an was sie wohl dachte. Ihr blondes Haar musste sehr lang sein, es war geflochten und hochgesteckt worden; der Kopf sah beinahe beladen aus. Ihre Gestalt war hübsch, keine Narben im Gesicht, eine weiche Haut, die Lippen sehr rot, doch nicht zu sehr, sie schien außerdem sehr schlank. Elodie fiel auf, dass sie nur leichte Kleidung trug, die gewiss nicht viel wärmte. Eine weitere Frau, noch sehr jung, sah sich beeindruckt mit wachen, grünen Augen um. Auch ihr Haar war blond, doch es war nur zurückgebunden und nicht so lang, wie das der Unbekannten neben ihr. Sie trug ein hellblaues Kleid, dass ihre Haut noch blasser wirken ließ, als sie ohnehin schon war. Sie schien ein wenig unsicher, aber dennoch sehr neugierig. Ein weiterer Neuankömmling, ein Mann, beobachtete Elodie, wie sie die Treppe hinunterging. Seine Kleidung zeugte durchaus von Reichtum, weiche, farbenfrohe Stoffe. Er hatte braunes Haar und tiefe, braune Augen, bei denen es nicht unangenehm war, so durchdringend gemustert zu werden. Sie schätzte sein Alter auf Mitte zwanzig. "Bonjour, Mesdemoiselles et Monsieur." Die drei nickten und gaben ihr die Hand, als sie unten angekommen war. "Bonjour, Mademoiselle", sagte der junge Mann und ergriff so das Wort der drei. "Mein Name ist Phillippe de Talére, oder auch Gabriel. Diese junge Frau", sagte er und zeigte auf die jüngste, "heißt Florette Cadure, ihr Deckname war Uranos, und die dritte im Bunde ist Nathalie Lambour, auch genannt Pandora. Ich schätze, Ihr seid Elodie Délieure?" Elodie nickte. "Richtig. Ich freue mich, Euch begrüßen zu dürfen. Kann ich etwas für Euch tun, um es Euch angenehm zu machen?" Er nickte dankbar. "Wir hätten gerne alle etwas zu Essen, und danach wollten sich die Damen ausschlafen." Elodie nickte, ging zu der Treppe und läutete die Glocke. Giselle kam nach kurzer Zeit und machte einen Knicks. "Ja, Mademoiselle?", fragte sie. "Giselle, serviere den drei ein Mahl, was auch immer sie verlangen. Und danach bringe die Mesdemoiselles auf ihr Zimmer. Das wäre alles." Die jetzige Magd knickste ein weiteres Mal und wandte sich an die drei Gäste. "Folgt mir bitte." Phillippe ging ihr sofort nach, Florette hob den Kopf wieder, um sich umzusehen. Nathalie dagegen blieb bei Elodie stehen. "Mademoiselle? Ich hätte noch einen weiteren Wunsch. Könnten wir die anderen Ordensmitglieder sprechen?" Elodie nickte. "Ich glaube, Jean ist schon zu Bett, und auch die anderen sind schon auf ihren Zimmern, doch ich werde sehen, was ich tun kann." Nathalie lächelte. "Danke", sagte sie und ging Giselle hinterher. So ging Elodie die Treppen wieder hinauf, an ihrem eigenen Schlafzimmer vorbei und weiter in den Flügel der weiblichen Gäste. Zuerst klopfte sie an Catherines Tür. "Ja bitte?" Sie drückte die Klinke hinunter und ging in das Zimmer. Catherine saß an ihrem Spiegel und kämmte ihr seidiges schwarzes Haar, sie schien sich gleich für den Schlaf umziehen zu wollen. "Catherine? Es sind drei weitere Gäste eingetroffen, und ein Gast bat darum, mit Euch zu sprechen." Persephone nickte. "Ja, gut, wo finde ich sie?" "Im Esszimmer", sagte Elodie, nickte und verließ das Zimmer wieder. Sie wollte gerade an Manons Zimmertür klopfen, als diese wie aus dem Nichts an ihrer Seite erschien. Sie erschrak fürchterlich und atmete tief durch. "Wo kommt Ihr so schnell her?" Manon schüttelte den Kopf, sie verstand nicht. "Aber ich bin doch ganz normal aus der Tür gegangen und habe mich neben Euch gestellt", sagte sie, zuckte zusammen und fasste sich mit zwei Fingern an die Schläfe. "Diese Kopfschmerzen", stöhnte sie leise. "Ich wollte Euch nur bitten, ins Esszimmer zu gehen, wenn Ihr wollt. Es sind drei weitere Mitglieder eingetroffen." Manon nickte. "Ja, ich gehe..." Elodie änderte die Richtung und lief an den Heiligenstatuen vorbei in einen anderen Flügel. Als sie an der Statue des Papst Johannes Anglicus vorbeiging, schüttelte sie den Kopf. Welch Blamage für die Kirche... Diese Statue hätte längst umgeändert werden sollen. Dieser Papst war schlimmer als ein Heide gewesen... Im Männerflügel klopfte sie an Exodus' Tür. "Bitte?" Sie ging hinein und er begann sofort zu Lächeln. Im Kamin prasselte fröhlich ein warmes Feuer. "Ich hatte gehofft, Giselle würde kommen", sagte er mit einem Grinsen. Sie schluckte ihren Ärger hinunter. "Da Ihr sonst auch so interessiert an neuen Gästen seid, könnt Ihr Euch ins Esszimmer begeben", sagte sie knapp und verließ das Zimmer wieder. Dann ging sie zur nächsten Tür, doch auf ihr Klopfen kam keine Reaktion. Vorsichtig drückte sie die Klinke hinunter. Jean schlief friedlich unter der warmen Decke, neben ihm Avia, die sofort den Kopf hob und Elodie aus schwarzen Augen wie Perlen ansah. "Na, du tapfere Wächterin?", sagte Elodie leise mit einem kleinen Lächeln, fasste Jean sanft an den Schultern und weckte ihn auf. "Jean? Jean, wach auf." Er öffnete verschlafen die Augen. "Ja?" "Möchtest du ein paar weitere Mitglieder kennenlernen? Dann kannst du nach unten ins Esszimmer gehen. Du kannst aber auch weiter schlafen." Er schüttelte den Kopf. "Nein, ist schon gut, ich gehe", sagte er und gähnte, während Avia um vollends wach zu werden ein paar Kreise im Raum zog. "Ich zieh mich nur noch eben richtig an", meinte Jean, und Elodie nickte. "Ja, mach das." Sie ging aus dem Raum und schloß die Tür hinter sich. Exodus lehnte an der Wand und sah sie lächelnd an. "Ihr habt viel von Eurer Mutter. Sehr viel. Doch ist einiges komplett anders. Ich hoffe, Ihr verzeiht mir meinen Fehler, den ich zu Anfang beging. Wer Euch sagte, Ihr seid wie sie, log Euch nicht ins Gesicht. Er kannte sie nur nicht ganz." Elodie schnaubte. "Aber Ihr habt das getan?" "Mademoiselle, ich war noch ein Kind, als ich sie kennenlernte. Aber ich habe Seiten an Ihr gekannt, die andere nicht bemerkt haben." Sie hatte einfach keine Lust, darauf etwas zu erwidern. "Wie auch immer. Geht besser zu den anderen." Er lächelte breiter. "Ich werde auf Jean warten. Er hat es ziemlich schwer hier als einziges Kind, wie mir scheint. Nur gut, dass er Avia hat..." Elodie zog die Augenbrauen in die Höhe. Solche Seiten hatte sie bei ihm nicht vermutet. Sie gähnte. "Entschuldigt mich, aber ich muss dem Gespräch wohl nicht beiwohnen. Im Gegenteil, ich störe ja immer. Ich werde zu Bett gehen, wenn mich jemand sucht." Er nickte, und sie ging an ihm vorbei. In ihrem Zimmer half Anne ihr beim entkleiden, sie schwiegen beide viel und wechselten nur wenige Worte. Als sie sich ins Bett legte, fiel sie schnell in einen tiefen Schlaf. Beim nächsten Frühstück sahen alle sehr erschöpft aus, bis auf Elodie. Das Gespräch hatte wohl bis tief in die Nacht gedauert. Jean hatte man daher irgendwann schlafen lassen. Schweigend nahm jeder sein Essen ein, solange, bis Giselle die Tür öffnete. Ihr erster Blick fiel auf Exodus, sofort wurde ihre Haltung gerader. "Mademoiselle?", sagte sie mit einem Blick auf ihre Herrin, "Es ist ein weiterer Gast eingetroffen. Er hat sich mir mit Raphael vorgestellt." Elodie nickte und erhob sich, mit ihr jedoch Exodus. Sie war überrascht. "Ich möchte nur mit Euch gehen", sagte er erklärend. Sie zuckte mit den Schultern und ging in die Eingangshalle. Der Mann, der dort stand, hatte eine stark von der Sonne gebräunte Haut, seine Gesichtszüge waren sehr grob. Er war relativ groß, seine Kleidung beschmutzt und sein Haar filzig. Exodus stellte sich in den Hintergrund. "Bonjour, Monsieur", sagte Elodie freundlich. Er nickte nur. "Bin ich hier im Kloster, in dem sich der Orden der Ersten Magischen Existenz zusammenfindet?" Sie nickte, jetzt zögernd. "Ja, das seid ihr." Etwas geschah, womit sie nicht gerechnet hatte. Der Fremde griff an sein Schwertheft und zog es aus der Scheide. Blitzschnell reagierte sie und wich dem Schlag aus. Sie hielt sein rechtes Handgelenk fest und hob das Knie zu seinen ungeschützten Weichteilen; schlug fest zu. Der Griff um das Heft wurde lockerer, und sie entwand es ihm mit Mühe. Er sank vor Schmerz zusammen, sie wartete mit der Klinge auf ihn gerichtet ab. Seine Hand wanderte unbemerkt zu seinem Dolch, zog ihn und wollte ihn Elodie in eine Wade treiben, doch dank des Kleides erwischte er nur Stoff. Sie hob den Saum an und trat ihm so fest sie konnte ins Gesicht. Er fiel nach hinten über und bedeckte mit der Linken die blutende Nase, der Dolch rutschte aus seiner Hand und schlitterte von ihm weg. Sie drückte die Klinge des Schwertes leicht an seinen Hals. "Keine Bewegung mehr, klar?" Doch etwas Unerklärliches geschah. Ein Kranz aus Feuer drehte sich um den Hals und die Ohren des Fremden und ließ ihn vor Schmerz aufschreien. Dann erstickte der Schrei, und der Mann atmete keuchend weiter. Sie drehte sich zu Exodus um, der die Hand wieder senkte. "Ihr könnt ihn jetzt gehen lassen. Er wird keinem anderen Hexenjäger sagen können, wo wir sind. Ich schätze nicht, dass Ihr ihn töten wollt. Und ich glaube nicht, dass er schreiben kann und so von diesem Tag berichten kann." Der Fremde erhob sich und rannte aus dem Kloster. Exodus lächelte. "Ihr habt Glück, dass Ihr eine Frau seid. So rechnet niemand mit Euren Reaktionen. Bei einem Mann wäre der Hexenjäger sicher besser gewesen, gerade war er sehr überrascht. Ihr solltet vorsichtiger sein." Elodie, der der Schweiß auf der Stirn stand, sah ihn ungläubig an. "Ihr habt gewusst, dass er kein Mitglied ist. Woher? Woher wusstet Ihr, dass er ein Hexenjäger ist?" Exodus lächelte. "Die Hexenjäger wissen, dass wir Decknamen haben. Sie wissen aber nicht, welche Decknamen das sind. Manche von ihnen haben sich selbst ebenfalls anders genannt, in der Hoffnung, sie könnten uns so besser aufspüren, was meiner Meinung nach aber nur in noch mehr Verwirrung endet. Glauben sie, einen von uns aufgespürt zu haben, stellen sie sich mit ihrem neuen Namen vor, in der Hoffnung, Vertrauen zu erwecken. Und das können sie sogar, keiner von uns weiß, wie die anderen heißen. Allerdings finden sie so auch oft Gleichgesinnte, die sich ebenfalls einen anderen Namen aneignete. Mademoiselle, wisst Ihr, wer Raphael ist?" Elodie nickte. "Natürlich. Raphael ist einer der Erzengel, auch genannt 'Medizin Gottes', er soll daher heilen können. Ich glaube, er ist der Schutzengel der Priester, bin mir aber nicht sicher..." Exodus lächelte. "Eine wahre Christin. Ihr wisst, was ich mit Feuer machen kann. Wir haben alle irgendeine solche Kraft, und ich weiß, dass es unter uns keinen Heiler gibt. Raphael wäre also gänzlich unpassend. Und sosehr die Kirche teilweise bei den Decknamen gepfuscht hat, einen solchen Fehler würde sie dann doch nicht begehen." Elodie nickte. "Darf ich fragen, was Ihr mit dem Mann gemacht habt?" Exodus lächelte weiter. "Ich habe seine Stimme und sein Gehör nutzlos gemacht." "Ich schätze, das war gut so", sagte Elodie, sie wurde recht leise. "Wo habt ihr gelernt, einen Mann so zu überraschen und zu entwaffnen?" Elodie zuckte mit den Schultern. "Als ich noch ein kleines Mädchen war gab es hier einige Dienstboten, die meinten, mich - als Kleinste - ärgern zu können. Ich habe mich immer mit ihnen angelegt. Und mit zunehmendem Alter haben wir dann nicht mehr gespielt, sondern trainiert. Wobei ich das als Mädchen natürlich heimlich machen musste, denn es war ja unschicklich." Er lachte leise in sich hinein, sie dagegen seufzte. "Gut, Monsieur, ich glaube, wir können wieder essen. Ich hasse es, wenn man mich dabei stört", fügte sie eigentlich nur für sich hinzu und ging an ihm vorbei in das Esszimmer. Ihre anderen Gäste sahen sie erwartungsvoll an. Elodie schüttelte nur den Kopf und zuckte mit den Schultern. "Ein Hexenjäger", sagte sie knapp und ließ sich auf ihren Sitz sinken um den Rest, der auf ihrem Teller geblieben war, einzunehmen. Florette sah Catherine und Exodus, die beiden ältesten im Raum, an. "Aber ich dachte, heute sollten alle eintreffen? Wir waren schon recht spät." Catherine nickte. "Ja, wer heute nicht ankommt, der soll, soviel ich weiß, von Mademoiselle Délieure der Kirche gemeldet werden. Aber es ist ja erst morgen, sie haben noch den ganzen Tag, um einzutreffen." Florette nickte und biss an ihrem Brot ab, Catherine musterte Elodie ziemlich genau. Diese zuckte erneut mit den Schultern. "Ihr habt es doch selbst gesagt. Ich habe diese Order von der Kirche bekommen, deshalb werde ich sie auch ausführen." Sie sah Exodus aus den Augenwinkeln den Kopf schütteln, Catherine atmete einmal tief durch und sah auf ihren Teller. Elodie stand auf. "Entschuldigt mich", sagte sie und verließ den Raum, ohne überhaupt zu wissen, warum. Hatte sie denn hier eine Gruppe von Ketzern in ihr Haus gelassen? Vielleicht überwachte die Kirche ja den Orden, und wer heute nicht ankam, der hatte sich widersetzt? Sie schüttelte den Kopf. "Nein", sagte sie sich selbst, "ein kleiner Junge, in Jeans Alter, würde niemals jetzt schon zu einem Ketzer werden. Solche Gedanken müssen lange reifen... Mich stört nur, dass ich gar nicht mehr essen kann, weil ich andauernd aufstehen und weggehen muss!" Sie verwarf den Gedanken vorerst. Es führte sie in die Bibliothek. Aus den hohen Regalen zog sie schließlich einen Band über Pflanzen heraus und schlug ihn an irgendeiner Seite auf, auf der zu lesen war, wie man sich die Haare mit Hilfe eines Holunderbeersafts dunkel färbte. Sie las nur halbherzig, doch das eine lange Zeit, bis Giselle schließlich eintrat. "Mademoiselle? Wieviele Gäste fehlen noch?" Elodie zählte kurz nach. "Ohne dass es dich etwas anginge, es sind fünf." Die Magd errötete. "Verzeiht, Mademoiselle. Jetzt sind es nur noch zwei, drei weitere sind eingetroffen und erwarten Euch in der Eingangshalle." Elodie nickte, schlug das Buch zu und stellte es zurück in das Regal, aus dem sie es genommen hatte. Als sie an Giselle vorbeiging, drehte sie sich noch kurz um. "Ach ja, Giselle. Bevor ich es vergesse... Ich kann dir den Kontakt mit Exodus nicht verbieten, ich will es auch gar nicht, aber ich will dich noch einmal darauf hinweisen, dass du an ihn keinerlei Informationen weiterzuleiten hast, ohne dass ich dir ein Einverständnis gegeben habe." Giselle knickste. "Jawohl, Mademoiselle." Dieses Mal waren es zwei Männer und eine Frau, der eine war sehr kräftig und stärker bewaffnet, er war offensichtlich Söldner, hatte dunkelbraunes Haar und braune Augen, er schien Anfang zwanzig zu sein. Der andere Mann, er hatte blondes Haar und einen kurzen Kinnbart, war mit teuren Stoffen bekleidet, doch er schien nicht adelig zu sein. Die Frau, sie schien Catherines Alter zu haben, war ganz in weiß gekleidet. Um ihren Hals hing ein Kruzifix, man sah ihr braunes Haar unter der Haube hervor; beides sagte Elodie, dass die Frau eine Nonne war. Sie alle waren nass geworden von dem starken Regen draußen. "Bonjour", sagte Elodie und ging auf sie zu. Der große Mann nickte. "Bonjour. Seid Ihr Mademoiselle Délieure?" "Ja." "Mein Name ist Antoine Dixier, mein Deckname war", sagte er und zögerte kurz, "Gaia." Offensichtlich war es ihm peinlich, dass sein Name der der griechischen Erdgöttin war. Die Frau trat ein wenig vor. "Bonjour, Mademoiselle Délieure. Ich heiße Hélène Monnin, oder auch", wieder ein Zögern, "Luzifer." Elodie zog die Augenbrauen in die Höhe. Was hatte sich die Kirche damit gedacht? Noch eine Hexenjägerin? Nein, das Amt bekleideten nur Männer. Der Letzte stellte sich vor. "Mein Name ist Laurent, Laurent Charvet, Deckname Genesis." Giselle hatte sich im Hintergrund aufgestellt. "Gut", sagte Elodie, "ich schätze, Ihr wollt etwas essen oder ausruhen? Giselle wird Euch in Eure Zimmer oder in das Esszimmer führen. In Euren Zimmern liegt auch trockene Kleidung." Als sie gerade mit ihrem Satz geendet hatte, öffnete sich die Tür erneut und eine Frau, mit dicker Kleidung, die eigentlich schon viel zu warm schien für dieses Wetter draußen, trat ein und sperrte den starken Regen, der eindringen wollte, aus. Sie streifte die Kapuze von ihrem Haar und lächelte. "Bonjour! Bin ich hier richtig, bei einer Mademoiselle Délieure?" Elodie nickte. "Ja, das seid Ihr. Bonjour", antwortete sie und musterte auch diese Fremde. Sie hatte braunes Haar, blaue Augen und ihre Gesichtszüge waren relativ fein, eine schöne Frau. An ihrer rechten Hand trug sie einen Ring. Sie nickte den anderen zur Begrüßung zu. "Mein Name ist Marielle Blanchard, die Kirche gab mir das Pseudonym Merkur." Elodie nickte. "Seid uns willkommen, Madame. Solltet Ihr etwas Essen wollen, könnt Ihr Euch in das Esszimmer begeben, wenn Ihr Euch umziehen wollt, könnt Ihr auf Euer Zimmer gehen; Kleidung ist vorhanden. Folgt einfach Giselle", sagte sie und wandte sich dann an alle, "Ich bitte, mich zu entschuldigen, sollte mich jemand suchen, ich bin in meinem Arbeitszimmer." Sie ging die Treppe wieder hoch, während die kleine Gruppe der Magd hinterherging. Exodus kam ihr entgegen, mit wehendem Mantel. Sie blieb stehen. "Wollt Ihr bei diesem Wetter etwa das Haus verlassen?" Er setzte sein - ein wenig herablassendes - Lächeln wieder auf. "Macht Ihr Euch Sorgen um meine Gesundheit, Mademoiselle?" Sie errötete aus irgendeinem Grund. "Nein, aber... Der Schlamm wird Eure Kleidung verdrecken, und Giselle ist das Waschen nicht mehr gewöhnt", antwortete, stammelte sie fast. Warum sagte sie so etwas Belangloses? Er zuckte mit den Schultern. "Sie muss wohl damit zurechtkommen, schließlich habt Ihr sie zur Magd gemacht. Um ehrlich zu sein, will ich unbedingt ausreiten. Corbeau braucht unebdingt Bewegung." Sie zog die Augenbrauen zusammen. "Mit Verlaub, doch warum habt Ihr Euren Hengst Corbeau genannt?" Er schien in Gedanken versunken, als er mit glücklichem Gesichtsausdruck antwortete. "Ich habe ihn geschenkt bekommen. Um ehrlich zu sein, hat man mich zu einer Pferdewiese gebracht und mich wählen lassen. Ich war zu dem Zeitpunkt neunzehn. Corbeau war fast noch ein Fohlen, und er rannte vollkommen frei über die Wiese, sein schwarzes Fell glänzte in der Morgensonne... Ich fand Corbeau in dem Moment durchaus passend." Sie lächelte. "Monsieur, habt Ihr etwas dagegen, wenn ich Euch mit meiner Stute Gloire begleite?" Er schüttelte den Kopf. "Nein, doch ich würde Euch raten, bei dem Regen etwas überzuziehen. Ich werde bei den Ställen warten." Sie nickte, ging in ihr Schlafzimmer und zog einen dicken Wollmantel heraus. Er würde sich schnell vollsaugen und schwer werden, doch etwas anderes hatte sie im Moment nicht zur Hand. Außerdem zog sie so schnell sie konnte ihr Kleid aus, da sie keinen Damensattel besaß und daher eine Hose benötigte. In aller Hoffnung, sich mit ihrem Gast doch noch vertragen zu können, stieg Elodie die Treppe wieder hinunter, und Giselle kam ihr mit Marielle und Florette entgegen. "Giselle, ich reite aus. Sollte das letzte Mitglied eintreffen, bitte einen kräftigen Mann - vielleicht Antoine - ihn mit dir zu begrüßen. Man weiß ja nie..." Sie ging durch die Tür und um das Kloster, darauf bedacht, unter den höher gewachsenen Bäumen entlang zu gehen, um wenigstens ein wenig Regen von sich abzuhalten. Exodus war gerade dabei, Corbeau die Trense anzulegen, den Sattel hatte er schon festgezurrt. Er war offensichtlich schnell im Umgang mit seinem Pferd. Er sah sie abschätzend an. "Und Ihr glaubt tatsächlich, der hält Euch warm?" Diesmal war es an ihr, zu lächeln. "Oh, Monsieur, sorgt Ihr Euch um meine Gesundheit?" Er schüttelte den Kopf. "Nein, aber um Euren Verstand." Sie wollte gerade den Mund aufmachen, als er abwehrend die Hände hob. "Verzeiht, Mademoiselle, doch wer dumm fragt, bekommt dumme Antworten." Elodie wusste nicht, worauf er hinauswollte: War es dumm, daran zu denken, er mache sich Sorgen um sie, oder dumm, es in Frage zu stellen? "Monsieur, man lehrte mich, dass keine Frage eine dumme sei." Er zuckte mit den Schultern und wies auf die Schimmelstute. "Soll ich sie für Euch satteln, oder wollt Ihr das tun?" "Ihr könntet mir helfen, sie zu putzen, die Gurte sollen nicht schürfen." Er nickte und nahm zwei der Pferdebürsten aus dem Behälter der Putzsachen, die am Ende des Pferdestalles neben den Boxen stand, eine gab er ihr. Gloire hatte sich wohl ein- oder zweimal gewälzt, es dauerte seine Zeit. Doch schließlich war sie gesattelt. "Exodus, könntet Ihr für mich die Trense anlegen? Ich würde Aer gerne mitnehmen." Er nickte, sie ging daraufhin zur Voliere um den Lederhandschuh anzulegen und gut fest zu machen. Der Bussard flog recht schnell auf sie zu, sie hielt die beiden Bänder an den Krallen fest in ihrer Hand. Dann ging sie zu Gloire und setzte sich in den Sattel, griff mit der freien Hand nach den Zügeln. "Bereit, Mademoiselle? Oder wollt ihr noch ein Tier mit Euch nehmen?" Sie schüttelte den Kopf. "Nein, es kann losgehen." Er nickte und drückte Corbeau die Beine in die Flanken. Der Hengst setzte sich weich in Bewegung. Elodie ritt ihm hinterher und war schnell auf seiner Höhe. Sie drückte ein weiteres Mal mit ihren Beinen, und Gloire fing an zu traben, sanft hob und senkte die Reiterin den Po um möglichst angenehm voranzukommen. Sie stellte relativ schnell fest, dass Corbeau ein sehr eigenwilliges Pferd war, was aber durchaus zu Exodus passte, wie sie fand. Sie ritten die Allee, die zum Kloster führte, in dem aufgeweichten Boden hinab, die Hufe spritzen den Schlamm hoch und das Regenwasser fiel in dicken Tropfen von den Ästen und in Elodies Nacken, von wo aus es den Rücken hinab rann, um schließlich von der Kleidung aufgenommen zu werden. Als die Bäume am Rand schließlich zahlreicher und dicker wurden, bogen sie irgendwann links ab; ein sehr viel kleinerer Pfad, der in den Wald führte. Elodie ließ die Lederriemen los und half Aer, als er sich in die Luft erheben wollte, mit einem kleinen Schwung des Arms. Er rief einmal laut und kreiste über den Reitern. Exodus lächelte, seine hellen Zähne waren auf irgendeine Art und Weise faszinierend. "Ein schönes Tier", sagte er und fiel zurück in den Schritt, nachdem sie nun eine ganze Weile schneller geritten waren. "Ja", antwortete Elodie und lächelte geschmeichelt, "ich habe ihn selbst aufgezogen. Ich bin sehr stolz, dass er mich so gut versteht und mir gehorcht." Er nickte. "Das ist verständlich." Als sie ernst nach oben sah, zog Exodus eine Augenbraue in die Höhe. "Wie ihr gerade den Himmel anseht, erinnert Ihr mich sehr an Eure Mutter, Mademoiselle." Elodie war sich sicher, dass er mit dieser Aussage irgendetwas bezweckte, doch als sie ihn ansah, entdeckte sie tatsächlich Aufrichtigkeit in seinem Blick. "Ihr verwundert mich, Exodus. Auf der einen Seite wirkt Ihr so... bitter auf mich, auf der anderen Seite fühle ich mich in Eurer Gegenwart wohl. Solange, bis Ihr wieder etwas Falsches sagt." Exodus richtete den Blick nach vorn und sah ernst aus, als er antwortete. "Seid Ihr also tatsächlich einmal ehrlich?" Schon verwunderte er sie wieder. "Glaubt Ihr, ich bin es sonst nicht?" Er zuckte mit den Schultern. "Ich glaube, ich hoffte, dass Ihr manchmal die Dinge nicht so meint, wie Ihr sie sagtet. Offensichtlich eine Täuschung, dass ich es annahm." Der Regen prasselte immer noch auf Stoff und Haut, perlte davon der Haut ab, während der Stoff versuchte, noch mehr Flüssigkeit einzusaugen. Sie legte zwei Finger an den Mund und pfiff. Aer kam heruntergeflogen und ließ sich auf ihrem ledernen Handschuh nieder. "Genau das ist es, was ich eben meinte. Es tut mir Leid, doch ich glaube, ich bin nass genug. Das Sattelleder geht durch den Regen nur kaputt. Ich werde zurück reiten. Gloire wird auf der Wiese hinter den Ställen noch mehr Bewegung bekommen, wenn sie meint, sie zu brauchen. Entschuldigt mich, Ehrenwerter Gast", fügte sie mit einem beinahe ironischen Unterton hinzu, den sie eigentlich gar nicht so beabsichtigt hatte. Sie kämmte ihr noch nasses Haar und blickte in den teuren Silberspiegel. War das Gesicht ihrer Mutter in dem ihren widergespiegelt? Jeder behauptete, sie sei genau wie sie. Natürlich hatte ihr das geschmeichelt. Nur Exodus hatte dem entschieden widersprochen. Jetzt blickte sie sich im Spiegel ratlos an. Ihre Abstammung hatte ihr auf irgendeine Art und Weise einen Teil ihrer Persönlichkeit gegeben. Denn auch wenn sie ihre Mutter nie kennengelernt hatte - sie starb ein paar Tage nach Elodies Geburt -, so hatte sie dennoch klare Vorstellungen von ihr. Wenn sie wie ihre Mutter gewesen wäre, hätte sie jene vorgestellten Charakterzüge. So fragte sie sich, wer sie eigentlich war. Hatte sie allen, sogar sich selbst etwas vorgespielt? Sie warf den Kamm auf den Tisch und stand entschieden auf. "Jeder, der wusste, wer sie war, sagte, ich sei wie sie, bevor sie so anders wurde. Nur ein einziger hat seine Stimme dagegen erhoben", sagte sie nachdrücklich zu sich selbst. Und doch nagte weiter der Zweifel. Sie schob diese Gedanken zu Seite und wandte sich zur Tür. Ein paar Türen weiter ging sie in ihr Arbeitszimmer, setzte sich an den Schreibtisch, öffnete eine Schublade und zog ein Stück Pergament sowie das Tintenfaß hervor. Sie griff nach der Adlerfeder und begann zu schreiben. "An die Kardinäle um Papst Nikolaus V. fast alle Mitglieder sind inzwischen eingetroffen. Wir schreiben den 29.04.1450, doch ein zwölftes Mitglied fehlt. Die Sonne ist untergegangen, und ich glaube nicht, dass noch jemand eintreffen wird. Ich hoffe, im nächsten Brief mehr über den Orden der Ersten Magischen Existenz erfahren zu dürfen. Ehrfurchtsvoll, Elodie Délieure von Orléans" Sie versiegelte den Brief, adressierte ihn, nahm ihn mit und ging zu Giselle. Die Magd sah sie demütig an. Es hatte wohl geholfen, ihr den hohen Stand unter ihren Bediensteten zu nehmen. "Giselle, du fährst noch heute in die Stadt zum Markt. Nimm den Brief mit und gib ihn im Gasthaus ab, dort wird ihn die nächste Postkutsche mitnehmen." Giselle knickste und wandte sich um. "Ach, und Giselle? Tu mir den Gefallen und zeige ihn nicht vorher Exodus." Die Magd schluckte bei dem scharfen Kommentar und ging. (ich habe dieses Mal nicht auf FF-Codes geachtet, ich hoffe, man merkt, wenn es sarkastisch sein soll ^^;;) Hosted by Animexx e.V. (http://www.animexx.de)